Erster Tag des World Economic Forum in Davos: “Die Ukraine hat die Party gecrasht”…

 

23. Mai 2022: Erster Tag des World Economic Forum in Davos. Ein ukrainisches Mädchen mit gelbblauem Band im dunklen Zopf wartet schüchtern auf den Auftritt von Witali Klitschko, der sogleich den Raum betreten und eine feurige Rede mit einem glühenden Appell an das Gewissen aller Länder angesichts der Bedrohung der Ukraine durch das russische Regime halten wird. Als Selenski im grossen Plenarsaal überlebensgross auf der Videobildfläche erscheint, brandet spontan Applaus auf. Und als seine Rede, in der Selenski im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg immer wieder von einer “Zeitenwende” spricht, zu Ende ist, erhebt sich das Publikum zu minutenlangen Standing Ovations. Das “Russian House”, wo früher die russische WEF-Delegation untergebracht war, ist zum “Russian Warcrimes House” umfunktioniert worden und zeigt jetzt eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Kamerateams aus aller Welt filmen die ausgestellten Bilder und übermitteln sie als Beweise für die russischen Gräueltaten in alle Welt. “Die Ukraine”, schreibt der “Tagesanzeiger”, “kann die Bühne fast im Alleingang bespielen.” Und das “Tagblatt” spricht gar davon, dass die Ukraine an diesem Tag “die Party gecrasht” habe. Einseitiger, manipulativer, demagogischer geht es nun wirklich nicht mehr. Ich erwarte ja nicht, dass irgendwer die russische Invasion in die Ukraine gutheissen sollte – das tut ja nicht einmal mehr eine wachsende Zahl von Russinnen und Russen selber. Aber ich erwarte ein Mindestmass an seriöser und selbstkritischer Aufarbeitung der Geschichte und nicht bloss eine Party, bei der sich lauter Gleichgesinnte so lange gegenseitig auf die Schultern klopfen, bis alle windelweich und ohne Ausnahme genau gleich denken. Viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Erstens: Wo sieht man die Bilder jener Gräueltaten, die seit 2014 vom ukrainischen Asowregiment und anderen nationalsozialistischen Kampfverbänden an der Zivilbevölkerung in der Ostukraine verübt wurden? Zweitens: Wer erzählt die Geschichte der NATO-Osterweiterung, die gegen wiederholte Bedenken Russlands seit 1991 immer weiter vorangetrieben wurde und durchaus mit einem Militärbündnis zwischen Kanada, Mexiko und Russland vergleichbar ist, welches auch in den USA niemals toleriert worden wäre? Drittens: Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das “Russian House” in ein “Russian Warcrimes Hous” umfunktioniert und wer garantiert, dass die dort ausgestellten Bilder tatsächlich alle echt sind – wo doch allgemein bekannt ist, dass nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine einen mit allen Mitteln modernster Technik geführten Informations- und Propagandakrieg führen. Viertens: Wenn Witali Klitschko davon spricht, dass ukrainische Teenager gefesselt und erschossen worden seien und man in Autos, welche von Panzern überfahren worden seien, sterbliche Überreste von Kindern gesehen habe, dann müsste er ehrlicherweise auch davon sprechen, wie grausam russische Kriegsgefangene von den Ukrainern behandelt werden: “Gleich auf mehreren Kanälen”, so die “NZZ” am 11. März 2022, “werden russische Kriegsgefangene in erniedrigenden Situationen sowie verstümmelte, verkohlte oder blutüberströmte Gefallene gezeigt. In einem tausendfach geteilten Video verhöhnen zwei ukrainische Soldaten einen abgeschossenen russischen Piloten und drohen ihm vor der per Handy zugeschalteten Frau massive Gewalt an.” Fairerweise, aber daran denkt offensichtlich niemand, müsste neben dem “Russian Warcrimes House” auch ein “Ukrainian Warcrimes House” stehen, wo die entsprechenden Bilder und Filme zu sehen wären – noch selten war das Sprichwort, wonach in jedem Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei, so aktuell wie heute. Wenn man schon für die Organisation des WEF einen so immensen Aufwand betreibt, Essen, komfortable Unterkunft und Dienstleistungen aller Art rund um die Uhr bereitstellt und die Gäste von nah und fern über Tausende von Kilometern heranfliegen lässt – dann müsste doch eine Konferenz von so grosser weltpolitischer Bedeutung vor allem der Wahrheitsfindung und der konstruktiven Problemlösung dienen und nicht dem fanatisierten Aufspalten der Welt in eine “gute” und eine “böse” Hälfte. Dieser Tage hat die italienische Regierung einen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, in dem erstmals mit dem Tabu gebrochen wird, es gäbe nichts ausserhalb eines totalen Sieges oder einer totalen Niederlage der einen oder der anderen Seite. Nur sucht man in den einschlägigen Medien nach der Meldung über diesen Friedensplan wie nach der Stecknadel im Heuhaufen – während Selenski, die Klitschkobrüder, ein Mädchen mit gelbblauem Haarband und die Bilder aus dem “Russian Warcrimes House” alle Spalten der Tageszeitungen und alle Nachrichtensendungen am Fernsehen beherrschen. Als gehörte die ganze Welt nur der einen Seite. Lobt sich der Westen nicht stets seiner Meinungsfreiheit, seiner Demokratie, seiner Menschenrechte? Weshalb dann diese unglaubliche Einseitigkeit der öffentlichen Meinungsbildung, etwas, was man ja stets der Gegenseite zum Vorwurf macht. Böte nicht gerade ein Ort wie das WEF die einzigartige Chance, gängige Denkmuster aufzubrechen, eingefahrene Feindbilder zu hinterfragen, der Völkerverständigung, dem Dialog, dem Frieden eine Chance zu geben? Dies, und nicht der ständige Ruf nach noch mehr Waffen und noch mehr Krieg, wäre dann vielleicht das, was man tatsächlich als eine “Zeitenwende” bezeichnen könnte… 

Markus Lanz: Viele Wortgefechte, ein Krieg im Kleinen – aber wenig Erkenntnisgewinn…

 

Nein, es ist nicht einfach, als Einzige in einer Gesprächsrunde Meinungen zu vertreten, die von allen anderen abgelehnt werden. Dies hat einmal mehr Sahra Wagenknecht, viel geschmähte “Putinversteherin”, in der TV-Talkshow “Markus Lanz” vom 19. Mai 2022 erfahren müssen, in der Diskussion mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel, der Europa-Expertin Daniela Schwarzer und dem Journalisten Paul Ronzheimer. Nur schon der Vorwurf, Wagenknecht betreibe “Putin-Propaganda” – Vogel stellt ihn einfach so in den Raum, ist aber nicht bereit, Wagenknecht ernsthaft zuzuhören, wenn sie im Folgenden darlegt, dass es bei ihrer Haltung ganz und gar nicht um “Putin-Propaganda” gehe, sie diesen Krieg genauso verurteile, sich aber dagegen wehre, alles auf ein fixes Bild vom “bösen” Russland und dem “guten” Westen festzumachen. Doch leise, differenzierte Töne haben in einem solchen Sendegefäss offensichtlich wenig Platz. Eine wie Sahra Wagenknecht, die das gängige gemeinsame und nicht mehr länger hinterfragte Bild stören könnte, wird nicht mehr als Chance wahrgenommen, Neues zu erfahren, eigene Standpunkte zu hinterfragen, möglicherweise sogar zu einem neuen Gesamtbild zu gelangen – sie dient bloss dazu, in Widersprüche verwickelt, von allen Seiten gleichzeitig angegriffen, missverstanden und ins Lächerliche gezogen zu werden. Was bleibt der so Angegriffenen dann anderes übrig, als ebenfalls zurückzuschiessen, ebenfalls anderen ins Wort zu fallen und ebenfalls plakative Aussagen in den Raum zu stellen, auf die sich dann die anderen wiederum wie auf eine fette Beute stürzen können. Denn für vertiefende und differenzierte Zusammenhänge und historische Hintergründe ist unter solchen Vorzeichen sowieso schon längst kein Platz mehr. Sonst wäre es nämlich früher oder später an der Zeit, zum Beispiel an die Aussage des US-Historikers George F. Kennan aus dem Jahre 1997 zu erinnern, wonach die NATO-Osterweiterung einer der “verhängnisvollsten Irrtümer” sei und früher oder später Auswirkungen zeigen würde, die dem Westen “nicht gefallen” würden. Oder an die Aussage des ehemaligen US-Aussenministers Henry Kissinger aus dem Jahre 2014, wonach die Ukraine vorteilhaft nicht Bestandteil des West- oder des Ostblocks sein sollte, sondern eine “Brücke zwischen beiden Seiten”. So aber bleibt alles notgedrungen an der Oberfläche und das Ganze gleicht eher einem Tennismatch, bei dem man sich gegenseitig die Bälle um die Ohren schlägt, als einer ernsthaften Debattierrunde erwachsener Menschen, an deren Ende beide Seiten gescheiter geworden sein sollten, als sie es vorher gewesen waren. Dazu passt, dass der Gesprächsleiter im Laufe der Debatte immer mehr in die Rolle eines Meinungsträgers schlüpft, zusätzlich Öl ins Feuer giesst und nicht einmal davor zurückschreckt, in einem Nebensatz gleich noch rasch den Pazifismus mit dem Faschismus gleichzusetzen. Ja, es wird über den Krieg in der Ukraine diskutiert. Aber zugleich ist das, was hier geschieht, gar nicht viel anderes als ein Krieg im Kleinen. Statt neue Einsichten zu gewinnen, schlägt man sich im Sekundentakt gegenseitig Wortfetzen an den Kopf, aber alles ist stets nur eine Wiederholung des ewig Gleichen und der Erkenntnisgewinn liegt, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer der Sendung, praktisch bei Null. Weshalb werden nicht neue Formate entwickelt, in denen man diesem ewig gleichen Hickhack nicht mehr so viel Raum gewähren würde? Wäre das der Einschaltquote zu sehr abträglich? Wäre es nicht dennoch einen Versucht wert? Man könnte zum Beispiel eine öffentliche Gesprächsrunde unter das Motto stellen: Wie kann der Frieden gewonnen werden? Alle Teilnehmenden wären dazu aufgerufen, nicht mehr rechthaberisch ihre Wahrheit zu verkünden, sondern ihre kreativsten Ideen für eine friedliche Lösung des Konflikts zu entfalten. Niemand würde mehr niemandem ins Wort fallen, weil alle erfahren und herausfinden möchten, was die anderen denken und über was für ein neues, noch nicht erschlossenes Wissen sie verfügen. Man würde sich die Bälle nicht mehr um die Köpfe schlagen, sondern aus ihnen gemeinsam ein neues Haus aufbauen. “Jedes gute Gespräch”, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.” Eine solche “Talkshow” wäre dann nicht mehr bloss ein Abbild des Kriegs, sondern Zeichen eines echten Neubeginns, von dem alle, die auf der “guten” wie auch die auf der “bösen” Seite, gleichermassen profitieren könnten…

 

Reichste versenken Bidens Reichtumssteuer – ist das noch eine echte Demokratie?

 

“Wir sollten stolz darauf sein, dass unser Land soviel Reichtum produzieren kann” – mit diesen Worten, so berichtet der “Tagesanzeiger” vom 1. April 2022, kämpft John Manchin, demokratischer Senator aus West Virgina, gegen Joe Bidens Plan einer Reichtumssteuer, von der nicht das jeweilige Vermögen als solches, sondern das Wachstum von Vermögen betroffen wäre. Wenn zum Beispiel der Wert des Facebook-Aktienpakets von 30 auf 60 Milliarden Dollar zunähme, dann würde man diese 30 Milliarden als Einkommen deklarieren und entsprechend versteuern. Bekämpft wird die Idee einer solchen Reichtumssteuer auch mit Argument, dass jeder und jede eines Tages reich werden könne und dafür nicht schon zum Vornherein “bestraft” werden sollte. Auch Kongresspräsidentin Nancy Pelosi, selber eine der reichsten Abgeordneten, lehnt Bidens Vorschlag ab. Man merkt schon, dass auch in den amerikanischen Schulen nur das ABC der Buchstaben und das Einmaleins gelehrt wird, nicht aber das ABC des Kapitalismus. Sonst wüssten nämlich Manchin, Pelosi und alle anderen, die sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer einsetzen, wie Reichtum tatsächlich zustandekommt. Nämlich dadurch, dass Millionen von Menschen für ihre Arbeit weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, und sich dieses Geld dann in den Reichtum der Reichen verwandelt. Die Reichen sind nur deshalb reich, weil die Armen arm sind – Reichtum und Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Mit jedem Kilo Brot, das gekauft wird, mit jeder Arbeitsstunde am Fliessband, mit jedem Haus, jeder Strasse und jeder Brücke, die gebaut werden, mit jeder Versicherung, die abgeschlossen wird, mit jeder Tonne Stahl, die in ein Auto, ein Schiff oder einen Panzer verwandelt wird, fliesst unaufhörlich Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen und demzufolge werden auch die Unterschiede zwischen ihnen immer grösser. Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf irgendwelchen exotischen Bäumen oder in irgendwelchen geheimnisvollen Muscheln auf dem Meeresgrund. Es entsteht einzig und allein aus den Tränen, dem Schweiss und dem Blut all jener, die täglichste Schwerstarbeit verrichten und dennoch von den Früchten ihrer Arbeit ausgeschlossen bleiben. Wenn irgendwer auf irgendetwas zu Recht stolz sein müsste, dann gewiss nicht die Reichen auf ihren Reichtum, sondern all die Millionen Tag für Tag hart arbeitenden Frauen und Männer auf das, was sie unermüdlich leisten, die Bauarbeiter und die Krankenpflegerinnen, die Verkäuferinnen und die Fabrikarbeiter, die Putzfrauen und die Lastwagenfahrer, die Gärtner und die Friseusen, die Bäcker und die Kinderbetreuerinnen, ohne deren unermüdlichem Einsatz von früh bis spät die ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich zusammenbrechen und selbst der ganze Reichtum der Reichen im Nichts verschwinden würde. Wenn Abgeordnete, von denen selber die meisten über weit überdurchschnittliche Vermögen verfügen, sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer wehren, die nur ein klein wenig mehr Gerechtigkeit mit sich bringen würde, dann kann man wohl kaum mehr von einer echten Demokratie sprechen, dies umso weniger, als gemäss Umfragen eine grosse Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Bidens Vorschlag einer Reichtumssteuer unterstützen würde. Müsste man das nicht eher als “Plutokratie” bezeichnen, als Diktatur des Reichtums und des Geldes? An dem Tag, an dem eine echte Demokratie an die Stelle der kapitalistischen Plutokratie getreten sein wird, wird man nicht mehr stolz darauf sein, “möglichst viel Reichtum zu produzieren”, sondern darauf, den vorhandenen Reichtum möglichst gleichmässig und gerecht unter alle Menschen verteilt zu haben.

Multimediahändler Fnac: Wenn das Lächeln der Verkäuferin über ihren Lohn entscheidet

 

“Wenn das Lächeln über den Lohn entscheidet” – so der Titel eines Artikels im “Tagblatt” vom 28. März 2022 über den französischen Multimediahändler Fnac, der “mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Franken die Deutschschweiz erobern und M-electronics, Orell Füssli und Co. Kundschaft abjagen” will. Das Besondere an Fnac ist seine Vergütungsstruktur: Nach jedem Kauf wird dem Kunden oder der Kundin eine Umfrage geschickt mit einer Notenskala von 1 bis 10, mit welcher die jeweilige Angestellte vom Kunden oder der Kundin bewertet wird. Auch werden sogenannte “Mysteryshopper” eingesetzt, um die Servicequalität vor Ort regelmässig zu überprüfen. Die verschiedenen Parameter tragen zum Gesamtbild der Mitarbeitenden bei und sind ausschlaggebend für den variablen Lohnanteil, der ca. 25 Prozent des Gesamtlohn ausmacht. Ein Lohnmodell, über welches sich wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Artikels nicht besonders verwundern werden, sind wir uns mittlerweile doch gewohnt, als Kundinnen und Kunden bei jeder Gelegenheit von der Hotelübernachtung über das Essen im Restaurant bis zum Einkaufen im Internet Bewertungen und Beurteilungen abzugeben. Und doch gäbe es genügend Gründe, solche Bewertungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen, vor allem dann, wenn sie noch zusätzlich mit variablen Lohnmodellen verknüpft werden. Typisch für solche Bewertungssysteme ist das immense Machtgefälle, das dahinter steckt: Der Kunde oder die Kundin kann sich noch so mühsam, lästig oder rechthaberisch verhalten – die Verkäuferin darf dennoch nie die Geduld verlieren, muss stets freundlich bleiben und lächeln, denn wenn sie das nicht tut, muss sie mit einer negativen Beurteilung und demzufolge mit einer Lohneinbusse rechnen. Das dahinter liegende Bild ist das Bild einer knallharten Klassengesellschaft, in welcher die Regeln von denen erfunden werden, die oben sind, und die jene ausbaden müssen, die unten sind. Das beginnt schon in der Schule, wo die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern bewertet und beurteilt werden und bei “schlechten” Leistungen oder fehlendem Wohlverhalten mit schlechten Noten und Zeugnissen dafür bestraft werden, was sich gravierend auf ihre zukünftigen Berufs- und Lebenschancen auswirken kann. Ob der Gast im Restaurant oder Hotel, ob die Kundinnen und Kunden im Modegeschäft oder ob der Lehrer und die Lehrerin, welche Noten und Zeugnisse verteilt: Andere Menschen zu bewerten und beurteilen zu können, ist stets auch mit dem Gefühl verbunden, über Glück oder Unglück anderer ein Stück weit bestimmen zu können, sich besser und “mächtiger” zu fühlen als andere. Dass dies etwas zutiefst Menschenfeindliches ist und dem elementaren Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen widerspricht, wird uns vielleicht dann bewusst, wenn wir uns für einen Moment einmal das Gegenteil vorzustellen versuchen: Nicht der Kunde bewertet die Verkäuferin, wie freundlich sie gelächelt hat, sondern die Verkäuferin bewertet den Kunden, wie geduldig und freundlich er sich verhalten hat. Nicht der Hotelgast bewertet das Zimmermädchen, wie gründlich sie das Zimmer geputzt hat, sondern das Zimmermädchen bewertet den Gast, wie herzlich er sich für ihre Arbeit bedankt hat. Nicht die Lehrerinnen und Lehrer bewerten die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen, sondern die Kinder und Jugendlichen bewerten die Lehrkräfte, wie interessant und verständlich sie den Schulstoff vermittelt haben, wie humorvoll sie sind und mit wie viel Liebe und Aufmerksamkeit sie sich um das einzelne Kind gekümmert haben. Doch zurück zu den Angestellten des Multimediahändlers Fnac, die nun damit leben müssen, dass ein Viertel ihres Lohns davon abhängt, wie freundlich sie lächeln und wie geduldig sie ihre Kundschaft auch dann noch bedienen, wenn sich, nach acht Stunden Arbeit, alles im Kopf dreht und sie vor lauter Schmerzen fast nicht mehr auf den Füssen stehen können. Die müssten doch froh sein, wenn sie überhaupt eine Stelle hätten, heisst es dann immer so schön. Was für eine verkehrte Welt! Was für eine Lüge, das ewige Gerede von den “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern”! Tatsächlich muss doch nicht die Verkäuferin dankbar sein dafür, dass sie eine Stelle hat. Dankbar sein muss doch der Firmenchef, dass die Verkäuferin ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ihm hilft, dank ihrem tiefen Lohn den Konzerngewinn immer weiter in die Höhe zu treiben. Und so ist es mit allen sogenannten “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern” in der kapitalistischen Arbeitswelt voller Ausbeutung und voller Lügen, welche die tatsächlichen Machtverhältnisse beschönigen und verschweigen. Aber vielleicht kommt ja doch noch irgendwann die Zeit, wo sich das Blatt wendet und dann nicht mehr der Kunde die Verkäuferin bewertet, sondern alle “Arbeitnehmer” und “Arbeitnehmerinnen” weltweit das kapitalistische Wirtschaftssystem bewerten, mit einer Notenskala von 1 bis 10. Wetten, das könnte eine böse Überraschung geben? 

Kamila Walijewa – die Spitze eines gewaltigen Eisbergs

 

Die 15jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa gilt seit Jahren als beste Eiskunstläuferin. Niemand erwartet von ihr an den Olympischen Spielen weniger als eine Goldmedaille. Doch nach dem Sieg der Russinnen im Teamwettkampf wird bekannt, dass Kamila Walijewa positiv auf ein verbotenes Herzmittel getestet worden ist. Trotzdem darf sie unter Vorbehalt auch im Einzelwettkampf antreten. Denn der definitive Entscheid über eine mögliche Sperrung steht noch aus. Doch der Druck, der auf Kamila Walijewa lastet, ist immens. Sie hält ihm nicht Stand, stürzt zwei Mal in der Kür und wird “nur” Vierte. Schluchzend verlässt sie das Eis, ihre Enttäuschung ist grenzenlos, das jahrelange harte Training, die immensen Erwartungen, die Belastung rund um den noch ausstehenden Entscheid über eine mögliche Sperrung – all das bricht sich in wenigen Sekunden die Bahn. Doch ihre Trainerin, Eteri Tutberidse, kennt kein Erbarmen: Keine Umarmung, kein Trost, nur die Kritik, Kamila hätte ihr Programm verpatzt, den Sieg hergeschenkt, zu kämpfen aufgehört, die schwierigsten Sprünge aus der Hand gegeben und alle Mühe sei vergebens gewesen. Was für eine Kaltherzigkeit! Jetzt, wo Kamila Trost besonders dringend nötig gehabt hätte, wird ihr dieser zur Gänze verweigert. Selbst der ARD-Korrespondentin und ehemaligen Eiskunstläuferin Katarina Witt zerreisst es fast das Herz: “Ich finde”, so ihr TV-Kommentar, “man hat Kamila Walijewa der Welt zum Frass vorgeworfen. Alle Welt hat zugeschaut und daran muss sie jetzt zerbrechen.” Ein besonders herzzerreissender Einzelfall? Mitnichten. Tutberidse ist bekannt für ihre unmenschlichen Trainingsmethoden: Julia Lipnitskaja, 2014 mit 15 Jahren jüngste Teamolympiasiegerin, musste wegen Magersucht zurücktreten, Jewgenia Medwedewa, Silbermedaillengewinnerin von 2018, hat einen kaputten Rücken, und weitere junge Talente sind mittlerweile so schwer verletzt, dass sie ihre Karrieren aufgeben mussten. Doch es wäre falsch, bloss mit dem Finger auf einzelne “böse” russische Trainerinnen zu zeigen. Das Beispiel von Kamila Walijewa ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Es geht nicht um ein paar wenige “Einzeltäterinnen”. Es geht um das System als Ganzes. Ein System, das auf einer gewaltigen Lüge aufbaut, der Lüge nämlich, man müsste nur genug lange und genug hart trainieren und nur genug viele Schmerzen auf sich nehmen und nur auf genug Freizeit verzichten – um eines Tages an den Olympischen Spielen oder an den Weltmeisterschaften auf der obersten Treppenstufe zu stehen und eine Goldmedaille in Empfang nehmen zu können. Millionen von Kindern und Jugendlichen wird diese Lüge schon von Klein auf eingepflanzt, Millionen von Kindern und Jugendlichen weltweit werden gezwungen, einen unerbittlichen, zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf auf sich zu nehmen, damit am Ende ein paar wenige von ihnen zuoberst stehen werden und sich für alle anderen trotz aller Schmerzen und Entbehrungen dieser Traum in Nichts aufgelöst haben wird. Blenden wir zurück: Kamila Walijewa wurde bereits im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter gezwungen, sich in Gymnastik, Ballett und Eiskunstlauf zu üben. Als sie sechs Jahre alt war, übersiedelten sie und ihre Mutter nach Moskau, um dort eine besonders renommierte Talentschmiede zu besuchen, und als Zwölfjährige wurde sie in die Eiskunstlaufschule von Eteri Tutberidse aufgenommen. Niemals liesse sich mit Erwachsenen so etwas machen. Nur mit Kindern ist so etwas möglich, mit Kindern, die den Versprechungen und Verlockungen der Erwachsenen noch blinden Glauben schenken und nicht daran zweifeln, dass es diese Erwachsenen auch dann noch gut mit ihnen meinen, wenn sie ihnen die unmenschlichsten Qualen abverlangen. Mit ihrer Aussage, man habe Kamila Walijewa “der Welt zum Frass vorgeworfen und alle schauen zu”, hat Katarina Witt den Nagel auf den Kopf getroffen. Nicht nur Systeme des Rechts, sondern auch Systeme des Unrechts können sich etablieren, wenn nur eine genügende Anzahl von Menschen tatenlos zuschauen oder sich sogar aktiv daran beteiligen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der in früheren Zeiten verschwiegen, verheimlicht und geleugnet wurde, tritt heute nach und nach ins Licht der Öffentlichkeit. Doch ist das, was Kindern und Jugendlichen im Namen des “Spitzensports” angetan wird, so viel weniger verwerflich? Sind all die Lügen, die man den Kindern von Klein auf eintrichtert, nicht auch eine Form von Kindesmissbrauch? Wäre es nicht an der Zeit, die Ideologie des Spitzensports und all seiner zerstörerischen Folgen ebenso kritisch anzuprangern und zu hinterfragen wie die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch kirchliche “Würdenträger”? Oder sind wir durch Habgier, Sensationslust und nationalistischen Ehrgeiz schon so sehr verblendet, dass wir das Unrecht als Unrecht schon gar nicht mehr wahrzunehmen vermögen?

Neuer Kinofilm “The 355”: Und das war sie dann schon, die Emanzipation der Frau?

 

Am 6. Januar 2022 ist in Schweizer Kinos der Actionfilm “The 355” angelaufen. Das Besondere daran: Nicht Männer spielen darin die Hauptrolle, sondern fünf hochkarätige Schauspielerinnen, die, so berichtet die “Tagesschau” am 7. Januar, “ihren männlichen Actionkollegen punkto Knallerei und Prüglerei in nichts nachstehen und damit ganz offensichtlich sämtliche Genderstereotypen kurzerhand eliminieren, und dies mit dem Zweihänder, der Waffe in der Hand.” In der Tat: “The 355” macht “James Bond” alle Konkurrenz. Wie James Bond auf der Jagd nach dem ultimativen Bösewicht, so kämpfen sich die fünf Agentinnen von “The 355” auf der Suche nach einer Cyberwaffe bisher ungekannter Zerstörungskraft durch jedes noch so heimtückische Hindernis, angefangen von einer Verfolgungsjagd quer durch Paris, zu Fuss und per Motorrad, durch enge Strassen zwischen umgeworfenen Postkartenständern und Bistrotischen, quer über den Fischgrossmarkt mit spektakulärem Showdown zwischen Kühltruhen, auf Eis gelagerten Schwertfischen und Transportschiffen, und so weiter, von Paris über Marokko bis Shanghai. Doch ist das schon alles? Eigentlich habe ich mir unter der Emanzipation der Frau und der Überwindung bisheriger Genderstereotypen etwas anderes vorgestellt. Oder können wir uns ernsthaft damit zufriedengeben, dass die Frauen bloss in die Rollen schlüpfen, die bisher den Männern vorbehalten waren, um nun einfach noch einmal die gleichen Geschichten nachzuspielen, die schon tausendmal gespielt worden sind? Müssten echte Emanzipation, echter gesellschaftlicher Fortschritt und echte Überwindung traditioneller Geschlechterrollen nicht darin bestehen, Filme dieser Art schon gar nicht mehr zu drehen? Generationen haben sich über sinnlose Autowettrennen auf endlosen Highways in der Abendsonne, über immer ausgeklügeltere Waffen, Roboter und Unterseeboote, über mit Maschinengewehrsalven niedergemähte Gangsterbanden, über durch klirrende Fensterscheiben fliehende Bösewichte und über meterweit herumspritzendes Blut halb zu Tode amüsiert. Wäre es nicht an der Zeit, langsam erwachsen zu werden? Gut, immerhin retten am Ende des Films die fünf Agentinnen, wie löblich, die Erde vor dem Dritten Weltkrieg. Doch hätte es da nicht auch noch ein paar andere, kreativere und vielleicht sogar realistischere Möglichkeiten gegeben? Hätten die fünf Agentinnen, statt sich gegenseitig Motorräder, Tiefkühltruhen und Postkartenständer um die Köpfe zu schlagen, ihre Energie, ihre Tatkraft, ihr Geschick und ihre Intelligenz nicht auch darauf verwenden können, um eine internationale Konferenz für Frieden und Abrüstung ins Leben zu rufen, zu der Frauen aus allen Ländern der Welt eingeladen worden wären? Das wäre nicht spannend genug gewesen? Und ob! Die Widerstände und Hindernisse, die den fünf Frauen entgegengeschlagen hätten und wie sie damit umgegangen wären, was eine solche Bewegung weltweit ausgelöst hätte, wie der Dritte Weltkrieg dadurch vielleicht tatsächlich hätte verhindert werden können – kein noch so spannender Actionfilm, keine noch so wilde Motorradjagd, keine noch so weit in die Höhe fliegende Tiefkühltruhe könnten ein solches weltweites Friedensprojekt auch nur annähernd an Spannung überbieten. Aber ja, das würde wahrscheinlich viel weniger Geld in die Kinokassen und an die grossen Filmkonzerne spülen. Und so werden wir halt bescheiden, lassen die Postkartenständer und die Schwertfische weiterhin sausen und wähnen uns nur schon deshalb allzu gerne in einer besseren Welt, weil jetzt nicht mehr die Männer, sondern die Frauen mit der Waffe in der Hand auf die nimmermüden Bösewichte losballern…  

Der Wirbel um Novak Djokovic: Bloss die Folge eines unbegreiflichen, ausser Rand und Band geratenen Nationalismus?

 

Wer die serbische “Krawallpresse” lese, so schreibt der “Tagesanzeiger” vom 8. Januar 2022, wähne sich kurz vor einem “Weltkrieg”. Und dies schlicht und einfach nur deshalb, weil dem serbischen Tennisstar Novak Djokovic aufgrund eines fehlenden Impfausweises die Einreise nach Australien verweigert worden ist. Djokovic als Märtyrer, als Opfer einer Weltverschwörung – sein Vater ging gar so weit, ihn mit Jesus zu vergleichen, der ebenfalls gekreuzigt worden sei. Allerdings, so räumt der “Tagesanzeiger” ein, habe die “nationalistische Aufwallung” wohl auch mit “verletztem Nationalstolz” zu tun und mit der permanent von der Staatsmacht wiederholten “Mär”, der Westen habe in den 1990er-Jahren ein unschuldiges Volk angegriffen. “Solch krude Ansichten”, so der “Tagesanzeiger”, “verunmöglichen eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung”. Mär? Krude Ansichten? So einfach sollte man es sich nicht machen, sonst läuft man Gefahr, der gleichen Zuspitzung, Vereinfachung und Schuldzuweisung zu verfallen, die man so gerne der Gegenseite zum Vorwurf macht. Blenden wir zurück: Ab 1989 nehmen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien immer mehr zu. Dabei geht es auch um Fragen der Ökonomie und des finanziellen Ausgleichs zwischen den verschiedenen Regionen. Die reichen Regionen wie Slowenien und Kroatien kündigen ihre finanzielle Unterstützung der ärmeren Regionen wie Bosnien, Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf, diese wiederum sehen sich dadurch existenziell bedroht. Gleichzeitig mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Teilrepubliken wächst der Nationalismus, das Trennende bekommt gegenüber dem bis anhin Verbindenden immer mehr Gewicht. Bis die schwelenden Konflikte in offene Kriege umschlagen, in denen sich die Streitkräfte der Teilrepubliken und die jugoslawische Volksarmee unter Führung der Serben unversöhnlich gegenüberstehen. Es beginnt 1991 mit dem Slowenienkrieg und geht weiter mit dem Kroatienkrieg 1991-1995 und dem Bosnienkrieg 1992-1995. Wie tief der Graben zwischen den verschiedenen Volksgruppen mittlerweile geworden ist, zeigt sich in der Aussage des späteren kroatischen Staatspräsidenten Tudman, der betont, wie glücklich und stolz er sei, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nach und nach spalten sich die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens ab und bilden eigene, autonome Staaten. Auch der Kosovo strebt die Unabhängigkeit von Serbien bzw. der nach allen Abspaltungen noch übrig gebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien an, hatte Kosovo doch bereits 1989 infolge einer Änderung der serbischen Verfassung seine früheren Autonomierechte verloren und hatte seither die Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die serbische Obermacht kontinuierlich zugenommen. 1992 rufen die Kosovoalbaner unter Ibrahim Rugova die unabhängige “Republik Kosova” aus, Rugova ist zunächst bestrebt, die Autonomie gewaltlos zu erreichen, aber mit der Zeit beginnen immer mehr Kosovaren am Sinn des gewaltlosen Widerstands zu zweifeln und unterstützen die UÇK, die ab 1997 mit bewaffneten Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung tritt. Die gegenseitige Gewalt nimmt laufend zu. Und dies ist der Augenblick, in dem die westliche Militärmacht unter Führung der USA in einer Art und Weise in den Jugoslawienkrieg eingreift, wie sie dies nur gegenüber Serbien getan, niemals aber gegenüber einer anderen Volksgruppe in diesem Konflikt auch nur je erwogen hätte. Wenn sich Serbinnen und Serben heute noch immer als “Opfer der Geschichte” sehen, so sind das weder “krude Ansichten”, noch handelt es sich um eine “Mär”, sondern es ist bitterernste, knallharte, tödliche Realität: Am 24. März 1999 beginnen, notabene ohne völkerrechtliche Grundlage, die Luftanschläge der NATO auf mehrere serbische Provinzen, daran beteiligt sind U-Boote in der Adria, von B-52-Bombern abgefeuerte Marschflugkörper und von verschiedenen Basen gestartete Kampfflugzeuge. Schon in der ersten Kriegsnacht werden mehrere Chemiewerke bombardiert, grosse Mengen giftiger und krebserregender Stoffe treten aus. Ärzte raten schwangeren Frauen zur Abtreibung und für zwei Jahre zur Vermeidung von Schwangerschaften. In den folgenden Wochen werden auch Gebäude des Serbischen Rundfunks angegriffen. Ebenfalls wird der Belgrader Fernsehturm zerstört. Ein weiteres wichtiges Angriffsziel ist die Stromversorgung, eine grössere Anzahl von Umspann- und Wärmekraftwerken werden bombardiert. Zahlreiche Strassen und Brücken, Spitäler und Verwaltungseinrichtungen, rund 300 Schulen und 176 Kulturdenkmäler werden beschädigt oder zerstört. Als der Krieg am 10. Juni 1999 zu Ende ist, meint ein Kommentator des Schweizer Fernsehens in der Tagesschau: “Serbien wurde um 40 Jahre zurückbombardiert.” Und das soll keine Wunden schlagen? Ein so gedemütigtes Volk soll einfach mir nichts dir nichts wieder zur Tagesordnung übergehen? Da soll man nicht anfällig sein für übertriebene Vaterlandsliebe? Wer heute über das serbische Volk und über Novak Djokovic den Kopf schüttelt, müsste mindestens so sehr den Kopf schütteln über diesen beispiellosen Militärschlag im Frühjahr 1999, mit dem kein einziges jener Probleme, mit denen er begründet wurde, tatsächlich gelöst, sondern nur unendlich viele neue geschaffen wurden. Das Mindeste wäre genau das, was der “Tagesanzeiger” fordert, nämlich eine konstruktive “Vergangenheitsbewältigung”. Nur kann man wohl nicht allen Ernstes vom serbischen Volk alleine die Bewältigung einer so traumatischen, bis heute nachwirkenden Demütigung erwarten. Die Vergangenheitsbewältigung müssten vor allem jene betreiben, die einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen haben und nichts Gescheiteres wussten, als in ein lichterloh brennendes Feuer noch zusätzlich Öl zu giessen. Und ja: Auch Medien wie der “Tagesanzeiger” müssten sich vor allem um eine sachliche Aufklärung historischer Zusammenhänge bemühen, statt Feindbilder, die sowieso schon genug stark verbreitet sind, noch zusätzlich anzufeuern…

 

  

Afghanistan: Das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit

 

Augen voller tiefster Traurigkeit, die mich nicht mehr loslassen. Ein Mädchen, das in den Ruinen seines vom Krieg zerstörten Hauses am Boden kauert, ohne Eltern, irgendwo im fernen Afghanistan, eines von Millionen von Kindern, die nicht wissen, ob sie diesen Winter überleben werden, ob sie der Kälte widerstehen können, ob sie genug zu essen bekommen. Während wir den Weihnachtsbaum schmücken, feine Gerichte kochen und unsere Kinder mit wundervollen Geschenken beglücken werden. So weit voneinander entfernt und doch so nahe ist das alles. Doch weshalb ist unser Gedächtnis so kurz? Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York rasten, diese zum Einsturz brachten, dabei fast 3000 Menschen ums Leben kamen und US-Präsident Bush schon bald darauf zu einem vernichtenden Feldzug gegen Afghanistan aufrief, welches als mutmassliches Rückzugsgebiet der Drahtzieher des Terroranschlags galt, da gab es noch zahlreiche kritische Stimmen, welche die Frage aufwarfen, ob der militärische Angriff auf ein Land, in dem weit über 99 Prozent der Bevölkerung mit den Anschlägen vom 11. September auch nicht das Geringste zu tun hatten, gerechtfertigt sei, bloss um einer Handvoll von Terroristen habhaft zu werden. Offensichtlich befinden wir uns in einer sehr schnelllebigen Zeit: 20 Jahre Krieg der USA und ihrer Verbündeten scheinen die kritischen Stimmen von damals in Nichts aufgelöst zu haben: Als der mutmassliche Hauptdrahtzieher der Anschläge vom 11. September, Osama bin Laden, schliesslich am 2. Mai 2011 aufgestöbert werden konnte und getötet wurde, schien sich der von den USA inszenierte Krieg, der über 350’000 Menschen das Leben gekostet hat, “gelohnt” zu haben. Ob das Mädchen mit den traurigen Augen dies alles jemals verstehen wird? Ob sie jemals verstehen wird, dass in ihrer Heimat 20 Jahre lang die grösste Militärmacht der Welt einen Krieg geführt hat, der jährlich 50 Milliarden Dollar verschlang – während jetzt zur Bekämpfung der aktuellen Hungersnot von den westlichen “Geberländern” gerade mal 280 Millionen Dollar, also fast 300 Mal weniger, zur Verfügung gestellt worden sind und auch das gesamte Gesundheitssystem infolge chronischer Unterfinanzierung und fehlender Hilfszahlungen buchstäblich vor dem Zusammenbruch steht? Und ob sie jemals verstehen wird, dass ausgerechnet jene Staaten, die ihre Truppen eben erst Hals über Kopf aus Afghanistan abgezogen haben, das Land nun mit härtesten Wirtschaftssanktionen belegen, obwohl sie doch wissen müssten, dass sie damit vor allem den ärmsten Teil der Bevölkerung treffen, während die Privilegierteren mehr oder weniger ungeschoren davon kommen? Während es in unseren Stuben immer wärmer wird, wird es in Afghanistan jeden Tag ein bisschen kälter und ich frage mich, ob das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit überhaupt noch lebt. Und wie wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, stolpere ich über eine weitere Nachricht aus Afghanistan. Die Bevölkerung leide, so teilt das Welternährungsprogramm mit, unter einer der schwersten Dürren, die das Land je heimgesucht hat: Infolge von Hitze und Wassermangel seien die landwirtschaftlichen Erträge im Jahre 2021 gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesunken. Wenn nicht gehandelt werde, drohe früher oder später der “Totalzusammenbruch der Landwirtschaft”. Und weiter: Angesichts des weltweiten Klimawandels könnten solche Dürren immer mehr zur “afghanischen Normalität” werden. Und damit schliesst sich auf brutalste Weise der Kreis: Ausgerechnet die USA, welche nicht nur über die grösste Militärmaschine der Welt verfügen, sondern auch über die tödlichen Instrumente von Wirtschaftssanktionen und verweigerten Hilfsgeldern, ausgerechnet die USA sind auch an vorderster Front mitverantwortlich für die weltweite Klimaerwärmung, von der wiederum vor allem die ärmsten Länder am allermeisten betroffen sind. Was werden die Geschichtsbücher in 50 Jahren über unsere heutige Zeit wohl schreiben? Und in was für einer Welt wird das afghanische Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit, wenn sie diese dunkle Zeit überstanden haben wird, wohl leben? 

Deutsche Regierungskoalition: Mit der Ampel in ein neues Zeitalter?

 

Frenetische, nicht endenwollende Standing Ovations. 99,8 Prozent der SPD-Delegierten haben dem mit Grünen und FDP ausgehandelten Regierungspapier zugestimmt. “Nun kann ein Aufbruch für Deutschland stattfinden”, freut sich der zukünftige Bundeskanzler Olaf Scholz. Und Generalsekretär Lars Klingbeil ergänzt: “Ich bin wahnsinnig stolz auf das, was wir da gemeinsam verhandelt haben.” Ausser sich vor Freude ist auch Saskia Esken, Co-Präsidentin der SPD. “Mit der Ampel”, schwärmt sie, “schreiben wir Geschichte.” Doch von was reden die eigentlich? Was für ein “Aufbruch” soll da stattfinden? Worauf soll man so mächtig stolz sein? Was für eine “Geschichte” wird da neu geschrieben? Und wofür eigentlich applaudieren die SPD-Delegierten so frenetisch? Sucht man hinter den Worten die Taten, den “Aufbruch”, den “Neubeginn”, die neue “Geschichte”, dann ist das, wie wenn man die Stecknadel im Heuhaufen suchen müsste. Einigermassen Sicherung bescheidener Renten. Ein Mindestlohn von lächerlichen zwölf Euro. 400’000 neue Wohnungen pro Jahr. Viel mehr ist da nicht zu finden. Und das soll genügen, um “Geschichte zu schreiben”? Hätte man nichts wenigstens die Einführung einer Reichtumssteuer, eine Reduktion der Steuern auf tiefen Einkommen oder die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre herausholen können? Auch dann freilich wäre man immer noch Lichtjahre weit davon entfernt, “Geschichte zu schreiben”. Nein, es gibt nur einen einzigen wirklichen Wahlsieger, nur einen, der wirklich Geschichte schreibt. Und das ist das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Denn egal, wer diese Wahlen “gewonnen” hat, egal, wer mit wem eine Koalition gebildet hat: Auch nach dem Dezember 2021 werden in Deutschland die Reichen immer reicher, während sich die Armen selbst mit mehr als einem Job kaum über Wasser halten können. Auch nach dem Dezember 2021 werden in Deutschland die höchsten Löhne das 200- bis 300fache der niedrigsten ausmachen. Auch nach dem Dezember 2021 wird es in Deutschland Dutzenden von multinationalen Konzernen nicht so sehr um das Wohl der werktätigen Bevölkerung gehen, als vielmehr um das Wohl ihrer Aktionärinnen und Aktionäre. Auch nach dem Dezember 2021 wird das Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ungebrochen weitergehen, natürliche Ressourcen und Bodenschätze weiterhin ungehindert ausgebeutet und die Klimaerhitzung in totaler Verantwortungslosigkeit gegenüber zukünftigen Generationen weiter vorangetrieben werden. Auch nach dem Dezember 2021 wird in Deutschlands Schulen der gegenseitige Konkurrenzkampf um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen Vorrang haben vor der gleichberechtigten individuellen Förderung aller Kinder und Jugendlichen in einer wohlwollenden, Mut machenden Umgebung. Das ist das Fatale am Kapitalismus: Er versteckt sich hinter der Maske der Demokratie. Er zwingt Politikerinnen und Politiker in ein Spiel, an das sie am Ende selber noch glauben, bis sie allen Ernstes wegen ein paar wenigen Stecknadeln im Heuhaufen schon von einer neuen “Geschichte” schwärmen, von der sie in Tat und Wahrheit weiter entfernt sind denn je. Den Kapitalismus wird’s freuen. Einmal mehr und erfolgreicher denn je ist sein Spiel aufgegangen…

Black Friday: Nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs

 

Laut einer repräsentativen Onlinebefragung des Umfrageinstituts Demoscope, so berichtet der “Tages-Anzeiger” am 27. November 2021, hat ein Drittel der Befragten mindestens einen der letztjährigen Black-Friday-Einkäufe inzwischen bereut. Bei den Jungen zwischen 15 und 34 Jahren sind es sogar zwei Drittel, die zugegriffen haben, ohne zu überlegen, ob sie das Produkt tatsächlich auch brauchen. Dass am Black Friday so viel gekauft wird, hat vor allem auch damit zu tun, dass die Preise oft vorgängig ganz langsam erhöht werden, damit dann am Black Friday ein grösserer Rabatt gewährt werden kann. Doch der Black Friday ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Auch zu ganz “normalen” Zeiten wird in aller Regel viel mehr gekauft, als man unbedingt braucht, einfach deshalb, weil es so billig ist, dass man es sich leisten kann. Von sämtlichen in der Schweiz gekauften Textilien wird ein Drittel gar nicht erst getragen. Auch von sämtlichen gekauften Lebensmitteln landet ein Drittel im Müll. Und wie oft kauft man ein neues Handy, ein neues Fernsehgerät, einen neuen Computer, ein neues Auto, ein neues E-Bike – nicht weil das alte nicht mehr funktionieren würde, sondern weil man unbedingt auf der Höhe der Zeit sein möchte und gerade ein besonders “günstiges” Angebot ausfindig gemacht hat. Kein Wunder, prognostiziert das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation eine Zunahme des Güterverkehrs bis zum Jahr 2050 um 31 Prozent, bei den Lieferwagen rechnet man sogar mit einer Zunahme von 53 Prozent, was vermutlich vor allem damit zu tun haben dürfte, dass die Kundinnen und Kunden die bestellte Ware so schnell wie möglich im Haus haben wollen und es eben viel länger dauern würde, wenn der Transport mit einem Lastwagen erfolgen würde. Schon erstaunlich, dass in sämtlichen Diskussionen rund um den Klimawandel das Konsumverhalten von Herrn und Frau Schweizer so selten thematisiert wird. Denn wenn man eine Ökobilanz aller überflüssig produzierten und wieder weggeworfenen Waren, sämtlicher Emissionen infolge von Verschrottung und Entsorgung des Weggeworfenen und aller Hunderttausender auf der Strasse gefahrenen Kilometer zum Transport der ganzen Warenflut ziehen würde, dann sähe diese Ökobilanz vermutlich, gelinde gesagt, katastrophal aus. Doch das Ganze hat nicht nur eine ökologische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Seite. In einem Land, wo übermässiges Konsumieren überflüssiger Dinge für viele Menschen selbstverständlich ist, da lastet der soziale Druck auf all denen, die sich das eben nicht leisten können, umso mehr. Arm sein in einem armen Land ist schon genug schwer. Aber arm sein in einem reichen Land, das ist noch viel schwerer. Wie soll die alleinerziehende Verkäuferin, die sich mit monatlich 3500 Franken durchschlagen muss, ihrem Kind erklären, dass es auch dieses Jahr zu Weihnachten keine Schachtel mit den schönen, bunten Legosteinen geben wird, und das, obwohl diese am Black Friday so billig gewesen wären. Kein Wunder, dass sich die Zahl der Menschen, die sich wegen Betreibungen auf einer Schuldenberatungsstelle melden, immer weiter anwächst. Wie eben alles anwächst im Kapitalismus, die Warenberge überflüssiger und zu Spottpreisen verkaufter Waren ebenso wie die Schulden der an den untersten Rändern der Gesellschaft Lebenden, die Paketflut in den Postverteilungszentren ebenso wie die Bein-, Schulter- und Rückenschmerzen derer, die dort arbeiten, die Gewinne der Unternehmen und der Aktionärinnen und Aktionären ebenso wie der Konsum von Fleisch, Tropenfrüchten und anderen Genussmitteln aller Art auf Kosten der Zerstörung ganzer Tier- und Pflanzenwelten, die Anzahl der mit Lastwagen und Flugzeugen transportierten Luxusgüter ebenso wie die Elektromüllhalden in Bangladesch oder Burkino Faso. Alles schön gemäss dem heiligen Gesetz des Kapitalismus, wonach Wachstum das einzig wirklich Erstrebenswerte ist. Doch könnte man unter “Wachstum” nicht auch noch etwas ganz anderes verstehen als die Menge transportierter Waren, gefahrener Kilometer, produzierter Luxusgüter? Wachstum der Bescheidenheit? Wachstum der sozialen Gerechtigkeit? Wachstum der Lebensfreude?