Nestlé-Chef Mark Schneider: “Hier tut sich etwas Gewaltiges”

 

Wie Nestlé-Chef Mark Schneider in einem Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 18. Oktober 2021 berichtet, gibt es heute bei den Vitaminen in den USA bereits personalisierte Angebote: Die Kundinnen und Kunden füllen einen umfangreichen Fragebogen aus und bekommen dann Beutelchen mit den Vitaminen, die auf sie abgestimmt sind. Ganz generell werde die Personalisierung von Nahrung zukünftig eine immer grössere Rolle spielen, da zum Beispiel jemand, der verengte Herzkrankgefässe habe, auf keinen Fall rotes Fleisch essen sollte, oder jemand, der einen Eisenmangel habe, unbedingt eisenhaltige Nahrung zu sich nehmen sollte. Schneider schwebt sogar eine Smartwatch vor, die durch die Haut lesen kann, um wichtige medizinische Daten permanent zu überprüfen. Doch nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Haustieren nimmt die Personalisierung der Nahrung laufend an Bedeutung zu. So verfüge Nestlé bereits heute über ein Tierfutter-Start-up, das Hundebesitzern Nahrung nach Hause schickt, die auf das eigene Tier abgestimmt sei. Denn ein Hund brauche je nach Grösse, Alter und Bewegung anderes Futter. Auch spiele es eine Rolle, ob ein Hund vor allem im Garten oder hauptsächlich in einem kleinen Apartment lebe. – Ich lese nochmals den Titel des zweiseitigen Interviews mit Mark Schneider: “Hier tut sich etwas Gewaltiges” und den Untertitel “Interview zur Ernährung”. Kann es tatsächlich sein, dass dieses “Gewaltige” einzig und allein darin besteht, die Nahrung für eine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung mit immer raffinierteren Mitteln zu “personalisieren”, während mit keinem einzigen Wort erwähnt wird, dass eine Milliarde Menschen vor lauter Hunger nicht eine einzige Nacht gut schlafen können und jeden Tag weltweit zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben? Sollte das “Gewaltige”, von dem der Chef des grössten multinationalen Nahrungsmittelkonzerns spräche, nicht darin bestehen, dass weltweit kein einziger Mensch mehr Hunger leiden müsste – bevor man an die Erfüllung von Luxusbedürfnissen für eine satte Minderheit der Weltbevölkerung auch nur im Entferntesten denken könnte? Aber ja, da habe ich mich gewaltig getäuscht. Denn wir leben ja nicht in einer Welt, in der das Wohlergehen aller Menschen die oberste Priorität hat. Wir leben in einer kapitalistischen Welt, in der die Güter schon lange nicht mehr dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern nur noch dorthin, wo die Menschen am meisten Geld haben, um sie auch tatsächlich kaufen zu können. Und es ist ja noch viel schlimmer: Unzählige Rohstoffe und Nahrungsmittel, die in den reichen Ländern “veredelt” und gewinnbringend verkauft werden, stammen aus Ländern, wo die Menschen auf den Feldern, Plantagen und in den Minen zu Hungerlöhnen schwerste Arbeit verrichten und auf fast alles verzichten müssen, was für die Menschen in den reichen Ländern des Nordens selbstverständlich ist. Man spricht so gerne von der Globalisierung und meint, aus der Sicht all jener, die davon profitieren, meistens durchaus etwas Positives. Aber diese Globalisierung ist fast ausschliesslich eine Globalisierung der Konzerngewinne und der Verwandlung von Blut, Tränen und Schweiss am einen Ende der Welt in das Gold und in den Luxus am anderen Ende der Welt. Wann endlich wird auch der Chef eines multinationalen Lebensmittelkonzerns nicht mehr ruhig schlafen können, wenn ihm bewusst geworden ist, welches die Opfer sind, denen er seine Profite verdankt? Und wann endlich wird das “Gewaltige”, über das gesprochen wird, nicht mehr eine immer weiter voranschreitende Globalisierung von Konzerngewinnen und eine immer grössere Kluft zwischen Arm und Reich sein, sondern eine Globalisierung der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens für ALLE?

 

“Squid Game” – eine ins Tödliche übersteigerte Form des Ultrakapitalismus

 

111 Millionen Haushalte hat die Netflix-Serie “Squid Game” bereits erreicht, so die “NZZ am Sonntag” vom 17. Oktober 2021. In “Squid Game” kämpfen Menschen, die von der Leistungsgesellschaft ausgeschieden wurden, ums nackte Überleben, getrieben von der Hoffnung, ein gigantisches Preisgeld zu gewinnen, um damit wieder in die Gesellschaft zurückzukehren – wenn sie das nicht schaffen, werden sie kaltschnäuzig hingerichtet. Doch trotz aller Brutalität ist im Film nie Blut zu sehen – die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben gleichsam “steriles” Töten und sollen offensichtlich nicht auf den Gedanken kommen, es könnte etwas Leidvolles und Schmerzliches sein. “Squid Game”, so der Filmwissenschafter Marcus Steinegger, “ist eine ins Tödliche übersteigerte Form des Ultrakapitalismus, wie wir ihn in unserer Gesellschaft erleben: In der heutigen Berufswelt müssen wir alle Top of the Game sein, an der Spitze stehen. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir weg. Und diesem Wettkampf sind schon die Kinder und die Jugendlichen von klein auf ausgesetzt.” Ich frage mich, was für einen Nutzen Filme wie “Squid Game” haben sollen – ausser natürlich für die Produzenten des Films und aller anderen, die damit Geld verdienen. Es ist die uralte Frage: Wird das Aggressionspotenzial, das in jedem Menschen auf die eine oder andere Weise schlummert, durch den Konsum solcher Medienprodukte abgebaut und “unschädlich” gemacht, oder doch eher zusätzlich angeheizt? Das Beispiel einer belgischen Primarschule, wo die Kinder auf dem Pausenplatz “Squid Game” nachgespielt und ihre Kolleginnen und Kollegen, die beim Spiel verloren hatten, verprügelt haben, deutet doch eher darauf hin, dass Verhaltensmuster von Ausgrenzung und Gewalt als Folge der entsprechenden “Vorbilder” eher verstärkt als in harmlose Bahnen gelenkt werden. Grundsätzlich ist ja davon auszugehen, dass jedes Kind von Natur aus eine “fürsorgliche” wie auch eine latent “feindselige” Seite hat. Da müsste doch, wenn wir an das Zusammenleben der Menschen und die gegenseitige Solidarität im Kleinen wie auch im Grossen denken, alles unternommen werden, um die fürsorgliche Seite der Menschen zu stärken und zu fördern. Diese Forderung steht freilich in absolutem Gegensatz zur Medienindustrie, der es um nichts anderes geht, als – im Sinne des Kapitalismus – in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Das ist in doppeltem Sinne fragwürdig: Zum einen, indem die latent vorhandene Aggressivität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen schamlos ausgenützt und zu Geld gemacht wird, zum einen aber auch dadurch, dass gerade Filme wie “Squid Game” durch das Glorifizieren gewalttätiger “Helden” genau dieses kapitalistische Muster einer gnadenlosen Klassengesellschaft, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind, zusätzlich anheizt und als das “Normale” erscheinen lässt – ohne auch nur im Entferntesten eine Alternative dazu aufzuzeigen. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann einen Film mit dem Titel “Squid Game, Teil zwei”. In dieser Fortsetzungsgeschichte gäbe es keine Waffen, nur die Waffen der Liebe. Es gäbe keine Ausgrenzungen, nur die Macht gegenseitiger Solidarität. Es gäbe auch keine Siegerpodeste, keine Wettbewerbe, keine Siege und keine Niederlagen, nur eine Welt, in der jeder Mensch voller Selbstvertrauen, voller Wertschätzung und gegenseitiger Anerkennung leben könnte… 

Hurra, jetzt dürfen auch die Kundinnen und Kunden von Coop schon das Personal bewerten und können erst noch einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen…

 

Wie das Gratisblatt “20minuten” am 20. September 2021 berichtet, sollen Kundinnen und Kunden von Coop zukünftig das Verhalten und das Auftreten des Personals an der Kasse und auf der Verkaufsfläche bewerten können, auf einer Skala von 0 bis 5. Coop hat zur Einführung dieses Bewertungssystems sogar extra ein Gewinnspiel lanciert: Wer sich am Bewerten aktiv beteiligt, kann einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen. Wenn ich also zukünftig meinen Einkauf auf das Rollband lege und mir die Kassierin freundlich zulächelt, dann werde ich nicht mehr wissen, ob es sich da einfach um eine ganz spontane und freundliche Mitarbeiterin handelt, ob ich ihr besonders sympathisch bin oder ob sie das nur deshalb tut, um eine möglichst positive Bewertung zu ergattern. Das Gleiche im Hotel und im Restaurant, wo die Gäste schon seit Längerem die Möglichkeit haben, übers Internet eine Beurteilung des in Anspruch genommenen Angebots vorzunehmen, so dass auch die Zimmermädchen, die Köche, der Herr am Empfang und die Kellnerinnen bei jedem Handgriff und jeder Bewegung wissen, dass dieses oder jenes Verhalten oder dieses oder jenes falsche Wort zur falschen Zeit eine negative Gästebewertung zur Folge haben könnte – und folglich höchstwahrscheinlich auf eine entsprechende Rüge ihres Arbeitgebers. Bald werden wir wahrscheinlich auch schon die Arbeit unserer Physiotherapeutin, unseres Fitnesstrainers, unserer Krankenpflegerin, unserer Zahnärztin, unseres Briefträgers und unserer Coiffeuse via Internet bewerten können und alle werden sich jede erdenkliche Mühe geben, um in den Genuss einer positiven Bewertung zu gelangen. Nun, was soll daran so schlecht sein? Erstens töten solche Bewertungssysteme jegliche Spontaneität ab. Das Lächeln der Kellnerin, die anschliessend von ihrem Gast bewertet wird, gleicht dem Lächeln von Sportgymnastinnen und Synchronschwimmerinnen, die auch dann noch ein Lächeln auf dem Gesicht haben, wenn ihr Körper vor Anstrengung und vor Schmerzen fast zerbricht. Weit ist da der Weg nicht mehr hin bis zu jenen Robotern, die ihre Kundinnen und Kunden zwar perfekt bedienen – wie das heute in japanischen Hotels und Restaurants schon gang und gäbe ist -, stets ein Lächeln auf dem Gesicht haben, nie ihre Geduld verlieren, nie einen Fehler machen – dafür aber keine Seele mehr haben. Die Coiffeuse, die eine wunderbare Frisur herbeizaubert, die Verkäuferin im Modegeschäft, welche ihre Kundinnen besonders einfühlsam berät, der Koch, der sich alle Mühe gibt, ein feines Gericht zuzubereiten: Sie alle haben das auch vorher schon nach bestem Wissen und Gewissen gemacht, doch jetzt stehen sie bei jeder Bewegung und jedem Wort im Blickfeld eines unsichtbaren Auges. Ein durch nichts zu rechtfertigender Eingriff in die Persönlichkeit der Betroffenen, denen man aus völlig unerklärlichen Gründen nun auf einmal all das, was bisher selbstverständlich war und nichts anderem entsprang als der Leidenschaft und der Liebe zu ihrer Arbeit, nun auf einmal nicht mehr zuzutrauen scheint – als wären es Marionetten, die nur dann funktionieren, wenn einer oben ist, alle Fäden in der Hand hält und die Figuren richtig zu führen weiss. Zweitens, und das erscheint mir noch schlimmer: Solche Bewertungssysteme verschlimmern all jene “Untertanenverhältnisse”, die bereits vor der Einführung des Bewertungssystems bestanden, erst recht. Das Leitmotiv, wonach der Kunde König sei, wird nun erst recht auf die Spitze getrieben. Hat sich der Gast früher über ein Essen, das ihm nicht schmeckte, bei der Kellnerin beschwert, so saust er nun nach dem Essen nach Hause und hackt seine negative Bewertung in den Computer. Da negative Bewertungen erfahrungsgemäss häufiger gegeben werden als positive, erhöht dies zusätzlich den Druck auf die Angestellten. Das zutiefst Unmenschliche daran ist, dass die Kundinnen und Gäste zwar stets – ganz nach dem Motto: wer zahlt, befiehlt – auch ihre schlechten Tage haben und auch mal unfreundlich oder sogar herablassend und verletzend sein dürfen – man dem Personal aber genau dieses Recht, auch mal einen schlechten Tag oder auch mal eine schlechte Laune zu haben, verwehrt. Kein Wunder, wird es immer schwieriger, genügend Personal für Jobs zu finden, die einerseits überaus streng und schlecht bezahlt sind und in denen man anderseits so gnadenlos der Willkür von Kundinnen und Gästen ausgeliefert ist. Seit ich unlängst der Bäckerin im Supermarkt, wo ich regelmässig einkaufe, dafür gedankt habe, dass sie stets so gutes Brot backe, grüsst sie mich jedes Mal schon von Weitem, wenn sie mich beim Einkaufen sieht. Und auch die Kellnerin im Restaurant, wo ich kürzlich zu Mittag gegessen habe, strahlte übers ganze Gesicht, als ich ihr für die freundliche und zuvorkommende Bedienung ein herzliches Dankeschön ausgesprochen habe. Wäre das nicht eine viel effizientere – und erst noch billigere – Methode, um Menschen für ihre Arbeit zu motivieren, statt sie rund um die Uhr mit Argusaugen zu beobachten, zu vergleichen und zu bewerten?

Modebranche: Zehnmal höhere klimaschädliche Emissionen als der Flugverkehr

 

Kleider und Schuhe kosten in den USA, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 31. August 2021, inflationsbedingt 50 Prozent weniger als 1990. Grund ist der erbitterte Preiskampf zwischen den verschiedenen Herstellern um die Gunst der Kundschaft. So etwa unterbieten sich Bohoo und Pretty Little Thing, zwei britische Billigketten, gegenseitig mit Preisen von 5 bis 6 Pfund für ein Sommerkleid. Die Folge: Es wird um ein Vielfaches mehr gekauft, als man eigentlich sinnvollerweise bräuchte. Und so landet von den weltweit 100 Milliarden Kleidungsstücken gemäss einer UBS-Studie mehr als die Hälfte innert einem Jahr auf der Müllhalde oder in einer Verbrennungsanlage. In den USA werfen Frauen sogar 60 Prozent ihrer neuen Kleider weg, ohne dass sie diese auch nur ein einziges Mal getragen haben. Das bleibt nicht ohne katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt: Während der Flugverkehr für 2 bis 3 Prozent klimaschädlicher Emissionen verantwortlich ist, muss sich die Modebranche fast zehn Prozent anrechnen lassen. Jährlich fallen der Modeindustrie allein für Rayon- und Viscosefasern 200 Millionen Bäume zum Opfer. Zudem werden ausschliesslich für Verpackungsmaterialien 3,5 Milliarden Bäume verbraucht. Doch die Modebranche ist nur eines von zahlreichen Beispielen, die zeigen, auf wie wackligen Füssen unsere bisherigen Anstrengungen gegen den Klimawandel stehen. Eine Erhöhung der Benzinpreise, eine Flugticketabgabe oder Heizungs- und Gebäudesanierungen – alles gut gemeint, aber letztlich doch nicht mehr als ein paar Tropfen auf einen heissen und sogar immer noch heisser werdenden Stein. Dieser heisse Stein, das ist eine Weltwirtschaft, die stärker brummt denn je zuvor. Eine Wirtschaft, die uns Menschen in den reichen Ländern täglich neue “Bedürfnisse” aufzuschwatzen sucht. Eine Wirtschaft, die Bäume am einen Ende der Welt fällt, um sie als Möbelstücke am anderen Ende der Welt zu verkaufen. Eine Wirtschaft, die in immer kürzeren Intervallen neue elektronische Kommunikationsmittel entwickelt und uns weiszumachen versucht, dass unser zwei Jahre altes Smartphone schon nicht mehr zeitgemäss sei, während die bereits unermesslich hohen Elektroschrottberge irgendwo in Afrika immer noch weiter in den Himmel wachsen. Eine Wirtschaft, die uns vorgaukelt, das Fahren mit einem SUV sei ein so grosses Vergnügen, dass niemand, der es sich leisten kann, darauf verzichten sollte. Eine Wirtschaft, die uns so viele Nahrungsmittel zu so geringen Preisen anbietet, dass wir viel zu viel kaufen und ein Drittel davon im Müll landet – während gleichzeitig eine Milliarde Menschen weltweit nicht genug zu essen haben. Wer, im Zusammenhang mit dem Klimawandel, nur an die CO2-Emissionen denkt, der denkt viel zu kurz. Es geht nicht ausschliesslich um die Klimaerwärmung. Es geht im weitesten Sinne um unsere Lebensgrundlagen als Ganzes. Es geht um die natürlichen Ressourcen, um einen nachhaltigen Umgang mit Rohstoffen, um saubere Luft, um sauberes Trinkwasser, um den Fortbestand von Wäldern, natürlichen Lebensräumen und das Weiterleben von Pflanzen und Tieren. Wer sich einbildet, ein paar punktuelle Massnahmen würden genügen und dann könnten wir wieder in alter Gewohnheit unseren verschwenderischen Lebensstil weiterführen, wird sich höchstwahrscheinlich täuschen. Es braucht mehr, viel mehr als das. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen all dem, was ausser Rand und Band geraten ist. Ein Gleichgewicht zwischen den Menschen und ihrem universellen Recht auf die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse anstelle von masslosem Reichtum auf der einen und massloser Armut auf der anderen Seite. Ein Gleichgewicht zwischen den Menschen, die hier und heute leben, und all den Generationen, die ihnen folgen werden. Ein Gleichgewicht zwischen dem, was die Menschen verbrauchen, und dem, was die Natur wieder nachwachsen lässt. Ein Gleichgewicht zwischen dem, was die Wirtschaft produziert, und dem, was die Menschen tatsächlich zur Erfüllung eines guten Lebens brauchen. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: “Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.”

Deutsche Bundestagswahlen: Wo sind die Visionen?

 

Erste öffentliche TV-Debatte auf RTL am 29. August 2021 zwischen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet. Doch wer genau hingehört hat, dem muss aufgefallen sein: Nur auf den ersten Blick ging es dabei um unterschiedliche politische Positionen und Programme zwischen den drei Parteien und den drei Kanzlerkandidaten. Denn im Kern waren sich alle einig: Der Kapitalismus bleibt als herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unangetastet, die Frage nach einer “Systemänderung” ein Tabu, an dem nicht gerüttelt wird, nicht einmal von den “Linken”, die am “Kanzlergipfel” infolge ihrer tiefen Umfragewerte schon gar nicht einmal vertreten waren. Somit gaukeln die verschiedenen Parteien eigentlich nur eine demokratische Vielfalt vor, während sie tatsächlich nichts anderes sind als die Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Dabei wäre die Frage nach einer Systemänderung, nach einer Überwindung des Kapitalismus drängender, ja geradezu lebensnotwendiger denn je. 500 Jahre Kapitalismus haben unseren Planeten an den Abgrund gefahren: Während er einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung sagenhaften Reichtum beschert hat, wurden ganze Länder und halbe Kontinente ins Elend gestürzt. Auch in den “reichen” Ländern sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich grösser denn je und nehmen laufend noch zu. Zudem haben die Unersättlichkeit und Profitgier des kapitalistischen Wachstumsprinzips dazu geführt, dass schon weite, früher fruchtbare Lebensräume unbewohnbar geworden sind und der fortschreitende Klimawandel das Überleben ganzer zukünftiger Generationen in Frage stellt. Wie wenn das alles noch nicht genug wäre, haben der weltweite kapitalistische Konkurrenzkampf um Märkte und Rohstoffe und das damit verbundene Wettrüsten dazu geführt, dass heute weltweit Waffenarsenale zur Verfügung stehen, welche die Menschheit gleich mehrfach vernichten könnten. Noch ist es nicht ganz so weit, doch wir stehen unmittelbar davor: Es kommt der Punkt, da gibt es keine Kompromisse mehr, keine Kompromisse mit der Natur, keine Kompromisse mit der Gerechtigkeit, keine Kompromisse mit dem Frieden, nur noch ein Scheideweg, der auf der einen Seite in den Abgrund führt, auf der anderen in ein von Grund auf neues Zeitalter. Der Schritt in dieses neue Zeitalter wird nicht gehen ohne ein neues Denken, eine neue Sprache, eine neue Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Sanftmut und Liebe. Die Jugendlichen der Klimabewegung leben es uns vor: Da ist etwas Neues in die Welt gekommen, noch zaghaft, aber unbeirrt und voller Lebenskraft. Eine neue Zeit, in der nicht mehr wohlgeschliffene Politiker mit ihren jahrhundertealten Worthülsen das Sagen haben, sondern Philosophen und Poetinnen, die uns eine neue Geschichte erzählen, Kinder und Jugendliche, die von einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit träumen. Als die DDR 1989 kollabierte und das sozialistische Schiff unterging, gab es ein zweites Schiff, auf das sich die Menschen retten konnten, das kapitalistische Schiff der “Freien Marktwirtschaft”. Heute ist es schwieriger. Jetzt, wo auch das kapitalistische Schiff in tödliches Schlingern geraten ist, steht kein drittes Schiff zur Verfügung, welches uns retten könnte. So braucht es unsere ganze Phantasie, unsere ganze Erfindungsgabe, um ein drittes Schiff zu bauen, das uns in die Zukunft tragen kann. Ob nicht auch Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet, ja wir alle diesen Traum insgeheim tief in unseren Herzen tragen, jenen Traum von einer friedlichen und gerechten Welt, der für jedes Kind schon bei seiner Geburt lebendig ist, ein Traum, der uns alle gegenseitige Rechthaberei, jedes gegenseitige Machtgebaren und alle gegenseitigen Schuldzuweisungen vergessen machen und uns Menschen weltweit miteinander verbinden könnte? Ganz so, wie es schon vor über 50 Jahren der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King vorausgesehen hatte, als er sagte: “Entweder lernen wir, als Brüder und Schwester gemeinsam zu überleben, oder wir gehen als Narren miteinander unter.”

Pannenserie bei der Swisscom: Alles begann bereits am 1. Januar 1998…

 

Kurz vor Mitternacht des 8. Juli 2021 bis am Vormittag des 9. Juli kurz vor acht Uhr war das schweizerische, von der Swisscom betriebene Telefonfestnetz weitgehend zusammengebrochen. Davon betroffen waren auch alle Notrufnummern. Und dies ausgerechnet in einer Nacht, in der ungewöhnlich viel Regen fiel und an vielen Orten Überschwemmungsgefahr drohte. Störungen ähnlichen Ausmasses hatte es bei der Swisscom bereits Anfang und Mitte 2020 gegeben. Da mutet es wohl wie ein schlechter Witz an, dass bis 2022 bei der Swisscom ein Sparprogramm läuft mit dem Ziel, jedes Jahr 100 Millionen Franken einzusparen – unter anderem durch den Abbau mehrerer hundert Stellen. Doch eigentlich hätte man dies alles schon am 1. Januar 1998 voraussehen können. An diesem Tag nämlich wurde der schweizerische Telekommunikationsmarkt liberalisiert, das Monopol des früheren Staatsbetriebs PTT zerschlagen und das Feld eines künftigen gegenseitigen Wettlaufs zwischen verschiedenen privaten und staatlichen Anbietern eröffnet. Was kommen musste, kam: Im gegenseitigen Konkurrenzkampf war nun jeder Anbieter darauf aus, den anderen so viele Kundinnen und Kunden abzujagen wie nur möglich, und dies mit Werbekampagnen, welche Unsummen von Geld verschlangen. Und wie anders soll zusätzliche Kundschaft gewonnen werden, wenn nicht durch möglichst tiefe Preise? Und wie können die Preise möglichst tief gehalten werden, wenn nicht durch einen möglichst niedrigen Personalbestand oder, falls nötig, durch Entlassungen? Heute sucht man bei der Swisscom nach den Schuldigen für diese verheerende Panne vom 8. und 9. Juli, doch die wahren Schuldigen, das sind weder die Chefs noch die Angestellten der Swisscom, die wohl alle ihr menschenmöglich Bestes geben. Der tatsächliche Schuldige ist die verrückte Idee, ein Dienstleistungsunternehmen, das über Jahrzehnte bestens funktioniert hatte, willentlich zu zerschlagen und den zerstörerischen Kräften des Freien Marktes zum Frass vorzuwerfen… 

2050: Im Museum des Kapitalismus

 

In Berlin gibt es das Museum der DDR, wo die Besucherinnen und Besucher einen umfassenden Einblick bekommen, wie man im ehemaligen Ostdeutschland lebte und wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft damals organisiert waren. Stirnerunzeln, Verwunderung, ungläubiges Staunen und nicht selten auch Erleichterung darüber, dass die damalige sozialistische Staatsmacht mit ihrer Einheitsdoktrin und einem umfassenden Spitzelsystem endgültig der Vergangenheit angehört. Rund 60 Jahre später, im Jahre 2050 oder so, wird es in New York, London oder Singapur das Museum des Kapitalismus geben und auch dort werden die Besucherinnen und Besucher aus dem Staunen nicht herauskommen, dass so etwas jemals möglich war. Dass ein Hundertstel der Weltbevölkerung fast die Hälfte des gesamten Weltvermögens besass und die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung gerade mal einen Hundertstel davon. Dass es sich die Menschen in den reichen Ländern des Nordens leisten konnten, mehr als einen Drittel der eingekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen, während weltweit jeden Tag zehntausend Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Dass nicht wenige Menschen in den reichen Ländern, selbst ohne zu arbeiten und bloss aus dem Anteil an Erbschaften oder Aktien, an jedem einzelnen Tag um ein Vielfaches mehr verdienten als ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Textilarbeiterin in Bangladesch trotz härtester Arbeit während ihres ganzen Lebens. Dass die Menschen aus den reichen Ländern in alle Länder der Welt reisen konnten und überall mit wärmster Gastfreundschaft willkommen geheissen und verwöhnt und ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde, während umgekehrt die Menschen aus den armen Ländern, wenn sie in den reichen Ländern Schutz vor Armut oder Krieg zu finden hofften, bloss mit Stacheldrahtzäunen, meterhohen, unüberwindbaren Mauern, Hass und Ablehnung empfangen wurden. Dass nicht nur die armen Menschen den reichen Menschen wie Sklaven und Sklavinnen ausgeliefert waren und damit der Reichtum der Reichen in immer schwindelerregendere Höhen hinaufgetrieben wurde, sondern dass in diesem Plan unaufhörlichen Wachstums auch die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Natur dem Zweck endloser Profitmaximierung unterworfen waren: masslose Abholzung von Regenwäldern im Sekundentakt, Gifte und immer aggressivere Anbau- und Erntemethoden zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, Tropenfrüchte aus Hungergebieten auf den Tellern der Reichen, Abertausende Hühner zusammengepfercht in viel zu engen Ställen, die sich gegenseitig zu Tode bissen. Und dass zu allem Überdruss, wie wenn das nicht alles schon genug wäre, Unmengen von Geld weltweit in die militärische Aufrüstung gesteckt wurden und so viele Waffen aufgetürmt worden waren, dass man die ganze Erde damit gleich mehrfach hätte vernichten können. Und wenn jetzt in diesem Museum des Kapitalismus ein Kind seine Mutter oder seinen Vater fragt, wie denn das alles möglich gewesen sei und wie die Menschen das alles ausgehalten hätten, reich zu sein, während andere hungerten, und so viele andere seltsame Dinge zu tun, obwohl sie ja wussten, dass sie damit ihren eigenen Untergang herbeiführen würden, wenn ein Kind alle diese Fragen stellt, dann wird sich seine Mutter oder sein Vater wohl lange überlegen müssen, was für Antworten sie darauf geben könnten. Und dann, nach langem Überlegen, wird der Vater oder die Mutter vielleicht sagen: Weisst du, das ist zwar schwer zu erklären, aber ich glaube, es war die Macht der Gewohnheit. Wenn man genug lange etwas tut und alle anderen es auch tun und auch früher schon alle es getan haben, dann meint man, es sei normal, obwohl es eigentlich verrückt ist. Schon den Kindern hatte man mit der Muttermilch den Kapitalismus eingeträufelt und in der Schule ging dann das nahtlos weiter und die Kinder lernten, gegeneinander um Macht, Ansehen und Erfolg zu kämpfen, egal, ob andere darunter litten oder nicht. Auch die Ökonomen, die am ehesten noch etwas hätten ändern können, waren von der kapitalistischen Muttermilch durchdrungen und predigten die Lehre des Kapitalismus in allerhöchstens sich unerheblich voneinander unterscheidenden Varianten. Und auch die Politiker und Politikerinnen verhielten sich nicht anders. Man redete zwar von Demokratie und von Freiheit, aber im Grunde waren auch die verschiedenen Parteien nichts anderes als einzelne Flügel einer grossen kapitalistischen Einheitspartei und unterschieden sich nur durch unerhebliche Differenzen. Die Menschen meinten zwar, sie hätten die alten Religionen überwunden und lebten in völliger Freiheit. Im Grunde aber war diese Freiheit nichts anderes als ein unsichtbares Gefängnis, in dem sich eine ganz neue Religion etabliert hatte, die Religion des Geldes. Für Geld taten sie alles, es anzuhäufen, es anderen abzutrotzen, aus ihm Häuser zu bauen, die bis in den Himmel wuchsen, ja selbst um damit ihren eigenen Untergang vorzubereiten. Erstaunt und ein bisschen durcheinander von so viel Unbegreiflichem will das Kind nun wissen, wie denn das Zeitalter des Kapitalismus zu Ende gegangen sei. Das, sagt seine Mutter, sei keine einfache Frage. Vieles sei zur gleichen Zeit an vielen Orten anders geworden. Schlüsselfiguren seien Kinder und Jugendliche gewesen, an vorderster Front eine sechzehnjährige schwedische Schülerin namens Greta, die im Jahre 2017 eine millionenfache weltweite Bewegung ausgelöst hätte, zunächst gegen den drohenden Klimawandel und seine zerstörerischen Folgen für die Zukunft der Menschheit, dann aber immer mehr auch für die Vision einer von Grund auf neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Basis sozialer Gerechtigkeit und eines guten Lebens für alle. Irgendwann, berichtet die Mutter, sei die Bewegung nicht mehr aufzuhalten gewesen, umso mehr, als immer mehr Menschen erkannt hätten, dass sowohl der Klimawandel, wie auch die haarsträubenden Gegensätze zwischen Arm und Reich, die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur im Dienste schrankenloser Profitmaximierung und letztlich auch all die Kriege um Macht, Rohstoffe und Profite alle den gleichen Ursprung gehabt hätten, eben das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wahrscheinlich sei es vor allem den Kindern und Jugendlichen, die einen so wesentlichen Anteil an diesem Wandel getragen hätten, aber auch den Frauen, die ebenfalls führende Rollen übernommen hätten, zu verdanken, dass der Übergang von der kapitalistischen in die nachkapitalistische Zeit so gewaltlos und sanft verlaufen sei – eine Revolution ohne Blutvergiessen, etwas, was die Menschheit in dieser Form noch nicht gekannt hätte…

Wenn 55 Prozent der Deutschen finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt

 

“Die CDU ärgert sich rot und grün” – so kommentiert die Tagesschau des Schweizer Fernsehens das Ergebnis der Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021. Und der “Tages-Anzeiger” spricht gar von einem regelrechten “Debakel für die CDU”. In der Tat: Während in Baden-Württemberg die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer obenaus schwangen, brach die CDU auf historische Tiefstwerte ein. Bei den übrigen Parteien hielten sich Verluste und Gewinne in engen Grenzen, auffallend ist einzig das schlechte Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern. So weit so gut – oder eben so schlecht, je nachdem von welcher politischen Warte aus man es betrachtet. Doch handelt es sich bei solchen “demokratischen” Wahlen nicht letztlich um eine Farce, eine immense Selbsttäuschung, ein in letzter Konsequenz durch und durch inszeniertes Nullsummenspiel? Wie komme ich auf diesen Gedanken? Nun, wenn man sich die Inhalte der einzelnen Parteien etwas näher anschaut, dann gibt es zwar durchaus gewisse graduelle Unterschiede. Doch letztlich stehen alle auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Keine der zur Wahl angetretenen Parteien fordert klar und deutlich die Überwindung des Kapitalismus und aller mit ihm verbundenen Zwangsläufigkeiten von der laufend weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Gewinnmaximierung bis hin zum blinden Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, der Hauptursache für den Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen. Selbst die “Linke”, die man sich noch am ehesten als antikapitalistische Kraft vorstellen könnte, führte einen überaus moderaten Wahlkampf. Schaue ich mir die Website der “Linken” an, so wird zwar an wenigen Stellen der Begriff Kapitalismus mit dem Hinweis auf seine Unzulänglichkeiten erwähnt, die ganze Palette der von der Partei vorgeschlagenen Reformen bewegt sich aber insgesamt innerhalb der kapitalistischen Logik, man hat den Eindruck, dass die Partei den Kapitalismus nicht wirklich überwinden will – sonst müssten ihre Forderungen viel radikaler sein -, sondern bestenfalls zähmen, so wie dies, weniger weit gehend, auch die SPD anstrebt. Selbst die als Aussenseiterpartei angetretene “Klimaliste” beschränkt sich auf die Forderung nach “konsequenten Klimaschutzmassnahmen” und verzichtet auf die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Kapitalismus zweifellos unverkennbar ist. Grob gesagt: Eine Demokratie, welche diesen Namen verdient, müsste den Menschen nicht nur die Wahl zwischen ein bisschen mehr oder weniger Umweltschutz, zwischen ein bisschen mehr oder weniger sozialer Sicherheit oder ein bisschen mehr oder weniger Förderung des öffentlichen Verkehrs anbieten. Sie müsste den Menschen auch die Wahl anbieten, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben möchten, oder ob die Zeit reif wäre dafür, diesen Kapitalismus mit allen mit ihm verbundenen Unzulänglichkeiten und Zerstörungen zu überwinden. So gesehen sind die herrschenden “demokratischen” Parteien nicht wirkliche Alternativen, zwischen ihnen liegen keine Welten, ihr Denken und ihre Sprache sind beinahe deckungsgleich, sie sind, einfach gesagt, nur Nuancen und Fraktionen einer Grossen Kapitalistischen Einheitspartei, zu der eine antikapitalistische Gegenpartei als echte Alternative schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Wenn die “Sieger” dieser Landtagswahlen nun jubeln und die “Verlierer” am Boden zerstört sind, dann jubelt, unsichtbar, vor allem einer: Der Kapitalismus. Er ist noch einmal davon gekommen. Er ist wieder für vier Jahre an der Macht – egal ob ganz vorne die CDU, die SPD oder die Grünen stehen. Nun könnte man einwenden, dass die Menschen mit dem kapitalistischen “Einheitsbrei” offensichtlich einverstanden seien und sich eine Alternative zum kapitalistischen System gar nicht wünschen. Für diese These würde auch die Tatsache sprechen, dass die “Linke”, die noch am ehesten einer antikapitalistischen Kraft entspricht, weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die 5-Prozent-Hürde der Wählerinnen- und Wählerstimmen geschafft hat. Offensichtlich aber klafft die tatsächliche Lebensrealität der Bevölkerung und die Welt der Politik meilenweit auseinander. Denn, wie eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 ergeben hat, finden nur zwölf Prozent der befragten Deutschen, dass das “System für sie arbeitet”, 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form “mehr schadet als nützt”. Woher dieser immense Widerspruch? Die Menschen scheinen immer deutlicher zu spüren, dass irgendetwas “nicht mehr stimmt”. Aber sie sehen noch keine Alternative. Die einzige Alternative, die sie kennen, sind der Kommunismus und der Sozialismus der früheren DDR und der Sowjetunion. Und das, nämlich die Wiederholung gescheiterter Gesellschaftsmodelle, will freilich niemand, und deshalb klammert man sich lieber an den Kapitalismus, den man wenigstens kennt und von dem man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, erhofft, dass trotzdem alles eines Tages besser wird. Das Fazit: Es müsste darum gehen, eine Gesellschaftsutopie zu entwickeln, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern ebenso den Sozialismus und den Kommunismus früherer Zeiten. Eine solche Alternative muss es geben – will sich die Menschheit nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Das beste Potenzial, um eine solche Alternative zu entwickeln, hätte wohl die “Linke”. Hierzu freilich müsste sie mehr als eine Überwindung des Kapitalismus fordern. In jedem einzelnen Punkt müsste sie aufzeigen, wie jenes Leben aussähe, von der wir doch alle insgeheim träumen, ein Leben ohne gegenseitige Ausbeutung und gegenseitigen Konkurrenzkampf, ein Leben in sozialer Gerechtigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Und selbstverständlich muss eine solche Vision länderübergreifend entwickelt werden – so wie der Kapitalismus international vernetzt ist, genau so müssten sich auch die antikapitalistischen Kräfte international vernetzen. Im September sind die deutschen Bundestagswahlen. Es bleibt noch Zeit, an der Vision für eine Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten…

Plädoyer für die Arbeit der Hausfrau und des Hausmanns

 

“50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts und zahlreicher Debatten über Gleichstellung später dominiert nach wie vor das traditionelle Rollenmodell: Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeitet er Vollzeit, sie gar nicht oder Teilzeit, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen.” Soweit ein Kommentar im “St. Galler Tagblatt” vom 10. März 2021 zu einem Urteil des Bundesgerichts, wonach sich Frauen nach einer Scheidung wieder schneller in den Arbeitsmarkt eingliedern sollten. Habe ich richtig gelesen? Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeiten die meisten Frauen gar nicht oder höchstens Teilzeit? Was für eine Beleidigung all jener Frauen, die “nur” Hausfrauen sind, sich “nur” um die Pflege und Erziehung ihrer Kinder kümmern, “nur” den Haushalt besorgen und “nur” kochen, waschen, putzen und aufräumen. Wenn ich bei meiner Schwiegertochter und ihren vier Kindern zu Besuch bin, dann habe ich jedenfalls nie den Eindruck, sie würde “nicht arbeiten”. Ganz im Gegenteil: Ihre Arbeitstage sind lange und anstrengend, oft kommt sie nicht einmal nachts zur Ruhe und so etwas wie eine Pause, in der sie auch mal eigenen Gedanken und Beschäftigungen nachgehen kann, gibt es frühestens am Abend, wenn alle Kinder im Bett sind. Die Arbeit, die von “Nur-Hausfrauen” geleistet wird, ist immens und gar nicht genug hoch einzuschätzen. Man könnte wohl sogar sagen, dass dieser Beruf einer der wichtigsten und elementarsten ist. Denn egal, ob jemand später einmal als Ingenieur, als Architektin, als Bauarbeiter oder als Krankenpflegerin arbeiten wird, sie alle waren einmal ein Kind, das nur deshalb gross werden konnte, weil es getragen von Liebe, Geduld und Aufmerksamkeit aufwachsen durfte. Dass sich auch Väter zunehmend in diese Aufgabe einbringen, ist zwar höchst erfreulich, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich dabei nach wie vor um eine kleine Minderheit handelt. Aber es ist noch viel krasser: Frauen bewältigen nicht nur den Löwenanteil von Haus- und Familienarbeit, sie kümmern sich zusätzlich häufig um kranke oder pflegebedürftige Nachbarn, Eltern oder Schwiegereltern und engagieren sich in Vereinen und Hilfsorganisationen, und dies alles zum Nulltarif: Der Anteil der Frauen an dieser so genannten Care-Arbeit beträgt in der Schweiz zurzeit über 61 Prozent, die Anzahl der von Frauen in diesem Bereich geleisteten Arbeitsstunden beläuft sich schweizweit jährlich auf über 8200 Millionen. Emanzipation darf nicht bloss darin bestehen, dass möglichst viele Frauen in Branchen und Berufsfelder vordringen, die bisher den Männern vorbehalten waren. Sie darf sich auch nicht darauf beschränken, dass die Frauen möglichst schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. Emanzipation muss vor allem auch darin bestehen, dass die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmannes vollständige gesellschaftliche Gleichwertigkeit, Wertschätzung und in letzter Konsequenz auch die entsprechende Entlöhnung erfährt. Hoffentlich dauert es nicht noch einmal 50 Jahre, bis der Beruf der Hausfrau und des Hausmannes das genau gleiche Ansehen und die genau gleiche Bedeutung geniessen wie jeder andere Beruf.

Die Abstimmung über das Verhüllungsverbot: Wenn das Absurde mehrheitsfähig wird…

 

“Eine Mehrheit der Stimmbevölkerung”, so SRF-Bundeshauskorrespondent Andy Müller in der Tagesschau vom 7. März 2021, “setzte heute ein Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam, und das schon zum zweiten Mal nach der Minarettinitiative.” Das Egerkinger Komitee, welches die Verhüllungsinitiative lanciert hat, lässt für diese Aussage danken! Denn Andy Müller scheint mit seiner Analyse den Initianten recht zu geben: Es sei ein Kampf gegen den “politischen und radikalen Islam” und das Egerkinger Komitee um Nationalrat Walter Wobmann habe ihn nun schon zum zweiten Mal gewonnen, zuerst gegen das Minarett, jetzt gegen Burka und Niqab. Bewusst oder unbewusst hat der Bundeshausredaktor des Schweizer Fernsehens die Argumentation von Wobmann und seinen Gesinnungsgenossen übernommen, es handle sich doch bei alledem doch nur um den – berechtigten und notwendigen – Kampf gegen religiösen Fanatismus und Extremismus. Dabei müsste es Andy Müller doch besser wissen: Der angebliche Kampf gegen Fanatismus und Extremismus ist doch nur das vorgeschobene Argument, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als die Ablehnung und der Hass gegen andersgläubige und anders aussehende Menschen. Denn mit Fanatismus und Extremismus haben die rund dreissig Burka und Niqab tragenden Musliminnen in der Schweiz nun beileibe nichts zu tun, ebenso wenig wie jene Touristinnen aus arabischen Ländern in Interlaken oder in St. Moritz, von denen einige ebenfalls eine Burka oder einen Niqab tragen. Nicht Extremismus und Fanatismus sind die Motive, sich so zu kleiden, sondern einzig und allein eine Strenggläubigkeit, die sich mit jenem religiösen Eifer vergleichen lässt, der junge Frauen und Männer vor nicht langer Zeit auch in unserem Lande dazu bewog, in ein Kloster einzutreten und ein Leben fern aller irdischen Verlockungen auf sich zu nehmen. Und wenn dann der Bundeshauskorrespondent des Schweizer Fernsehens im gleichen Atemzug noch die Minarettinitiative erwähnt, bei der es offensichtlich ebenfalls um ein “Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam” gegangen sei, dann wird alles erst recht absurd: Das Minarett ist genau so wenig ein Symbol für Extremismus und Fanatismus wie eine christliche Kirche. Das Fatale bei alledem liegt vor allem darin, dass politische Bewegungen wie das Egerkinger Komitee und Politiker wie Walter Wobmann letztlich genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie angeblich wollen: Ihr “Kampf” gegen Fanatismus und Extremismus heizt diesen erst recht an – das zeigt sich beispielsweise auch in Frankreich, wo seit der Einführung eines Verhüllungsverbots aus Protest eine viel grössere Zahl von Musliminnen einen Niqab trägt als zuvor und diese Frauen zu einem grossen Teil auch radikalisiert wurden, weil sie sich als Opfer eines Systems erleben, das ihnen die Ausübung ihrer religiöser Gepflogenheiten verweigert. Hoffen wir, dass es in der Schweiz nicht auch noch dazu kommt. Und dass das Egerkinger Komitee, beflügelt durch zwei Abstimmungssiege, nicht noch auf die Idee verfällt, nun auch noch das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten und vielleicht eines Tages sogar noch Juden vorzuschreiben, sich im öffentlichen Raum nur noch ohne ihre traditionelle Kopfbedeckung zu bewegen. Höchste Zeit, wieder Vernunft anzunehmen und sich auf die Grundlagen einer liberalen Gesellschaft zurückzubesinnen, in der auffälliges, besonderes und selbst provokatives Aussehen und Auftreten des Einzelnen erst dann geahndet werden darf, wenn damit anderen Menschen Schaden zugefügt wird. Hoffen wir, dass es sich bei der Aussage des SRF-Bundeshauskorrespondenten um einen Ausrutscher gehandelt hat. Und dass wir nicht schon so weit sind, die Parolen eines Egerkinger Komitees für mehrheitsfähig und “salonfähig” hinzunehmen, bloss weil Walter Wobmann und seine Gesinnungsgenossen in der heutigen Volkabstimmung eine – wenn auch knappe – Mehrheit gewonnen haben…