Die vielgelobte Demokratie, die angeblich im Kampf der Ukraine gegen Russland verteidigt werden soll, wird uns zur Zeit ganz gehörig unter unseren eigenen Füssen weggezogen…

 

Gemäss Angaben der Veranstalterinnen sind am Samstag, 25. Februar 2023, rund 50’000 Menschen einem von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer lancierten Friedensappell gefolgt und haben in Berlin für eine sofortige Waffenruhe und baldmöglichste Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine demonstriert. Gespannt habe ich am Tag danach in die “Sonntagszeitung” und in die “NZZ am Sonntag”, die beiden wichtigsten Schweizer Sonntagszeitungen, geschaut, in der Erwartung, noch Ausführlicheres über diese Kundgebung zu erfahren, über die Reden, die da gehalten wurden, über Stimmen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Demonstration, über die Wirkung, die dieser Anlass auf die politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen haben könnte. Doch Fehlanzeige auf der ganzen Linie: Kein einziges Wort, kein Bild, einfach nichts zu diesem Thema. Dafür, in der “Sonntagszeitung”, ein zweiseitiger (!) Bericht über eine von Ukrainerinnen in der Schweiz veranstaltete Modeschau mit Kleidern, die während dem Krieg genäht wurden und die nun zur Unterstützung der in der Heimat Verbliebenen verkauft werden sollen.

Dabei hätte man mit einer angemessenen Berichterstattung über die Friedensdemonstration in Berlin eine ganze Zeitung füllen können. Allein die hervorragenden Reden von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer hätten es verdient gehabt, in vollem Wortlaut wiedergegeben zu werden. Und erst recht von allgemeinem Interesse wären die Ausführungen des US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey Sachs gewesen, zugeschaltet per Videoübertragung, der die Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine aufrollte und darauf hinwies, dass die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland bereits 2014 mit dem Regierungsputsch auf dem Maidan und dem geplanten Einbezug der Ukraine in die NATO begonnen hatten und man deshalb eigentlich jetzt nicht den ersten, sondern den neunten Jahrestag dieses Kriegs begehen müsste. Interessant wäre es auch gewesen, etwas über die Beweggründe dieser doch immerhin 50’000 Menschen zu erfahren, die sich für die Teilnahme an diesem Anlass entschieden hatten. Und ganz bestimmt hätte man fairerweise auch ein paar Worte darüber verlieren müssen, dass ein so grosser Anlass so friedlich verlief und es – trotz zahlreicher Unkenrufe von allen Seiten – zu keinerlei Gewaltausschreitungen “extremer” Gruppierungen kam. 

Man kann – seitens der Politik, aber auch seitens der mit ihr mehr oder weniger im Gleichschritt marschierenden Medien – die öffentliche Meinung auf verschiedene Arten beeinflussen. Die eine besteht darin, über gewisse Dinge zu sprechen, über andere aber nicht. Ein besonders krasses Beispiel dafür sind die Anschläge auf die Gaspipeline Nordstream 2 vom 26. September 2022, wo vieles darauf hindeutet, dass die USA, möglicherweise im Bunde mit Norwegen, dahinter stecken könnten, weitere Abklärungen und Informationen aber nach wie vor beharrlich unter dem Deckel gehalten werden. Bemerkenswert und ebenfalls von den Mainstreammedien weitgehend ausgeblendet ist die Tatsache, dass die russische Regierung im Oktober 2022 die offizielle Bitte an Bundeskanzler Scholz gerichtet hatte, russische Experten an der Untersuchung der Anschläge zu beteiligen – eine Anfrage, die bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben ist, und dies, obwohl Russland die Pipelines gebaut und finanziert hat und immer noch deren Eigentümer ist. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch Putins Ende 2021, mit der USA eine Lösung bezüglich NATO-Beitritt der Ukraine auszuhandeln, was von der US-amerikanischen Regierung in Bausch und Bogen verworfen wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative des israelischen Ministerpräsidenten Bennett anfangs März 2022, der die Ukraine und Russland beinahe dazu gebracht hatte, einer gemeinsamen Friedenslösung zuzustimmen, wenn nicht die USA und Grossbritannien interveniert und die Initiative zu Fall gebracht hätten.

Eine zweite Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, besteht darin, dem “Gegner” unlautere Motive zu unterstellen. So waren die westlichen Führungsmächte dem Vorschlag Chinas für eine Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine von Anfang an skeptisch bis ablehnend gegenüber eingestellt, indem China vorgeworfen wurde, an der Seite Russlands zu stehen, obwohl sich China von Anfang an bewusst neutral verhalten hatte. Man schlug die Türe zu, bevor sie noch richtig aufgemacht worden wäre. Überhaupt werden Meinungsäusserungen einzelner Politikerinnen und Politiker sowie von Regierungen höchst unterschiedlich gewertet und öffentlich dargestellt, je nachdem, von welcher Seite sie kommen. Während bei Wortführerinnen und Wortführer einer Friedenslösung wie Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer oder Ex-General Erich Vad auch noch das kleinste Haar in der Suppe gesucht wird, darf die deutsche Aussenminister Analena Baerbock in aller Öffentlichkeit bekanntgeben, Deutschland befinde sich mit Russland im Krieg und Ziel müsse es sein, Russland zu ruinieren, während der ukrainische Präsident Selenski ohne mit der Wimper zu zucken vom Westen die Lieferung von international geächteten Waffen wie Streumunition und Phosphorbomben fordert und dennoch immer noch als Held im Kampf für Freiheit und Demokratie gefeiert wird.

Wer mit Tatsachen und der Wahrheit so einseitig und so liederlich umgeht, wie das die tonangebenden westlichen Führungsmächte und der grosse Teil der Mainstreammedien tun, macht sich verdächtig. Wer die Wahrheit scheut, scheint von Angst getrieben zu sein. Wer keine Angst hat, braucht auch die Wahrheit nicht zu scheuen, kann alles ehrlich offenlegen, braucht nichts unter den Teppich zu kehren und kann es – das zumindest müsste man von einer Demokratie erwarten – getrost den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Die vielgelobte Demokratie, die angeblich im Kampf der Ukraine gegen Russland verteidigt werden soll, wird uns zur Zeit ganz gehörig unter unseren eigenen Füssen weggezogen… 

Kameras zur Gesichtserkennung in 57 schweizerischen Bahnhöfen: So schnell wird das eben noch Undenkbare Wirklichkeit…

 

Die schweizerischen Bundesbahnen, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 17. Februar 2023, haben vor, 57 grössere Bahnhöfe mit speziellen Kameras auszustatten, welche Gesichter erkennen können. Folgende Informationen sollen damit gewonnen werden: auf welchem Weg Reisende durch den Bahnhof gehen, wie alt sie sind, welches Geschlecht sie haben und welche Grösse, was für Gepäck und Gegenstände wie Kinderwagen, Rollstuhl oder Velo sie mitführen, wie lange sie sich im Bahnhof aufhalten, welche Geschäfte sie besuchen, wie sie sich in den einzelnen Geschäften verhalten und wie viel Geld sie in Apotheken, Lebensmittelgeschäften oder an Kiosken ausgeben. Mit den gesammelten Daten sollen Rückschlüsse auf das Kaufverhalten gezogen werden, um das “Einkaufserlebnis” zu verbessern, was wiederum zu höheren Umsätzen führen kann. Die Daten werden in der Cloud des US-Softwareherstellers Microsoft gesammelt und können daher jederzeit von Ermittlungsbehörden aus den USA angefordert werden.

Das Erschreckende an alledem ist nicht nur, dass hier mitten in der Schweiz im Kleinen ein Überwachungsstaat mit unabsehbaren Folgen und unabwägbaren Risiken etabliert werden soll. Das noch viel Erschreckendere ist, dass innerhalb so kurzer Zeit etwas möglich geworden ist, das man vor kurzer Zeit noch für völlig unmöglich gehalten hätte. Es sind keine zehn Jahre her, da erreichten uns Meldungen aus China, wo Überwachungssysteme eingeführt worden waren, welche, ebenfalls mittels Gesichtserkennung, das Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum registrieren und mit Belohnungs- und Bestrafungssystem verknüpft sind. Diese Nachrichten lösten hierzulande helles Entsetzen aus und wurden als übelstes Instrument einer Diktatur zur permanenten Überwachung und Kontrolle ihrer Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen. Zehn Jahre später, man glaubt es kaum, scheinen auch wir Schweizerinnen und Schweizer schon so digital “weichgeklopft” zu sein, dass etwas so Unglaubliches wie die Überwachung der Menschen im öffentlichen Raum via Gesichtserkennung kaum noch auf nennenswerten Widerstand stösst. “Verhindern lässt sich die Gesichtserkennung in den Bahnhöfen wohl kaum”, schreibt der “Tagesanzeiger”. Und dies, obwohl sich in einer von der gleichen Zeitung durchgeführten Onlineumfrage 90 Prozent der Befragten dahingehend geäussert haben, dass sie das Ganze überaus problematisch fänden. Doch die Meinung der Bevölkerung scheint schon längst nicht mehr zu zählen. Man darf zwar über alles Mögliche und Unmögliche abstimmen, aber bei der Digitalisierung hört der Spass auf. Als wäre es ein Naturereignis, das sich nicht mehr abwenden lässt und nur von ein paar wenigen Ewiggestrigen in Frage gestellt würde. Als wäre die Digitalisierung eine unsichtbare Krake, die sich immer enger über unseren Köpfen zusammenzieht und das eben noch Undenkbare nach und nach zur Normalität werden lässt.

“Einmal erfasst”, warnt Laetitia Ramelet, Expertin für Technologiefolgen-Abschätzung, “können biometrische Daten eine Person ein Leben lang identifizierbar machen. Sie können Aufschluss über den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand geben – oder auch über Emotionen. Das Gesicht wird analysiert, um zu sehen, wie jemand auf ein Ereignis reagiert. Zudem können solchen Systeme die politischen Rechte beeinflussen: Die Versammlungsfreiheit kann gestört werden, wenn man weiss, dass am Bahnhof viele Überwachungskameras installiert sind und man dann möglicherweise davor zurückschrecken würde, an einer Demonstration in der Nähe des Bahnhofs teilzunehmen.”

Die SBB wollen ja angeblich mit dieser Massnahme das “Einkaufserlebnis” in den Bahnhöfen verbessern. Ich hätte, um dieses Ziel zu erreichen, noch eine andere Idee: Wie wäre es, das Geld statt für teure Überwachungssysteme und Technologien gescheiter dafür zu verwenden, um die Mieten in den Bahnhofsläden zu reduzieren, damit dort auch Geschäfte mit geringeren Renditemöglichkeiten existieren können und die Preise in den Geschäften nicht so weit in die Höhe geschraubt werden müssen, dass immer mehr weniger zahlungskräftige Kundinnen und Kundinnen von jenem “Einkaufserlebnis” ausgeschlossen werden, welches die SBB angeblich mit allen Mitteln fördern wollen…

Syrien: Wenn man ein ganzes Volk einfach im Stich lässt…

 

Wenn du dir ein Bild davon machen möchtest, wie es in der Hölle aussieht, dann brauchst du nicht deine Phantasie anzustrengen. Es genügt, wenn du dich an einen der Orte in der Türkei oder in Syrien begibst, die in diesen Tagen von verheerenden Erdbeben heimgesucht worden sind. Eltern, die verzweifelt nach ihren unter dem Schutt begrabenen Kindern suchen, auch noch mitten in der Nacht bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, Menschen, die all ihr Hab und Gut verloren haben, Notfallstationen, die bis zum Erdboden zertrümmert sind und wo nicht mehr die geringste Hilfe zu holen ist, Hunger, Durst, Kälte, schmerzende Wunden, Hoffnungslosigkeit…

Dabei sind die Menschen im syrischen Teil des Erdbebengebiets noch um einiges härter betroffen. Denn das Erdbeben ist bei Weitem nicht die einzige Katastrophe, die im Verlaufe der vergangenen Jahre über sie hereingebrochen ist. Da ist auch ein Bürgerkrieg, der vor 13 Jahren begann, weite Teile des Landes in Schutt und Asche gelegt, weit über 500’000 Todesopfer gefordert und 13 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Da sind auch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern, der weitgehende Zusammenbruch des Gesundheitssystems und eine Choleraepidemie, die sich im Verlaufe des vergangenen Jahrs nach und nach im ganzen Land ausgebreitet hat. Da ist auch der Mangel an Nahrungsmitteln, von dem mehr als zwölf Millionen Menschen betroffen sind, davon 2,6 Millionen Kinder. Da ist auch der Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung und des Transportsystems. Und da sind vor allem auch die Wirtschaftssanktionen, die kurz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs von den USA und der EU verhängt wurden und wiederholt von verschiedensten humanitären Organisationen aufs Schärfste verurteilt worden sind, so zum Beispiel vom “Global Network for Syria”, das im Februar 2021 mit folgender Begründung ein Ende der Sanktionen forderte: “Die derzeitigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien blockieren den Zugang zu lebenswichtigen Gütern, verhindern den Wiederaufbau und tragen zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft und des Gesundheitssystems bei. Sie bilden eine kollektive Bestrafung der syrischen Zivilbevölkerung.” Oder von Chalid Hbubati, dem Vorsitzenden des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds, der sagte, die Sanktionen hätten sich in ein “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” verwandelt. Nicht zu fassen, dass ausgerechnet westlich-demokratische Staaten immer noch zu diesem Machtmittel greifen, wo doch spätestens seit den Sanktionen gegen den Irak 1991, denen über eine halbe Million Kinder zum Opfer fielen, endgültig klar sein müsste, dass Wirtschaftssanktionen stets nur die Schwächsten treffen. Wer das immer noch nicht glaubt, sollte sich nur mal die Bilder jener verzweifelten Männer und Frauen vor Augen führen, die jetzt in syrischen Dörfern und Städten mit blossen Händen in den Trümmern zerfallener Häuser nach Überlebenden graben, weil infolge der Sanktionen kein geeignetes Bergungswerkzeug vorhanden ist.

Und, wie bei so vielen Katastrophen: Wieder einmal sind die Frauen und die Kinder die Hauptleidtragenden: In den innersyrischen Flüchtlingscamps sind 20 bis 40 Prozent der Schwangeren und der stillenden Mütter unterernährt, fast jedes Kind in den Camps leidet Hunger. Und es ist nicht nur die Gegenwart. Auch die ganze Zukunft der Kinder und Jugendlichen, die alle von einem Leben in Glück und Frieden träumen, wird Tag für Tag systematisch zerstört. Letzten Endes sind sie allesamt Opfer männlicher Machtdemonstration, patriarchaler Herrschaftsgewalt, herrschsüchtiger Eroberungslust, von den Anführern islamistischer Rebellen über den syrischen Regierungsapparat bis hin zu den Heerführern, den Chefs von Rüstungskonzernen und den fein säuberlich in Anzug und Krawatte gekleideten Politikern sich gegenseitig zerstrittener Grossmächte. Wie eine Welt aussähe, die nicht von Männern, sondern von Frauen und Kindern regiert wäre, kann man sich nur in seinen schönsten Träumen ausmalen…

Und noch einmal wird die schreiende Ungerechtigkeit in ihrem ganzen Ausmass deutlich, wenn wir uns das Verhalten der Schweiz, die sich doch so gerne ihrer humanitären Tradition rühmt, vor Augen führen. Werden Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen aufgenommen und mit einem besonderen Aufnahmestatus privilegiert, geniessen Flüchtlinge aus Syrien, obwohl auch sie aus einem Kriegsgebiet stammen, keine vergleichbare Rücksichtnahme. Und während die Schweizerische Rettungskette unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Erdbebens eine Kolonne in die Türkei abdelegierte, erklärten die zuständigen Verantwortlichen des EDA, eine vergleichbare Aktion für Syrien sei nicht geplant, da “nicht genügend Kapazitäten für zwei Rettungskettenstaffeln” bestünden. “Wir können nicht verstehen”, so Michael Albs, Generalsekretär des Kirchenrats des Nahen Ostens, “dass der Westen sich immer wieder auf das Christentum und die Bibel beruft und dann ein ganzes Volk einfach im Stich lässt.”

“Es wird”, sagte Papst Franziskus, “in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.” Davon sind wir leider offensichtlich noch weiter entfernt denn je.

Serbien: Auf der falschen Seite der Geschichte?

  

Zähneknirschend, so berichtet das schweizerische “Tagblatt” vom 25. Januar 2023, gibt der serbische Präsident Aleksandar Vucic bekannt, dem von der EU diktierten “Kosovoplan” zuzustimmen, wonach Serbien und der Kosovo zwar einander nicht formell anerkennen, jedoch ihre staatliche Existenz in den gegenwärtigen Grenzen akzeptieren, was unter anderem zur Folge hat, dass Serbien die Mitgliedschaft des Kosovos in internationalen Organisationen nicht mehr verhindern kann.

Der “Kosovoplan” mag zwar ein taugliches Instrument sein, um die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo abzubauen. Fragwürdig ist und bleibt aber die Art und Weise, wie dieser Plan Serbien gegenüber vom Westen aufgezwungen wird, ein Vorgehen, bei dem man schon fast von Erpressung sprechen müsste, haben die westlichen Staaten doch gedroht, sämtliche Handelsbeziehungen mit Serbien abzubrechen, wenn es dem Plan nicht zustimme. “Dabei”, so Vucic, “kann es für uns keine schlimmeren Sanktionen als den Rückzug der ausländischen Investitionen geben.” Und weiter: “Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen, das haben wir verstanden. Aber das Problem ist, dass die andere Seite alles tun kann, was sie will, und dafür noch vom Westen belohnt wird.”

Serbien bezahlt jetzt bitter dafür, dass Präsident Vucic bisher einen Mittelkurs gefahren hat und sowohl freundschaftliche Beziehungen zu Russland gepflegt hat wie auch zum Westen. Dies lässt sich in der aktuell aufgeheizten und polarisierten Stimmung im Zuge des Ukrainekriegs offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Entweder gehört man zu den “Guten” oder zu den “Bösen”, nichts dazwischen. Egal, ob Vucic sich mehr nach Osten oder mehr nach Westen ausrichten möchte, stets ist er auf der falschen Seite der Geschichte. Dabei wären doch Staaten, die anstelle gegenseitiger Konfrontation Brücken zwischen den verfeindeten Lagern bauen möchten, gerade angesichts der heutigen globalen Spannungen dringender nötig denn je.

Doch Serbien steht nicht zum ersten Mal auf der falschen Seite der Geschichte. Schon am 24. März 1999 wurde es zum Opfer westlicher Machtpolitik, als die Nato das Land zu bombardieren begann mit der Begründung, Serbien hätte dem Vertrag von Rambouillet, der den Konflikt zwischen serbischen Sicherheitsbehörden und der kosovarischen Befreiungsarmee UCK hätte beenden sollen, nicht zugestimmt. Tatsächlich war der Vertrag von Rambouillet aber sowohl am Widerstand der Serben wie auch an jenem der UCK gescheitert. “Der Rambouillettext”, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, “war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.” Weil nämlich, so Kissinger, dieses Dokument den Durchmarsch von Nato-Truppen durch Serbien genehmigt hätte und eigentlich bloss dem Westen als Vorwand dafür gedient hätte, Serbien bombardieren zu können. Die am 24. März 1999 von der Nato begonnene Militäroperation war der erste Krieg, den die Nato sowohl ausserhalb des Bündnisfalls, als auch ohne ausdrückliches UN-Mandat führte und  der daher bis heute unter dem Aspekt des internationalen Völkerrechts höchst umstritten ist.

An diesem 24. März 1999 also schlug die Nato mit 200 Flugzeugen und 50 Lenkwaffen zu. Nachdem zuerst nur militärische Ziele ausgewählt worden waren, erfolgte in einer zweiten Phase die Ausweitung auf die zivile Infrastruktur, zahlreiche Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser, Fernsehstationen und Brücken wurden zerstört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass die Militäroperation der Nato den Tod von rund 500 Zivilpersonen verursacht hat. Von der US Air Force und der Royal Air Force wurden auch die später international geächteten Streubomben eingesetzt, zahllose Blindgänger stellen bis heute eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Ebenfalls beschossen wurden zahlreiche Chemieanlagen, Mediziner machen die dabei freigesetzten, enormen Mengen an Schadstoffen sowie die verwendete Uranmunition dafür verantwortlich, dass Serbien heute die höchste Rate von Lungenkrebs in Europa aufweist.

Das Beispiel Serbien zeigt, wie weit wir immer noch von einer Welt entfernt sind, in der Demokratie und Selbstbestimmung nicht nur für jene Gültigkeit haben, die auf der “richtigen” Seite der Geschichte stehen. Das Recht scheint nach wie vor stets nur das Recht der Starken und Mächtigen zu sein. Je nachdem, auf welcher Seite der Geschichte man steht, erlebt man demzufolge dann auch die Welt sehr unterschiedlich. Man braucht die Augen vor der komplexen Geschichte ethnischer Spannungen auf dem Gebiet des früheren Staates Jugoslawien keineswegs zu verschliessen. Aber wenn man sich auch nur ein klein wenig in die Gefühlslage der Serbinnen und Serben hineinzuversetzen versucht, dann werden wohl die Nato-Militäroperation vom 24. März bis 10. Juni 1999 und die aktuelle Erpressungspolitik durch den Westen tiefe Wunden hinterlassen, die nicht so schnell verheilen werden…

(Quellen: “Tagblatt” 25.1.23; Wikipedia)  

„Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA- (UÇK-)Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 % der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

 Henry Kissinger[21] 

Europäischer Strommarkt: Wie die Fahrt auf einer Achterbahn…

 

“Wer derzeit die Tagespreise an den europäischen Strommärkten verfolgt”, schreibt das schweizerische “Tagblatt” am 5. Januar 2022, “muss sich vorkommen wie auf einer Achterbahn. Ende August kostete eine Megawattstunde für den nächsten Tag 725 Euro, Ende Jahr war es nach einigen Berg-und-Tal-Fahrten noch ein Bruchteil davon: sieben Euro. Inzwischen sind die Preise schon wieder auf deutlich über 100 Euro geklettert.” Nutzniesser, so das “Tagblatt”, seien die grossen Energiekonzerne. So erwarte die BKW für 2022 ein “ausserordentliches Resultat”, wie der Energiekonzern mitteile. Man gehe von einem Betriebsgewinn von rund einer Milliarde Franken aus, nach 395 Millionen im Vorjahr. Der wesentliche Grund für die Gewinne seien die “extremen Verwerfungen an den Energiemärkten”. Allerdings sei auch das Gegenteil möglich, so stünden die Axpo und die Alpiq derzeit vor gravierenden Liquiditätsproblemen…

Wie heisst es immer so schön? Die “Freie Marktwirtschaft” beruhe auf einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und sei deshalb das beste und einzige Wirtschaftsmodell um eine optimale Verteilung von Ressourcen und Gütern innerhalb einer Volkswirtschaft herzustellen. Tatsache ist jedoch, dass sich dieses Versprechen je länger je deutlicher als gigantischer Trugschluss erweist. Hätten alle an einem “freien Markt” Beteiligten die gleich langen Spiesse, würde das Ganze vielleicht tatsächlich funktionieren. In der Realität aber sind diese Spiesse höchst unterschiedlich lang und die Folge ist, dass sich die Güter eben nicht gleichmässig verteilen und stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich kaufen zu können.

Würde die “freie Marktwirtschaft” tatsächlich zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht über 800 Millionen Menschen weltweit hungern, während multinationale Nahrungsmittelkonzerne Milliardengewinne scheffeln, 40 Prozent der gekauften Lebensmittel in den reichen Ländern des Nordens im Müll landen und durch Spekulation an den globalen Nahrungsmittelbörsen die Lebensmittelpreise dermassen in die Höhe getrieben werden, dass sich immer mehr Menschen in den armen Ländern selbst die einfachsten Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. Würde die “freie Marktwirtschaft” zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, wie das zum Beispiel in Grossstädten wie Zürich, Paris, London oder Berlin der Fall ist, viel zu viele Luxuswohnungen gebaut, während günstiger Wohnraum für Minderbemittelte immer mehr zur Seltenheit wird. Würde die “freie Marktwirtschaft” zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, infolge der unterschiedlichen Bodenpreise, Wohnorte und Arbeitsorte immer weiter auseinandergerissen, was früher oder später zu einem Totalkollaps des gesamten Verkehrssystems führen muss. 

Dies sind nur wenige Beispiele, unzählige weitere könnten hinzugefügt werden. Sie alle zeigen, dass es eine Illusion wäre anzunehmen, die “freie Marktwirtschaft” diene in erster Linie den Bedürfnissen der Menschen.. Sie dient in erster Linie dem Kapital und seiner Selbstvermehrung. Früher oder später werden wohl radikale Gegenmassnahmen unausweichlich sein, werden doch die Berg-und-Tal-Fahrten des “freien Marktes” immer verrücktere Ausmasse annehmen. Eine mögliche radikale Gegenmassnahme wäre die Verstaatlichung all jener Unternehmen, die für die allgemeine Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit und Energie zuständig sind. Gewiss ein Vorhaben, das zurzeit noch auf erbitterten Widerstand von verschiedenster Seite stossen würde. Doch sollte es beim Blick in die Zukunft nicht schon zum Vornherein Denkverbote geben. Vielleicht gibt es ja noch andere, bessere Ideen. Fest steht nur, dass der Schaden, den die “freie Marktwirtschaft” heute schon weltweit anrichtet, so immens ist, dass jede Alternative dazu, so verrückt sie im Moment erscheinen mag, dennoch um ein Vielfaches besser wäre. 

Selenski vor dem US-Kongress: Auch die absurdesten und widersprüchlichsten Aussagen von Standing Ovations weggespült…

22. Dezember 2022: Der ukrainische Präsident Selenski vor dem US-Kongress. Noch bevor er richtig zu reden angefangen hat: Standing Ovations. “Entgegen aller Widrigkeiten und Schwarzmalereien ist die Ukraine nicht gefallen. Die Ukraine lebt und ist quicklebendig.” Dann spricht er davon, Europa sei heute stärker und unabhängiger als je zuvor. “Wir haben keine Angst und niemand in der Welt sollte Angst haben.” Weiter geht es mit der Forderung, der Kreml müsse “nicht nur in den Köpfen”, sondern auch “auf dem Schlachtfeld” besiegt werden, und dass “dieser Kampf” nicht “eingefroren” oder “verschoben” werden könne, denn “von den Vereinigten Staaten bis China, von Europa bis Lateinamerika und von Afrika bis Australien” seien die Teile der Welt “zu sehr miteinander verbunden und voneinander abhängig”, so dass niemand abseits stehen und sich sicher fühlen könnte. Und dann das: “Bevor ich nach Washington D.C. gekommen bin, war ich an der Front bei Bachmut. Letztes Jahr lebten dort noch 70’000 Menschen. Heute sind nur noch wenige Zivilpersonen übrig. Jeder Zentimeter dieses Landes ist von Blut getränkt. Stündlich ertönen Geschützdonner. Die Schützengräben wechseln mehrmals am Tag den Besitzer – in heftigen Kämpfen manchmal sogar im Handgemenge.”

Nebst allen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in der immer wieder von Stand Ovations unterbrochenen Rede sind es zwei Aussagen, die besonders ins Auge stechen: Die erste ist, dass weder die Ukraine noch irgendwer in der Welt Angst haben sollte. Was denkt sich wohl das Kind, das mit seiner Mutter in einem schon halb zerbombten, eiskalten Keller Schutz gesucht hat und keine Sekunde lang sicher sein kann vor einer nächsten Bombe, bei einer solchen Aussage? Kann es allen Ernstes Krieg geben ohne Angst? Wenn das Selenski für sich allein gemeint hat, dann ist es seine Sache. Wenn er es aber für das ganze ukrainische Volk gemeint hat, ist es eine reine Farce, eine unbeschreibliche Beleidigung all jener Menschen, die seit Monaten täglich um ihr Leben zittern müssen, nicht nur in halb zerbombten Kellern, sondern auch in Schützengräben und in Panzern. Die furchtlosen Helden der Armee waren stets schon und sind es, solange es Kriege gibt, eine reine Fiktion, von der Zivilbevölkerung gar nicht zu reden.

Die zweite Aussage, die ins Auge sticht: Dass die Ukraine “lebe” und “quicklebendig” sei. Selenski scheint sich der Unerhörtheit dieser Aussage offensichtlich nicht bewusst zu sein und berichtet sogar von seinem Besuch in Bachmut, wo von den ehemals 70’000 Bewohnerinnen und Bewohnern nicht mehr viel übrig geblieben und der Boden “von Blut durchtränkt” sei. Das also ist sein “lebendiges”, “quicklebendiges” Volk? Was wohl all jene, die in diesem Krieg schon Angehörige verloren haben oder selber schon verletzt wurden, bei einer solchen Aussage Selenskis denken mögen?

Schaut man sich Selenskis Rede genauer an, dann strotzt diese von Floskeln, unbegründeten Behauptungen und reinen Durchhalteparolen ohne jeglichen realen Hintergrund. Aber etwas anderes ist ja auch gar nicht zu erwarten. Krieg ist etwas so Widersinniges, Absurdes, Widersprüchliches, dass auch die Sprache all jener, welche den Krieg zu rechtfertigen versuchen, nicht anders sein kann als ebenso absurd, widersinnig und gewalttätig.

Hört man Selenski zu, dann scheint es zwei Sorten von Ukrainerinnen und Ukrainern zu geben. Das eine, das sind die, die “keine Angst” haben und die “quicklebendig” sind. Das andere sind die, welche jede Nacht um ihr Leben zittern, im eiskalten Schützengraben stehen oder mit amputierten Beinen in einem notdürftig aufgestellten Feldlazarett liegen. Doch die Angehörigen des US-Kongresses, welche Selenskis Rede hörten und ihr frenetisch zujubelten, sehen nur die angstfreie, quicklebendige Seite der Realität. Würde nicht der ukrainische Präsident vor ihnen stehen, sondern ein jämmerlich weinendes ukrainisches Kind, das soeben seine Eltern durch einen Bombenangriff verloren hat, dann würden vielleicht auch die Mitglieder des US-Kongresses das Ganze mit ein wenig anderen Augen anschauen. 

Was Selenski verkörpert, ist die brutalste Form der Klassengesellschaft: Ein Teil der eigenen Bevölkerung wird geopfert, damit der andere Teil “angstfrei” und “quicklebendig” leben kann. Die einen haben den Job zu leiden und zu sterben, die anderen haben den Job, siegreich einer goldenen Zukunft in “Freiheit” und “Demokratie” entgegenzugehen. Wie weit sind wir da von echter Gleichberechtigung entfernt, wie lange noch lassen es sich so viele Menschen gefallen, für andere verheizt und von den Interessen anderer vereinnahmt zu werden? Was muss noch geschehen, bis endlich alle Soldaten der Welt aufstehen und sich für immer ihrer Waffen entledigen? “Ich dachte immer, alle Menschen seien gegen den Krieg”, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque”, bis ich herausfand, dass es auch solche gibt, die für den Krieg sind, diejenigen, die selber nicht hingehen müssen.”

Zum Krieg gehört die Rhetorik des Kriegs. Selenski beherrscht sie zweifellos meisterhaft. Er kann die grössten Absurditäten von sich geben, Dinge miteinander verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben, Parolen ohne jeden realen Hintergrund hinausposaunen – trotzdem ist ihm der Jubel, ja geradezu die frenetische Begeisterung seiner Zuhörerinnen und Zuhörer sicher. Wohl nicht zuletzt, weil er in seinem Rollkragenpullover so sympathisch und “volkstümlich” daherkommt. Ganz am Rande war zu hören, ein paar wenige Kongressabgeordnete hätten demonstrativ auf ihr Handy gestarrt und sich bewusst dem Applaus der Masse versagt. Das braucht in so kriegerischen Zeiten schon eine ganz schöne Portion Mut. Wie sehr wäre zu wünschen, dass noch viel, viel mehr Menschen aufstehen und sich dem allgemeinen Kriegsgeheul und einer so verhängnisvollen Kriegslogik verweigern, die weder mit “Freiheit” noch mit “Demokratie” etwas zu tun hat, sondern nur mit blinder Zerstörung, unendlichem Leiden und dem Schüren von Hass auf Generationen hinaus.

Bomben und Artillerie gegen kurdische Dörfer und Städte – und wo bleibt der Aufschrei des Westens?

 

“Seit knapp zwei Wochen”, so berichtet die schweizerische “Wochenzeitung” in ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2022, “greift die Türkei mit Artillerie und Luftschlägen Rojava – die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens – sowie weitere Gebiete in Syrien, etwa um Aleppo, und Teile des Nordiraks an. Überall dort werden Stellungen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vermutet, die angeblich, obwohl hierfür nach wie vor die Beweise fehlen, am 13. November einen Bombenanschlag in Istanbul verübt haben soll. Beim völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei sollen bisher mindestens 67 Menschen getötet worden sein. Diese Angriffe richten sich nicht nur gegen militärische Ziele, sondern verursachen auch schwere Schäden an der Infrastruktur der Region, an Schulen, Krankenhäusern, Öl- und Gasfeldern sowie Elektrizitätswerken und zielen darauf ab, die Lebensgrundlage der Bevölkerung langfristig zu zerstören, weshalb auch vor allem Kleinstädte und Dörfer bombardiert werden. In einem Fernsehinterview sprach der türkische Präsident Erdogan gar davon, Nordsyrien ethnisch säubern zu wollen, da diese Region für den Lebensstil der Kurden nicht geeignet sei.

Eigentlich müsste jetzt ein gewaltiger Aufschrei all jener westlichen Regierungen ertönen, die eben noch so vehement den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt haben. Eigentlich müssten jetzt gegen türkische Oligarchen und Unternehmer ebenso harte Sanktionen ergriffen werden wie gegen russische Unternehmer und Oligarchen. Eigentlich müssten gegen die Türkei ebenso einschneidende Wirtschaftssanktionen verhängt werden wie gegen Russland. Eigentlich müssten jetzt Türkinnen und Türken ebenso mit Einreiseverboten, mit der Verweigerung von künstlerischen Auftritten und dem Verbot staatlicher Fernsehsender belegt werden, wie das alles gegen Russland praktiziert worden ist. Eigentlich müsste die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock mit der gleichen Vehemenz, mit der sie die Zerstörung der russischen Wirtschaft forderte, auch die Zerstörung der türkischen Wirtschaft fordern. Und eigentlich müsste der ukrainische Präsident Selenski, dem angeblich nichts so sehr am Herzen liegt wie die Wahrung der Menschenrechte und der unlängst die Forderung nach einer Überführung des russischen Präsidenten Putin an ein internationales Kriegsverbrechertribunal in den Raum gestellt hat, dasselbe auch für den türkischen Präsidenten verlangen.  

Doch nichts davon geschieht. Der Westen hüllt sich in Schweigen. Keine offizielle Verurteilung, keine Wirtschaftssanktionen, keine Boykotte, keine Einreiseverbote, kein Einfrieren von Oligarchengeldern, nichts von alledem. Scheinheiliger, doppelzüngiger, widersprüchlicher, verlogener geht es nicht. Damit zeigen die westlichen Regierungen und ihr militärisches Bündnis ihr wahres Gesicht. Es geht und ging auch nie um das, was sie “Menschenrechte”, “Freiheit” und “Demokratie” nennen. Es geht und ging stets nur um nackte Machtpolitik. Wer auf unserer Seite ist, das sind die “Guten”, egal wie viele Verbrechen sie begehen. Und wer auf der anderen Seite ist, das sind die “Bösen”, selbst wenn es sich um Kinder, Frauen und Männer handelt, die in ihrem ganzen Leben noch nie jemandem etwas zuleide getan haben.

44 Militäroperationen vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki über den Vietnamkrieg bis zum Überfall auf den Irak 2003 haben die USA seit 1945 begangen – mit über 50 Millionen Todesopfern und über 500 Millionen Verwundeten. Dennoch wurde kein einziger der kriegführenden US-Präsidenten jemals einem Kriegsverbrechertribunal überwiesen, alle genossen und geniessen nach wie vor höchstes Ansehen oder wurden sogar, wie Barack Obama, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wann endlich erwacht die westliche Welt aus diesem verhängnisvollen Tiefschlaf, der es immer noch, dieses Mal in Rojava, möglich macht, dass unschuldige Menschen vor lauter Angst vor dem nächsten Bombenangriff nicht schlafen können und Kinder am nächsten Morgen erfahren müssen, dass ihre Mütter und Väter nicht mehr leben.

Es gibt keine “guten” und “schlechten” Kriege, jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Und wer, zu Recht, den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt, müsste erst recht jede noch so kleine Kriegshandlung, die im Namen des “freien” und “demokratischen” Westens geschieht, aufs Schärfste verurteilen. Der uralte Spruch vom “Auge um Auge, Zahn um Zahn”, die uralte Lehre von der stets wiederkehrenden Rache und Vergeltung, sie müsste endlich dort landen, wo sie hingehört: auf den Schrottplatz der Geschichte. Denn wenn man, wie Mahatma Gandhi so treffend sagte, das Prinzip vom “Auge um Auge” zu Ende denkt, dann führt es zu nichts anderem, als dass am Ende alle blind sind. 

Der Fall Brian Keller: Deine Gewalt ist nichts anderes als ein stummer Schrei nach Liebe…

Im “Club” des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 22. November 2022 ging es um den mittlerweile 27jährigen Brian Keller, den wohl “berühmtesten Häftling der Schweiz”, der rund ein Drittel seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat. Es diskutierten eine Strafrechtsprofessorin, ein Psychiater, ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, eine Journalistin, ein Lehrbeauftragter für Strafvollzug und der Anwalt von Brian.

Gemäss eines Berichts der Menschenrechtsorganisation “Humanrights” hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge “zu seinem eigenen Schutz”.

Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 beging der 15Jährige ein schweres Gewaltdelikt: Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen stach er diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer “vorsorglichen Unterbringung” im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom “Blick” die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er schlief über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem folgenschweren Zwischenfall kam. Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft.

Am 10. April 2018 wurde Brian ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt, wo er grössere Freiheiten genoss und sogar ein Weiterbildungsprogramm absolvieren konnte. Dennoch wurde Brian – weil das Programm in Burgdorf infolge fehlender Ressourcen abgebrochen wurde – am 18. August 2018 wieder zurück ins JVA Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt.

Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Mai 2021 verurteilte das Obergericht Brian wegen des Vorfalls vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Am 31. Oktober 2022 ordnete das Zürcher Obergericht eine Freilassung von Brian an. Dieser Entscheid wurde am 8. November vom Zürcher Zwangsmassnahmengericht widerrufen.

Zurück zur Sendung “Club” vom 22. November. Dort wurde nur ansatzweise thematisiert, inwieweit zwischen den äusseren Umständen, unter denen Brian Keller den grössten Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat, und den von ihm verübten Straftaten ein Zusammenhang bestehen könnte. Ist die Gewalt, die Brian in Form von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, erniedrigenden Haftbedingungen, unverhältnismässigen Gerichtsentscheiden und Liebesentzug in Form von Trennung von seinen Eltern erlitten hat, nicht mindestens so gross wie die Formen von Gewalt, die er selber verübt hat? Ist es nicht längst eine Binsenweisheit, dass Gewalt stets nur Gegengewalt erzeugt? Dass hier sehr wohl ein direkter Zusammenhang besteht, zeigt sich auch darin, dass Brian immer dann, wenn er sich in offeneren Formen des Strafvollzugs befand, viel besser “funktionierte” und seine eigene Gewaltbereitschaft markant zurückging. Die Annahme, man müsse nur, um einen Menschen auf den “richtigen” Weg zu bringen, seinen “Willen brechen”, ist einer der grössten Irrtümer und geistert nicht nur im Strafvollzug, sondern selbst in Erziehungsbüchern für ganz “normale” Kinder auch heute noch herum. Tatsache ist, dass man den Willen eines Menschen nicht brechen kann, es sei denn, man töte ihn. Der Wille, den man zu brechen versucht, sucht sich dann einfach andere Bahnen, oft viel gefährlichere und zerstörerischere. “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält”, sagte der südafrikanische Freiheitskämpfer und späterer Staatspräsiden Nelson Mandela, “dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.”

Tragisch, wenn man sich an den Anfang des Dramas zurückerinnert: Ein zehnjähriges Kind wird fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen ohne seine Eltern von zuhause abgeführt. Damit war eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Kann ein zehnjähriges Kind so etwas verkraften? Schlägt das nicht Wunden, die nie mehr verheilen werden? Ist diese Verletzlichkeit eines Zehnjährigen nicht gerade ein Zeichen für ein besonders hohes Mass an Empfindsamkeit und Liebesbedürfnis? Ist die “Gewalt”, die Brian in den folgenden Jahren an den Tag legte, vielleicht nicht eine besonders heftige Reaktion auf die verschüttete Sehnsucht nach Liebe? “Deine Gewalt”, singen die “Ärzte” in einem ihrer bekanntesten Lieder, “ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.”

“Der Mensch ist gut und will das Gute”, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, “und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Brians Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn diese Hindernisse rechtzeitig beiseitegeschafft worden wären und man ihm den Weg zu seiner Selbstverwirklichung nicht so gewalttätig “verrammelt” hätte. Längst ist allgemein bekannt, dass in Ländern, wo die Menschen sehr arm sind, auch die Kriminalitätsrate viel höher ist. Das ist so einleuchtend, dass es höchst verwunderlich ist, dass wir nicht schon längst den logisch daraus resultierenden Schluss gezogen haben, dass es eigentlich nur die äusseren Umstände sind, welche darüber entscheiden, wie “gut” oder wie “schlecht” Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen können. Ich wage zu behaupten, dass in einer Gesellschaft, in der die Liebe, die Gerechtigkeit und die gegenseitige Fürsorge an alleroberster Stelle stehen, solche Dinge wie Gewalt, Strafen und Gefängnisse überflüssig geworden wären. Vielleicht liegt das “Gute” an der Geschichte von Brian Keller ja darin, uns hierfür die Augen geöffnet zu haben. “Brian ist kein Mörder”, sagt der Zürcher Oberrichter Christian Prinz, “er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.”

Alle zeigen mit dem Finger auf Katar – doch was ist allen anderen weltweit Millionen von Opfern von Ausbeutung, unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfällen und frühem Tod?

 

Zu Recht steht Katar wegen der katastrophalen Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorwiegend nepalesischer Wanderarbeiter auf den Baustellen der Fussballweltmeisterschaften am Pranger. Doch der einseitige Blick auf Katar lenkt bloss davon ab, dass Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle in der gesamten kapitalistischen Welt von Brasilien bis Deutschland, von den USA bis China, von Zentralafrika bis Russland durchaus nicht eine Ausnahme sind, sondern ganz und gar der “Normalfall.”

Gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verunfallen weltweit jedes Jahr rund 313 Millionen Menschen bei der Arbeit, davon 2,3 Millionen tödlich, das sind jeden Tag 6400. Sie verunfallen und sie sterben, weil sie zu viel, zu lange, zu hart oder zu gefährlich arbeiten müssen. Und so wie auch der kapitalistische Profitmaximierungswahn und das Tempo der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft laufend zunimmt, so nimmt eben auch die Zahl der Arbeitsunfälle von Jahr zu Jahr weiter zu. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen in Deutschland zwischen 2020 und 2021 um nicht weniger als 39 Prozent zugenommen! Eine starke Zunahme verzeichnen auch Berufskrankheiten wie zum Beispiel Allergien, Schwerhörigkeit und Rückenleiden. Der wohl grösste Skandal liegt aber wohl darin, dass nach wie vor weltweit rund 160 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren Arbeiten verrichten müssen, für welche normalerweise Erwachsene zuständig wären. 

Weshalb sprechen alle von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen beim Bau der Weltmeisterschaftsstadien in Katar, aber niemand von den weltweit Abermillionen Menschen in allen übrigen Ländern der Welt, die ebenso unter viel zu harten Arbeitsbedingungen leiden, in viel zu engen Unterkünften leben müssen, oft kaum Zugang zu fliessendem Wasser haben, oft ungenügend ernährt sind und viel zu früh sterben müssen?

Die Antwort findet sich leicht: Im Falle von Katar treffen “Opfer” und “Nutzniesser” im gleichen Schaufensterlicht aufeinander. Am gleichen Ort, wo die Ausbeutung stattfindet, findet auch das Vergnügen derer statt, die von dieser Ausbeutung profitieren, sei es finanziell, oder indem sie in schönen, schnell und billig gebauten Stadien die Spiele verfolgen können. Alles liegt im gleichen Scheinwerferlicht, niemand kann wegsehen, alles ist sichtbar. So ganz anders ist das mit der Ausbeutung, der eine Textilarbeiterin in Bangladesch, ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Bananenpflückerin in Honduras ausgeliefert sind, mit überlangen Arbeitszeiten, geringem Lohn, gröbster Behandlung durch Vorgesetzte, katastrophalen Wohnverhältnissen. Diejenigen, die von solchen Formen von Ausbeutung profitieren, die multinationalen Konzerne und die Konsumentinnen und Konsumenten in den reichen Ländern, befinden sich eben nicht in unmittelbarer Nähe, im gleichen Scheinwerferlicht. Nutzniesser und Opfer sind fein säuberlich voneinander getrennt, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, am anderen Ende der bis zur Unkenntlichkeit unsichtbar gemachten Lieferketten könnte es so etwas geben wie Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen oder frühen Tod.

Wer im Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft einen “Boykott” gegenüber Katar gefordert hat, müsste ehrlicherweise auch einen Boykott gegen das gesamte weltweite kapitalistische Ausbeutungssystem fordern, gegen das globale Finanzsystem, gegen die Banken, gegen multinationale Konzerne, gegen Rohstoffhändler und gegen Börsenspekulanten – alles andere ist scheinheilig. 

“Die im Lichte sieht man”, so der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, “doch die im Dunklen, die sieht man nicht.” Höchste Zeit, dass nicht nur einige ausgewählte Plätze, die gerade im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gestellt werden. Denn selbst wenn bei einer weiteren zukünftigen Fussballweltmeisterschaft oder einem anderen Grossereignis auf die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen geachtet würde, so wäre das noch längst nicht das Ende, sondern nur erst ein winziger Anfang von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit.  

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann nicht verstanden werden ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie geschieht…

 

Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erleben häusliche Gewalt – dies das Resultat einer kürzlich veröffentlichten Elternbefragung, welche durch die Universität Freiburg im Auftrag der Organisation “Kinderschutz Schweiz” durchgeführt wurde. Zehn Prozent der Kinder erleiden sogar überaus schwere Gewalt, jährlich kommt es zu rund 1600 Spitaleinweisungen, die Kinder müssen wegen Prellungen, Knochenbrüchen, Blutergüssen, Ohrverletzungen und weiteren Folgen von Faustschlägen und Gewaltanwendungen mit Schlagstöcken, Kabeln oder anderen schweren und harten Gegenständen behandelt werden. Aber auch psychische Gewalt in Form von Beschimpfungen, Strafandrohungen und Liebesentzug sind weit verbreitet.

Woher kommt diese Gewalt und wie kann sie möglichst wirksam bekämpft werden? Schauen wir uns bei öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen um, die sich für die Rechte der Kinder und ihren Schutz vor Gewalt einsetzen, dann stossen wir auf eine ganze Palette von Präventionsmassnahmen und Hilfsangeboten, von Elternkursen, Sensibilisierungskampagnen, Beratungsstellen bis hin zum Nottelefon und zur psychologischen Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher. Im Fokus steht dabei in der Regel die individuelle Situation innerhalb der einzelnen Familie.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat aber nicht nur eine private, individuelle, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Komponente. Nicht selten geben Eltern die Gewalt, die ihnen selber im Alltag widerfährt, an ihre Kinder weiter. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Kinder vor allem dort am meisten verbreitet ist, wo auch die Eltern unter einem besonders hohen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Druck stehen. Diese Rahmenbedingungen, die ebenfalls Formen von Gewalt darstellen, können, wenn es um das Phänomen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht, nicht einfach ausgeklammert werden. Auch Armut, Verschuldung, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Druck und Stress am Arbeitsplatz, Demütigungen durch Vorgesetzte und der Wettkampf um den sozialen Aufstieg sind Formen von Gewalt. Ein besonderes “Kampffeld” und eine häufige Quelle von Gewalt – vor allem in Form von Liebesentzug – bilden all die Orte von der Schule bis zum Sport und zum Musikunterricht, wo Eltern ihre eigenen Erwartungen in die Kinder hineinprojizieren, alles Erdenkliche zur Leistungsförderung unternehmen und dann zutiefst enttäuscht sind, wenn die Kinder die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen – die betroffenen Kinder fühlen sich dann in ihrem Selbstwert zutiefst verletzt und vermissen jene Zuwendung und Liebe, auf die sie gerade in so schwierigen Situationen umso mehr angewiesen wären. Tragischerweise sind von allen diesen Formen physischer und psychischer Gewalt stets die Schwächsten der Gesellschaft am meisten betroffen, die, welche sich am wenigsten dagegen wehren können und dem allem schutzlos ausgeliefert sind, die Kinder und Jugendlichen.

Deshalb genügen auch die ausgeklügeltsten Präventionsmassnahmen und Elternkurse nicht, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Betrachtungsweise muss tiefer greifen. Nicht nur die einzelnen betroffenen Eltern müssen sensibilisiert werden, die Gesellschaft als Ganzes muss sensibilisiert werden. Es geht darum, ob wir eine gewaltfreie Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn ja, hat dies weitreichende Konsequenzen und stellt unsere ganze kapitalistische Leistungsgesellschaft und das endlose Streben nach immer höheren Profitraten, um aus den Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herauszuquetschen, radikal in Frage. Denn es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die dafür büssen müssen, dass nicht Liebe und Respekt, sondern der Wettkampf aller gegen alle die oberste Maxime der Gesellschaft ist. Die Gewalt, unter der die Kinder leiden, ist die gleiche Gewalt, unter der auch die Natur leidet, die Tiere, die Erde, die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und weltweit alle Menschen, die von Armut, Hunger und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Je mehr wir uns einer egalitären Gesellschaft nähern, in der die materiellen Güter, die Lebensbedingungen, die Arbeit, die Einkommen und die Vermögen möglichst gleichmässig auf alle verteilt wären, umso mehr würde gewiss auch all jene Gewalt verschwinden, die, in welcher Form auch immer, unseren heutigen Kindern und Jugendlichen angetan wird. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”