Dreadlocks und farbige Gewänder als „kulturelle Aneignung“ – und was ist mit der ökonomischen Aneignung?

 

Am 18. Juli, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 27. Juli 2022, bricht die Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Band Lauwarm ab. Der Grund: Reklamationen aus dem Publikum, wonach es sich bei den Frisuren einzelner Bandmitglieder – Dreadlocks -, den Kleidern – farbige Gewänder aus Gambia und Senegal – sowie der Musik – Reggae bis Indie World – um „kulturelle Aneignung“ handle. Mit der gleichen Begründung wurde unlängst auch in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn, welche ebenfalls mit Dreadlocks an einem Konzert auftreten wollte, von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wieder ausgeladen. „Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung“, so der „Tagesanzeiger“, „wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägerinnen und Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet.“ Sozusagen ein Raubbau also an fremdem Kulturgut, was in den Augen der Gegnerinnen und Gegner einer kulturellen Aneignung verwerflich sei. Mit dieser Argumentation kann Dominik Plumettaz, Leadsänger von Lauwarm, nichts anfangen: „Wenn wir etwas aus einer anderen Kultur nutzen“, so begründet er seinen Standpunkt, „ist das etwas, was uns weiterträgt und auch bereichernd ist.“ Und auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Kolonialismus und Imperialismus an der ETH Zürich, kann dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in Form musikalischer Ausdrucksformen nichts abgewinnen: „Würde man kulturelle Aneignung verbieten, dann wäre keine populäre Musikform mehr spielbar, weder Jazz noch Blues, Rock, Tango oder Hip-Hop. Popmusik beruht stets auf der Vermischung von unterschiedlichen musikalischen Traditionen, Stilen und Instrumentarien. Nur so kann letztlich Neues entstehen.“ Man könnte in der Diskussion rund um „kulturelle Aneignung“ sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob solche Diskussionen um Frisuren, Modestile und dergleichen nicht von einem ungleich viel grösseren Problem ablenken, nämlich von dem, was man als „ökonomische Aneignung“ bezeichnen könnte. Höchstwahrscheinlich tragen viele der Frauen und Männer, die das Konzert der Gruppe Lauwarm besuchten, Kleider, die weit fort, in Bangladesch, Südkorea oder anderswo gefertigt wurden und hierzulande nur deshalb so billig sind, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter tausende von Kilometern von uns entfernt vierzehn Stunden pro Tag schuften müssen und erst noch kaum etwas verdienen. Die meisten Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher werden zweifellos auch ein Handy besitzen, mit dem sie Bilder vom Konzert an ihre Liebsten schicken können – Handys, die ebenfalls fernab dank billiger Arbeitskräfte gefertigt worden sind und die ohne seltene Metalle, tief aus afrikanischer Erde geschürft, nicht eine Sekunde lang funktionieren würden. Und wie ist es mit dem Kaffee, der nach dem Konzert genossen wird, wie ist es mit den tropischen Früchten, die man am späteren Abend verzehren wird, wie ist es mit dem E-Bike oder dem Automobil, mit dem man am nächsten Tag zur Arbeit fahren wird, wie ist es mit Sportgeräten, den Spielsachen und den Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum? In allem steckt billige Arbeit, Ausbeutung, „ökonomische Aneignung“. Und auch das ist längst noch nicht alles. Blenden wir um 500 Jahre zurück, dann sehen wir, dass der europäische Reichtum und damit das Fundament, auf dem der Kapitalismus und unser heutiger Wohlstand beruhen, nur möglich wurde durch millionenfache Sklavenarbeit auf den Feldern, den Plantagen und in den Minen Amerikas und durch die gnadenlose Ausbeutung Afrikas auf der unersättlichen Suche nach all jenen Rohstoffen, Bodenschätzen und Früchten, die sich nach und nach in die Goldberge und die unermesslichen Besitztümer des Nordens verwandelt haben bis zum heutigen Tag. Wer sich über „kulturelle Aneignung“ empört, müsste sich über die „ökonomische Aneignung“ um ein Vielfaches mehr empören, denn diese ist zwar viel weniger sichtbar, dafür aber viel umfassender, alles durchdringend. Die Brasserie Lorraine, wo das Konzert mit der Gruppe Lauwarm abgesagt wurde, plant nun eine Diskussionsrunde zum Thema. Das ist löblich. Noch löblicher wäre es, man würde eine solche Diskussionsrunde ausweiten und nicht nur von kultureller Aneignung sprechen, sondern auch von der ökonomischen bis hin zu den Grundlagen und Zusammenhängen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Solange aber sollen Musikerinnen und Musiker mit Frisuren und in Gewändern auftreten dürfen, so bunt, vielfältig und verwirrend sie auch sein mögen. Das Letzte, was wir brauchen, ist so etwas wie eine Sittenpolizei, das Beste, was wir brauchen, ist eine gründliche, systematische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, in die wir alle, ob wir wollen oder nicht und ganz unabhängig davon, wie wir uns kleiden und frisieren, verstrickt sind und die wir daher auch nur alle gemeinsam überwinden können.

Zurich Pride: Das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung

 

40’000 Teilnehmende und 34 Grad – das war die Zurich Pride am 18. Juni 2022. Eine überwältigende Demonstration der LGBTQ-Community für Vielfalt, Toleranz und das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung, farbenfroh, stimmungsvoll und lautstark. „Die vorwiegend jungen Teilnehmenden“, so der „Tagesanzeiger“, „feierten sich selbst.“ Und auch das Plakat eines in ein Regenbogentuch gekleideten Demonstrationsteilnehmers sagte auf seine Weise, was im Zentrum des Anlasses stand, nämlich das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung: „The Only Choice I Made was to Be Myself.“ So einfach, so klar, so unmissverständlich. Sich selber feiern, das Leben wählen, das der eigenen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung entspringt. Wären das nicht Botschaften, die weit über die LGBTQ-Community für uns alle wichtig sein müssten? Ist das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht etwas, was für jeden Menschen, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, von essenzieller Bedeutung sein müsste? Müsste nicht die ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt so vielfältig, bunt und farbenfroh sein wie die Feste und die Demonstrationen der LGBTQ-Bewegung? Doch noch sind wir nicht so weit: Schon die kleinen Kinder werden in unzählige, von Erwachsenen vorbestimmte Normen und Zwänge hineingepresst, in der Familie, in der Schule, später in der Ausbildung. Was ist mit all den „störrischen“, „widerspenstigen“, „faulen“, „träumerischen“, „hyperaktiven“ Kindern und Jugendlichen, die bei jeder Gelegenheit anecken und nur davon träumen können, ihre Persönlichkeit frei und selbstbestimmt ausleben zu können? Ja. die Frage eines selbstbestimmten Lebens stellt sich nicht erst an dem Tag, an dem ein junger Mensch sich seiner von der „Norm“ abweichenden sexuellen Orientierung bewusst wird. Sie stellt sich schon viel früher und für uns alle. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“ Vielleicht müsste man noch ergänzen, dass er auch noch die Wahl hat, ein ganz „normal“ funktionierender Erwachsener zu werden, um den Preis aber, die innersten Sehnsüchte seiner Kindheit preisgegeben und geopfert zu haben. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind die Schlüsselbegriffe für eine gesunde Entwicklung. Jeder Mensch sollte jeden Tag „sich selber feiern“ und jeden Tag die Wahl treffen, „myself“ zu sein – und nichts und niemand anders. Man mag an dieser Stelle einwenden, dies sei bloss ein frommer Wunsch – die meisten Menschen wären in der kapitalistischen Arbeitswelt dermassen eingespannt und könnten so hohe Ziele wie Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung glatt vergessen, und wenn, dann seien dies höchstens Privilegien bevorzugter Gesellschaftsschichten. Der Einwand ist berechtigt, nur: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für so viele Menschen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht zulassen, dann heisst das doch, dass es höchste Zeit ist, diese Verhältnisse zu verändern, und wer, wenn nicht selbstbestimmte, möglichst „unangepasste“, eigenständige Persönlichkeiten sollten diese Aufgabe übernehmen. Mit anderen Worten: Wenn die Zeit noch nicht reif ist, um allen Menschen die Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu geben, ist es umso wichtiger, sich für dieses Ziel einzusetzen. Und zwar nicht in erster Linie in der Form von Selbstfindungs-, Yoga-, Meditationskursen und zahllosen weiteren Angeboten auf dem kapitalistischen Markt, die sich ausschliesslich an Privilegierte wenden und zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht das Geringste beitragen, sondern diese im Gegenteil noch stabilisieren. Wie der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi richtig erkannte, beginnt der Prozess der persönlichen Selbstverwirklichung bereits in der Kindheit, wo jedes Kind noch ganz „myself“ ist und in seiner Einmaligkeit und Verschiedenheit von allen anderen Kindern seine Individualität noch unvergleichlich viel stärker zum Ausdruck bringt, als wenn man Erwachsene miteinander vergleicht, die schon viel stärker von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen geprägt sind. „Der Mensch“, sagte Pestalozzi, „wenn er werden soll, was er sein muss, muss als Kind sein und als Kind tun, was ihn als Kind glücklich macht.“ Und noch etwas Wichtiges sagte Pestalozzi: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“ Ja, das Vergleichen, nicht nur zwischen Kindern, sondern auch zwischen den Erwachsenen, ist der Hauptfeind der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung. Das Vergleichen, ob in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik, im Freundeskreis, versetzt einzelne Menschen stets in eine schwächere Position, in das Gefühl des Nichtgenügens, des Andersseins, der Selbstzweifel. Nicht die Suche nach dem Gleichen und das Messen an einer allgemeinen Norm sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Suche nach den Unterschieden, das Entdecken der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, verbunden mit dem Wissen um den guten Kern, der in jedem Menschen steckt. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, auch das ein Wort Pestalozzis, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Könnte jeder Mensch weltweit sich so verwirklichen, wie er als Kind einmal „gedacht“ war, so hätten ausbeuterische Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeit wohl nicht mehr allzu lange Bestand und wohl selbst Kriege würden in naher Zukunft der Vergangenheit angehören. Denn nicht das Hässliche, nicht das Zerstörerische, nicht das Gewalttätige zeichnen den Menschen aus, das sind alles Entgleisungen, Abartigkeiten, Irrwege. Nein, es sind die Schönheit, die Lebensfreude, die Kinder, der Tanz, das Spiel, die Kunst, die Musik, die Feste, die Farben, die Liebe, kurz: das Paradies, welches das tiefste Wesen des Menschen ausmacht. Dieses Paradies, das uns, wie uns zweitausend Jahre lang vorgegaukelt wurde, angeblich erst in irgendeinem „Jenseits“ Wirklichkeit werden kann, obwohl wir es doch in der Hand hätten, es hier und heute auf dieser Erde zu verwirklichen… 

Kultur: Domäne der Reichen…

 

In dieser Stadt, meinte F., sei kulturell viel los, man merke eben, dass es hier viele Reiche gäbe. In der Tat: Schaut man sich die Eintrittspreise von Kabarett- und Theateraufführungen, Freilichtkonzerten, Ausstellungen oder gar Opernhäusern an, dann wird schnell klar, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung Vergnügungen solcher Art schlicht und einfach nicht leisten kann. Selbst der Eintritt in ein Kleintheater, ein Kinobesuch oder ein Zirkusticket sind für sehr viele Menschen nur ein seltener oder gar gänzlich unerreichbarer Luxus. Nie vergesse ich jenen etwa achtjährigen Knaben, der voll freudiger Erwartung von der Schule nach Hause gerannt war, nachdem seine Lehrerin bekannt gegeben hatte, dass im städtischen Kleintheater nachmittags das Stück vom Räuber Hotzenplotz gespielt würde, und die Kinder ermuntert hatte, diese Vorstellung zu besuchen. Gross war die Begeisterung in der Klasse gewesen und die meisten Kinder hatten schon abgemacht, sich eine Viertelstunde vor der Vorstellung beim Eintritt zu treffen. Als nun aber die Mutter ihrem Kind beibringen musste, dass sie für das Ticket zu dieser Vorstellung nicht genug Geld hätte, brach für den kleinen Jungen eine ganze Welt zusammen und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen… 

Nichts weniger als eine eklatante Menschenrechtsverletzung ist das, bilden kulturelle Angebote und Aktivitäten doch so etwas wie die geistige Nahrung, die, wie auch die Bildung, ein Grundrecht aller Menschen sein müsste, von dem niemand ausgeschlossen werden dürfte. Auch die UNO-Menschenrechte besagen gemäss Artikel 27, dass „jede und jeder das Recht hat, sich an den Künsten zu erfreuen.“ Das Unrecht geht aber noch viel weiter. Betrachtet man die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes, dann kann sich Geld am einen Ort nur deshalb ansammeln, weil es an anderen Orten fehlt. Die alleinerziehende Mutter des achtjährigen Knaben, der auf den geliebten Theaterbesuch verzichten muss, verdient als Verkäuferin bloss deshalb so wenig, damit das Geschäft, für welches sie arbeitet, einen möglichst hohen Profit erzielen kann – vermutlich wird sich das Kind des Geschäftsinhabers den Theaterbesuch problemlos leisten können. 

Das ist nur eines von abertausenden Beispielen dafür, auf welchen Wegen sich das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft bewegt. Der Profit, der am Ende herausschaut und dann solche Dinge wie Theater- oder Konzertveranstaltungen und unzählige weitere kulturelle Angebote finanzierbar macht, ist, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, früher oder später von allen Menschen erarbeitet worden und in ganz besonderem Masse von all denen, die für wenig Lohn schwere Arbeit verrichten und so sogar einen überdurchschnittlichen Beitrag an die wirtschaftliche Gesamtbilanz leisten. Mit anderen Worten: Auch die Mutter unseres achtjährigen Knaben subventioniert durch ihre Arbeit indirekt das Theaterstück, von dem ihr Kind aber ausgeschlossen bleibt, weil das Ticket für sie zu teuer ist.

Eigentlich ist es eine Farce, in diesem Zusammenhang überhaupt von „Kultur“ zu sprechen. Viel eher müsste man von den Luxusvergnügungen der Reichen sprechen, welche von den Armen finanziert werden, welche aber selber von diesen „Luxusvergnügungen“ ausgeschlossen bleiben – ebenso wie sie auch vom Essen im Luxusrestaurant, von der Übernachtung im Wellnesshotel oder von den Ferien auf Mallorca oder den Malediven ausgeschlossen bleiben, obwohl sie, und das kann man nicht genug betonen, alle diese Luxusvergnügungen durch ihre tägliche Schufterei und ihre unverschuldete Armut mitfinanzieren und überhaupt erst möglich machen. 

Das Wort „Kultur“ entstammt dem lateinischen „colere“ für pflegen, hegen, umsorgen. Im ursprünglichen Sinne des Begriffs besteht Kultur nicht bloss im Veranstalten von Theater-, Musik- oder Kunstanlässen im Tausch mit Geld von Besucherinnen und Besuchern. Kultur ist etwas viel Umfassenderes. Kultur im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie das Zusammenleben der Menschen gestaltet ist. Dazu können Vorstellungen im Theater oder auf einer Freilichtbühne, im Zirkus oder im Opernhaus durchaus gehören, aber das alles ist bloss Teil eines grösseren Ganzen, in dem zuletzt das ganze Zusammenleben, aber auch die Wirtschaft, die Arbeitswelt zur „Bühne“ wird, auf der Kultur als Pflege des Gemeinschaftslebens gelebt und praktiziert wird. Damit wird aber auch klar, dass echte Kultur stets etwas sein muss, was alle Menschen miteinander verbindet. In unserer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen ist „Kultur“ zum reinen „Konsumobjekt“ verkommen, welches sich die einen leisten können und die anderen nicht – statt die Menschen miteinander zu verbinden, bewirkt diese Art von „Kultur“ genau das Gegenteil: Sie trennt die Menschen in solche, die sich die Angebote leisten können, und die anderen, denen dies verunmöglicht wird. 

Das effizienteste Mittel, um dies zu verhindern, wäre die Einführung eines Nulltarifs für sämtliche kulturelle Anlässe und Aktivitäten und deren Subventionierung durch Steuergelder. Dann wären die Bewohnerinnen und Bewohner der Goldküste im Opernhaus nicht mehr unter sich, um sich ein sozialkritisches Stück zu Gemüte zu führen, sondern vor und neben ihnen sässen Arbeiterinnen und Studierende, um mit ihnen vielleicht sogar in der Pause oder nach der Vorstellung über das Stück zu diskutieren. Und auch das Publikum im Kleintheater wäre bunt gemischt und niemand wäre ausgeschlossen. Und unser achtjähriger Bub müsste nicht mehr weinen, sondern könnte endlich, wie die anderen Kinder seiner Klasse, das Stück vom Räuber Hotzenplotz erleben. Eine verrückte Idee? Wohl weit weniger verrückt als das, was und heute als „normal“ erscheint: Dass Kultur zu einer kapitalistischen Ware verkommen ist, mit der man Geschäfte treibt, die man kauft und verkauft und welche die Gesellschaft mitten auseinanderschneidet in jene, die daran teilhaben dürfen, und jene, die so bitter und unverschuldet von alledem ausgeschlossen sind…

Erster Tag des World Economic Forum in Davos: „Die Ukraine hat die Party gecrasht“…

 

23. Mai 2022: Erster Tag des World Economic Forum in Davos. Ein ukrainisches Mädchen mit gelbblauem Band im dunklen Zopf wartet schüchtern auf den Auftritt von Witali Klitschko, der sogleich den Raum betreten und eine feurige Rede mit einem glühenden Appell an das Gewissen aller Länder angesichts der Bedrohung der Ukraine durch das russische Regime halten wird. Als Selenski im grossen Plenarsaal überlebensgross auf der Videobildfläche erscheint, brandet spontan Applaus auf. Und als seine Rede, in der Selenski im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg immer wieder von einer „Zeitenwende“ spricht, zu Ende ist, erhebt sich das Publikum zu minutenlangen Standing Ovations. Das „Russian House“, wo früher die russische WEF-Delegation untergebracht war, ist zum „Russian Warcrimes House“ umfunktioniert worden und zeigt jetzt eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Kamerateams aus aller Welt filmen die ausgestellten Bilder und übermitteln sie als Beweise für die russischen Gräueltaten in alle Welt. „Die Ukraine“, schreibt der „Tagesanzeiger“, „kann die Bühne fast im Alleingang bespielen.“ Und das „Tagblatt“ spricht gar davon, dass die Ukraine an diesem Tag „die Party gecrasht“ habe. Einseitiger, manipulativer, demagogischer geht es nun wirklich nicht mehr. Ich erwarte ja nicht, dass irgendwer die russische Invasion in die Ukraine gutheissen sollte – das tut ja nicht einmal mehr eine wachsende Zahl von Russinnen und Russen selber. Aber ich erwarte ein Mindestmass an seriöser und selbstkritischer Aufarbeitung der Geschichte und nicht bloss eine Party, bei der sich lauter Gleichgesinnte so lange gegenseitig auf die Schultern klopfen, bis alle windelweich und ohne Ausnahme genau gleich denken. Viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Erstens: Wo sieht man die Bilder jener Gräueltaten, die seit 2014 vom ukrainischen Asowregiment und anderen nationalsozialistischen Kampfverbänden an der Zivilbevölkerung in der Ostukraine verübt wurden? Zweitens: Wer erzählt die Geschichte der NATO-Osterweiterung, die gegen wiederholte Bedenken Russlands seit 1991 immer weiter vorangetrieben wurde und durchaus mit einem Militärbündnis zwischen Kanada, Mexiko und Russland vergleichbar ist, welches auch in den USA niemals toleriert worden wäre? Drittens: Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das „Russian House“ in ein „Russian Warcrimes Hous“ umfunktioniert und wer garantiert, dass die dort ausgestellten Bilder tatsächlich alle echt sind – wo doch allgemein bekannt ist, dass nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine einen mit allen Mitteln modernster Technik geführten Informations- und Propagandakrieg führen. Viertens: Wenn Witali Klitschko davon spricht, dass ukrainische Teenager gefesselt und erschossen worden seien und man in Autos, welche von Panzern überfahren worden seien, sterbliche Überreste von Kindern gesehen habe, dann müsste er ehrlicherweise auch davon sprechen, wie grausam russische Kriegsgefangene von den Ukrainern behandelt werden: „Gleich auf mehreren Kanälen“, so die „NZZ“ am 11. März 2022, „werden russische Kriegsgefangene in erniedrigenden Situationen sowie verstümmelte, verkohlte oder blutüberströmte Gefallene gezeigt. In einem tausendfach geteilten Video verhöhnen zwei ukrainische Soldaten einen abgeschossenen russischen Piloten und drohen ihm vor der per Handy zugeschalteten Frau massive Gewalt an.“ Fairerweise, aber daran denkt offensichtlich niemand, müsste neben dem „Russian Warcrimes House“ auch ein „Ukrainian Warcrimes House“ stehen, wo die entsprechenden Bilder und Filme zu sehen wären – noch selten war das Sprichwort, wonach in jedem Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei, so aktuell wie heute. Wenn man schon für die Organisation des WEF einen so immensen Aufwand betreibt, Essen, komfortable Unterkunft und Dienstleistungen aller Art rund um die Uhr bereitstellt und die Gäste von nah und fern über Tausende von Kilometern heranfliegen lässt – dann müsste doch eine Konferenz von so grosser weltpolitischer Bedeutung vor allem der Wahrheitsfindung und der konstruktiven Problemlösung dienen und nicht dem fanatisierten Aufspalten der Welt in eine „gute“ und eine „böse“ Hälfte. Dieser Tage hat die italienische Regierung einen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, in dem erstmals mit dem Tabu gebrochen wird, es gäbe nichts ausserhalb eines totalen Sieges oder einer totalen Niederlage der einen oder der anderen Seite. Nur sucht man in den einschlägigen Medien nach der Meldung über diesen Friedensplan wie nach der Stecknadel im Heuhaufen – während Selenski, die Klitschkobrüder, ein Mädchen mit gelbblauem Haarband und die Bilder aus dem „Russian Warcrimes House“ alle Spalten der Tageszeitungen und alle Nachrichtensendungen am Fernsehen beherrschen. Als gehörte die ganze Welt nur der einen Seite. Lobt sich der Westen nicht stets seiner Meinungsfreiheit, seiner Demokratie, seiner Menschenrechte? Weshalb dann diese unglaubliche Einseitigkeit der öffentlichen Meinungsbildung, etwas, was man ja stets der Gegenseite zum Vorwurf macht. Böte nicht gerade ein Ort wie das WEF die einzigartige Chance, gängige Denkmuster aufzubrechen, eingefahrene Feindbilder zu hinterfragen, der Völkerverständigung, dem Dialog, dem Frieden eine Chance zu geben? Dies, und nicht der ständige Ruf nach noch mehr Waffen und noch mehr Krieg, wäre dann vielleicht das, was man tatsächlich als eine „Zeitenwende“ bezeichnen könnte… 

Markus Lanz: Viele Wortgefechte, ein Krieg im Kleinen – aber wenig Erkenntnisgewinn…

 

Nein, es ist nicht einfach, als Einzige in einer Gesprächsrunde Meinungen zu vertreten, die von allen anderen abgelehnt werden. Dies hat einmal mehr Sahra Wagenknecht, viel geschmähte „Putinversteherin“, in der TV-Talkshow „Markus Lanz“ vom 19. Mai 2022 erfahren müssen, in der Diskussion mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel, der Europa-Expertin Daniela Schwarzer und dem Journalisten Paul Ronzheimer. Nur schon der Vorwurf, Wagenknecht betreibe „Putin-Propaganda“ – Vogel stellt ihn einfach so in den Raum, ist aber nicht bereit, Wagenknecht ernsthaft zuzuhören, wenn sie im Folgenden darlegt, dass es bei ihrer Haltung ganz und gar nicht um „Putin-Propaganda“ gehe, sie diesen Krieg genauso verurteile, sich aber dagegen wehre, alles auf ein fixes Bild vom „bösen“ Russland und dem „guten“ Westen festzumachen. Doch leise, differenzierte Töne haben in einem solchen Sendegefäss offensichtlich wenig Platz. Eine wie Sahra Wagenknecht, die das gängige gemeinsame und nicht mehr länger hinterfragte Bild stören könnte, wird nicht mehr als Chance wahrgenommen, Neues zu erfahren, eigene Standpunkte zu hinterfragen, möglicherweise sogar zu einem neuen Gesamtbild zu gelangen – sie dient bloss dazu, in Widersprüche verwickelt, von allen Seiten gleichzeitig angegriffen, missverstanden und ins Lächerliche gezogen zu werden. Was bleibt der so Angegriffenen dann anderes übrig, als ebenfalls zurückzuschiessen, ebenfalls anderen ins Wort zu fallen und ebenfalls plakative Aussagen in den Raum zu stellen, auf die sich dann die anderen wiederum wie auf eine fette Beute stürzen können. Denn für vertiefende und differenzierte Zusammenhänge und historische Hintergründe ist unter solchen Vorzeichen sowieso schon längst kein Platz mehr. Sonst wäre es nämlich früher oder später an der Zeit, zum Beispiel an die Aussage des US-Historikers George F. Kennan aus dem Jahre 1997 zu erinnern, wonach die NATO-Osterweiterung einer der „verhängnisvollsten Irrtümer“ sei und früher oder später Auswirkungen zeigen würde, die dem Westen „nicht gefallen“ würden. Oder an die Aussage des ehemaligen US-Aussenministers Henry Kissinger aus dem Jahre 2014, wonach die Ukraine vorteilhaft nicht Bestandteil des West- oder des Ostblocks sein sollte, sondern eine „Brücke zwischen beiden Seiten“. So aber bleibt alles notgedrungen an der Oberfläche und das Ganze gleicht eher einem Tennismatch, bei dem man sich gegenseitig die Bälle um die Ohren schlägt, als einer ernsthaften Debattierrunde erwachsener Menschen, an deren Ende beide Seiten gescheiter geworden sein sollten, als sie es vorher gewesen waren. Dazu passt, dass der Gesprächsleiter im Laufe der Debatte immer mehr in die Rolle eines Meinungsträgers schlüpft, zusätzlich Öl ins Feuer giesst und nicht einmal davor zurückschreckt, in einem Nebensatz gleich noch rasch den Pazifismus mit dem Faschismus gleichzusetzen. Ja, es wird über den Krieg in der Ukraine diskutiert. Aber zugleich ist das, was hier geschieht, gar nicht viel anderes als ein Krieg im Kleinen. Statt neue Einsichten zu gewinnen, schlägt man sich im Sekundentakt gegenseitig Wortfetzen an den Kopf, aber alles ist stets nur eine Wiederholung des ewig Gleichen und der Erkenntnisgewinn liegt, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer der Sendung, praktisch bei Null. Weshalb werden nicht neue Formate entwickelt, in denen man diesem ewig gleichen Hickhack nicht mehr so viel Raum gewähren würde? Wäre das der Einschaltquote zu sehr abträglich? Wäre es nicht dennoch einen Versucht wert? Man könnte zum Beispiel eine öffentliche Gesprächsrunde unter das Motto stellen: Wie kann der Frieden gewonnen werden? Alle Teilnehmenden wären dazu aufgerufen, nicht mehr rechthaberisch ihre Wahrheit zu verkünden, sondern ihre kreativsten Ideen für eine friedliche Lösung des Konflikts zu entfalten. Niemand würde mehr niemandem ins Wort fallen, weil alle erfahren und herausfinden möchten, was die anderen denken und über was für ein neues, noch nicht erschlossenes Wissen sie verfügen. Man würde sich die Bälle nicht mehr um die Köpfe schlagen, sondern aus ihnen gemeinsam ein neues Haus aufbauen. „Jedes gute Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Eine solche „Talkshow“ wäre dann nicht mehr bloss ein Abbild des Kriegs, sondern Zeichen eines echten Neubeginns, von dem alle, die auf der „guten“ wie auch die auf der „bösen“ Seite, gleichermassen profitieren könnten…

 

Reichste versenken Bidens Reichtumssteuer – ist das noch eine echte Demokratie?

 

„Wir sollten stolz darauf sein, dass unser Land soviel Reichtum produzieren kann“ – mit diesen Worten, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 1. April 2022, kämpft John Manchin, demokratischer Senator aus West Virgina, gegen Joe Bidens Plan einer Reichtumssteuer, von der nicht das jeweilige Vermögen als solches, sondern das Wachstum von Vermögen betroffen wäre. Wenn zum Beispiel der Wert des Facebook-Aktienpakets von 30 auf 60 Milliarden Dollar zunähme, dann würde man diese 30 Milliarden als Einkommen deklarieren und entsprechend versteuern. Bekämpft wird die Idee einer solchen Reichtumssteuer auch mit Argument, dass jeder und jede eines Tages reich werden könne und dafür nicht schon zum Vornherein „bestraft“ werden sollte. Auch Kongresspräsidentin Nancy Pelosi, selber eine der reichsten Abgeordneten, lehnt Bidens Vorschlag ab. Man merkt schon, dass auch in den amerikanischen Schulen nur das ABC der Buchstaben und das Einmaleins gelehrt wird, nicht aber das ABC des Kapitalismus. Sonst wüssten nämlich Manchin, Pelosi und alle anderen, die sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer einsetzen, wie Reichtum tatsächlich zustandekommt. Nämlich dadurch, dass Millionen von Menschen für ihre Arbeit weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, und sich dieses Geld dann in den Reichtum der Reichen verwandelt. Die Reichen sind nur deshalb reich, weil die Armen arm sind – Reichtum und Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Mit jedem Kilo Brot, das gekauft wird, mit jeder Arbeitsstunde am Fliessband, mit jedem Haus, jeder Strasse und jeder Brücke, die gebaut werden, mit jeder Versicherung, die abgeschlossen wird, mit jeder Tonne Stahl, die in ein Auto, ein Schiff oder einen Panzer verwandelt wird, fliesst unaufhörlich Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen und demzufolge werden auch die Unterschiede zwischen ihnen immer grösser. Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf irgendwelchen exotischen Bäumen oder in irgendwelchen geheimnisvollen Muscheln auf dem Meeresgrund. Es entsteht einzig und allein aus den Tränen, dem Schweiss und dem Blut all jener, die täglichste Schwerstarbeit verrichten und dennoch von den Früchten ihrer Arbeit ausgeschlossen bleiben. Wenn irgendwer auf irgendetwas zu Recht stolz sein müsste, dann gewiss nicht die Reichen auf ihren Reichtum, sondern all die Millionen Tag für Tag hart arbeitenden Frauen und Männer auf das, was sie unermüdlich leisten, die Bauarbeiter und die Krankenpflegerinnen, die Verkäuferinnen und die Fabrikarbeiter, die Putzfrauen und die Lastwagenfahrer, die Gärtner und die Friseusen, die Bäcker und die Kinderbetreuerinnen, ohne deren unermüdlichem Einsatz von früh bis spät die ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich zusammenbrechen und selbst der ganze Reichtum der Reichen im Nichts verschwinden würde. Wenn Abgeordnete, von denen selber die meisten über weit überdurchschnittliche Vermögen verfügen, sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer wehren, die nur ein klein wenig mehr Gerechtigkeit mit sich bringen würde, dann kann man wohl kaum mehr von einer echten Demokratie sprechen, dies umso weniger, als gemäss Umfragen eine grosse Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Bidens Vorschlag einer Reichtumssteuer unterstützen würde. Müsste man das nicht eher als „Plutokratie“ bezeichnen, als Diktatur des Reichtums und des Geldes? An dem Tag, an dem eine echte Demokratie an die Stelle der kapitalistischen Plutokratie getreten sein wird, wird man nicht mehr stolz darauf sein, „möglichst viel Reichtum zu produzieren“, sondern darauf, den vorhandenen Reichtum möglichst gleichmässig und gerecht unter alle Menschen verteilt zu haben.

Multimediahändler Fnac: Wenn das Lächeln der Verkäuferin über ihren Lohn entscheidet

 

„Wenn das Lächeln über den Lohn entscheidet“ – so der Titel eines Artikels im „Tagblatt“ vom 28. März 2022 über den französischen Multimediahändler Fnac, der „mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Franken die Deutschschweiz erobern und M-electronics, Orell Füssli und Co. Kundschaft abjagen“ will. Das Besondere an Fnac ist seine Vergütungsstruktur: Nach jedem Kauf wird dem Kunden oder der Kundin eine Umfrage geschickt mit einer Notenskala von 1 bis 10, mit welcher die jeweilige Angestellte vom Kunden oder der Kundin bewertet wird. Auch werden sogenannte „Mysteryshopper“ eingesetzt, um die Servicequalität vor Ort regelmässig zu überprüfen. Die verschiedenen Parameter tragen zum Gesamtbild der Mitarbeitenden bei und sind ausschlaggebend für den variablen Lohnanteil, der ca. 25 Prozent des Gesamtlohn ausmacht. Ein Lohnmodell, über welches sich wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Artikels nicht besonders verwundern werden, sind wir uns mittlerweile doch gewohnt, als Kundinnen und Kunden bei jeder Gelegenheit von der Hotelübernachtung über das Essen im Restaurant bis zum Einkaufen im Internet Bewertungen und Beurteilungen abzugeben. Und doch gäbe es genügend Gründe, solche Bewertungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen, vor allem dann, wenn sie noch zusätzlich mit variablen Lohnmodellen verknüpft werden. Typisch für solche Bewertungssysteme ist das immense Machtgefälle, das dahinter steckt: Der Kunde oder die Kundin kann sich noch so mühsam, lästig oder rechthaberisch verhalten – die Verkäuferin darf dennoch nie die Geduld verlieren, muss stets freundlich bleiben und lächeln, denn wenn sie das nicht tut, muss sie mit einer negativen Beurteilung und demzufolge mit einer Lohneinbusse rechnen. Das dahinter liegende Bild ist das Bild einer knallharten Klassengesellschaft, in welcher die Regeln von denen erfunden werden, die oben sind, und die jene ausbaden müssen, die unten sind. Das beginnt schon in der Schule, wo die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern bewertet und beurteilt werden und bei „schlechten“ Leistungen oder fehlendem Wohlverhalten mit schlechten Noten und Zeugnissen dafür bestraft werden, was sich gravierend auf ihre zukünftigen Berufs- und Lebenschancen auswirken kann. Ob der Gast im Restaurant oder Hotel, ob die Kundinnen und Kunden im Modegeschäft oder ob der Lehrer und die Lehrerin, welche Noten und Zeugnisse verteilt: Andere Menschen zu bewerten und beurteilen zu können, ist stets auch mit dem Gefühl verbunden, über Glück oder Unglück anderer ein Stück weit bestimmen zu können, sich besser und „mächtiger“ zu fühlen als andere. Dass dies etwas zutiefst Menschenfeindliches ist und dem elementaren Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen widerspricht, wird uns vielleicht dann bewusst, wenn wir uns für einen Moment einmal das Gegenteil vorzustellen versuchen: Nicht der Kunde bewertet die Verkäuferin, wie freundlich sie gelächelt hat, sondern die Verkäuferin bewertet den Kunden, wie geduldig und freundlich er sich verhalten hat. Nicht der Hotelgast bewertet das Zimmermädchen, wie gründlich sie das Zimmer geputzt hat, sondern das Zimmermädchen bewertet den Gast, wie herzlich er sich für ihre Arbeit bedankt hat. Nicht die Lehrerinnen und Lehrer bewerten die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen, sondern die Kinder und Jugendlichen bewerten die Lehrkräfte, wie interessant und verständlich sie den Schulstoff vermittelt haben, wie humorvoll sie sind und mit wie viel Liebe und Aufmerksamkeit sie sich um das einzelne Kind gekümmert haben. Doch zurück zu den Angestellten des Multimediahändlers Fnac, die nun damit leben müssen, dass ein Viertel ihres Lohns davon abhängt, wie freundlich sie lächeln und wie geduldig sie ihre Kundschaft auch dann noch bedienen, wenn sich, nach acht Stunden Arbeit, alles im Kopf dreht und sie vor lauter Schmerzen fast nicht mehr auf den Füssen stehen können. Die müssten doch froh sein, wenn sie überhaupt eine Stelle hätten, heisst es dann immer so schön. Was für eine verkehrte Welt! Was für eine Lüge, das ewige Gerede von den „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“! Tatsächlich muss doch nicht die Verkäuferin dankbar sein dafür, dass sie eine Stelle hat. Dankbar sein muss doch der Firmenchef, dass die Verkäuferin ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ihm hilft, dank ihrem tiefen Lohn den Konzerngewinn immer weiter in die Höhe zu treiben. Und so ist es mit allen sogenannten „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ in der kapitalistischen Arbeitswelt voller Ausbeutung und voller Lügen, welche die tatsächlichen Machtverhältnisse beschönigen und verschweigen. Aber vielleicht kommt ja doch noch irgendwann die Zeit, wo sich das Blatt wendet und dann nicht mehr der Kunde die Verkäuferin bewertet, sondern alle „Arbeitnehmer“ und „Arbeitnehmerinnen“ weltweit das kapitalistische Wirtschaftssystem bewerten, mit einer Notenskala von 1 bis 10. Wetten, das könnte eine böse Überraschung geben? 

Kamila Walijewa – die Spitze eines gewaltigen Eisbergs

 

Die 15jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa gilt seit Jahren als beste Eiskunstläuferin. Niemand erwartet von ihr an den Olympischen Spielen weniger als eine Goldmedaille. Doch nach dem Sieg der Russinnen im Teamwettkampf wird bekannt, dass Kamila Walijewa positiv auf ein verbotenes Herzmittel getestet worden ist. Trotzdem darf sie unter Vorbehalt auch im Einzelwettkampf antreten. Denn der definitive Entscheid über eine mögliche Sperrung steht noch aus. Doch der Druck, der auf Kamila Walijewa lastet, ist immens. Sie hält ihm nicht Stand, stürzt zwei Mal in der Kür und wird „nur“ Vierte. Schluchzend verlässt sie das Eis, ihre Enttäuschung ist grenzenlos, das jahrelange harte Training, die immensen Erwartungen, die Belastung rund um den noch ausstehenden Entscheid über eine mögliche Sperrung – all das bricht sich in wenigen Sekunden die Bahn. Doch ihre Trainerin, Eteri Tutberidse, kennt kein Erbarmen: Keine Umarmung, kein Trost, nur die Kritik, Kamila hätte ihr Programm verpatzt, den Sieg hergeschenkt, zu kämpfen aufgehört, die schwierigsten Sprünge aus der Hand gegeben und alle Mühe sei vergebens gewesen. Was für eine Kaltherzigkeit! Jetzt, wo Kamila Trost besonders dringend nötig gehabt hätte, wird ihr dieser zur Gänze verweigert. Selbst der ARD-Korrespondentin und ehemaligen Eiskunstläuferin Katarina Witt zerreisst es fast das Herz: „Ich finde“, so ihr TV-Kommentar, „man hat Kamila Walijewa der Welt zum Frass vorgeworfen. Alle Welt hat zugeschaut und daran muss sie jetzt zerbrechen.“ Ein besonders herzzerreissender Einzelfall? Mitnichten. Tutberidse ist bekannt für ihre unmenschlichen Trainingsmethoden: Julia Lipnitskaja, 2014 mit 15 Jahren jüngste Teamolympiasiegerin, musste wegen Magersucht zurücktreten, Jewgenia Medwedewa, Silbermedaillengewinnerin von 2018, hat einen kaputten Rücken, und weitere junge Talente sind mittlerweile so schwer verletzt, dass sie ihre Karrieren aufgeben mussten. Doch es wäre falsch, bloss mit dem Finger auf einzelne „böse“ russische Trainerinnen zu zeigen. Das Beispiel von Kamila Walijewa ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Es geht nicht um ein paar wenige „Einzeltäterinnen“. Es geht um das System als Ganzes. Ein System, das auf einer gewaltigen Lüge aufbaut, der Lüge nämlich, man müsste nur genug lange und genug hart trainieren und nur genug viele Schmerzen auf sich nehmen und nur auf genug Freizeit verzichten – um eines Tages an den Olympischen Spielen oder an den Weltmeisterschaften auf der obersten Treppenstufe zu stehen und eine Goldmedaille in Empfang nehmen zu können. Millionen von Kindern und Jugendlichen wird diese Lüge schon von Klein auf eingepflanzt, Millionen von Kindern und Jugendlichen weltweit werden gezwungen, einen unerbittlichen, zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf auf sich zu nehmen, damit am Ende ein paar wenige von ihnen zuoberst stehen werden und sich für alle anderen trotz aller Schmerzen und Entbehrungen dieser Traum in Nichts aufgelöst haben wird. Blenden wir zurück: Kamila Walijewa wurde bereits im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter gezwungen, sich in Gymnastik, Ballett und Eiskunstlauf zu üben. Als sie sechs Jahre alt war, übersiedelten sie und ihre Mutter nach Moskau, um dort eine besonders renommierte Talentschmiede zu besuchen, und als Zwölfjährige wurde sie in die Eiskunstlaufschule von Eteri Tutberidse aufgenommen. Niemals liesse sich mit Erwachsenen so etwas machen. Nur mit Kindern ist so etwas möglich, mit Kindern, die den Versprechungen und Verlockungen der Erwachsenen noch blinden Glauben schenken und nicht daran zweifeln, dass es diese Erwachsenen auch dann noch gut mit ihnen meinen, wenn sie ihnen die unmenschlichsten Qualen abverlangen. Mit ihrer Aussage, man habe Kamila Walijewa „der Welt zum Frass vorgeworfen und alle schauen zu“, hat Katarina Witt den Nagel auf den Kopf getroffen. Nicht nur Systeme des Rechts, sondern auch Systeme des Unrechts können sich etablieren, wenn nur eine genügende Anzahl von Menschen tatenlos zuschauen oder sich sogar aktiv daran beteiligen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der in früheren Zeiten verschwiegen, verheimlicht und geleugnet wurde, tritt heute nach und nach ins Licht der Öffentlichkeit. Doch ist das, was Kindern und Jugendlichen im Namen des „Spitzensports“ angetan wird, so viel weniger verwerflich? Sind all die Lügen, die man den Kindern von Klein auf eintrichtert, nicht auch eine Form von Kindesmissbrauch? Wäre es nicht an der Zeit, die Ideologie des Spitzensports und all seiner zerstörerischen Folgen ebenso kritisch anzuprangern und zu hinterfragen wie die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch kirchliche „Würdenträger“? Oder sind wir durch Habgier, Sensationslust und nationalistischen Ehrgeiz schon so sehr verblendet, dass wir das Unrecht als Unrecht schon gar nicht mehr wahrzunehmen vermögen?

Neuer Kinofilm „The 355“: Und das war sie dann schon, die Emanzipation der Frau?

 

Am 6. Januar 2022 ist in Schweizer Kinos der Actionfilm „The 355“ angelaufen. Das Besondere daran: Nicht Männer spielen darin die Hauptrolle, sondern fünf hochkarätige Schauspielerinnen, die, so berichtet die „Tagesschau“ am 7. Januar, „ihren männlichen Actionkollegen punkto Knallerei und Prüglerei in nichts nachstehen und damit ganz offensichtlich sämtliche Genderstereotypen kurzerhand eliminieren, und dies mit dem Zweihänder, der Waffe in der Hand.“ In der Tat: „The 355“ macht „James Bond“ alle Konkurrenz. Wie James Bond auf der Jagd nach dem ultimativen Bösewicht, so kämpfen sich die fünf Agentinnen von „The 355“ auf der Suche nach einer Cyberwaffe bisher ungekannter Zerstörungskraft durch jedes noch so heimtückische Hindernis, angefangen von einer Verfolgungsjagd quer durch Paris, zu Fuss und per Motorrad, durch enge Strassen zwischen umgeworfenen Postkartenständern und Bistrotischen, quer über den Fischgrossmarkt mit spektakulärem Showdown zwischen Kühltruhen, auf Eis gelagerten Schwertfischen und Transportschiffen, und so weiter, von Paris über Marokko bis Shanghai. Doch ist das schon alles? Eigentlich habe ich mir unter der Emanzipation der Frau und der Überwindung bisheriger Genderstereotypen etwas anderes vorgestellt. Oder können wir uns ernsthaft damit zufriedengeben, dass die Frauen bloss in die Rollen schlüpfen, die bisher den Männern vorbehalten waren, um nun einfach noch einmal die gleichen Geschichten nachzuspielen, die schon tausendmal gespielt worden sind? Müssten echte Emanzipation, echter gesellschaftlicher Fortschritt und echte Überwindung traditioneller Geschlechterrollen nicht darin bestehen, Filme dieser Art schon gar nicht mehr zu drehen? Generationen haben sich über sinnlose Autowettrennen auf endlosen Highways in der Abendsonne, über immer ausgeklügeltere Waffen, Roboter und Unterseeboote, über mit Maschinengewehrsalven niedergemähte Gangsterbanden, über durch klirrende Fensterscheiben fliehende Bösewichte und über meterweit herumspritzendes Blut halb zu Tode amüsiert. Wäre es nicht an der Zeit, langsam erwachsen zu werden? Gut, immerhin retten am Ende des Films die fünf Agentinnen, wie löblich, die Erde vor dem Dritten Weltkrieg. Doch hätte es da nicht auch noch ein paar andere, kreativere und vielleicht sogar realistischere Möglichkeiten gegeben? Hätten die fünf Agentinnen, statt sich gegenseitig Motorräder, Tiefkühltruhen und Postkartenständer um die Köpfe zu schlagen, ihre Energie, ihre Tatkraft, ihr Geschick und ihre Intelligenz nicht auch darauf verwenden können, um eine internationale Konferenz für Frieden und Abrüstung ins Leben zu rufen, zu der Frauen aus allen Ländern der Welt eingeladen worden wären? Das wäre nicht spannend genug gewesen? Und ob! Die Widerstände und Hindernisse, die den fünf Frauen entgegengeschlagen hätten und wie sie damit umgegangen wären, was eine solche Bewegung weltweit ausgelöst hätte, wie der Dritte Weltkrieg dadurch vielleicht tatsächlich hätte verhindert werden können – kein noch so spannender Actionfilm, keine noch so wilde Motorradjagd, keine noch so weit in die Höhe fliegende Tiefkühltruhe könnten ein solches weltweites Friedensprojekt auch nur annähernd an Spannung überbieten. Aber ja, das würde wahrscheinlich viel weniger Geld in die Kinokassen und an die grossen Filmkonzerne spülen. Und so werden wir halt bescheiden, lassen die Postkartenständer und die Schwertfische weiterhin sausen und wähnen uns nur schon deshalb allzu gerne in einer besseren Welt, weil jetzt nicht mehr die Männer, sondern die Frauen mit der Waffe in der Hand auf die nimmermüden Bösewichte losballern…  

Der Wirbel um Novak Djokovic: Bloss die Folge eines unbegreiflichen, ausser Rand und Band geratenen Nationalismus?

 

Wer die serbische „Krawallpresse“ lese, so schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 8. Januar 2022, wähne sich kurz vor einem „Weltkrieg“. Und dies schlicht und einfach nur deshalb, weil dem serbischen Tennisstar Novak Djokovic aufgrund eines fehlenden Impfausweises die Einreise nach Australien verweigert worden ist. Djokovic als Märtyrer, als Opfer einer Weltverschwörung – sein Vater ging gar so weit, ihn mit Jesus zu vergleichen, der ebenfalls gekreuzigt worden sei. Allerdings, so räumt der „Tagesanzeiger“ ein, habe die „nationalistische Aufwallung“ wohl auch mit „verletztem Nationalstolz“ zu tun und mit der permanent von der Staatsmacht wiederholten „Mär“, der Westen habe in den 1990er-Jahren ein unschuldiges Volk angegriffen. „Solch krude Ansichten“, so der „Tagesanzeiger“, „verunmöglichen eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung“. Mär? Krude Ansichten? So einfach sollte man es sich nicht machen, sonst läuft man Gefahr, der gleichen Zuspitzung, Vereinfachung und Schuldzuweisung zu verfallen, die man so gerne der Gegenseite zum Vorwurf macht. Blenden wir zurück: Ab 1989 nehmen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien immer mehr zu. Dabei geht es auch um Fragen der Ökonomie und des finanziellen Ausgleichs zwischen den verschiedenen Regionen. Die reichen Regionen wie Slowenien und Kroatien kündigen ihre finanzielle Unterstützung der ärmeren Regionen wie Bosnien, Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf, diese wiederum sehen sich dadurch existenziell bedroht. Gleichzeitig mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Teilrepubliken wächst der Nationalismus, das Trennende bekommt gegenüber dem bis anhin Verbindenden immer mehr Gewicht. Bis die schwelenden Konflikte in offene Kriege umschlagen, in denen sich die Streitkräfte der Teilrepubliken und die jugoslawische Volksarmee unter Führung der Serben unversöhnlich gegenüberstehen. Es beginnt 1991 mit dem Slowenienkrieg und geht weiter mit dem Kroatienkrieg 1991-1995 und dem Bosnienkrieg 1992-1995. Wie tief der Graben zwischen den verschiedenen Volksgruppen mittlerweile geworden ist, zeigt sich in der Aussage des späteren kroatischen Staatspräsidenten Tudman, der betont, wie glücklich und stolz er sei, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nach und nach spalten sich die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens ab und bilden eigene, autonome Staaten. Auch der Kosovo strebt die Unabhängigkeit von Serbien bzw. der nach allen Abspaltungen noch übrig gebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien an, hatte Kosovo doch bereits 1989 infolge einer Änderung der serbischen Verfassung seine früheren Autonomierechte verloren und hatte seither die Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die serbische Obermacht kontinuierlich zugenommen. 1992 rufen die Kosovoalbaner unter Ibrahim Rugova die unabhängige „Republik Kosova“ aus, Rugova ist zunächst bestrebt, die Autonomie gewaltlos zu erreichen, aber mit der Zeit beginnen immer mehr Kosovaren am Sinn des gewaltlosen Widerstands zu zweifeln und unterstützen die UÇK, die ab 1997 mit bewaffneten Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung tritt. Die gegenseitige Gewalt nimmt laufend zu. Und dies ist der Augenblick, in dem die westliche Militärmacht unter Führung der USA in einer Art und Weise in den Jugoslawienkrieg eingreift, wie sie dies nur gegenüber Serbien getan, niemals aber gegenüber einer anderen Volksgruppe in diesem Konflikt auch nur je erwogen hätte. Wenn sich Serbinnen und Serben heute noch immer als „Opfer der Geschichte“ sehen, so sind das weder „krude Ansichten“, noch handelt es sich um eine „Mär“, sondern es ist bitterernste, knallharte, tödliche Realität: Am 24. März 1999 beginnen, notabene ohne völkerrechtliche Grundlage, die Luftanschläge der NATO auf mehrere serbische Provinzen, daran beteiligt sind U-Boote in der Adria, von B-52-Bombern abgefeuerte Marschflugkörper und von verschiedenen Basen gestartete Kampfflugzeuge. Schon in der ersten Kriegsnacht werden mehrere Chemiewerke bombardiert, grosse Mengen giftiger und krebserregender Stoffe treten aus. Ärzte raten schwangeren Frauen zur Abtreibung und für zwei Jahre zur Vermeidung von Schwangerschaften. In den folgenden Wochen werden auch Gebäude des Serbischen Rundfunks angegriffen. Ebenfalls wird der Belgrader Fernsehturm zerstört. Ein weiteres wichtiges Angriffsziel ist die Stromversorgung, eine grössere Anzahl von Umspann- und Wärmekraftwerken werden bombardiert. Zahlreiche Strassen und Brücken, Spitäler und Verwaltungseinrichtungen, rund 300 Schulen und 176 Kulturdenkmäler werden beschädigt oder zerstört. Als der Krieg am 10. Juni 1999 zu Ende ist, meint ein Kommentator des Schweizer Fernsehens in der Tagesschau: „Serbien wurde um 40 Jahre zurückbombardiert.“ Und das soll keine Wunden schlagen? Ein so gedemütigtes Volk soll einfach mir nichts dir nichts wieder zur Tagesordnung übergehen? Da soll man nicht anfällig sein für übertriebene Vaterlandsliebe? Wer heute über das serbische Volk und über Novak Djokovic den Kopf schüttelt, müsste mindestens so sehr den Kopf schütteln über diesen beispiellosen Militärschlag im Frühjahr 1999, mit dem kein einziges jener Probleme, mit denen er begründet wurde, tatsächlich gelöst, sondern nur unendlich viele neue geschaffen wurden. Das Mindeste wäre genau das, was der „Tagesanzeiger“ fordert, nämlich eine konstruktive „Vergangenheitsbewältigung“. Nur kann man wohl nicht allen Ernstes vom serbischen Volk alleine die Bewältigung einer so traumatischen, bis heute nachwirkenden Demütigung erwarten. Die Vergangenheitsbewältigung müssten vor allem jene betreiben, die einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen haben und nichts Gescheiteres wussten, als in ein lichterloh brennendes Feuer noch zusätzlich Öl zu giessen. Und ja: Auch Medien wie der „Tagesanzeiger“ müssten sich vor allem um eine sachliche Aufklärung historischer Zusammenhänge bemühen, statt Feindbilder, die sowieso schon genug stark verbreitet sind, noch zusätzlich anzufeuern…