Wenn 55 Prozent der Deutschen finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt

 

„Die CDU ärgert sich rot und grün“ – so kommentiert die Tagesschau des Schweizer Fernsehens das Ergebnis der Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021. Und der „Tages-Anzeiger“ spricht gar von einem regelrechten „Debakel für die CDU“. In der Tat: Während in Baden-Württemberg die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer obenaus schwangen, brach die CDU auf historische Tiefstwerte ein. Bei den übrigen Parteien hielten sich Verluste und Gewinne in engen Grenzen, auffallend ist einzig das schlechte Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern. So weit so gut – oder eben so schlecht, je nachdem von welcher politischen Warte aus man es betrachtet. Doch handelt es sich bei solchen „demokratischen“ Wahlen nicht letztlich um eine Farce, eine immense Selbsttäuschung, ein in letzter Konsequenz durch und durch inszeniertes Nullsummenspiel? Wie komme ich auf diesen Gedanken? Nun, wenn man sich die Inhalte der einzelnen Parteien etwas näher anschaut, dann gibt es zwar durchaus gewisse graduelle Unterschiede. Doch letztlich stehen alle auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Keine der zur Wahl angetretenen Parteien fordert klar und deutlich die Überwindung des Kapitalismus und aller mit ihm verbundenen Zwangsläufigkeiten von der laufend weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Gewinnmaximierung bis hin zum blinden Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, der Hauptursache für den Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen. Selbst die „Linke“, die man sich noch am ehesten als antikapitalistische Kraft vorstellen könnte, führte einen überaus moderaten Wahlkampf. Schaue ich mir die Website der „Linken“ an, so wird zwar an wenigen Stellen der Begriff Kapitalismus mit dem Hinweis auf seine Unzulänglichkeiten erwähnt, die ganze Palette der von der Partei vorgeschlagenen Reformen bewegt sich aber insgesamt innerhalb der kapitalistischen Logik, man hat den Eindruck, dass die Partei den Kapitalismus nicht wirklich überwinden will – sonst müssten ihre Forderungen viel radikaler sein -, sondern bestenfalls zähmen, so wie dies, weniger weit gehend, auch die SPD anstrebt. Selbst die als Aussenseiterpartei angetretene „Klimaliste“ beschränkt sich auf die Forderung nach „konsequenten Klimaschutzmassnahmen“ und verzichtet auf die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Kapitalismus zweifellos unverkennbar ist. Grob gesagt: Eine Demokratie, welche diesen Namen verdient, müsste den Menschen nicht nur die Wahl zwischen ein bisschen mehr oder weniger Umweltschutz, zwischen ein bisschen mehr oder weniger sozialer Sicherheit oder ein bisschen mehr oder weniger Förderung des öffentlichen Verkehrs anbieten. Sie müsste den Menschen auch die Wahl anbieten, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben möchten, oder ob die Zeit reif wäre dafür, diesen Kapitalismus mit allen mit ihm verbundenen Unzulänglichkeiten und Zerstörungen zu überwinden. So gesehen sind die herrschenden „demokratischen“ Parteien nicht wirkliche Alternativen, zwischen ihnen liegen keine Welten, ihr Denken und ihre Sprache sind beinahe deckungsgleich, sie sind, einfach gesagt, nur Nuancen und Fraktionen einer Grossen Kapitalistischen Einheitspartei, zu der eine antikapitalistische Gegenpartei als echte Alternative schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Wenn die „Sieger“ dieser Landtagswahlen nun jubeln und die „Verlierer“ am Boden zerstört sind, dann jubelt, unsichtbar, vor allem einer: Der Kapitalismus. Er ist noch einmal davon gekommen. Er ist wieder für vier Jahre an der Macht – egal ob ganz vorne die CDU, die SPD oder die Grünen stehen. Nun könnte man einwenden, dass die Menschen mit dem kapitalistischen „Einheitsbrei“ offensichtlich einverstanden seien und sich eine Alternative zum kapitalistischen System gar nicht wünschen. Für diese These würde auch die Tatsache sprechen, dass die „Linke“, die noch am ehesten einer antikapitalistischen Kraft entspricht, weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die 5-Prozent-Hürde der Wählerinnen- und Wählerstimmen geschafft hat. Offensichtlich aber klafft die tatsächliche Lebensrealität der Bevölkerung und die Welt der Politik meilenweit auseinander. Denn, wie eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 ergeben hat, finden nur zwölf Prozent der befragten Deutschen, dass das „System für sie arbeitet“, 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form „mehr schadet als nützt“. Woher dieser immense Widerspruch? Die Menschen scheinen immer deutlicher zu spüren, dass irgendetwas „nicht mehr stimmt“. Aber sie sehen noch keine Alternative. Die einzige Alternative, die sie kennen, sind der Kommunismus und der Sozialismus der früheren DDR und der Sowjetunion. Und das, nämlich die Wiederholung gescheiterter Gesellschaftsmodelle, will freilich niemand, und deshalb klammert man sich lieber an den Kapitalismus, den man wenigstens kennt und von dem man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, erhofft, dass trotzdem alles eines Tages besser wird. Das Fazit: Es müsste darum gehen, eine Gesellschaftsutopie zu entwickeln, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern ebenso den Sozialismus und den Kommunismus früherer Zeiten. Eine solche Alternative muss es geben – will sich die Menschheit nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Das beste Potenzial, um eine solche Alternative zu entwickeln, hätte wohl die „Linke“. Hierzu freilich müsste sie mehr als eine Überwindung des Kapitalismus fordern. In jedem einzelnen Punkt müsste sie aufzeigen, wie jenes Leben aussähe, von der wir doch alle insgeheim träumen, ein Leben ohne gegenseitige Ausbeutung und gegenseitigen Konkurrenzkampf, ein Leben in sozialer Gerechtigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Und selbstverständlich muss eine solche Vision länderübergreifend entwickelt werden – so wie der Kapitalismus international vernetzt ist, genau so müssten sich auch die antikapitalistischen Kräfte international vernetzen. Im September sind die deutschen Bundestagswahlen. Es bleibt noch Zeit, an der Vision für eine Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten…

Plädoyer für die Arbeit der Hausfrau und des Hausmanns

„50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts und zahlreicher Debatten über Gleichstellung später dominiert nach wie vor das traditionelle Rollenmodell: Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeitet er Vollzeit, sie gar nicht oder Teilzeit, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen.“ Soweit ein Kommentar im „St. Galler Tagblatt“ vom 10. März 2021 zu einem Urteil des Bundesgerichts, wonach sich Frauen nach einer Scheidung wieder schneller in den Arbeitsmarkt eingliedern sollten.

Habe ich richtig gelesen? Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeiten die meisten Frauen gar nicht oder höchstens Teilzeit? Was für eine Beleidigung all jener Frauen, die „nur“ Hausfrauen sind, sich „nur“ um die Pflege und Erziehung ihrer Kinder kümmern, „nur“ den Haushalt besorgen und „nur“ kochen, waschen, putzen und aufräumen. Wenn ich bei meiner Schwiegertochter und ihren vier Kindern zu Besuch bin, dann habe ich jedenfalls nie den Eindruck, sie würde „nicht arbeiten“. Ganz im Gegenteil: Ihre Arbeitstage sind lange und anstrengend, oft kommt sie nicht einmal nachts zur Ruhe und so etwas wie eine Pause, in der sie auch mal eigenen Gedanken und Beschäftigungen nachgehen kann, gibt es frühestens am Abend, wenn alle Kinder im Bett sind.

Die Arbeit, die von „Nur-Hausfrauen“ geleistet wird, ist immens und gar nicht genug hoch einzuschätzen. Man könnte wohl sogar sagen, dass dieser Beruf einer der wichtigsten und elementarsten ist. Denn egal, ob jemand später einmal als Ingenieur, als Architektin, als Bauarbeiter oder als Krankenpflegerin arbeiten wird, sie alle waren einmal ein Kind, das nur deshalb gross werden konnte, weil es getragen von Liebe, Geduld und Aufmerksamkeit aufwachsen durfte. Dass sich auch Väter zunehmend in diese Aufgabe einbringen, ist zwar höchst erfreulich, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich dabei nach wie vor um eine kleine Minderheit handelt. Aber es ist noch viel krasser: Frauen bewältigen nicht nur den Löwenanteil von Haus- und Familienarbeit, sie kümmern sich zusätzlich häufig um kranke oder pflegebedürftige Nachbarn, Eltern oder Schwiegereltern und engagieren sich in Vereinen und Hilfsorganisationen, und dies alles zum Nulltarif: Der Anteil der Frauen an dieser so genannten Care-Arbeit beträgt in der Schweiz zurzeit über 61 Prozent, die Anzahl der von Frauen in diesem Bereich geleisteten Arbeitsstunden beläuft sich schweizweit jährlich auf über 8200 Millionen.

Emanzipation darf nicht bloss darin bestehen, dass möglichst viele Frauen in Branchen und Berufsfelder vordringen, die bisher den Männern vorbehalten waren. Sie darf sich auch nicht darauf beschränken, dass die Frauen möglichst schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. Emanzipation muss vor allem auch darin bestehen, dass die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmannes vollständige gesellschaftliche Gleichwertigkeit, Wertschätzung und in letzter Konsequenz auch die entsprechende Entlöhnung erfährt. Hoffentlich dauert es nicht noch einmal 50 Jahre, bis der Beruf der Hausfrau und des Hausmannes das genau gleiche Ansehen und die genau gleiche Bedeutung geniessen wie jeder andere Beruf.

Die Abstimmung über das Verhüllungsverbot: Wenn das Absurde mehrheitsfähig wird…

„Eine Mehrheit der Stimmbevölkerung“, so SRF-Bundeshauskorrespondent Andy Müller in der Tagesschau vom 7. März 2021, „setzte heute ein Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam, und das schon zum zweiten Mal nach der Minarettinitiative.“

Das Egerkinger Komitee, welches die Verhüllungsinitiative lanciert hat, lässt für diese Aussage danken! Denn Andy Müller scheint mit seiner Analyse den Initianten recht zu geben: Es sei ein Kampf gegen den „politischen und radikalen Islam“ und das Egerkinger Komitee um Nationalrat Walter Wobmann habe ihn nun schon zum zweiten Mal gewonnen, zuerst gegen das Minarett, jetzt gegen Burka und Niqab. Bewusst oder unbewusst hat der Bundeshausredaktor des Schweizer Fernsehens die Argumentation von Wobmann und seinen Gesinnungsgenossen übernommen, es handle sich doch bei alledem doch nur um den – berechtigten und notwendigen – Kampf gegen religiösen Fanatismus und Extremismus.

Dabei müsste es Andy Müller doch besser wissen: Der angebliche Kampf gegen Fanatismus und Extremismus ist doch nur das vorgeschobene Argument, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als die Ablehnung und der Hass gegen andersgläubige und anders aussehende Menschen. Denn mit Fanatismus und Extremismus haben die rund dreissig Burka und Niqab tragenden Musliminnen in der Schweiz nun beileibe nichts zu tun, ebenso wenig wie jene Touristinnen aus arabischen Ländern in Interlaken oder in St. Moritz, von denen einige ebenfalls eine Burka oder einen Niqab tragen. Nicht Extremismus und Fanatismus sind die Motive, sich so zu kleiden, sondern einzig und allein eine Strenggläubigkeit, die sich mit jenem religiösen Eifer vergleichen lässt, der junge Frauen und Männer vor nicht langer Zeit auch in unserem Lande dazu bewog, in ein Kloster einzutreten und ein Leben fern aller irdischen Verlockungen auf sich zu nehmen.

Und wenn dann der Bundeshauskorrespondent des Schweizer Fernsehens im gleichen Atemzug noch die Minarettinitiative erwähnt, bei der es offensichtlich ebenfalls um ein „Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam“ gegangen sei, dann wird alles erst recht absurd: Das Minarett ist genau so wenig ein Symbol für Extremismus und Fanatismus wie eine christliche Kirche. Das Fatale bei alledem liegt vor allem darin, dass politische Bewegungen wie das Egerkinger Komitee und Politiker wie Walter Wobmann letztlich genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie angeblich wollen: Ihr „Kampf“ gegen Fanatismus und Extremismus heizt diesen erst recht an – das zeigt sich beispielsweise auch in Frankreich, wo seit der Einführung eines Verhüllungsverbots aus Protest eine viel grössere Zahl von Musliminnen einen Niqab trägt als zuvor und diese Frauen zu einem grossen Teil auch radikalisiert wurden, weil sie sich als Opfer eines Systems erleben, das ihnen die Ausübung ihrer religiöser Gepflogenheiten verweigert.

Hoffen wir, dass es in der Schweiz nicht auch noch dazu kommt. Und dass das Egerkinger Komitee, beflügelt durch zwei Abstimmungssiege, nicht noch auf die Idee verfällt, nun auch noch das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten und vielleicht eines Tages sogar noch Juden vorzuschreiben, sich im öffentlichen Raum nur noch ohne ihre traditionelle Kopfbedeckung zu bewegen. Höchste Zeit, wieder Vernunft anzunehmen und sich auf die Grundlagen einer liberalen Gesellschaft zurückzubesinnen, in der auffälliges, besonderes und selbst provokatives Aussehen und Auftreten des Einzelnen erst dann geahndet werden darf, wenn damit anderen Menschen Schaden zugefügt wird.

Hoffen wir, dass es sich bei der Aussage des SRF-Bundeshauskorrespondenten um einen Ausrutscher gehandelt hat. Und dass wir nicht schon so weit sind, die Parolen eines Egerkinger Komitees für mehrheitsfähig und „salonfähig“ hinzunehmen, bloss weil Walter Wobmann und seine Gesinnungsgenossen in der heutigen Volkabstimmung eine – wenn auch knappe – Mehrheit gewonnen haben…

„Nachhaltig“ – alle reden davon, doch was würde es wirklich bedeuten?

 

„Es ist Anfang 2021“, so WEF-Gründer Klaus Schwab im Tages-Anzeiger vom 25. Januar 2021, „viele erwarten, dass das ein besseres Jahr wird als das vergangene. Diese Chance müssen wir nutzen. Wir müssen einen höheren Grad an gesellschaftlicher Reife anstreben und eine solide Basis für das Wohlbefinden der Menschen und der Erde schaffen.“ Und auch der schweizerische Bundespräsident Guy Parmelin hat eine Botschaft für die Zukunft: „Wir müssen“, sagte er in einer Grussbotschaft an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des im Mai in Singapur stattfindenden WEF 2021, „über die Gegenwart hinausschauen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich entschlossen für ein nachhaltiges Wachstumsmodell entscheiden.“ Weder Klaus Schwab noch Guy Parmelin sind „linke“ oder „grüne“ Weltveränderer. Und doch läuft das, was sie sagen, auf nichts anderes hinaus als genau das: eine radikale, tiefgreifende Umkrempelung und letztlich das Ende des kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, ob ihnen das lieb ist oder nicht, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Denn wenn Klaus Schwab einen „höheren Grad an gesellschaftlicher Reife“ fordert, so ist diese schlicht und einfach nicht zu haben in einem Wirtschaftssystem, das den Menschen in erster Linie auf seine Funktionen des Produzierens und Konsumierens reduziert. Und wenn er eine „solide Basis für das Wohlbefinden der Menschen“ postuliert, so ist auch eine solche nicht zu haben in einem Wirtschaftssystem, das auf gegenseitigem Konkurrenzkampf beruht, der dazu führt, dass die Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung erbringen müssen. Und wenn er „eine solide Basis für das Wohlbefinden der Erde“ verlangt, dann ist dies erst recht nicht zu verwirklichen in einem Wirtschaftssystem, das aufgrund seines immanenten Wachstumszwangs die natürlichen Ressourcen der Erde in immer schnellerem Tempo verbraucht und vernichtet. In sich zutiefst widersprüchlich ist auch die Forderung Guy Parmelins nach einem „nachhaltigen Wachstumsmodell“. Wie wenn es möglich wäre, die Wirtschaft weiter wachsen zu lassen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen auch für kommende Generationen zu sichern. Überhaupt, das Wort „nachhaltig“: Es gibt wohl keinen anderen Begriff, der in politischen Reden so häufig vorkommt, egal ob es sich um Aussagen von“linken“ oder „rechten“, „bürgerlichen“ oder „grünen“ Politikern und Politikerinnen handelt. Ob sich wohl jemand schon mal die Mühe genommen hat, diesen Begriff etwas genauer unter die Lupe zu nehmen? Seinen Ursprung hat das Wort „nachhaltig“ im Jahre 1713, als Hans Carl von Carlowitz, ein Oberhauptbergmann aus Sachsen, aufgrund einer drohenden Holzverknappung forderte, dass immer nur so viel Holz geschlagen werden dürfe, wie durch Aufforstung wieder nachwachsen könne. Was nichts anderes heisst, als dass nur schon allein das Wort „nachhaltig“ den Kapitalismus grundlegend in Frage stellt, da es schlicht und einfach nicht möglich ist, die Produktion von Gütern laufend wachsen zu lassen und gleichzeitig mit den Schätzen der Erde und der Natur so umzugehen, dass immer nur soviel verbraucht wird, wie wieder nachwachsen kann – man denke nur ans Erdöl, das über Millionen Jahre in der Erde „angewachsen“ ist und infolge der kapitalistischen Welteroberung innerhalb weniger Jahrzehnte verbraucht worden ist, bis schon bald nichts mehr davon übrig bleibt. Wenn Politiker und Politikerinnen hier und heute mit Begriffen wie „nachhaltig“, „zukunftsverträglich“, „Wohlbefinden“, „Gerechtigkeit“ und dergleichen um sich werfen, ohne gleichzeitig den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen, dann unterliegen sie, bewusst oder unbewusst, einer gewaltigen Selbsttäuschung: All das, was sie fordern, ist nicht umsonst zu haben. Es hat einen Preis. Und der besteht in nichts Geringerem als dem Abschied vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem Aufbau einer neuen, tatsächlich gerechten, menschenfreundlichen, nachhaltigen Wirtschaftsordnung und eines guten Lebens nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle Menschen dieser Erde. 

Schwerer Sturz von Urs Kryenbühl in der Abfahrt von Kitzbühel: Die Interessen der Menschen und die Interessen des Geldes

 

Das Abfahrtsrennen von Kitzbühel gilt als eines der gefährlichsten. Das zeigte sich heute einmal mehr, als der Schweizer Skirennfahrer Urs Kryenbühl auf der Schanze kurz vor dem Ziel das Gleichgewicht verlor, mit einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern mit dem Kopf auf der pickelharten Piste aufschlug und regungslos im Zielraum liegen blieb, bevor er mit dem Helikopter hospitalisiert wurde. Unglaublich, aber wahr: Sowohl Beat Feuz wie auch Dominique Paris und sogar der unter seinen Kollegen als „Wildsau“ geltende Maxence Muzaton hatten die Rennleitung bereits nach dem am Vortag durchgeführten Training darauf hingewiesen, dass der Zielsprung zu gefährlich und daher nicht zu verantworten sei, Carlo Janka bezeichnete den Zielsprung sogar als „tickende Zeitbombe“ – offensichtlich ohne Erfolg. Es scheint ganz so, als ob die Einschaltquoten der Fernsehübertragungen und das Geschäft mit der Werbung einen höheren Stellenwert haben als die Gesundheit der Athleten. Wenn dann, sobald etwas Fürchterliches geschieht, ein Aufschrei des Entsetzens durch die Reihen der Verantwortlichen und des Publikums geht, dann ist das mehr als scheinheilig: Man baut die Piste so, dass sie Stürze förmlich provoziert, und gibt sich dann völlig überrascht, wenn tatsächlich genau das passiert, was man eigentlich hätte verhindern können. Doch nicht nur Skirennfahrer und Skifahrerinnen, sondern auch Motorradfahrer, Kunstturnerinnen, Leichtathleten, Schwimmerinnen und Tennisspieler bezahlen mit ihrer Gesundheit, manchmal sogar mit ihrem Leben, für jene Gewinne, die dann früher oder später in die Kassen von Sportorganisatoren, Veranstaltern, Fernsehanstalten und all jener Firmen fliessen, die dank diesem oder jenem Event ihre Profite erzielen. Damit fügt sich der Spitzensport nahtlos in die kapitalistische Kosten-Nutzen-Rechnung ein: So wie der Arbeiter am Fliessband und die Detailhandelsangestellte im Supermarkt sind auch die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler nichts anderes als kleine Rädchen innerhalb einer grossen Maschine, die am Ende auf Teufel komm raus rentieren muss – mit welchen Opfern auch immer. Beat Feuz, Dominique Paris und Maxence Muzaton hätten sich eine andere Piste gewünscht – ihre Meinung zählte nicht. Auch die angehenden Kunstturnerinnen von Magglingen, welche brutalste Trainingsmethoden über sich ergehen lassen müssen, wurden wahrscheinlich nie gefragt, wie viele Trainingsstunden pro Tag sie zumutbar fänden. Und auch die Fahrer der Tour de France müssen sich über himmelhohe Berge quälen und sich auf glitschigem Kopfsteinpflaster der Gefahr von Stürzen aussetzen, ohne dass sie je dazu um ihre Meinung gebeten worden wären. Wie viele Stürze wie den heutigen von Urs Kryenbühl, wie viele kaputttrainierte Kunstturnerinnen, wie viele zerschundene Gelenke von Tennisspielerinnen und wie viele Massenkarambolagen von Radrennfahrern braucht es wohl noch, bis auch der Spitzensport wieder dorthin zurückkehrt, wo er einmal angefangen hatte: beim Wohlergehen und bei der Gesundheit der Menschen und, vor allem, bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung: mit dem eigenen Körper nur das zu tun, was ihm guttut und sich nicht von äusseren Interessen, Profitzwecken und der Schaulust des Publikums instrumentalisieren zu lassen.  

Sparmassnahmen bei Radio und Fernsehen: Über achttausend Jahre Knowhow, Wissen und Erfahrungen gehen verloren, einfach so, sang- und klanglos

Nachdem es zuerst verheimlicht wurde, ist es nun doch noch publik geworden: Nach „Aeschbacher“, „Schawinski“, „Eco“, „Sportaktuell“, „Mini Schwiz dini Schwiz“, „52 beste Bücher“, „Blickpunkt Religion“ und weiteren Sendungen soll nun auch „Netz Natur“ dem Sparhammer zum Opfer fallen, und dies, obwohl „Netz Natur“ zu den beliebtesten Fernsehsendungen gehört und mit durchschnittlich 553’000 Zuschauerinnen und Zuschauern einen Marktanteil von 30,6 Prozent erreicht.

„Unbeirrt“, so das St. Galler Tagblatt, „setzt SRF-Direktorin Nathalie Wappler ihren Kurs fort, geht mit der Axt durchs Haus und fällt im linearen Fernsehen eine Sendung nach der anderen – darauf hinweisend, dass im digitalen Bereich dafür etwas nachwachsen werde, doch was das sein könnte, weiss heute noch niemand genau.“ Logisch, dass sich ein solcher Kahlschlag auch auf den Personalbestand auswirken muss: Zwischen 2015 und 2020 wurden 740 Stellen abgebaut, in den kommenden Jahren sollen weitere 116 Stellen werden. Wenn man davon ausgeht, dass die betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durchschnittlich zehn Jahre lang bei SRF gearbeitet haben, dann bedeuten diese Entlassungen, dass innerhalb von ein paar wenigen Jahren über achttausend Jahre Knowhow, Wissen und Erfahrungen verloren gegangen sein werden, einfach so, sang- und klanglos.

Doch den schwarzen Peter bloss Nathalie Wappler in die Schuhe zu schieben, greift zu kurz. Die Axt, welche sie schwingt, hat sie nämlich von all jenen Firmen und Unternehmen bekommen, welche ihre Werbeaufträge bei SRF gekürzt oder gestrichen und damit jene Millionenlöcher geschlagen haben, welche die SRF-Direktorin nun so verzweifelt zu stopfen versucht. Aber selbst diese Firmen und Unternehmen als die eigentlichen „Schuldigen“ anzusehen, wäre zu kurzsichtig. Denn auch sie sind letztlich nichts anderes als Marionetten im kapitalistischen Welttheater, dessen Maxime in einem immer gnadenloseren gegenseitigen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Firmen und Unternehmen besteht, einem Konkurrenzkampf, in dem es stets bloss um die höchstmögliche Rendite geht, nicht aber um das Gemeinwohl und um die sozialen Bedürfnisse und Interessen der Menschen.

So lange wir in diesem Wirtschaftssystem leben, besteht die einzige Möglichkeit darin, zu definieren, welche Einrichtungen, Dienstleistungen und Angebote zur Grundversorgung gehören und welche nicht. Elemente der Grundversorgung müssten sodann ausschliesslich durch die öffentliche Hand finanziert werden, um nicht schwankendem privatwirtschaftlichen Engagement unterworfen zu sein. Ob Radio und Fernsehen zu dieser Grundversorgung gehören sollen oder nicht, genau darüber müsste man öffentlich und breit diskutieren. Jetzt und so schnell wie möglich – bevor so viel Geschirr zerschlagen ist, dass es nicht mehr wieder repariert werden kann.

SBB Cargo: Man kann etwas auch so lange „gesundschrumpfen“, bis es nicht mehr existiert

 

Eigentlich müssten gemäss der vom Schweizer Volk angenommenen Alpeninitiative Güter innerhalb der Schweiz vermehrt von der Strasse auf die Schiene umgelagert werden. Doch in der Realität ist genau das Gegenteil der Fall: Betrug der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter 1980 noch rund 60 Prozent, sind es heute gerade noch 23 Prozent. Wie ein Beitrag der „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 7. Oktober 2020 drastisch aufzeigte, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis SBB Cargo, das seit 2019 keine Subventionen mehr erhält und gemäss Gütertransportgesetz „eigenwirtschaftlich“, das heisst rentabel funktionieren muss, so gründlich gesundgeschrumpft ist, dass es am Ende gänzlich von der Bildfläche verschwunden sein wird. Alle Fakten und Zahlen deuten jedenfalls darauf hin: So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche kleinere Umladestationen aufgehoben und damit die Attraktivität des Angebots für viele Firmen aufgehoben. Zudem wurde die Belegschaft zwischen 2001 und 2020 von 5’091 auf 2’240 Angestellte reduziert, für die folgenden drei Jahre ist ein weiterer Abbau von 800 Stellen geplant. Kein Wunder, spricht Isabelle Betschart Kühne, Leiterin Produktion SBB Cargo, von einer unerträglichen Situation: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, uns geht buchstäblich das Geld aus, damit wir auch in Zukunft die Löhne bezahlen können.“ Da tönt es wie ein schlechter Witz, wenn Nils Planzer, Geschäftsführer der Planzer Transport AG und Mitbesitzer von SBB Cargo, meint, am Schluss müsse „SBB Cargo etwas Gesundes sein, das eigenwirtschaftlich ist und sich selber tragen kann.“ Dies, so Planzer, werde sicher bedeuten, dass SBB Cargo zukünftig weniger Mitarbeitende haben werde als jetzt. Wie weit sind wir eigentlich gekommen, dass der CEO eines Privatunternehmens, welches Güter auf der Strasse transportiert, auf die zukünftige Entwicklung der SBB Cargo offensichtlich mehr Einfluss hat als die öffentliche Hand? Es gibt nun mal aus strukturellen Gründen Unternehmen, die sich eben nicht „selber tragen können“. Was ist denn so schlecht daran, diesen unter die Arme zu greifen, vor allem dann, wenn höhere Interessen wie das Gemeinwohl oder, in diesem Falle, der Klimaschutz betroffen sind? Wenn SBB Cargo 1980, als es noch Bundessubventionen erhielt, 60 Prozent der Güter transportierte und heute nur noch 23 Prozent, dann müsste man schon sehr gute Argumente ins Feld führen, um nicht schleunigst wieder eine wie auch immer ausgestaltete Form von „Subvention“ von SBB Cargo einzuführen…   

 

 

 

Acht Herren aus Boston und das Schweizer Fernsehen: So wird die Demokratie ausgehebelt…

 

Bain & Company ist spezialisiert auf Unternehmensberatung, hat den Hauptsitz in Boston und betreibt auch ein Büro in Zürich. Bis zu acht Berater gingen während Wochen am Leutschenbach ein und aus und analysierten die Arbeitsprozesse beim Schweizer Fernsehen. Nun warten alle gespannt auf die Massnahmen, die SRF-Chefin Nathalie Wappler am kommenden 8. Oktober bekannt geben wird. Unter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von Schweizer Radio und Fernsehen ist der Unmut beträchtlich. Einige befürchten, dass der eigene Unternehmensbereich weggespart werden könnte. Andere kritisieren, dass mit der Verlagerung von Sendungen und Beiträgen auf digitale Kanäle immer nur über Strukturen und kaum über Inhalte geredet werde. Dessen ungeachtet treibt Wappler das Projekt „2024“ unbeirrt voran. Ziel ist es, ein junges Publikum zu erreichen, das sich abends nicht mehr vor der Flimmerkiste niederlässt. Wappler gab im August bereits die Absetzung der Sendungen „Eco“, „Einstein Spezial“, „Sportaktuell“ und „Viva Volksmusik“ bekannt. Gleichzeitig kündigte sie an, SRF werde vermehrt mit Angeboten auf Youtube und Instagram präsent sein, mit Comedy-Beiträgen in den sozialen Medien, mit einer digitalen Wissensplattform, Podcasts, Livestreams von Sportveranstaltungen und anderem mehr. Es ist davon auszugehen, das Wappler das traditionelle Fernsehprogramm weiter ausdünnen wird. Ein Fernsehjournalist spottet, im Oktober werde Wappler die „Tagesschau“ und „10 vor 10“ liquidieren. SRF verbreite seine Informationen künftig in einminütigen Filmchen auf Tiktok.(www.msn.ch)

Weshalb haben die TV- und Radiokonsumenten und -konsumentinnen am 4. März 2018 überhaupt über die No-Billag-Initiative abgestimmt? Über 71 Prozent der Stimmenden verwarfen diese Initiative und bekannten sich damit zur geltenden Gebührenordnung, um weiterhin ein qualitativ hochstehendes TV- und Radioprogramm sicherzustellen. Und nun gehen acht Berater eines US-amerikanischen Instituts ein paar Wochen lang durch die Studios des Schweizer Fernsehens ein und aus und stellen alles auf den Kopf. So wird Demokratie ausgehebelt. Wann gelangen wir endlich an den Punkt, nicht alles bloss an den Einschaltquoten zu messen? Eine Demokratie lebt nicht nur von der Mehrheit, sondern ganz besonders auch von den Minderheiten. Auch eine Sendung mit „nur“ 150’000 Zusehenden hat – vorausgesetzt, sie ist qualitativ gut – ihre Berechtigung. 150’000 Menschen, die sich ein Wirtschaftsmagazin wie „Eco“ oder die naturwissenschaftliche Sendung „Einstein Spezial“ anschauen, können eine ungleich viel grössere gesellschaftliche Wirkung entfalten als eine halbe Million Menschen, die sich eine Schlagersendung oder einen Quiz zu Gemüte führen, bei dem der Sieger oder die Siegerin 100’000 Franken gewinnen kann. Gesellschaftliche und soziale Veränderungen sind noch nie von Mehrheiten ausgegangen, sondern stets nur von Minderheiten. Sie zu schützen, ihnen die notwendigen Räume und Plattformen zu bieten sowie die hierfür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen: das wäre das höchste Gut der Demokratie. Hoffentlich vermag sich diese Einsicht noch rechtzeitig durchzusetzen, bevor die Herren aus Boston alles plattgewalzt haben…

 

                                   

Wie Apple-CEO Tim Cook einen historischen Beitrag für die Menschheit leisten will…

„Wenn wir in die Zukunft schauen, von dort zurückblicken und uns die Frage stellen, was der grösste Beitrag von Apple für die Menschheit war, wird es um Gesundheit gehen.“ So kündigte Apple-CEO Tim Cook Anfang 2019 in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNBC seine ganz grossen Visionen an. Und tatsächlich: Bereits kann die Apple Watch ein EGK an der Fingerkuppe erstellen und Stürze erkennen. Die neuste, soeben auf den Markt gekommene Version misst mit speziellen optischen Sensoren den Sauerstoffgehalt im Blut und soll frühzeitig Panikattacken oder erhöhten Stress feststellen. Den Userinnen und Usern dienen jede Menge kleiner Stupser, die sie zu einem gesunden Lebensstil ermuntern sollen: Erinnerungen für kurze Atemübungen, Vibrationen bei zu langem Sitzen oder „personalisiertes Ziel“ täglich verbrauchter Kalorien. Und die für Smartwatches von Fitbit entwickelte App „JalapeNO!“ soll Userinnen und User mithilfe einer kurzen Vibration am Handgelenk davon abhalten, sich ständig ins Gesicht zu fassen…

(Wochenzeitung, 10. September 2020)

Und dabei ist das noch längst nicht alles. Vitaminpräparate, Schlankheitskuren, Yoga, Säuglingsturnen, Wellnessferien, Ayurvedamassagen, Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungsberatung, Fitnessclub, Pilates, Altersturnen, Schönheitsoperationen – wohl zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort haben sich die Menschen so intensiv um ihre persönliche Gesundheit und ihr persönliches Wohlergehen gekümmert wie in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren in den wohlhabenden Ländern des Nordens bzw. in jenen Gesellschaftsschichten, die sich alle diese Angebote überhaupt finanziell leisten können. Doch was für ein Gegensatz zwischen solcher persönlicher Gesundheitsvorsorge und dem, was man als „globale“ Gesundheit bezeichnen könnte. Fast scheint es, je extremer sich viele Menschen um ihre persönliche Gesundheit kümmern, umso beharrlicher verschliessen sie die Augen vor jener anderen, viel umfassenderen Gesundheit, welche das Wohlergehen aller Menschen weltweit, das Wohlergehen der Natur, der Tiere, der Erde und der zukünftigen Generationen betrifft. Es ist nachgerade zynisch: Zum Fitnessclub, wo man seinen Körper stählt, fährt man mit dem Auto, verpestet die Umwelt und leistet seinen ganz persönlichen Beitrag zum Untergang der Menschheit. Mit technischen und elektronischen Apparaturen, welche die persönliche Gesundheit rund um die Uhr kontrollieren, beteiligt man sich, wissentlich oder unwissentlich, am Raubbau an seltener Erde und immer mehr zur Neige gehender Rohstoffe. Und selbst einen Flug um die halbe Erde mit all seinen katastrophalen ökologischen Auswirkungen nimmt man in Kauf, um sich an der Südküste von Sri Lanka in den Schatten eines Baumes zu legen, eine Ayurvedamassage zu geniessen und sich dazu köstliche Fruchtsäfte zur Reinigung und Stärkung des Verdauungsapparates servieren zu lassen. Wie wäre es, wenn Apple-CEO Tim Cook sein Versprechen, einen historischen Beitrag zur Gesundheit der Menschheit zu leisten, wirklich ernst nähme? Dann aber müsste er eine von Grund auf andere Apple Watch schaffen. Eine, die mit schrillem Ton jede Erwärmung der Erdatmosphäre um ein Tausendstel Grad signalisiert. Eine, die auf jede unnötige Autofahrt oder jeden unnötigen Flug mit dem Hinweis reagiert, dies alles sei tödlich. Eine, die auf ihrem Display pausenlos Bilder von Waldbränden, von schmelzendem Packeis und von ausgetrockneter, unfruchtbarer Erde zeigt und uns damit ohne Unterlass in Erinnerung ruft, dass Gesundheit nicht nur etwas Persönliches und Individuelles ist, sondern ein Allgemeingut in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt…

Zukunftstaugliche Verkehrsplanung: Das Ende des privaten Automobils

In nicht allzu weit entfernter Zukunft werden wir uns wohl die Augen reiben und nicht mehr begreifen können, dass so etwas je einmal möglich war: Da steht das mit einem Riesenaufwand an Material, Technik und Geld hergestellte und gekaufte private Motorfahrzeug zwölf oder vierzehn Stunden lang vor der Haustür und wartet darauf, dass ein siebzig oder achtzig Kilo leichtes Menschenwesen darin Platz nimmt, um sodann eine halbe oder nicht selten sogar eine ganze Tonne Stahl und Blech in Bewegung zu setzen, um dieses Menschenwesen in einer vielleicht halbstündigen Fahrt von A nach B zu bringen, auf endlosen Betonpisten im Gerangel mit Abertausenden Artgenossen, um sodann wieder vier oder acht Stunden stillzustehen und dabei erneut wieder eine Fläche zu beanspruchen, die man ebenso gut für eine Wiese, einen Kinderspielplatz oder einen Gemüsegarten hätte brauchen können.

Zukünftige Generationen werden sich an das private Automobil in ähnlicher Weise erinnern wie wir heutigen Menschen an die Dinosaurier: zu gross, zu fett, zu unbeweglich, zu gefrässig, nicht zukunftstauglich. Doch noch, aber das ist vielleicht bloss so etwas wie ein letztes Aufbäumen, ist immer noch etwas Heiliges um dieses private Glück auf vier Rädern, das nicht selten aufmerksamer und liebevoller gepflegt und gehätschelt wird als die eigenen Kinder. Noch geht ein Aufschrei durchs Land, wenn einer kommt und den Verzicht auf das eigene Privatauto fordert. Dabei wäre es doch so einfach und würde allen, sowohl denen, die heute noch ein Auto besitzen, wie auch denen, die bereits heute auf eines verzichten, unschätzbar viel mehr Vorteile als Nachteile bringen. Man stelle sich vor: Ein Land, in dem sich die Menschen ausschliesslich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen, in einem Netz, das so stark ausgebaut, fein verästelt und mit einem Taxidienst ergänzt würde, dass man nahezu jederzeit von jedem beliebigen zu jedem anderen beliebigen Ort gelangen könnte. Ein Land, in dem alle nur erdenklichen Anstrengungen unternommen würden, um Wohn- und Arbeitsorte so nahe zusammenzubringen, dass sich die Pendlerströme in Zügen und Bussen auf ein erträgliches Mass reduzieren würden. Ein Land, in dem nur noch Handwerker, Ambulanzen, die Feuerwehr und die Polizei mit Autos unterwegs wären und selbst die grossen Überlandlastwagen immer seltener anzutreffen wären, da die Güter in immer grösserer Zahl mit der Eisenbahn transportiert würden. Ein Land, in dem Abertausende von Quadratkilometern, die heute von Strassen, Brücken und Parkplätzen beansprucht werden, wieder frei wären für Fussgänger und Velofahrerinnen, für spielende Kinder und Vergnügungspärke, für Grünflächen, Bäume und Gemüsegärten. Nicht eine verlockende Vorstellung? Alle würden etwas gewinnen, niemand würde etwas verlieren.

Und wäre die Schweiz nicht das ideale Land, um ein solches Experiment zu verwirklichen? Fast schon einmal hätte es geklappt, nämlich im Kanton Graubünden, wo der Regierungsrat im Jahre 1900 ein Verbot aller Automobile auf den Strassen des Kantons erliess, welches erst 1925 durch eine Volksabstimmung wieder rückgängig gemacht wurde. Heute, fast hundert Jahre später und fast hundert Jahre gescheiter, könnten wir doch an diesem Punkt noch einmal neu anfangen. Kaum auszudenken, was dies auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus bewirken würde…