Serhij Zhadan: Friedenspreis für Kriegstreiber?

 

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Serhij Zhadan. In seiner im schweizerischen “Tagesanzeiger” vom 24. Oktober 2022 veröffentlichten Dankesrede plädiert Zhadan für den Krieg als bestes Mittel, um Frieden zu schaffen. Zudem äussert er sich ausführlich über die Funktion der Sprache in kriegerischen Zeiten. “Wir alle”, sagt er, “sind über unsere Sprache miteinander verbunden. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.”

Das muss hellhörig machen. Denn was Zhadan “Sprache” nennt, hat ganz offensichtlich zwei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten. Nicht umsonst erliess das ukrainische Parlament am 25. April 2019 ein neues Sprachengesetz. Demzufolge gilt das Ukrainische als alleinige Staatssprache. In den Schulen, der öffentlichen Verwaltung, unter leitenden Angestellten, in der Wissenschaft, in der Kulturszene, in Regierung und Parlament darf nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden 100 Millionen Bücher russischsprachiger Autorinnen und Autoren entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Ebenso dürfen Werke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Und dies, obwohl die Muttersprache von 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung das Russische ist. Das Sprachengesetz hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zutiefst in Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse gespalten. Was der ukrainischsprachigen Bevölkerungsmehrheit an Bedeutung, Einfluss und Macht in Gestalt ihrer Sprache zugesprochen wurde, ist der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in gleichem Masse abgesprochen, weggenommen und geraubt worden. 

Was also meint Zhadan, wenn er von der “verbindenden Kraft der Sprache” spricht? Obwohl er selber in der Ostukraine geboren wurde, ist die Sprache, die er meint, doch ganz offensichtlich das Ukrainische. In dieser Sprache, die ihm soviel “Kraft spendet”, die ihn mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern “verbindet” und in der er die “Wahrheit” verkünden kann, sagt er dann, beispielsweise in seinem jüngsten Werk, dem “Himmel über Charkiw”, so ungeheuerliche Dinge wie “Brennt in der Hölle, ihr Schweine!” Gemeint sind natürlich die Russen. Diese bezeichnet er, wie die Onlineausgabe der “Zeit” und das Internetportal “Telepolis” berichtet haben, nicht nur als “Schweine”, sondern auch als “Hunde”, “Verbrecher”, “Tiere” und “Unrat”. Auch bezeichnet er die Russen als “Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten.”

Ob die Jury des Deutschen Buchhandels Zhadans Bücher, bevor sie ihm den Friedenspreis verliehen hat, auch tatsächlich gelesen hat? Wenn nicht, wäre es schlimm. Wenn ja und sie ihm dennoch den Preis zugesprochen hätte, wäre es noch viel schlimmer. Denn das Schüren von Feindbildern und von Hass ist das Allerletzte, was dem Frieden dienlich ist, und das Allerletzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen können. Ja, Hass und Feindbilder sind gegenwärtig eine bittere Realität, leider. Aber Literatur, und erst recht eine preisgekrönte Literatur, sollte nicht einfach ein Abbild der Realität sein. Literatur und Kriegstreiberei müssten sich in ihrem tiefsten Wesen widersprechen. Literatur muss über die Realität hinausragen, neue Perspektiven der Menschlichkeit eröffnen, Brücken schlagen statt sie zu zerstören, dem Hass die Liebe entgegensetzen, der Intoleranz die Toleranz, dem Feindbilddenken die Feindesliebe. Dann, ja dann hätte sie einen Friedenspreis verdient.

Zurück zum “Tagesanzeiger” vom 24. Oktober 2022, der hier stellvertretend für wohl zahllose weitere westliche Medien steht, die über die Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan berichtet haben: Auf einer ganzen Zeitungsseite lang ist Zhadans Dankesrede abgedruckt worden, aber vergebens sucht man einen redaktionellen Kommentar, der auf die dunkle, hässliche, russenfeindliche, rassistische Seite des Preisträgers hätte hinweisen können. Im Gegenteil: Der Text trägt, in grossen Lettern, den Titel “Weil wir unbedingt Frieden wollen”. Und darunter das Bild von Zhadan, wie er mit gefalteten Händen dasteht, so als würde er für den Frieden beten. Wenn es stimmt, dass sich immer mehr Menschen nur noch aufgrund von Schlagzeilen und Bildern informieren, dann hat es wieder einmal funktioniert in diesen düsteren Zeiten, wo uns sogar übelste Kriegspropaganda in Form preisgekrönter Literatur schmackhaft gemacht wird. 

Wenn das, was russische Medien betreiben, Kriegspropaganda ist, was ist dann das, was westliche Medien betreiben, wenn sie uns Menschen, die einem ganzen Volk Hass und abgrundtiefe Verachtung entgegenbringen, als Friedensengel, Freiheitskämpfer und Helden verkaufen – und sich schon bald niemand mehr vorzustellen wagt, es könnte alles auch ganz anders sein?

Hätte man die Anliegen und Visionen der Klimabewegung früher ernstgenommen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Autobahnen setzen und an Brückengeländern festkleben…

 

14. Oktober 2022. Eine Frau sitzt auf der Strasse. Vor ihr baut sich ein Lastwagen auf. Es ist keine junge Klimaaktivistin, sondern die 48jährige Mutter und Universitätsprofessorin Julia Steinberger, die da den Verkehr blockiert. Es ist die sechste Aktion der Kampagne Renovate Switzerland innert zehn Tagen in der Schweiz. Die Sympathisantinnen und Sympathisanten agieren stets nach dem gleichen Muster. Sie tragen orange Signalwesten, setzen sich hin, halten Plakate noch, verursachen einen Stau. Sie warten, bis Polizisten sie von der Strasse tragen und verhaften…

“Blockaden”, sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli in der “NZZ am Sonntag” vom 16. Oktober 2022, “stellen Nötigungen und Störungen des öffentlichen Verkehrs dar. Wenn man deliktisches Handeln als Aktivismus oder zivilen Ungehorsam bezeichnet, verlässt man die Ebene des Rechts und begibt sich auf diejenige der Politik.” Und die ETH empfiehlt ihren Angestellten, “mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen zurückhaltend zu sein, denn eine klare politische Positionierung kann Ihrer Glaubwürdigkeit als unabhängige Forscher beeinträchtigen.”

Als begänne Politik erst in dem Augenblick, wo sich jemand in einer orangen Weste auf die Strasse setzt und den Verkehr behindert. Tatsache ist doch, dass alles Politik ist. Nicht nur die Sympathisantinnen und Sympathisanten von Renovated Switzerland und ähnlichen Gruppierungen sind Aktivistinnen und Aktivisten, wir alle sind Aktivistinnen und Aktivisten, ob wir wollen oder nicht, die Frage ist nur, auf welcher Seite wir stehen – auf der Seite des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums festhält und auf dem besten Wege ist, unseren Planeten an die Wand zu fahren, oder auf der Seite jener, die immer verzweifelter dagegen ankämpfen und immer häufiger zu Methoden greifen, die an die Grenze der “Legalität” gehen, nicht weil ihnen das so viel Spass macht, sondern weil alles, was sie vorher versucht haben, bis jetzt nichts genützt hat. Und auch all jene, die sich angesichts dieser Polarisierung in vornehmes Schweigen und Passivität hüllen, auch sie sind Aktivisten und Aktivistinnen, ob sie wollen oder nicht. Denn auch Schweigen ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für die Beibehaltung des bestehenden Macht- und Denksystems und dass sich daran nur ja nichts grundlegend ändern soll. Denn, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sagt: “Wer schweigt, stimmt zu.” Und auch der deutsche Schriftsteller Erich Kästner kam zum gleichen Schluss: “An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur jene Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.”

Das führt uns zur Frage, was denn “legal” und was “illegal” sei. Ist es “legal”, so viele Rohstoffe zu verschleudern und so viel CO2 in die Luft zu blasen, dass schon in wenigen Jahrzehnten halbe Erdteile unbewohnbar sein werden? Ist es “illegal”, sich in einer orangen Weste auf eine Strasse zu setzen und friedlich gegen die unaufhörlich wachsenden Verkehrslawinen zu protestieren? Oder ist es möglicherweise genau umgekehrt? “Falsch”, sagte Leo Tolstoi, “hört nicht auf, falsch zu sein, weil die Mehrheit daran beteiligt ist.” “Normales” – im Sinne dessen, was die überwiegende Mehrheit der Menschen tun und denken – und “Legales” – im Sinne übergeordneter Menschenrechte – brauchen ganz und gar nicht identisch zu sein. So heisst es zum Beispiel im Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung: “Die schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.” Und im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht sogar: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.” Versagt der Staat in dieser existenziellen Verpflichtung, dann müsste man doch wenigstens sämtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Klima- und Umweltbewegungen das Recht zugestehen, genau das zu praktizieren, was in der Verfassung des Staates steht, aber von eben diesem Staat missachtet und versäumt wird.

“Wo Unrecht zu Recht wird”, sagte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, “wird Widerstand zur Pflicht.” Es ist schon interessant. Täglich verfolgen wir gegenwärtig die Geschehnisse im Iran, wo Mädchen und Frauen unter Lebensgefahr auf die Strassen gehen und gegen das frauenfeindliche Regime der Mullahs protestieren. Und unsere Sympathien sind ungeteilt auf der Seite dieser mutigen und so starken Bewegung. Auch all jene russischen Männer, die sich der von Putin angeordneten Mobilmachung verweigern, geniessen unsere Sympathie. Wenn aber junge Frauen und Männer hierzulande auf die Strasse gehen, um gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen anzukämpfen, begegnen wir ihnen mit Ablehnung und mit der moralischen Belehrung, sie hätten sich gefälligst an unsere demokratischen Spielregeln zu halten. Fällt es uns so viel schwerer, Demokratie im eigenen Land zu praktizieren, als demokratischen Bewegungen in anderen Ländern zuzujubeln?

Unkonventionelles, Störendes, “Illegales”, Widerspenstiges sollte doch nicht in allererster Linie dazu da sein, im Namen falsch verstandener “Legalität” bekämpft und an den Pranger gestellt zu werden, sondern müsste im Gegenteil dazu dienen, die Gesellschaft permanent von innen her zu erneuern. So viele Eltern berichten davon, wie viel sie von ihren Kindern gelernt hätten, durch ihre offenen, kritischen, unbequemen und ehrlichen Fragen, ihrem Widerstand, dem Durchbrechen von Normen. Genau das wäre doch die Aufgabe einer Gesellschaft als Ganzes, denn nicht der blinde Gehorsam bringt die Menschen voran, sondern der Ungehorsam, der alles immer wieder von Neuem in Frage stellt. Hätte man den Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung schon vor drei oder vier Jahren aufmerksamer zugehört, hätte man sie ernstgenommen, wäre man auf ihre wunderbaren Visionen einer friedlichen und lebenswerten Zukunft eingegangen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Strassen setzen und an Brückengeländern festkleben und warten, bis sie von der Polizei weggetragen werden und alle mit den Fingern auf sie zeigen…

Keine US-Mikrochips nach China: “Eine Strangulierung mit der Absicht zu töten”…

 

“Der Handel mit China wird zur Waffe”, titelt das schweizerische “Tagblatt” am 15. Oktober 2022. Es geht um die massive Beschränkung der Exporte von Superchips aus den USA nach China. Dies, so der Ökonomienobelpreisträger Paul Krugman, sei die “derzeit grösste geopolitische Story: das harte Vorgehen gegen die chinesische Halbleiterindustrie.” Und das “Center for Strategic and International Studies” meint, Biden bezwecke die “Strangulierung grosser Teile der chinesischen Technologieindustrie, eine Strangulierung mit der Absicht zu töten.” Das sieht auch der EU-Chefdiplomat Josep Borrell nicht anders: Die Welt, die gerade entstehe, so Borrell, werde geprägt durch die strategische Rivalität zwischen den USA und China, es sei “eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird, alles: Energie, Investitionen, Informationen oder Migrationsströme.”

Handel als Waffe. Den Konkurrenten strangulieren. Ihn töten. Eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird. Unwillkürlich erinnert man sich bei diesen Worten an eine Aussage der deutschen Aussenministerin Analena Baerbock, die unlängst erklärte, Ziel müsste es sein, die russische Wirtschaft zu “ruinieren”. Doch was bleibt am Ende übrig, wenn sich alle gegenseitig stranguliert und ruiniert haben, sei es mit Bomben, Raketen und Panzern, sei es mit den “friedlichen” Mitteln von Handel, Wirtschaft und Wettbewerb?

Eine Wirtschaft, die dazu dient, andere zu strangulieren und zu ruinieren, ist so ziemlich die äusserste und letzte Perversion, die dem “Homo sapiens” in den Sinn kommen kann. Jedes Eichhörnchen, das im Sommer Nüsse sammelt, um im Winter einen genug grossen Vorrat zu haben, versteht mehr von Wirtschaft als Politikerinnen und Wirtschaftsführer, die ökonomisches Handeln dafür missbrauchen, anderen Schaden zuzufügen und die Existenzgrundlage anderer Menschen, Völker oder Staaten zu zerstören. Wirtschaft hätte keine andere Aufgabe, als jedem Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Sicherheit und Wohlergehen zu gewährleisten, ohne übertriebenen Reichtum und ohne übertriebene Armut und im Einklang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, so dass dieses Wohlergehen auch für alle kommenden Generationen gewährleistet ist. Was jedes Land aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften kann, soll es aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften, nicht zuletzt, um die Transportwege für die Güter möglichst kurz zu halten. Was ein Land aus eigener Kraft nicht zu produzieren und zu erwirtschaften vermag, soll zwischen den Ländern in gegenseitigem Einvernehmen und zu fairen Preisen ausgetauscht werden. Fairer Handel bei gleichzeitig grösstmöglicher Sparsamkeit zwecks Schonung der natürlichen Ressourcen müsste die Devise sein. Dies wäre das Gegenteil des heute weltweit herrschenden Wachstumszwangs, der alle Länder in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt und ausgerechnet jene Länder mit einem hohen Bruttosozialprodukt und einem überdurchschnittlichen Lebensstandard belohnt, denen es am besten und am skrupellosesten gelingt, andere für sich auszubeuten und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Unbegreiflich. Was an Liebe, Solidarität, Teilen und gegenseitiger Anteilnahme in jeder Familie und jeder Freundschaft, ob in Brasilien, im Kongo, in Portugal oder in Vietnam, selbstverständlich ist, wird von denen, die in Politik und Wirtschaft weltweit das grosse Sagen haben, Tag für Tag mit Füssen getreten und ins Gegenteil verkehrt. Die ganz “gewöhnlichen” Menschen beherrschen das Handwerk der Liebe. Weshalb soll das, was sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen so sehr bewährt hat, nicht auch Massstab sein für die ganz grossen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten und Völkern? “Es wird”, sagte Papst Franziskus, “in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.”

Eigentlich wäre es schon mehr als höchste Zeit. Denn die grossen Bedrohungen unserer Zeit von der sozialen Ungerechtigkeit über den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte bis hin zum Klimawandel lassen sich schon längst nicht mehr in der Weise lösen, dass jedes Land auf eigene Weise vorgeht. “Was alle angeht”, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.” Wenn wir nicht endlich die Grenzen zwischen den Ländern und Völkern und die Grenzen in unseren Köpfen überwinden, dann wird das für die Zukunft der Menschheit wenig Gutes verheissen. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder als Narren miteinander untergehen.”

Elon Musks Friedensplan für die Ukraine: Die richtige Idee zur richtigen Zeit

 

Kürzlich hat der Unternehmer Elon Musk einen eigenen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, mit folgenden Punkten: Erstens sollen die Abstimmungen in den von Russland annektierten Regionen unter UNO-Aufsicht wiederholt werden. So würde das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen gewahrt und Russland müsste, je nach Ausgang der Abstimmungen, diese Gebiete wieder räumen. Zweitens solle die Krim formell Teil Russlands werden. Drittens müsste die Wasserversorgung der Krim gesichert werden. Und viertens müsste die Ukraine ein neutraler Staat bleiben. Nüchtern betrachtet, ist den Vorschlägen Musks wohl wenig entgegenzusetzen, zumindest könnten sie eine brauchbare Grundlage bilden für Friedensverhandlungen, die angesichts der aktuell so verfahrenen und gefährlichen Lage dringendst nötig wären. Doch die Reaktionen der Kriegsparteien geben wenig Anlass zu Hoffnung: Russland findet Musks Friedensplan immerhin “positiv”, lehnt ihn aber dennoch ab. Selenski fragt seine Follower: “Welchen Elon Musik mögt ihr mehr, einen, der die Ukraine unterstützt, oder einen, der Russland unterstützt?” Und Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, twittert: “Verpiss dich, das ist meine sehr diplomatische Antwort.”

Wer nun denkt, dass wenigstens unabhängige westliche Medien dem Friedensplan von Elon Musk eher zugeneigt sein könnten, sieht sich auch darin schnell getäuscht. Die “NZZ” vom 5. Oktober schreibt, Musks Friedensplan könne man nur “im allerbesten Fall als naiv bezeichnen.” Und der “Tagesanzeiger” bezeichnet Musk im Zusammenhang mit seinem Friedensplan als “Troubleshooter vor dem Herrn” und weist darauf hin, dass Musk schon einmal “seinen eigenen Klogang gewittert hat” – als ob das auch nur im Entferntesten etwas mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hätte. Weiter feure Musk auf Twitter “immer wieder polemische Äusserungen ab.” Kurz: Was der Mann in die Welt hinausposaune, sei nicht wirklich ernst zu nehmen.

Was für eine verrückte Welt. Während Berichte über den Kriegsverlauf, über Massaker und über Wirtschaftssanktionen seitenlange mediale Beachtung finden, werden Aufrufe zu Friedensverhandlungen und ein Ende des Kriegs ins Lächerliche gezogen, mundtot gemacht oder totgeschwiegen. Sahra Wagenknecht, eine der führenden Repräsentantinnen der deutschen Friedensbewegung, wird in Talkshows von ihren Gegnerinnen und Gegnern, für die es keine andere Lösung gibt als den Krieg bis zum bitteren Ende, jeweils dermassen polemisch und respektlos attackiert, dass man sich wundern muss, dass sie an solchen “Gesprächen” überhaupt noch teilnimmt. Die Friedensbotschaften von Papst Franziskus und sein dringender Appell, den Krieg unverzüglich zu beenden, verhallen ungehört. Und von der Friedensinitiative des Dalai Lama, für die weltweit immerhin über eine Millionen Stimmen gesammelt wurden, war weder in einer Zeitung, noch im Fernsehen oder auf einem der grossen Internetportale jemals auch nur ein einziges Wort zu hören.

Eine verrückte Welt. In der es normal geworden ist, Vorschläge für eine Friedenslösung als “naiv”, “unrealistisch” oder gar “absurd” abzutun, während das einzig wirklich Absurde doch dieser Krieg ist, der am Ende keine Gewinner kennt, nur Verlierer und endlose, sinnlose Zerstörung. Eine verrückte Welt, in der viel zu viele Menschen offensichtlich schon so viel Krieg im Kopf haben, dass der Frieden darin gar keinen Platz mehr findet. “Probleme”, sagte Albert Einstein, “lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Wenn alles absurd geworden ist, dann ist jeder neue Gedanke der Anfang einer neuen Zeit, in der von Neuem die Liebe, die Gerechtigkeit und der Frieden das Normale sein werden. Fragt die Kinder, die ihre Erinnerung ans Paradies noch nicht verloren haben! Fragt die Blumen am Wegesrand, die Tiere im Wald! Fragt die Frau, die soeben im Bombenhagel ihr Kind zur Welt gebracht hat! Elon Musks Vorschläge wären eine wunderbare Chance gewesen, der schon fast verlorenen Hoffnung auf Frieden doch noch eine Chance zu geben. Alle, die sie bekämpfen, sie lächerlich machen oder sie totschweigen, machen sich daran mitschuldig, dass Zerstörung, Leiden und der Wahnsinn, Gewalt könne nur durch Gewalt überwunden werden, wohl noch viel zu lange Zeit kein Ende finden.

Anschläge auf Gaspipelines in der Ostsee – Auch meine Nachbarin sagt: Klar, waren es die Russen, wer denn sonst?

 

“Verdacht auf gezielten Sabotageakt aus Moskau”, schreibt das schweizerische “Tagblatt” am 28. September 2022 zum mutmasslichen Anschlag auf die Gaspipelines Nordstream1 und Nordstream2 in der Ostsee am 26. September. Und der “Tagesanzeiger” vom 28. September schreibt, die deutsche Regierung halte eine russische Aktion, allenfalls unter “falscher Flagge”, für möglich, nämlich, um den Verdacht von sich selber abzulenken. Ebenfalls erwähnen Radio und Fernsehen SRF Russland als Hauptverdächtigen. Und auch meine Nachbarin sagt: “Klar, das waren die Russen, wer denn sonst?”

Doch bin ich nicht gerade auf “Twitter” über Dutzende von Nachrichten gestolpert, die genau das Gegenteil behaupten? F.W. schreibt, im Rahmen der NATO-Übung Baltops hätte schon im Juni die 6. Flotte der US-Navy den Umgang mit Unterwasserdrohnen trainiert, und zwar an der Küste von Bornholm, im Bereich der Nordstream2-Lecks. Danach hätten die US- und die britische Navy gemeinsam die ukrainische Armee im Umgang mit diesen Drohnen trainiert. N.R. schreibt, mit Bezug auf eine Meldung des Norddeutschen Rundfunks, dass mehrere Tage, bevor die Anschläge erfolgten, rund 4000 US-Soldaten, Hubschrauberpiloten, Marineinfanteristen, Ärzte und Strategen auf dem Weg nach Osten gewesen seien. Nachdem sie die dänische Insel Bornholm passiert hätten, hätten die Amerikaner ihre automatischen Schiffsidentifikationssysteme ausgeschaltet und seien nicht mehr zu orten gewesen. C.L. schreibt, unter Hinweis auf einen absolut glaubwürdigen Link, dass sich Radek Sikonski, der ehemalige polnische Minister für nationale Verteidigung und Aussenminister, kurz nach den Anschlägen bei den Amerikanern mit den Worten “Thank You, USA” bedankt hätte. Und S.N. schreibt, schon am 23. August hätte Polens Präsident Duda den Abriss von Nordstream2 gefordert. 

Wem soll ich glauben? Meiner Tageszeitung, den offiziellen Radio und Fernsehnachrichten? Oder doch eher den Meldungen auf “Twitter”, die sich zwar nicht alle bis ins letzte Detail überprüfen lassen? Doch dann stosse ich auf die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen US-Präsident Joe Biden und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, ausgestrahlt auf ARD am 8. Februar 2022. Wortwörtlich im Folgenden die entscheidende Passage des Gesprächs.

Biden: “Wenn Russland einmarschiert, das heisst Panzer und Truppen die ukrainische Grenze passieren, dann wird es kein Nordstream2 mehr geben. Wir werden es zu einem Ende bringen.” Journalistin: “Wie genau möchten Sie das anstellen, da sowohl das Projekt als auch die Kontrolle darüber in deutscher Hand liegt?” Biden: “Wir werden, das verspreche ich Ihnen, dazu in der Lage sein.” Scholz: “Vielleicht ist es eine gute Idee, es unseren amerikanischen Freunden zu sagen, dass wir vereint sein und gemeinsam handeln werden. Und wir werden alle notwendigen Schritte einleiten, gemeinsam.” Journalistin: “Werden Sie sich heute verpflichten, den Stecker zu ziehen und Nordstream2 abzuschalten?” Scholz: “Wie ich bereits gesagt habe, wir handeln zusammen, wir sind vollkommen vereint und werden keine anderen Schritte unternehmen. Unsere Schritte werden Russland hart treffen und das sollen sie verstehen.”

Das wäre doch für die westlichen Medien Grund genug gewesen, kurz nach den Anschlägen auf die Gaspipelines ebenso schnell die USA als Hauptverdächtige ins Visier zu nehmen, wie sie nach der Einnahme von Butscha und Isjum Russland als Hauptverdächtigen von Massakern angeschuldigt hatten. Dies umso mehr, als Russland kein einziges nachvollziehbares Interesse daran haben kann, diese Gasleitungen zu zerstören. Anders sieht es bei den USA aus, wenn man an die grossen Profite denkt, welche US-Energiekonzerne mit Gaslieferungen an Europa machen. Zudem verfügen die Amerikaner, im Gegensatz zu den Russen, bekannterweise über viel spezifischere Einheiten, um Operationen dieser Art erfolgreich durchzuführen. 

Offensichtlich sind die westlichen Medien schon längst nicht mehr Ausdruck demokratischer Glaubwürdigkeit, sondern sind selber schon zur Kriegspartei geworden – das, was sie der Gegenseite stets so vehement zum Vorwurf machen. Auffallend ist auch, dass in den westlichen Medien überaus massvoll über die Anschläge berichtet wird – kein Vergleich jedenfalls mit dem Stellenwert, den beispielsweise die Ereignisse in Butscha und Isjum oder die “Scheinreferenden” in der von Russland besetzten Ostukraine eingenommen hatten. Doch auch dafür finde ich auf “Twitter” eine mögliche Erklärung. P.B. schreibt: “Der wohl grösste Beweis, dass die Amerikaner die Pipelines zerstört haben, ist, dass die Mainstream-Medien kaum darüber berichten.”

Können wir uns bei so vielen Widersprüchen schon ein abschliessendes Urteil bilden? Das dürfte noch schwerfallen. Jedenfalls gibt es wohl für die These, es seien die Amerikaner gewesen, mindestens so viele gute Gründe wie für die These, dass es die Russen gewesen sind.   

Michail Gorbatschow und die versäumten Chancen des Westens

 

“Michail Gorbatschow”, so twitterte die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock am 30. August 2022, ” hat sich in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen den Menschen leiten lassen. Das Ende des Kalten Kriegs und die deutsche Einheit sind sein Vermächtnis. Wir trauern um einen Staatsmann, dem wir dafür ewig dankbar sind.”

Die von nahezu sämtlichen westlichen Politikern und Politikerinnen geteilte Dankbarkeit gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion dafür, dass er den Kalten Krieg beendet hat, hat jedoch noch eine andere, weitaus fragwürdigere und zwiespältigere Seite. Denn Gorbatschow strebte nicht nur mehr Demokratie und Wirtschaftsreformen innerhalb der Sowjetunion an – deren Zerfall nicht sein Ziel gewesen war -, sondern er strebte weit darüber hinaus eine neue Weltordnung an, die auf globaler Partnerschaft, Frieden und Abrüstung aufbauen sollte. “Wir alle”, sagte er, “sind Passagiere an Bord des Schiffs Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah gibt es nicht.” Immer wieder betonte Gorbatschow die Bedeutung der friedlichen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: “Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind. Entweder steigen sie zusammen weiter bis zum Gipfel, oder sie stürzen zusammen in einen Abgrund.” Nicht nur gegenüber dem Kommunismus legte er eine kritische Haltung an den Tag, sondern ebenso gegenüber dem Kapitalismus – beide Wirtschaftssysteme müssten überwunden werden, um einer neuen, menschenfreundlichen Ordnung Platz zu machen, einem neu zu schaffenden Humanismus, der sowohl die Nachteile des Kommunismus wie auch jene des Kapitalismus überwinden müsste: “Für die Zukunft besteht die Wahl nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus, sondern es geht um eine Synthese all jener Erfahrungen, die wir in diesen beiden Systemen gemacht haben.” Konsequenterweise vertrat Gorbatschow dabei auch stets eine unmissverständliche Friedens- und Abrüstungspolitik: “Eben deshalb ist es notwendig, die nukleare Guillotine niederzureissen. Die kernwaffenbesitzenden Mächte müssen über ihren nuklearen Schatten springen, hinein in eine kernwaffenfreie Welt.” Doch Gorbatschow stellte nicht nur die Kernwaffen in Frage, sondern ganz generell den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte: “Keines der aktuellen Probleme – Massenvernichtungswaffen, Armut, Umweltschutz und Terrorismus – kann mit militärischen Mitteln gelöst werden.”

Der Westen hätte nur die ausgestreckte Hand Gorbatschows ergreifen müssen und Veränderungen globalen Ausmasses in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung wären möglich geworden. Doch was geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, sondern zurückgeschlagen. Nicht der Beginn einer neuen friedlichen Weltordnung wurde gefeiert, sondern, wie es der amerikanische Ökonom Francis Fukuayama sagte, der “endgültige Sieg des westlichen Wirtschaftsmodells über alle mit im konkurrenzierenden Systeme”. Und der damalige US-Präsident George Bush sagte im Februar 1990: “Wir haben gewonnen, nicht sie.” Mit anderen Worten: Wir, der Westen, haben die Schlacht gewonnen und nun bestimmen wir alleine, wie es weitergehen soll. “Dies”, schreibt der SPD-Politiker Klaus von Dohnany in seinem kürzlich erschienenen Buch “Nationale Interessen”, “erweist sich heute als grösste vertane Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa und für die Möglichkeit, Russland heute in den globalen Auseinandersetzungen als Partner zu behandeln.”

Den Triumph des Siegers sollte Russland nun auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen. Obwohl der amerikanische Aussenminister Jim Baker und Präsident Bush Gorbatschow 1991 zugesichert hatten, die NATO “keinen Inch” nach Osten auszudehnen, erfolgte genau dies, Land um Land, bis an die Grenzen Russlands – ein Vorgehen, das man, auf der Gegenseite, damit vergleichen könnte, dass sich Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden, was die USA wohl kaum so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Es wird zwar oft gesagt, der Westen hätte bezüglich NATO-Osterweiterung nie eine schriftliche Zusicherung abgegeben. Gorbatschow musste sich also den Vorwurf gefallen lassen, gegenüber dem Westen zu leichtgläubig gewesen zu sein und sich auf mündliche Aussagen verlassen zu haben. In völliger Missachtung von Gorbatschows Zukunftsvision einer friedlichen Weltordnung steht auch die Tatsache, dass die USA rund um Russland herum Hunderte von Militärstützpunkten eingerichtet haben und die NATO über ein Militärbudget verfügt, dass 20 Mal höher ist als jenes von Russland. Eine weitere Machtdemonstration des Westens erfolgte 2019, als US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte, welcher 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelt worden war und die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. “Gorbatschow kritisierte diesen Schritt scharf als  leichtsinnig und als Gefahr für den Weltfrieden”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 1. September 2022, “doch da hörte ihm längst niemand mehr zu.”

Da hörte ihm schon längst niemand mehr zu. Dabei wäre Gorbatschows Vision einer friedlichen Weltordnung heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten aktueller denn je. Es nützt niemandem etwas, wenn nun plötzlich alle vom “Friedensengel” Gorbatschow schwärmen. Es nützt auch niemandem etwas, dass man ihm den Friedensnobelpreis verliehen hat. Es sei denn, man nähme ihn und seine Botschaft der Menschenliebe wenigstens jetzt, nach seinem Tode, ernst. Würde sich das westlich-kapitalistische Machtsystem ebenso friedlich und gewaltlos auflösen, wie sich die Sowjetunion aufgelöst hat, dann, ja dann könnte man tatsächlich von einem wahren Zeitensprung in der Menschheitsgeschichte sprechen, denn, wie Gorbatschow sagte: “Gefahr wartet nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.” 

Erste Frachter aus Odessa ausgelaufen: Hühnerfutter für die Reichen statt Brot für die Armen

 

“Als der Frachter Razoni letzte Woche im Hafen von Odessa mit dem Ziel Libanon ablegte”, schreibt das “Tagblatt” vom 10. August 2022, “feierten Politiker aus aller Welt die Abfahrt als Leuchtfeuer der Hoffnung im Kampf gegen den Hunger. Doch im Libanon, der dringend Getreide braucht, ist die Razoni nicht angekommen. Stattdessen wird sie in der Türkei erwartet. Der Mais an Bord ist nicht einmal für Brot bestimmt, sondern als Hühnerfutter.” Tatsächlich fährt keines der elf Schiffe, die mittlerweile die ukrainischen Gewässer verlassen konnten, Häfen in armen Ländern an. Die Zielhäfen für die elf Transporte mit mehr als 200’000 Tonnen Mais, Sojabohnen, Sonnenblumenmehl und Sonnenblumenöl sind in der Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China.

Hunger in Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Jemen oder Kenia. Getreide aus der Ukraine als Tierfutter für die Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China. Zynischer und menschenverachtender geht es nicht mehr. Und doch ist das alles nur die ganz “normale” Art und Weise, wie Produktion, Handel und ganz allgemein Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert: Die Güter fliessen nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Und so werden weltweit rund 40 Prozent aller Agrarflächen für die Produktion jener Unmengen von Fleisch verschwendet, das auf den Tellern des reichen Nordens landet, während gleichzeitig über 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Nicht umsonst sagte Papst Franziskus: “Kapitalismus tötet.” Haben das all die glühenden Verfechter der sogenannten “freien” Marktwirtschaft, die ja bloss ein anderes Wort für Kapitalismus ist, immer noch nicht begriffen? Wie viele Tote braucht es noch, bis ihnen die Augen aufgehen?

Doch übermässige Fleischproduktion für die Reichen und Hunger für die Armen sind nur die Spitzen des Eisbergs. Dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können, lässt sich an jedem Produkt auf dem globalen Warenmarkt nachverfolgen. Verfügen wohlhabende Europäer nicht selten nebst einem oder gar zwei Autos pro Familie zusätzlich über mehrere Stadträder, ein Tourenräder und gar noch E-Bikes, müssen zwölfjährige Mädchen in Afrika 15 oder 20 Kilometer weit zu Fuss gehen, um Trinkwasser oder Brennholz für ihre Familie zu beschaffen – und selbst wenn sie ein Fahrrad hätten, sind die Strassen in einem so miserablen Zustand, dass sie es gar nicht benützen könnten. Unter dem Weihnachtsbaum wohlhabender Menschen des Nordens liegen Berge von Kinderspielzeug, angefertigt von chinesischen Fabrikarbeiterinnen, deren Kinder als einziges Spielzeug gerade mal eine Blechdose besitzen, die sie an einer Schnur hinter sich herziehen. Und die Modehäuser des reichen Nordens überquellen derart von viel zu vielen Kleidern, dass diese oft schon im Müll landen, bevor sie auch nur ein einziges Mal getragen wurden – während Millionen von Menschen im ärmeren Süden schon dankbar sein müssen, wenn sie über zwei Paar Hosen, Röcke oder Schuhe verfügen.

Tatsächlich ist aber alles noch viel schlimmer. Denn der Reichtum am einen Ort ist mit der Armut am anderen aufs Engste verknüpft. Nur weil so viele Menschen im Süden Hunger leiden, stehen genügend grosse Agrarflächen zur Verfügung, um die Fleischgier des Nordens und der weltweiten Oberschichten zu befriedigen. Nur weil die Spielzeugfabrikantinnen in China so wenig verdienen, sind die Spielsachen in den Geschäften des Nordens so billig, dass sie von den genug Verdienenden im Norden in solchem Überfluss gekauft werden können. Nur weil afrikanische Minenarbeiter zu einem Hungerlohn Rohstoffe und Metalle in genügender Menge aus dem Boden schürfen, können sich so viele Menschen in den wohlhabenderen Ländern ohne Problem ein Elektromobil oder ein E-Bike leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen.

Als die Frachter infolge der Verminung ukrainischer Häfen nicht auslaufen konnten, reagierten die westlichen Regierungen mit hellster Empörung: Russland sei Schuld, wenn die Menschen nicht mit dem Getreide aus der Ukraine versorgt werden könnten und daher verhungern müssten. Jetzt, wo die Schiffe auslaufen und das Getreide abtransportieren können, wird dieses nicht für die notleidende Bevölkerung in den von Hunger am meisten betroffenen Ländern verwendet, sondern für die Produktion von Fleisch für all jene, die sowieso schon genug zu essen haben und sich diesen Luxus leisten können. Doch angesichts dieses unermesslichen Skandals hüllen sich die gleichen westlichen Regierungen, die eben noch so laut geschrien haben, in Schweigen. Offensichtlich ist es einfacher, den bösen “Feind” zu beschuldigen und zu diffamieren, als an den Grundfesten der eigenen Ideologie der Profitmaximierung um jeden Preis auch nur ansatzweise zu rütteln. Ja. Viel zu viele Menschen sterben im Krieg. Aber es sterben auch viel zu viele Menschen in dem, was wir “Frieden” nennen und was doch nichts anderes ist als ein an Grausamkeit nicht zu überbietender Krieg der Reichen gegen die Armen…

Dreadlocks und farbige Gewänder als “kulturelle Aneignung” – und was ist mit der ökonomischen Aneignung?

 

Am 18. Juli, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 27. Juli 2022, bricht die Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Band Lauwarm ab. Der Grund: Reklamationen aus dem Publikum, wonach es sich bei den Frisuren einzelner Bandmitglieder – Dreadlocks -, den Kleidern – farbige Gewänder aus Gambia und Senegal – sowie der Musik – Reggae bis Indie World – um “kulturelle Aneignung” handle. Mit der gleichen Begründung wurde unlängst auch in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn, welche ebenfalls mit Dreadlocks an einem Konzert auftreten wollte, von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wieder ausgeladen. “Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung”, so der “Tagesanzeiger”, “wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägerinnen und Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet.” Sozusagen ein Raubbau also an fremdem Kulturgut, was in den Augen der Gegnerinnen und Gegner einer kulturellen Aneignung verwerflich sei. Mit dieser Argumentation kann Dominik Plumettaz, Leadsänger von Lauwarm, nichts anfangen: “Wenn wir etwas aus einer anderen Kultur nutzen”, so begründet er seinen Standpunkt, “ist das etwas, was uns weiterträgt und auch bereichernd ist.” Und auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Kolonialismus und Imperialismus an der ETH Zürich, kann dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in Form musikalischer Ausdrucksformen nichts abgewinnen: “Würde man kulturelle Aneignung verbieten, dann wäre keine populäre Musikform mehr spielbar, weder Jazz noch Blues, Rock, Tango oder Hip-Hop. Popmusik beruht stets auf der Vermischung von unterschiedlichen musikalischen Traditionen, Stilen und Instrumentarien. Nur so kann letztlich Neues entstehen.” Man könnte in der Diskussion rund um “kulturelle Aneignung” sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob solche Diskussionen um Frisuren, Modestile und dergleichen nicht von einem ungleich viel grösseren Problem ablenken, nämlich von dem, was man als “ökonomische Aneignung” bezeichnen könnte. Höchstwahrscheinlich tragen viele der Frauen und Männer, die das Konzert der Gruppe Lauwarm besuchten, Kleider, die weit fort, in Bangladesch, Südkorea oder anderswo gefertigt wurden und hierzulande nur deshalb so billig sind, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter tausende von Kilometern von uns entfernt vierzehn Stunden pro Tag schuften müssen und erst noch kaum etwas verdienen. Die meisten Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher werden zweifellos auch ein Handy besitzen, mit dem sie Bilder vom Konzert an ihre Liebsten schicken können – Handys, die ebenfalls fernab dank billiger Arbeitskräfte gefertigt worden sind und die ohne seltene Metalle, tief aus afrikanischer Erde geschürft, nicht eine Sekunde lang funktionieren würden. Und wie ist es mit dem Kaffee, der nach dem Konzert genossen wird, wie ist es mit den tropischen Früchten, die man am späteren Abend verzehren wird, wie ist es mit dem E-Bike oder dem Automobil, mit dem man am nächsten Tag zur Arbeit fahren wird, wie ist es mit Sportgeräten, den Spielsachen und den Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum? In allem steckt billige Arbeit, Ausbeutung, “ökonomische Aneignung”. Und auch das ist längst noch nicht alles. Blenden wir um 500 Jahre zurück, dann sehen wir, dass der europäische Reichtum und damit das Fundament, auf dem der Kapitalismus und unser heutiger Wohlstand beruhen, nur möglich wurde durch millionenfache Sklavenarbeit auf den Feldern, den Plantagen und in den Minen Amerikas und durch die gnadenlose Ausbeutung Afrikas auf der unersättlichen Suche nach all jenen Rohstoffen, Bodenschätzen und Früchten, die sich nach und nach in die Goldberge und die unermesslichen Besitztümer des Nordens verwandelt haben bis zum heutigen Tag. Wer sich über “kulturelle Aneignung” empört, müsste sich über die “ökonomische Aneignung” um ein Vielfaches mehr empören, denn diese ist zwar viel weniger sichtbar, dafür aber viel umfassender, alles durchdringend. Die Brasserie Lorraine, wo das Konzert mit der Gruppe Lauwarm abgesagt wurde, plant nun eine Diskussionsrunde zum Thema. Das ist löblich. Noch löblicher wäre es, man würde eine solche Diskussionsrunde ausweiten und nicht nur von kultureller Aneignung sprechen, sondern auch von der ökonomischen bis hin zu den Grundlagen und Zusammenhängen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Solange aber sollen Musikerinnen und Musiker mit Frisuren und in Gewändern auftreten dürfen, so bunt, vielfältig und verwirrend sie auch sein mögen. Das Letzte, was wir brauchen, ist so etwas wie eine Sittenpolizei, das Beste, was wir brauchen, ist eine gründliche, systematische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, in die wir alle, ob wir wollen oder nicht und ganz unabhängig davon, wie wir uns kleiden und frisieren, verstrickt sind und die wir daher auch nur alle gemeinsam überwinden können.

Zurich Pride: Das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung

 

40’000 Teilnehmende und 34 Grad – das war die Zurich Pride am 18. Juni 2022. Eine überwältigende Demonstration der LGBTQ-Community für Vielfalt, Toleranz und das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung, farbenfroh, stimmungsvoll und lautstark. “Die vorwiegend jungen Teilnehmenden”, so der “Tagesanzeiger”, “feierten sich selbst.” Und auch das Plakat eines in ein Regenbogentuch gekleideten Demonstrationsteilnehmers sagte auf seine Weise, was im Zentrum des Anlasses stand, nämlich das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung: “The Only Choice I Made was to Be Myself.” So einfach, so klar, so unmissverständlich. Sich selber feiern, das Leben wählen, das der eigenen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung entspringt. Wären das nicht Botschaften, die weit über die LGBTQ-Community für uns alle wichtig sein müssten? Ist das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht etwas, was für jeden Menschen, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, von essenzieller Bedeutung sein müsste? Müsste nicht die ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt so vielfältig, bunt und farbenfroh sein wie die Feste und die Demonstrationen der LGBTQ-Bewegung? Doch noch sind wir nicht so weit: Schon die kleinen Kinder werden in unzählige, von Erwachsenen vorbestimmte Normen und Zwänge hineingepresst, in der Familie, in der Schule, später in der Ausbildung. Was ist mit all den “störrischen”, “widerspenstigen”, “faulen”, “träumerischen”, “hyperaktiven” Kindern und Jugendlichen, die bei jeder Gelegenheit anecken und nur davon träumen können, ihre Persönlichkeit frei und selbstbestimmt ausleben zu können? Ja. die Frage eines selbstbestimmten Lebens stellt sich nicht erst an dem Tag, an dem ein junger Mensch sich seiner von der “Norm” abweichenden sexuellen Orientierung bewusst wird. Sie stellt sich schon viel früher und für uns alle. “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält”, sagte Nelson Mandela, “dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.” Vielleicht müsste man noch ergänzen, dass er auch noch die Wahl hat, ein ganz “normal” funktionierender Erwachsener zu werden, um den Preis aber, die innersten Sehnsüchte seiner Kindheit preisgegeben und geopfert zu haben. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind die Schlüsselbegriffe für eine gesunde Entwicklung. Jeder Mensch sollte jeden Tag “sich selber feiern” und jeden Tag die Wahl treffen, “myself” zu sein – und nichts und niemand anders. Man mag an dieser Stelle einwenden, dies sei bloss ein frommer Wunsch – die meisten Menschen wären in der kapitalistischen Arbeitswelt dermassen eingespannt und könnten so hohe Ziele wie Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung glatt vergessen, und wenn, dann seien dies höchstens Privilegien bevorzugter Gesellschaftsschichten. Der Einwand ist berechtigt, nur: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für so viele Menschen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht zulassen, dann heisst das doch, dass es höchste Zeit ist, diese Verhältnisse zu verändern, und wer, wenn nicht selbstbestimmte, möglichst “unangepasste”, eigenständige Persönlichkeiten sollten diese Aufgabe übernehmen. Mit anderen Worten: Wenn die Zeit noch nicht reif ist, um allen Menschen die Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu geben, ist es umso wichtiger, sich für dieses Ziel einzusetzen. Und zwar nicht in erster Linie in der Form von Selbstfindungs-, Yoga-, Meditationskursen und zahllosen weiteren Angeboten auf dem kapitalistischen Markt, die sich ausschliesslich an Privilegierte wenden und zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht das Geringste beitragen, sondern diese im Gegenteil noch stabilisieren. Wie der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi richtig erkannte, beginnt der Prozess der persönlichen Selbstverwirklichung bereits in der Kindheit, wo jedes Kind noch ganz “myself” ist und in seiner Einmaligkeit und Verschiedenheit von allen anderen Kindern seine Individualität noch unvergleichlich viel stärker zum Ausdruck bringt, als wenn man Erwachsene miteinander vergleicht, die schon viel stärker von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen geprägt sind. “Der Mensch”, sagte Pestalozzi, “wenn er werden soll, was er sein muss, muss als Kind sein und als Kind tun, was ihn als Kind glücklich macht.” Und noch etwas Wichtiges sagte Pestalozzi: “Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.” Ja, das Vergleichen, nicht nur zwischen Kindern, sondern auch zwischen den Erwachsenen, ist der Hauptfeind der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung. Das Vergleichen, ob in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik, im Freundeskreis, versetzt einzelne Menschen stets in eine schwächere Position, in das Gefühl des Nichtgenügens, des Andersseins, der Selbstzweifel. Nicht die Suche nach dem Gleichen und das Messen an einer allgemeinen Norm sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Suche nach den Unterschieden, das Entdecken der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, verbunden mit dem Wissen um den guten Kern, der in jedem Menschen steckt. “Der Mensch ist gut und will das Gute”, auch das ein Wort Pestalozzis, “und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Könnte jeder Mensch weltweit sich so verwirklichen, wie er als Kind einmal “gedacht” war, so hätten ausbeuterische Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeit wohl nicht mehr allzu lange Bestand und wohl selbst Kriege würden in naher Zukunft der Vergangenheit angehören. Denn nicht das Hässliche, nicht das Zerstörerische, nicht das Gewalttätige zeichnen den Menschen aus, das sind alles Entgleisungen, Abartigkeiten, Irrwege. Nein, es sind die Schönheit, die Lebensfreude, die Kinder, der Tanz, das Spiel, die Kunst, die Musik, die Feste, die Farben, die Liebe, kurz: das Paradies, welches das tiefste Wesen des Menschen ausmacht. Dieses Paradies, das uns, wie uns zweitausend Jahre lang vorgegaukelt wurde, angeblich erst in irgendeinem “Jenseits” Wirklichkeit werden kann, obwohl wir es doch in der Hand hätten, es hier und heute auf dieser Erde zu verwirklichen… 

Kultur: Domäne der Reichen…

 

In dieser Stadt, meinte F., sei kulturell viel los, man merke eben, dass es hier viele Reiche gäbe. In der Tat: Schaut man sich die Eintrittspreise von Kabarett- und Theateraufführungen, Freilichtkonzerten, Ausstellungen oder gar Opernhäusern an, dann wird schnell klar, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung Vergnügungen solcher Art schlicht und einfach nicht leisten kann. Selbst der Eintritt in ein Kleintheater, ein Kinobesuch oder ein Zirkusticket sind für sehr viele Menschen nur ein seltener oder gar gänzlich unerreichbarer Luxus. Nie vergesse ich jenen etwa achtjährigen Knaben, der voll freudiger Erwartung von der Schule nach Hause gerannt war, nachdem seine Lehrerin bekannt gegeben hatte, dass im städtischen Kleintheater nachmittags das Stück vom Räuber Hotzenplotz gespielt würde, und die Kinder ermuntert hatte, diese Vorstellung zu besuchen. Gross war die Begeisterung in der Klasse gewesen und die meisten Kinder hatten schon abgemacht, sich eine Viertelstunde vor der Vorstellung beim Eintritt zu treffen. Als nun aber die Mutter ihrem Kind beibringen musste, dass sie für das Ticket zu dieser Vorstellung nicht genug Geld hätte, brach für den kleinen Jungen eine ganze Welt zusammen und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen… 

Nichts weniger als eine eklatante Menschenrechtsverletzung ist das, bilden kulturelle Angebote und Aktivitäten doch so etwas wie die geistige Nahrung, die, wie auch die Bildung, ein Grundrecht aller Menschen sein müsste, von dem niemand ausgeschlossen werden dürfte. Auch die UNO-Menschenrechte besagen gemäss Artikel 27, dass “jede und jeder das Recht hat, sich an den Künsten zu erfreuen.” Das Unrecht geht aber noch viel weiter. Betrachtet man die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes, dann kann sich Geld am einen Ort nur deshalb ansammeln, weil es an anderen Orten fehlt. Die alleinerziehende Mutter des achtjährigen Knaben, der auf den geliebten Theaterbesuch verzichten muss, verdient als Verkäuferin bloss deshalb so wenig, damit das Geschäft, für welches sie arbeitet, einen möglichst hohen Profit erzielen kann – vermutlich wird sich das Kind des Geschäftsinhabers den Theaterbesuch problemlos leisten können. 

Das ist nur eines von abertausenden Beispielen dafür, auf welchen Wegen sich das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft bewegt. Der Profit, der am Ende herausschaut und dann solche Dinge wie Theater- oder Konzertveranstaltungen und unzählige weitere kulturelle Angebote finanzierbar macht, ist, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, früher oder später von allen Menschen erarbeitet worden und in ganz besonderem Masse von all denen, die für wenig Lohn schwere Arbeit verrichten und so sogar einen überdurchschnittlichen Beitrag an die wirtschaftliche Gesamtbilanz leisten. Mit anderen Worten: Auch die Mutter unseres achtjährigen Knaben subventioniert durch ihre Arbeit indirekt das Theaterstück, von dem ihr Kind aber ausgeschlossen bleibt, weil das Ticket für sie zu teuer ist.

Eigentlich ist es eine Farce, in diesem Zusammenhang überhaupt von “Kultur” zu sprechen. Viel eher müsste man von den Luxusvergnügungen der Reichen sprechen, welche von den Armen finanziert werden, welche aber selber von diesen “Luxusvergnügungen” ausgeschlossen bleiben – ebenso wie sie auch vom Essen im Luxusrestaurant, von der Übernachtung im Wellnesshotel oder von den Ferien auf Mallorca oder den Malediven ausgeschlossen bleiben, obwohl sie, und das kann man nicht genug betonen, alle diese Luxusvergnügungen durch ihre tägliche Schufterei und ihre unverschuldete Armut mitfinanzieren und überhaupt erst möglich machen. 

Das Wort “Kultur” entstammt dem lateinischen “colere” für pflegen, hegen, umsorgen. Im ursprünglichen Sinne des Begriffs besteht Kultur nicht bloss im Veranstalten von Theater-, Musik- oder Kunstanlässen im Tausch mit Geld von Besucherinnen und Besuchern. Kultur ist etwas viel Umfassenderes. Kultur im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie das Zusammenleben der Menschen gestaltet ist. Dazu können Vorstellungen im Theater oder auf einer Freilichtbühne, im Zirkus oder im Opernhaus durchaus gehören, aber das alles ist bloss Teil eines grösseren Ganzen, in dem zuletzt das ganze Zusammenleben, aber auch die Wirtschaft, die Arbeitswelt zur “Bühne” wird, auf der Kultur als Pflege des Gemeinschaftslebens gelebt und praktiziert wird. Damit wird aber auch klar, dass echte Kultur stets etwas sein muss, was alle Menschen miteinander verbindet. In unserer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen ist “Kultur” zum reinen “Konsumobjekt” verkommen, welches sich die einen leisten können und die anderen nicht – statt die Menschen miteinander zu verbinden, bewirkt diese Art von “Kultur” genau das Gegenteil: Sie trennt die Menschen in solche, die sich die Angebote leisten können, und die anderen, denen dies verunmöglicht wird. 

Das effizienteste Mittel, um dies zu verhindern, wäre die Einführung eines Nulltarifs für sämtliche kulturelle Anlässe und Aktivitäten und deren Subventionierung durch Steuergelder. Dann wären die Bewohnerinnen und Bewohner der Goldküste im Opernhaus nicht mehr unter sich, um sich ein sozialkritisches Stück zu Gemüte zu führen, sondern vor und neben ihnen sässen Arbeiterinnen und Studierende, um mit ihnen vielleicht sogar in der Pause oder nach der Vorstellung über das Stück zu diskutieren. Und auch das Publikum im Kleintheater wäre bunt gemischt und niemand wäre ausgeschlossen. Und unser achtjähriger Bub müsste nicht mehr weinen, sondern könnte endlich, wie die anderen Kinder seiner Klasse, das Stück vom Räuber Hotzenplotz erleben. Eine verrückte Idee? Wohl weit weniger verrückt als das, was und heute als “normal” erscheint: Dass Kultur zu einer kapitalistischen Ware verkommen ist, mit der man Geschäfte treibt, die man kauft und verkauft und welche die Gesellschaft mitten auseinanderschneidet in jene, die daran teilhaben dürfen, und jene, die so bitter und unverschuldet von alledem ausgeschlossen sind…