Der Fall Brian Keller: Deine Gewalt ist nichts anderes als ein stummer Schrei nach Liebe…

Im „Club“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 22. November 2022 ging es um den mittlerweile 27jährigen Brian Keller, den wohl „berühmtesten Häftling der Schweiz“, der rund ein Drittel seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat. Es diskutierten eine Strafrechtsprofessorin, ein Psychiater, ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, eine Journalistin, ein Lehrbeauftragter für Strafvollzug und der Anwalt von Brian.

Gemäss eines Berichts der Menschenrechtsorganisation „Humanrights“ hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge „zu seinem eigenen Schutz“.

Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 beging der 15Jährige ein schweres Gewaltdelikt: Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen stach er diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer „vorsorglichen Unterbringung“ im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom „Blick“ die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er schlief über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem folgenschweren Zwischenfall kam. Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft.

Am 10. April 2018 wurde Brian ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt, wo er grössere Freiheiten genoss und sogar ein Weiterbildungsprogramm absolvieren konnte. Dennoch wurde Brian – weil das Programm in Burgdorf infolge fehlender Ressourcen abgebrochen wurde – am 18. August 2018 wieder zurück ins JVA Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt.

Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Mai 2021 verurteilte das Obergericht Brian wegen des Vorfalls vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Am 31. Oktober 2022 ordnete das Zürcher Obergericht eine Freilassung von Brian an. Dieser Entscheid wurde am 8. November vom Zürcher Zwangsmassnahmengericht widerrufen.

Zurück zur Sendung „Club“ vom 22. November. Dort wurde nur ansatzweise thematisiert, inwieweit zwischen den äusseren Umständen, unter denen Brian Keller den grössten Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat, und den von ihm verübten Straftaten ein Zusammenhang bestehen könnte. Ist die Gewalt, die Brian in Form von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, erniedrigenden Haftbedingungen, unverhältnismässigen Gerichtsentscheiden und Liebesentzug in Form von Trennung von seinen Eltern erlitten hat, nicht mindestens so gross wie die Formen von Gewalt, die er selber verübt hat? Ist es nicht längst eine Binsenweisheit, dass Gewalt stets nur Gegengewalt erzeugt? Dass hier sehr wohl ein direkter Zusammenhang besteht, zeigt sich auch darin, dass Brian immer dann, wenn er sich in offeneren Formen des Strafvollzugs befand, viel besser „funktionierte“ und seine eigene Gewaltbereitschaft markant zurückging. Die Annahme, man müsse nur, um einen Menschen auf den „richtigen“ Weg zu bringen, seinen „Willen brechen“, ist einer der grössten Irrtümer und geistert nicht nur im Strafvollzug, sondern selbst in Erziehungsbüchern für ganz „normale“ Kinder auch heute noch herum. Tatsache ist, dass man den Willen eines Menschen nicht brechen kann, es sei denn, man töte ihn. Der Wille, den man zu brechen versucht, sucht sich dann einfach andere Bahnen, oft viel gefährlichere und zerstörerischere. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte der südafrikanische Freiheitskämpfer und späterer Staatspräsiden Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“

Tragisch, wenn man sich an den Anfang des Dramas zurückerinnert: Ein zehnjähriges Kind wird fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen ohne seine Eltern von zuhause abgeführt. Damit war eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Kann ein zehnjähriges Kind so etwas verkraften? Schlägt das nicht Wunden, die nie mehr verheilen werden? Ist diese Verletzlichkeit eines Zehnjährigen nicht gerade ein Zeichen für ein besonders hohes Mass an Empfindsamkeit und Liebesbedürfnis? Ist die „Gewalt“, die Brian in den folgenden Jahren an den Tag legte, vielleicht nicht eine besonders heftige Reaktion auf die verschüttete Sehnsucht nach Liebe? „Deine Gewalt“, singen die „Ärzte“ in einem ihrer bekanntesten Lieder, „ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“

„Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Brians Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn diese Hindernisse rechtzeitig beiseitegeschafft worden wären und man ihm den Weg zu seiner Selbstverwirklichung nicht so gewalttätig „verrammelt“ hätte. Längst ist allgemein bekannt, dass in Ländern, wo die Menschen sehr arm sind, auch die Kriminalitätsrate viel höher ist. Das ist so einleuchtend, dass es höchst verwunderlich ist, dass wir nicht schon längst den logisch daraus resultierenden Schluss gezogen haben, dass es eigentlich nur die äusseren Umstände sind, welche darüber entscheiden, wie „gut“ oder wie „schlecht“ Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen können. Ich wage zu behaupten, dass in einer Gesellschaft, in der die Liebe, die Gerechtigkeit und die gegenseitige Fürsorge an alleroberster Stelle stehen, solche Dinge wie Gewalt, Strafen und Gefängnisse überflüssig geworden wären. Vielleicht liegt das „Gute“ an der Geschichte von Brian Keller ja darin, uns hierfür die Augen geöffnet zu haben. „Brian ist kein Mörder“, sagt der Zürcher Oberrichter Christian Prinz, „er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.“

Alle zeigen mit dem Finger auf Katar – doch was ist allen anderen weltweit Millionen von Opfern von Ausbeutung, unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfällen und frühem Tod?

 

Zu Recht steht Katar wegen der katastrophalen Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorwiegend nepalesischer Wanderarbeiter auf den Baustellen der Fussballweltmeisterschaften am Pranger. Doch der einseitige Blick auf Katar lenkt bloss davon ab, dass Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle in der gesamten kapitalistischen Welt von Brasilien bis Deutschland, von den USA bis China, von Zentralafrika bis Russland durchaus nicht eine Ausnahme sind, sondern ganz und gar der „Normalfall.“

Gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verunfallen weltweit jedes Jahr rund 313 Millionen Menschen bei der Arbeit, davon 2,3 Millionen tödlich, das sind jeden Tag 6400. Sie verunfallen und sie sterben, weil sie zu viel, zu lange, zu hart oder zu gefährlich arbeiten müssen. Und so wie auch der kapitalistische Profitmaximierungswahn und das Tempo der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft laufend zunimmt, so nimmt eben auch die Zahl der Arbeitsunfälle von Jahr zu Jahr weiter zu. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen in Deutschland zwischen 2020 und 2021 um nicht weniger als 39 Prozent zugenommen! Eine starke Zunahme verzeichnen auch Berufskrankheiten wie zum Beispiel Allergien, Schwerhörigkeit und Rückenleiden. Der wohl grösste Skandal liegt aber wohl darin, dass nach wie vor weltweit rund 160 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren Arbeiten verrichten müssen, für welche normalerweise Erwachsene zuständig wären. 

Weshalb sprechen alle von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen beim Bau der Weltmeisterschaftsstadien in Katar, aber niemand von den weltweit Abermillionen Menschen in allen übrigen Ländern der Welt, die ebenso unter viel zu harten Arbeitsbedingungen leiden, in viel zu engen Unterkünften leben müssen, oft kaum Zugang zu fliessendem Wasser haben, oft ungenügend ernährt sind und viel zu früh sterben müssen?

Die Antwort findet sich leicht: Im Falle von Katar treffen „Opfer“ und „Nutzniesser“ im gleichen Schaufensterlicht aufeinander. Am gleichen Ort, wo die Ausbeutung stattfindet, findet auch das Vergnügen derer statt, die von dieser Ausbeutung profitieren, sei es finanziell, oder indem sie in schönen, schnell und billig gebauten Stadien die Spiele verfolgen können. Alles liegt im gleichen Scheinwerferlicht, niemand kann wegsehen, alles ist sichtbar. So ganz anders ist das mit der Ausbeutung, der eine Textilarbeiterin in Bangladesch, ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Bananenpflückerin in Honduras ausgeliefert sind, mit überlangen Arbeitszeiten, geringem Lohn, gröbster Behandlung durch Vorgesetzte, katastrophalen Wohnverhältnissen. Diejenigen, die von solchen Formen von Ausbeutung profitieren, die multinationalen Konzerne und die Konsumentinnen und Konsumenten in den reichen Ländern, befinden sich eben nicht in unmittelbarer Nähe, im gleichen Scheinwerferlicht. Nutzniesser und Opfer sind fein säuberlich voneinander getrennt, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, am anderen Ende der bis zur Unkenntlichkeit unsichtbar gemachten Lieferketten könnte es so etwas geben wie Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen oder frühen Tod.

Wer im Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft einen „Boykott“ gegenüber Katar gefordert hat, müsste ehrlicherweise auch einen Boykott gegen das gesamte weltweite kapitalistische Ausbeutungssystem fordern, gegen das globale Finanzsystem, gegen die Banken, gegen multinationale Konzerne, gegen Rohstoffhändler und gegen Börsenspekulanten – alles andere ist scheinheilig. 

„Die im Lichte sieht man“, so der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „doch die im Dunklen, die sieht man nicht.“ Höchste Zeit, dass nicht nur einige ausgewählte Plätze, die gerade im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gestellt werden. Denn selbst wenn bei einer weiteren zukünftigen Fussballweltmeisterschaft oder einem anderen Grossereignis auf die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen geachtet würde, so wäre das noch längst nicht das Ende, sondern nur erst ein winziger Anfang von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit.  

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann nicht verstanden werden ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie geschieht…

 

Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erleben häusliche Gewalt – dies das Resultat einer kürzlich veröffentlichten Elternbefragung, welche durch die Universität Freiburg im Auftrag der Organisation „Kinderschutz Schweiz“ durchgeführt wurde. Zehn Prozent der Kinder erleiden sogar überaus schwere Gewalt, jährlich kommt es zu rund 1600 Spitaleinweisungen, die Kinder müssen wegen Prellungen, Knochenbrüchen, Blutergüssen, Ohrverletzungen und weiteren Folgen von Faustschlägen und Gewaltanwendungen mit Schlagstöcken, Kabeln oder anderen schweren und harten Gegenständen behandelt werden. Aber auch psychische Gewalt in Form von Beschimpfungen, Strafandrohungen und Liebesentzug sind weit verbreitet.

Woher kommt diese Gewalt und wie kann sie möglichst wirksam bekämpft werden? Schauen wir uns bei öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen um, die sich für die Rechte der Kinder und ihren Schutz vor Gewalt einsetzen, dann stossen wir auf eine ganze Palette von Präventionsmassnahmen und Hilfsangeboten, von Elternkursen, Sensibilisierungskampagnen, Beratungsstellen bis hin zum Nottelefon und zur psychologischen Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher. Im Fokus steht dabei in der Regel die individuelle Situation innerhalb der einzelnen Familie.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat aber nicht nur eine private, individuelle, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Komponente. Nicht selten geben Eltern die Gewalt, die ihnen selber im Alltag widerfährt, an ihre Kinder weiter. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Kinder vor allem dort am meisten verbreitet ist, wo auch die Eltern unter einem besonders hohen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Druck stehen. Diese Rahmenbedingungen, die ebenfalls Formen von Gewalt darstellen, können, wenn es um das Phänomen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht, nicht einfach ausgeklammert werden. Auch Armut, Verschuldung, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Druck und Stress am Arbeitsplatz, Demütigungen durch Vorgesetzte und der Wettkampf um den sozialen Aufstieg sind Formen von Gewalt. Ein besonderes „Kampffeld“ und eine häufige Quelle von Gewalt – vor allem in Form von Liebesentzug – bilden all die Orte von der Schule bis zum Sport und zum Musikunterricht, wo Eltern ihre eigenen Erwartungen in die Kinder hineinprojizieren, alles Erdenkliche zur Leistungsförderung unternehmen und dann zutiefst enttäuscht sind, wenn die Kinder die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen – die betroffenen Kinder fühlen sich dann in ihrem Selbstwert zutiefst verletzt und vermissen jene Zuwendung und Liebe, auf die sie gerade in so schwierigen Situationen umso mehr angewiesen wären. Tragischerweise sind von allen diesen Formen physischer und psychischer Gewalt stets die Schwächsten der Gesellschaft am meisten betroffen, die, welche sich am wenigsten dagegen wehren können und dem allem schutzlos ausgeliefert sind, die Kinder und Jugendlichen.

Deshalb genügen auch die ausgeklügeltsten Präventionsmassnahmen und Elternkurse nicht, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Betrachtungsweise muss tiefer greifen. Nicht nur die einzelnen betroffenen Eltern müssen sensibilisiert werden, die Gesellschaft als Ganzes muss sensibilisiert werden. Es geht darum, ob wir eine gewaltfreie Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn ja, hat dies weitreichende Konsequenzen und stellt unsere ganze kapitalistische Leistungsgesellschaft und das endlose Streben nach immer höheren Profitraten, um aus den Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herauszuquetschen, radikal in Frage. Denn es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die dafür büssen müssen, dass nicht Liebe und Respekt, sondern der Wettkampf aller gegen alle die oberste Maxime der Gesellschaft ist. Die Gewalt, unter der die Kinder leiden, ist die gleiche Gewalt, unter der auch die Natur leidet, die Tiere, die Erde, die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und weltweit alle Menschen, die von Armut, Hunger und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Je mehr wir uns einer egalitären Gesellschaft nähern, in der die materiellen Güter, die Lebensbedingungen, die Arbeit, die Einkommen und die Vermögen möglichst gleichmässig auf alle verteilt wären, umso mehr würde gewiss auch all jene Gewalt verschwinden, die, in welcher Form auch immer, unseren heutigen Kindern und Jugendlichen angetan wird. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Serhij Zhadan: Friedenspreis für Kriegstreiber?

 

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Serhij Zhadan. In seiner im schweizerischen „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022 veröffentlichten Dankesrede plädiert Zhadan für den Krieg als bestes Mittel, um Frieden zu schaffen. Zudem äussert er sich ausführlich über die Funktion der Sprache in kriegerischen Zeiten. „Wir alle“, sagt er, „sind über unsere Sprache miteinander verbunden. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.“

Das muss hellhörig machen. Denn was Zhadan „Sprache“ nennt, hat ganz offensichtlich zwei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten. Nicht umsonst erliess das ukrainische Parlament am 25. April 2019 ein neues Sprachengesetz. Demzufolge gilt das Ukrainische als alleinige Staatssprache. In den Schulen, der öffentlichen Verwaltung, unter leitenden Angestellten, in der Wissenschaft, in der Kulturszene, in Regierung und Parlament darf nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden 100 Millionen Bücher russischsprachiger Autorinnen und Autoren entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Ebenso dürfen Werke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Und dies, obwohl die Muttersprache von 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung das Russische ist. Das Sprachengesetz hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zutiefst in Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse gespalten. Was der ukrainischsprachigen Bevölkerungsmehrheit an Bedeutung, Einfluss und Macht in Gestalt ihrer Sprache zugesprochen wurde, ist der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in gleichem Masse abgesprochen, weggenommen und geraubt worden. 

Was also meint Zhadan, wenn er von der „verbindenden Kraft der Sprache“ spricht? Obwohl er selber in der Ostukraine geboren wurde, ist die Sprache, die er meint, doch ganz offensichtlich das Ukrainische. In dieser Sprache, die ihm soviel „Kraft spendet“, die ihn mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern „verbindet“ und in der er die „Wahrheit“ verkünden kann, sagt er dann, beispielsweise in seinem jüngsten Werk, dem „Himmel über Charkiw“, so ungeheuerliche Dinge wie „Brennt in der Hölle, ihr Schweine!“ Gemeint sind natürlich die Russen. Diese bezeichnet er, wie die Onlineausgabe der „Zeit“ und das Internetportal „Telepolis“ berichtet haben, nicht nur als „Schweine“, sondern auch als „Hunde“, „Verbrecher“, „Tiere“ und „Unrat“. Auch bezeichnet er die Russen als „Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten.“

Ob die Jury des Deutschen Buchhandels Zhadans Bücher, bevor sie ihm den Friedenspreis verliehen hat, auch tatsächlich gelesen hat? Wenn nicht, wäre es schlimm. Wenn ja und sie ihm dennoch den Preis zugesprochen hätte, wäre es noch viel schlimmer. Denn das Schüren von Feindbildern und von Hass ist das Allerletzte, was dem Frieden dienlich ist, und das Allerletzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen können. Ja, Hass und Feindbilder sind gegenwärtig eine bittere Realität, leider. Aber Literatur, und erst recht eine preisgekrönte Literatur, sollte nicht einfach ein Abbild der Realität sein. Literatur und Kriegstreiberei müssten sich in ihrem tiefsten Wesen widersprechen. Literatur muss über die Realität hinausragen, neue Perspektiven der Menschlichkeit eröffnen, Brücken schlagen statt sie zu zerstören, dem Hass die Liebe entgegensetzen, der Intoleranz die Toleranz, dem Feindbilddenken die Feindesliebe. Dann, ja dann hätte sie einen Friedenspreis verdient.

Zurück zum „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022, der hier stellvertretend für wohl zahllose weitere westliche Medien steht, die über die Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan berichtet haben: Auf einer ganzen Zeitungsseite lang ist Zhadans Dankesrede abgedruckt worden, aber vergebens sucht man einen redaktionellen Kommentar, der auf die dunkle, hässliche, russenfeindliche, rassistische Seite des Preisträgers hätte hinweisen können. Im Gegenteil: Der Text trägt, in grossen Lettern, den Titel „Weil wir unbedingt Frieden wollen“. Und darunter das Bild von Zhadan, wie er mit gefalteten Händen dasteht, so als würde er für den Frieden beten. Wenn es stimmt, dass sich immer mehr Menschen nur noch aufgrund von Schlagzeilen und Bildern informieren, dann hat es wieder einmal funktioniert in diesen düsteren Zeiten, wo uns sogar übelste Kriegspropaganda in Form preisgekrönter Literatur schmackhaft gemacht wird. 

Wenn das, was russische Medien betreiben, Kriegspropaganda ist, was ist dann das, was westliche Medien betreiben, wenn sie uns Menschen, die einem ganzen Volk Hass und abgrundtiefe Verachtung entgegenbringen, als Friedensengel, Freiheitskämpfer und Helden verkaufen – und sich schon bald niemand mehr vorzustellen wagt, es könnte alles auch ganz anders sein?

Hätte man die Anliegen und Visionen der Klimabewegung früher ernstgenommen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Autobahnen setzen und an Brückengeländern festkleben…

 

14. Oktober 2022. Eine Frau sitzt auf der Strasse. Vor ihr baut sich ein Lastwagen auf. Es ist keine junge Klimaaktivistin, sondern die 48jährige Mutter und Universitätsprofessorin Julia Steinberger, die da den Verkehr blockiert. Es ist die sechste Aktion der Kampagne Renovate Switzerland innert zehn Tagen in der Schweiz. Die Sympathisantinnen und Sympathisanten agieren stets nach dem gleichen Muster. Sie tragen orange Signalwesten, setzen sich hin, halten Plakate noch, verursachen einen Stau. Sie warten, bis Polizisten sie von der Strasse tragen und verhaften…

„Blockaden“, sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli in der „NZZ am Sonntag“ vom 16. Oktober 2022, „stellen Nötigungen und Störungen des öffentlichen Verkehrs dar. Wenn man deliktisches Handeln als Aktivismus oder zivilen Ungehorsam bezeichnet, verlässt man die Ebene des Rechts und begibt sich auf diejenige der Politik.“ Und die ETH empfiehlt ihren Angestellten, „mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen zurückhaltend zu sein, denn eine klare politische Positionierung kann Ihrer Glaubwürdigkeit als unabhängige Forscher beeinträchtigen.“

Als begänne Politik erst in dem Augenblick, wo sich jemand in einer orangen Weste auf die Strasse setzt und den Verkehr behindert. Tatsache ist doch, dass alles Politik ist. Nicht nur die Sympathisantinnen und Sympathisanten von Renovated Switzerland und ähnlichen Gruppierungen sind Aktivistinnen und Aktivisten, wir alle sind Aktivistinnen und Aktivisten, ob wir wollen oder nicht, die Frage ist nur, auf welcher Seite wir stehen – auf der Seite des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums festhält und auf dem besten Wege ist, unseren Planeten an die Wand zu fahren, oder auf der Seite jener, die immer verzweifelter dagegen ankämpfen und immer häufiger zu Methoden greifen, die an die Grenze der „Legalität“ gehen, nicht weil ihnen das so viel Spass macht, sondern weil alles, was sie vorher versucht haben, bis jetzt nichts genützt hat. Und auch all jene, die sich angesichts dieser Polarisierung in vornehmes Schweigen und Passivität hüllen, auch sie sind Aktivisten und Aktivistinnen, ob sie wollen oder nicht. Denn auch Schweigen ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für die Beibehaltung des bestehenden Macht- und Denksystems und dass sich daran nur ja nichts grundlegend ändern soll. Denn, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sagt: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Und auch der deutsche Schriftsteller Erich Kästner kam zum gleichen Schluss: „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur jene Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.“

Das führt uns zur Frage, was denn „legal“ und was „illegal“ sei. Ist es „legal“, so viele Rohstoffe zu verschleudern und so viel CO2 in die Luft zu blasen, dass schon in wenigen Jahrzehnten halbe Erdteile unbewohnbar sein werden? Ist es „illegal“, sich in einer orangen Weste auf eine Strasse zu setzen und friedlich gegen die unaufhörlich wachsenden Verkehrslawinen zu protestieren? Oder ist es möglicherweise genau umgekehrt? „Falsch“, sagte Leo Tolstoi, „hört nicht auf, falsch zu sein, weil die Mehrheit daran beteiligt ist.“ „Normales“ – im Sinne dessen, was die überwiegende Mehrheit der Menschen tun und denken – und „Legales“ – im Sinne übergeordneter Menschenrechte – brauchen ganz und gar nicht identisch zu sein. So heisst es zum Beispiel im Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung: „Die schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.“ Und im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht sogar: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Versagt der Staat in dieser existenziellen Verpflichtung, dann müsste man doch wenigstens sämtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Klima- und Umweltbewegungen das Recht zugestehen, genau das zu praktizieren, was in der Verfassung des Staates steht, aber von eben diesem Staat missachtet und versäumt wird.

„Wo Unrecht zu Recht wird“, sagte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „wird Widerstand zur Pflicht.“ Es ist schon interessant. Täglich verfolgen wir gegenwärtig die Geschehnisse im Iran, wo Mädchen und Frauen unter Lebensgefahr auf die Strassen gehen und gegen das frauenfeindliche Regime der Mullahs protestieren. Und unsere Sympathien sind ungeteilt auf der Seite dieser mutigen und so starken Bewegung. Auch all jene russischen Männer, die sich der von Putin angeordneten Mobilmachung verweigern, geniessen unsere Sympathie. Wenn aber junge Frauen und Männer hierzulande auf die Strasse gehen, um gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen anzukämpfen, begegnen wir ihnen mit Ablehnung und mit der moralischen Belehrung, sie hätten sich gefälligst an unsere demokratischen Spielregeln zu halten. Fällt es uns so viel schwerer, Demokratie im eigenen Land zu praktizieren, als demokratischen Bewegungen in anderen Ländern zuzujubeln?

Unkonventionelles, Störendes, „Illegales“, Widerspenstiges sollte doch nicht in allererster Linie dazu da sein, im Namen falsch verstandener „Legalität“ bekämpft und an den Pranger gestellt zu werden, sondern müsste im Gegenteil dazu dienen, die Gesellschaft permanent von innen her zu erneuern. So viele Eltern berichten davon, wie viel sie von ihren Kindern gelernt hätten, durch ihre offenen, kritischen, unbequemen und ehrlichen Fragen, ihrem Widerstand, dem Durchbrechen von Normen. Genau das wäre doch die Aufgabe einer Gesellschaft als Ganzes, denn nicht der blinde Gehorsam bringt die Menschen voran, sondern der Ungehorsam, der alles immer wieder von Neuem in Frage stellt. Hätte man den Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung schon vor drei oder vier Jahren aufmerksamer zugehört, hätte man sie ernstgenommen, wäre man auf ihre wunderbaren Visionen einer friedlichen und lebenswerten Zukunft eingegangen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Strassen setzen und an Brückengeländern festkleben und warten, bis sie von der Polizei weggetragen werden und alle mit den Fingern auf sie zeigen…

Keine US-Mikrochips nach China: „Eine Strangulierung mit der Absicht zu töten“…

 

„Der Handel mit China wird zur Waffe“, titelt das schweizerische „Tagblatt“ am 15. Oktober 2022. Es geht um die massive Beschränkung der Exporte von Superchips aus den USA nach China. Dies, so der Ökonomienobelpreisträger Paul Krugman, sei die „derzeit grösste geopolitische Story: das harte Vorgehen gegen die chinesische Halbleiterindustrie.“ Und das „Center for Strategic and International Studies“ meint, Biden bezwecke die „Strangulierung grosser Teile der chinesischen Technologieindustrie, eine Strangulierung mit der Absicht zu töten.“ Das sieht auch der EU-Chefdiplomat Josep Borrell nicht anders: Die Welt, die gerade entstehe, so Borrell, werde geprägt durch die strategische Rivalität zwischen den USA und China, es sei „eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird, alles: Energie, Investitionen, Informationen oder Migrationsströme.“

Handel als Waffe. Den Konkurrenten strangulieren. Ihn töten. Eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird. Unwillkürlich erinnert man sich bei diesen Worten an eine Aussage der deutschen Aussenministerin Analena Baerbock, die unlängst erklärte, Ziel müsste es sein, die russische Wirtschaft zu „ruinieren“. Doch was bleibt am Ende übrig, wenn sich alle gegenseitig stranguliert und ruiniert haben, sei es mit Bomben, Raketen und Panzern, sei es mit den „friedlichen“ Mitteln von Handel, Wirtschaft und Wettbewerb?

Eine Wirtschaft, die dazu dient, andere zu strangulieren und zu ruinieren, ist so ziemlich die äusserste und letzte Perversion, die dem „Homo sapiens“ in den Sinn kommen kann. Jedes Eichhörnchen, das im Sommer Nüsse sammelt, um im Winter einen genug grossen Vorrat zu haben, versteht mehr von Wirtschaft als Politikerinnen und Wirtschaftsführer, die ökonomisches Handeln dafür missbrauchen, anderen Schaden zuzufügen und die Existenzgrundlage anderer Menschen, Völker oder Staaten zu zerstören. Wirtschaft hätte keine andere Aufgabe, als jedem Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Sicherheit und Wohlergehen zu gewährleisten, ohne übertriebenen Reichtum und ohne übertriebene Armut und im Einklang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, so dass dieses Wohlergehen auch für alle kommenden Generationen gewährleistet ist. Was jedes Land aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften kann, soll es aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften, nicht zuletzt, um die Transportwege für die Güter möglichst kurz zu halten. Was ein Land aus eigener Kraft nicht zu produzieren und zu erwirtschaften vermag, soll zwischen den Ländern in gegenseitigem Einvernehmen und zu fairen Preisen ausgetauscht werden. Fairer Handel bei gleichzeitig grösstmöglicher Sparsamkeit zwecks Schonung der natürlichen Ressourcen müsste die Devise sein. Dies wäre das Gegenteil des heute weltweit herrschenden Wachstumszwangs, der alle Länder in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt und ausgerechnet jene Länder mit einem hohen Bruttosozialprodukt und einem überdurchschnittlichen Lebensstandard belohnt, denen es am besten und am skrupellosesten gelingt, andere für sich auszubeuten und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Unbegreiflich. Was an Liebe, Solidarität, Teilen und gegenseitiger Anteilnahme in jeder Familie und jeder Freundschaft, ob in Brasilien, im Kongo, in Portugal oder in Vietnam, selbstverständlich ist, wird von denen, die in Politik und Wirtschaft weltweit das grosse Sagen haben, Tag für Tag mit Füssen getreten und ins Gegenteil verkehrt. Die ganz „gewöhnlichen“ Menschen beherrschen das Handwerk der Liebe. Weshalb soll das, was sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen so sehr bewährt hat, nicht auch Massstab sein für die ganz grossen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten und Völkern? „Es wird“, sagte Papst Franziskus, „in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.“

Eigentlich wäre es schon mehr als höchste Zeit. Denn die grossen Bedrohungen unserer Zeit von der sozialen Ungerechtigkeit über den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte bis hin zum Klimawandel lassen sich schon längst nicht mehr in der Weise lösen, dass jedes Land auf eigene Weise vorgeht. „Was alle angeht“, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“ Wenn wir nicht endlich die Grenzen zwischen den Ländern und Völkern und die Grenzen in unseren Köpfen überwinden, dann wird das für die Zukunft der Menschheit wenig Gutes verheissen. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder als Narren miteinander untergehen.“

Elon Musks Friedensplan für die Ukraine: Die richtige Idee zur richtigen Zeit

 

Kürzlich hat der Unternehmer Elon Musk einen eigenen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, mit folgenden Punkten: Erstens sollen die Abstimmungen in den von Russland annektierten Regionen unter UNO-Aufsicht wiederholt werden. So würde das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen gewahrt und Russland müsste, je nach Ausgang der Abstimmungen, diese Gebiete wieder räumen. Zweitens solle die Krim formell Teil Russlands werden. Drittens müsste die Wasserversorgung der Krim gesichert werden. Und viertens müsste die Ukraine ein neutraler Staat bleiben. Nüchtern betrachtet, ist den Vorschlägen Musks wohl wenig entgegenzusetzen, zumindest könnten sie eine brauchbare Grundlage bilden für Friedensverhandlungen, die angesichts der aktuell so verfahrenen und gefährlichen Lage dringendst nötig wären. Doch die Reaktionen der Kriegsparteien geben wenig Anlass zu Hoffnung: Russland findet Musks Friedensplan immerhin „positiv“, lehnt ihn aber dennoch ab. Selenski fragt seine Follower: „Welchen Elon Musik mögt ihr mehr, einen, der die Ukraine unterstützt, oder einen, der Russland unterstützt?“ Und Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, twittert: „Verpiss dich, das ist meine sehr diplomatische Antwort.“

Wer nun denkt, dass wenigstens unabhängige westliche Medien dem Friedensplan von Elon Musk eher zugeneigt sein könnten, sieht sich auch darin schnell getäuscht. Die „NZZ“ vom 5. Oktober schreibt, Musks Friedensplan könne man nur „im allerbesten Fall als naiv bezeichnen.“ Und der „Tagesanzeiger“ bezeichnet Musk im Zusammenhang mit seinem Friedensplan als „Troubleshooter vor dem Herrn“ und weist darauf hin, dass Musk schon einmal „seinen eigenen Klogang gewittert hat“ – als ob das auch nur im Entferntesten etwas mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hätte. Weiter feure Musk auf Twitter „immer wieder polemische Äusserungen ab.“ Kurz: Was der Mann in die Welt hinausposaune, sei nicht wirklich ernst zu nehmen.

Was für eine verrückte Welt. Während Berichte über den Kriegsverlauf, über Massaker und über Wirtschaftssanktionen seitenlange mediale Beachtung finden, werden Aufrufe zu Friedensverhandlungen und ein Ende des Kriegs ins Lächerliche gezogen, mundtot gemacht oder totgeschwiegen. Sahra Wagenknecht, eine der führenden Repräsentantinnen der deutschen Friedensbewegung, wird in Talkshows von ihren Gegnerinnen und Gegnern, für die es keine andere Lösung gibt als den Krieg bis zum bitteren Ende, jeweils dermassen polemisch und respektlos attackiert, dass man sich wundern muss, dass sie an solchen „Gesprächen“ überhaupt noch teilnimmt. Die Friedensbotschaften von Papst Franziskus und sein dringender Appell, den Krieg unverzüglich zu beenden, verhallen ungehört. Und von der Friedensinitiative des Dalai Lama, für die weltweit immerhin über eine Millionen Stimmen gesammelt wurden, war weder in einer Zeitung, noch im Fernsehen oder auf einem der grossen Internetportale jemals auch nur ein einziges Wort zu hören.

Eine verrückte Welt. In der es normal geworden ist, Vorschläge für eine Friedenslösung als „naiv“, „unrealistisch“ oder gar „absurd“ abzutun, während das einzig wirklich Absurde doch dieser Krieg ist, der am Ende keine Gewinner kennt, nur Verlierer und endlose, sinnlose Zerstörung. Eine verrückte Welt, in der viel zu viele Menschen offensichtlich schon so viel Krieg im Kopf haben, dass der Frieden darin gar keinen Platz mehr findet. „Probleme“, sagte Albert Einstein, „lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wenn alles absurd geworden ist, dann ist jeder neue Gedanke der Anfang einer neuen Zeit, in der von Neuem die Liebe, die Gerechtigkeit und der Frieden das Normale sein werden. Fragt die Kinder, die ihre Erinnerung ans Paradies noch nicht verloren haben! Fragt die Blumen am Wegesrand, die Tiere im Wald! Fragt die Frau, die soeben im Bombenhagel ihr Kind zur Welt gebracht hat! Elon Musks Vorschläge wären eine wunderbare Chance gewesen, der schon fast verlorenen Hoffnung auf Frieden doch noch eine Chance zu geben. Alle, die sie bekämpfen, sie lächerlich machen oder sie totschweigen, machen sich daran mitschuldig, dass Zerstörung, Leiden und der Wahnsinn, Gewalt könne nur durch Gewalt überwunden werden, wohl noch viel zu lange Zeit kein Ende finden.

Anschläge auf Gaspipelines in der Ostsee – Auch meine Nachbarin sagt: Klar, waren es die Russen, wer denn sonst?

 

„Verdacht auf gezielten Sabotageakt aus Moskau“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 28. September 2022 zum mutmasslichen Anschlag auf die Gaspipelines Nordstream1 und Nordstream2 in der Ostsee am 26. September. Und der „Tagesanzeiger“ vom 28. September schreibt, die deutsche Regierung halte eine russische Aktion, allenfalls unter „falscher Flagge“, für möglich, nämlich, um den Verdacht von sich selber abzulenken. Ebenfalls erwähnen Radio und Fernsehen SRF Russland als Hauptverdächtigen. Und auch meine Nachbarin sagt: „Klar, das waren die Russen, wer denn sonst?“

Doch bin ich nicht gerade auf „Twitter“ über Dutzende von Nachrichten gestolpert, die genau das Gegenteil behaupten? F.W. schreibt, im Rahmen der NATO-Übung Baltops hätte schon im Juni die 6. Flotte der US-Navy den Umgang mit Unterwasserdrohnen trainiert, und zwar an der Küste von Bornholm, im Bereich der Nordstream2-Lecks. Danach hätten die US- und die britische Navy gemeinsam die ukrainische Armee im Umgang mit diesen Drohnen trainiert. N.R. schreibt, mit Bezug auf eine Meldung des Norddeutschen Rundfunks, dass mehrere Tage, bevor die Anschläge erfolgten, rund 4000 US-Soldaten, Hubschrauberpiloten, Marineinfanteristen, Ärzte und Strategen auf dem Weg nach Osten gewesen seien. Nachdem sie die dänische Insel Bornholm passiert hätten, hätten die Amerikaner ihre automatischen Schiffsidentifikationssysteme ausgeschaltet und seien nicht mehr zu orten gewesen. C.L. schreibt, unter Hinweis auf einen absolut glaubwürdigen Link, dass sich Radek Sikonski, der ehemalige polnische Minister für nationale Verteidigung und Aussenminister, kurz nach den Anschlägen bei den Amerikanern mit den Worten „Thank You, USA“ bedankt hätte. Und S.N. schreibt, schon am 23. August hätte Polens Präsident Duda den Abriss von Nordstream2 gefordert. 

Wem soll ich glauben? Meiner Tageszeitung, den offiziellen Radio und Fernsehnachrichten? Oder doch eher den Meldungen auf „Twitter“, die sich zwar nicht alle bis ins letzte Detail überprüfen lassen? Doch dann stosse ich auf die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen US-Präsident Joe Biden und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, ausgestrahlt auf ARD am 8. Februar 2022. Wortwörtlich im Folgenden die entscheidende Passage des Gesprächs.

Biden: „Wenn Russland einmarschiert, das heisst Panzer und Truppen die ukrainische Grenze passieren, dann wird es kein Nordstream2 mehr geben. Wir werden es zu einem Ende bringen.“ Journalistin: „Wie genau möchten Sie das anstellen, da sowohl das Projekt als auch die Kontrolle darüber in deutscher Hand liegt?“ Biden: „Wir werden, das verspreche ich Ihnen, dazu in der Lage sein.“ Scholz: „Vielleicht ist es eine gute Idee, es unseren amerikanischen Freunden zu sagen, dass wir vereint sein und gemeinsam handeln werden. Und wir werden alle notwendigen Schritte einleiten, gemeinsam.“ Journalistin: „Werden Sie sich heute verpflichten, den Stecker zu ziehen und Nordstream2 abzuschalten?“ Scholz: „Wie ich bereits gesagt habe, wir handeln zusammen, wir sind vollkommen vereint und werden keine anderen Schritte unternehmen. Unsere Schritte werden Russland hart treffen und das sollen sie verstehen.“

Das wäre doch für die westlichen Medien Grund genug gewesen, kurz nach den Anschlägen auf die Gaspipelines ebenso schnell die USA als Hauptverdächtige ins Visier zu nehmen, wie sie nach der Einnahme von Butscha und Isjum Russland als Hauptverdächtigen von Massakern angeschuldigt hatten. Dies umso mehr, als Russland kein einziges nachvollziehbares Interesse daran haben kann, diese Gasleitungen zu zerstören. Anders sieht es bei den USA aus, wenn man an die grossen Profite denkt, welche US-Energiekonzerne mit Gaslieferungen an Europa machen. Zudem verfügen die Amerikaner, im Gegensatz zu den Russen, bekannterweise über viel spezifischere Einheiten, um Operationen dieser Art erfolgreich durchzuführen. 

Offensichtlich sind die westlichen Medien schon längst nicht mehr Ausdruck demokratischer Glaubwürdigkeit, sondern sind selber schon zur Kriegspartei geworden – das, was sie der Gegenseite stets so vehement zum Vorwurf machen. Auffallend ist auch, dass in den westlichen Medien überaus massvoll über die Anschläge berichtet wird – kein Vergleich jedenfalls mit dem Stellenwert, den beispielsweise die Ereignisse in Butscha und Isjum oder die „Scheinreferenden“ in der von Russland besetzten Ostukraine eingenommen hatten. Doch auch dafür finde ich auf „Twitter“ eine mögliche Erklärung. P.B. schreibt: „Der wohl grösste Beweis, dass die Amerikaner die Pipelines zerstört haben, ist, dass die Mainstream-Medien kaum darüber berichten.“

Können wir uns bei so vielen Widersprüchen schon ein abschliessendes Urteil bilden? Das dürfte noch schwerfallen. Jedenfalls gibt es wohl für die These, es seien die Amerikaner gewesen, mindestens so viele gute Gründe wie für die These, dass es die Russen gewesen sind.   

Michail Gorbatschow und die versäumten Chancen des Westens

 

„Michail Gorbatschow“, so twitterte die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock am 30. August 2022, “ hat sich in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen den Menschen leiten lassen. Das Ende des Kalten Kriegs und die deutsche Einheit sind sein Vermächtnis. Wir trauern um einen Staatsmann, dem wir dafür ewig dankbar sind.“

Die von nahezu sämtlichen westlichen Politikern und Politikerinnen geteilte Dankbarkeit gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion dafür, dass er den Kalten Krieg beendet hat, hat jedoch noch eine andere, weitaus fragwürdigere und zwiespältigere Seite. Denn Gorbatschow strebte nicht nur mehr Demokratie und Wirtschaftsreformen innerhalb der Sowjetunion an – deren Zerfall nicht sein Ziel gewesen war -, sondern er strebte weit darüber hinaus eine neue Weltordnung an, die auf globaler Partnerschaft, Frieden und Abrüstung aufbauen sollte. „Wir alle“, sagte er, „sind Passagiere an Bord des Schiffs Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah gibt es nicht.“ Immer wieder betonte Gorbatschow die Bedeutung der friedlichen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: „Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind. Entweder steigen sie zusammen weiter bis zum Gipfel, oder sie stürzen zusammen in einen Abgrund.“ Nicht nur gegenüber dem Kommunismus legte er eine kritische Haltung an den Tag, sondern ebenso gegenüber dem Kapitalismus – beide Wirtschaftssysteme müssten überwunden werden, um einer neuen, menschenfreundlichen Ordnung Platz zu machen, einem neu zu schaffenden Humanismus, der sowohl die Nachteile des Kommunismus wie auch jene des Kapitalismus überwinden müsste: „Für die Zukunft besteht die Wahl nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus, sondern es geht um eine Synthese all jener Erfahrungen, die wir in diesen beiden Systemen gemacht haben.“ Konsequenterweise vertrat Gorbatschow dabei auch stets eine unmissverständliche Friedens- und Abrüstungspolitik: „Eben deshalb ist es notwendig, die nukleare Guillotine niederzureissen. Die kernwaffenbesitzenden Mächte müssen über ihren nuklearen Schatten springen, hinein in eine kernwaffenfreie Welt.“ Doch Gorbatschow stellte nicht nur die Kernwaffen in Frage, sondern ganz generell den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte: „Keines der aktuellen Probleme – Massenvernichtungswaffen, Armut, Umweltschutz und Terrorismus – kann mit militärischen Mitteln gelöst werden.“

Der Westen hätte nur die ausgestreckte Hand Gorbatschows ergreifen müssen und Veränderungen globalen Ausmasses in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung wären möglich geworden. Doch was geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, sondern zurückgeschlagen. Nicht der Beginn einer neuen friedlichen Weltordnung wurde gefeiert, sondern, wie es der amerikanische Ökonom Francis Fukuayama sagte, der „endgültige Sieg des westlichen Wirtschaftsmodells über alle mit im konkurrenzierenden Systeme“. Und der damalige US-Präsident George Bush sagte im Februar 1990: „Wir haben gewonnen, nicht sie.“ Mit anderen Worten: Wir, der Westen, haben die Schlacht gewonnen und nun bestimmen wir alleine, wie es weitergehen soll. „Dies“, schreibt der SPD-Politiker Klaus von Dohnany in seinem kürzlich erschienenen Buch „Nationale Interessen“, „erweist sich heute als grösste vertane Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa und für die Möglichkeit, Russland heute in den globalen Auseinandersetzungen als Partner zu behandeln.“

Den Triumph des Siegers sollte Russland nun auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen. Obwohl der amerikanische Aussenminister Jim Baker und Präsident Bush Gorbatschow 1991 zugesichert hatten, die NATO „keinen Inch“ nach Osten auszudehnen, erfolgte genau dies, Land um Land, bis an die Grenzen Russlands – ein Vorgehen, das man, auf der Gegenseite, damit vergleichen könnte, dass sich Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden, was die USA wohl kaum so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Es wird zwar oft gesagt, der Westen hätte bezüglich NATO-Osterweiterung nie eine schriftliche Zusicherung abgegeben. Gorbatschow musste sich also den Vorwurf gefallen lassen, gegenüber dem Westen zu leichtgläubig gewesen zu sein und sich auf mündliche Aussagen verlassen zu haben. In völliger Missachtung von Gorbatschows Zukunftsvision einer friedlichen Weltordnung steht auch die Tatsache, dass die USA rund um Russland herum Hunderte von Militärstützpunkten eingerichtet haben und die NATO über ein Militärbudget verfügt, dass 20 Mal höher ist als jenes von Russland. Eine weitere Machtdemonstration des Westens erfolgte 2019, als US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte, welcher 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelt worden war und die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. „Gorbatschow kritisierte diesen Schritt scharf als  leichtsinnig und als Gefahr für den Weltfrieden“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 1. September 2022, „doch da hörte ihm längst niemand mehr zu.“

Da hörte ihm schon längst niemand mehr zu. Dabei wäre Gorbatschows Vision einer friedlichen Weltordnung heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten aktueller denn je. Es nützt niemandem etwas, wenn nun plötzlich alle vom „Friedensengel“ Gorbatschow schwärmen. Es nützt auch niemandem etwas, dass man ihm den Friedensnobelpreis verliehen hat. Es sei denn, man nähme ihn und seine Botschaft der Menschenliebe wenigstens jetzt, nach seinem Tode, ernst. Würde sich das westlich-kapitalistische Machtsystem ebenso friedlich und gewaltlos auflösen, wie sich die Sowjetunion aufgelöst hat, dann, ja dann könnte man tatsächlich von einem wahren Zeitensprung in der Menschheitsgeschichte sprechen, denn, wie Gorbatschow sagte: „Gefahr wartet nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ 

Erste Frachter aus Odessa ausgelaufen: Hühnerfutter für die Reichen statt Brot für die Armen

 

„Als der Frachter Razoni letzte Woche im Hafen von Odessa mit dem Ziel Libanon ablegte“, schreibt das „Tagblatt“ vom 10. August 2022, „feierten Politiker aus aller Welt die Abfahrt als Leuchtfeuer der Hoffnung im Kampf gegen den Hunger. Doch im Libanon, der dringend Getreide braucht, ist die Razoni nicht angekommen. Stattdessen wird sie in der Türkei erwartet. Der Mais an Bord ist nicht einmal für Brot bestimmt, sondern als Hühnerfutter.“ Tatsächlich fährt keines der elf Schiffe, die mittlerweile die ukrainischen Gewässer verlassen konnten, Häfen in armen Ländern an. Die Zielhäfen für die elf Transporte mit mehr als 200’000 Tonnen Mais, Sojabohnen, Sonnenblumenmehl und Sonnenblumenöl sind in der Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China.

Hunger in Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Jemen oder Kenia. Getreide aus der Ukraine als Tierfutter für die Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China. Zynischer und menschenverachtender geht es nicht mehr. Und doch ist das alles nur die ganz „normale“ Art und Weise, wie Produktion, Handel und ganz allgemein Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert: Die Güter fliessen nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Und so werden weltweit rund 40 Prozent aller Agrarflächen für die Produktion jener Unmengen von Fleisch verschwendet, das auf den Tellern des reichen Nordens landet, während gleichzeitig über 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Nicht umsonst sagte Papst Franziskus: „Kapitalismus tötet.“ Haben das all die glühenden Verfechter der sogenannten „freien“ Marktwirtschaft, die ja bloss ein anderes Wort für Kapitalismus ist, immer noch nicht begriffen? Wie viele Tote braucht es noch, bis ihnen die Augen aufgehen?

Doch übermässige Fleischproduktion für die Reichen und Hunger für die Armen sind nur die Spitzen des Eisbergs. Dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können, lässt sich an jedem Produkt auf dem globalen Warenmarkt nachverfolgen. Verfügen wohlhabende Europäer nicht selten nebst einem oder gar zwei Autos pro Familie zusätzlich über mehrere Stadträder, ein Tourenräder und gar noch E-Bikes, müssen zwölfjährige Mädchen in Afrika 15 oder 20 Kilometer weit zu Fuss gehen, um Trinkwasser oder Brennholz für ihre Familie zu beschaffen – und selbst wenn sie ein Fahrrad hätten, sind die Strassen in einem so miserablen Zustand, dass sie es gar nicht benützen könnten. Unter dem Weihnachtsbaum wohlhabender Menschen des Nordens liegen Berge von Kinderspielzeug, angefertigt von chinesischen Fabrikarbeiterinnen, deren Kinder als einziges Spielzeug gerade mal eine Blechdose besitzen, die sie an einer Schnur hinter sich herziehen. Und die Modehäuser des reichen Nordens überquellen derart von viel zu vielen Kleidern, dass diese oft schon im Müll landen, bevor sie auch nur ein einziges Mal getragen wurden – während Millionen von Menschen im ärmeren Süden schon dankbar sein müssen, wenn sie über zwei Paar Hosen, Röcke oder Schuhe verfügen.

Tatsächlich ist aber alles noch viel schlimmer. Denn der Reichtum am einen Ort ist mit der Armut am anderen aufs Engste verknüpft. Nur weil so viele Menschen im Süden Hunger leiden, stehen genügend grosse Agrarflächen zur Verfügung, um die Fleischgier des Nordens und der weltweiten Oberschichten zu befriedigen. Nur weil die Spielzeugfabrikantinnen in China so wenig verdienen, sind die Spielsachen in den Geschäften des Nordens so billig, dass sie von den genug Verdienenden im Norden in solchem Überfluss gekauft werden können. Nur weil afrikanische Minenarbeiter zu einem Hungerlohn Rohstoffe und Metalle in genügender Menge aus dem Boden schürfen, können sich so viele Menschen in den wohlhabenderen Ländern ohne Problem ein Elektromobil oder ein E-Bike leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen.

Als die Frachter infolge der Verminung ukrainischer Häfen nicht auslaufen konnten, reagierten die westlichen Regierungen mit hellster Empörung: Russland sei Schuld, wenn die Menschen nicht mit dem Getreide aus der Ukraine versorgt werden könnten und daher verhungern müssten. Jetzt, wo die Schiffe auslaufen und das Getreide abtransportieren können, wird dieses nicht für die notleidende Bevölkerung in den von Hunger am meisten betroffenen Ländern verwendet, sondern für die Produktion von Fleisch für all jene, die sowieso schon genug zu essen haben und sich diesen Luxus leisten können. Doch angesichts dieses unermesslichen Skandals hüllen sich die gleichen westlichen Regierungen, die eben noch so laut geschrien haben, in Schweigen. Offensichtlich ist es einfacher, den bösen „Feind“ zu beschuldigen und zu diffamieren, als an den Grundfesten der eigenen Ideologie der Profitmaximierung um jeden Preis auch nur ansatzweise zu rütteln. Ja. Viel zu viele Menschen sterben im Krieg. Aber es sterben auch viel zu viele Menschen in dem, was wir „Frieden“ nennen und was doch nichts anderes ist als ein an Grausamkeit nicht zu überbietender Krieg der Reichen gegen die Armen…