Ein vierseitiges Zeitungsinserat, um den Menschen Dinge aufzuschwatzen, die sie schon längst gar nicht mehr wirklich brauchen…

 

In meiner heutigen Tageszeitung wird auf vier vollen Seiten von einer Haushaltgerätefirma Werbung gemacht unter anderem für folgende Produkte: Ein Kühlventilator, mit dem “im Nu eine angenehmes Raumklima” geschaffen werden kann, Stromverbrauch: 160 W, Preis: 329 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für “nur” 197 Franken. Ein Profimuskelmassagegerät mit Akkubetrieb, das “mit sechs austauschbaren Aufsätzen” und mit “sechs unterschiedlichen Geschwindigkeitsstufen” zur “Lockerung der Muskeln im Rücken, Nacken, in Armen usw. oder zur Erholung bei Muskelkater” dient, Preis: 184 Franken, angeboten mit einem 35-Prozent-Rabatt für 120 Franken. Ein Fugen- und Plattenreiniger mit einem “überaus kraftvollen Elektromotor”, der zur “Behandlung von Stein- und Holzoberflächen sowie zur Reinigung von Fugen und Kanten” verwendet werden kann, Preis: 240 Franken, angeboten mit einem 30-Prozent-Rabatt für 168 Franken. Eine Akku-Astschere mit integriertem Lithium-Ionen-Akku, die sich für den “Schnitt von Blumen, Büschen, Pflanzentrieben und Ästen bis zu 15 Millimeter Durchmesser” eignet und mit einer Teleskopverlängerung versehen werden kann, Preis 165 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 99 Franken. Ein elektrisch angetriebener Thermo-Unkrautvernichter, der mit seiner “650 Grad heissen Luft dem Unkraut keine Chance lässt”, Preis: 70 Franken, angeboten mit einem 35-Prozent-Rabatt für 46 Franken. Eine Profi-Wetterstation, welche “Aussen-, Luftfeuchtigkeits-, Wind- und Niederschlagsmengen mit einem drahtlosen Sensor” erfasst und sämtliche Daten der letzten 24 Stunden aufzeichnet, Preis: 199 Franken, angeboten mit einem 30-Prozent-Rabatt für 139 Franken. Ein mit Akku angetriebener Solar-Marderschreck, der ein Gebiet von 60-90 Quadratmetern überwachen kann und einen für Menschen nicht hörbaren, aber für Tiere sehr unangenehmen Ultraschallton verbreitet, Preis: 90 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 54 Franken. Eine mit einem “kraftvollen Akku” versehene Camping-Insekten-Tilger-Lampe, die Insekten mittels ultraviolettem Licht in ein elektrisch geladenes Gitter lockt, Preis: 79 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 47 Franken. Ein Elektroroller, der “mit seinem 500-Watt-Motor und dem Hochleistungsakku an Kraft und Ausdauer kaum zu überbieten ist” und sogar mit einem “besonders innovativen und nützlichen integrierten Blinker” ausgestattet ist, Preis: 885 Franken, angeboten mit einem 10-Prozent-Rabatt für 797 Franken. Und bei jedem Artikel ist in einem grossen gelben Balken vermerkt, wie viel Geld die Kundinnen und Kunden dank der “grosszügigen” Rabatte mit dem Kauf des betreffenden Artikels “sparen” können. Dumm wäre, wer da nicht ohne lange zu überlegen blitzschnell zugreifen würde, weiss man doch nie, wie lange diese “attraktiven” Preise noch gültig sein werden…

Und da wundern wir uns noch, wenn der Gesamtverbrauch an Strom immer mehr ins Unermessliche steigt, Rohstoffe und Bodenschätze früher oder später zur Neige gehen werden, die Berge von nicht mehr gebrauchtem Plastik- und Elektroschrott immer weiter in die Höhe wachsen und der Klimawandel scheinbar unaufhaltsam voranschreitet. Die auf den vier Zeitungsseiten angepriesenen Produkte zeigen: Längst geht es nicht mehr darum, das zu produzieren, was die Menschen wirklich brauchen, sondern, im Gegenteil, immer neue Luxusbedürfnisse zu schaffen und all das, was die Menschen kaufen sollen, ohne dass sie es wirklich brauchen, ihnen mit immer aggressiveren Werbemethoden aufzuschwatzen. Ganz abgesehen davon, dass sich dadurch der soziale Graben zwischen denen, die sich fast alles leisten können, und denen, die sich fast nichts mehr leisten können, immer weiter vertieft, indem Annehmlichkeiten aller Art immer mehr zum Privileg jener werden, die sich selbst noch die unnötigsten Dinge kaufen können, auf die viele andere verzichten müssen.

Da können wir noch Tausende von Windrädern und Solaranlagen bauen – so lange nicht eine radikale Abkehr von der kapitalistischen Ideologie eines immerwährenden, endlosen Wachstums erfolgt, wird jeder Schritt nach vorne sogleich von zwei Schritten nach hinten wieder zunichte gemacht. Was Mahatma Gandhi vor über 80 Jahren sagte, hat in der Zwischenzeit an Aktualität nicht das Geringste eingebüsst, ganz im Gegenteil: “Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.” 

 

Doch letztlich sitzen die Klimaprotestierer und die Lkw-Fahrer im gleichen Boot…

 

Am 12. Juli 2023 zerrt ein 41jähriger Lkw-Fahrer bei einer Blockadeaktion der “Letzten Generation” im deutschen Stralsund drei Klimaprotestierer von der Strasse und droht ihnen Schläge an. Dann setzt er sich wieder hinter das Lenkrad und fährt kurz an. Dabei wird ein junger Demonstrant, der sich inzwischen wieder auf die Strasse gesetzt hat, etwa einen Meter nach vorn geschoben. Danach fährt der Lkw-Fahrer weiter, meldet sich aber später bei der Polizei. Nun droht dem Fahrer ein vorübergehender Führerscheinentzug.

So legitim die Aktion der Klimaprotestierer angesichts der drohenden Klimakatastrophe ist, so verständlich ist auch die Reaktion des Lkw-Fahrers, der unter einem ungeheuren Zeitdruck steht, den ihm auferlegten Transportauftrag in der kürzest möglichen Zeit zu erledigen, ansonsten er unter Umständen mit höchst unangenehmen Konsequenzen seitens seines Arbeitgebers zu rechnen hat. Das zutiefst Tragische an diesem Vorfall besteht darin, dass sowohl die Klimaprotestierer wie auch der Lkw-Fahrer letztlich unter dem Druck und der Belastung durch das gleiche, auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftssystem stehen, das sowohl für die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen mit all ihren zerstörerischen Folgen wie auch für den gnadenlosen Konkurrenzkampf und das sich laufend verschärfende Tempo in der Arbeitswelt verantwortlich ist.

Ja. Die Klimaprotestierer und der Lkw-Fahrer sind Opfer des gleichen ausbeuterischen Wirtschaftssystems. Doch statt sich gemeinsam, in gegenseitiger Solidarität, dagegen aufzulehnen, machen sie sich gegenseitig zu Feinden. Das gleiche Phänomen stellen wir beispielsweise auch beim sogenannten “Flüchtlingsproblem” fest. Kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur sind sowohl die Ursache von Armut, Hunger, Dürren, Naturkatastrophen und Kriegen in vielen Ländern des Südens, welche immer mehr Menschen in die Flucht treiben, wie auch die Ursache von Armut, sozialer Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit in den Ländern des Nordens, sodass begreiflicherweise gerade unter den gesellschaftlich Benachteiligten und Zukurzgekommenen die Empörung über jegliche “Willkommenskultur” gegenüber Menschen aus fernen Ländern ganz besonders gross ist. Doch auch hier kommt es nicht zur Solidarisierung zwischen den Opfern auf beiden Seiten, sondern zu Hass, Gewalt und gegenseitigen Schuldzuweisungen. 

Zu verurteilen sind weder die Klimaprotestierer noch die Lkw-Fahrer, weder die Flüchtlinge noch all jene Menschen, die sich von ihnen bedroht fühlen. Zu verurteilen ist einzig und allein das kapitalistische Wirtschaftssystem, welches die Menschen dazu antreibt, sich gegenseitig zu bekämpfen, statt sich, über alle Grenzen und alle gegenseitigen Feindbilder hinweg, für eine bessere und gerechtere Welt zu engagieren. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt vor vielen Jahren sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Träumen darf erlaubt sein: Die Ukraine als Brücke zwischen Ost und West…

 

“Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll”, sagte der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger im Jahre 2014, “darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein – sie sollte eine Brücke zwischen beiden Seiten sein.” Man mag von Kissinger halten, was man will, aber in diesem Punkt hatte er wohl Recht. Dass nun ausgerechnet das, was den russischen Angriff auf die Ukraine überhaupt erst provoziert hat, nämlich die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands, vom Westen eifrigst vorangetrieben wird, widerspricht jeglicher politischer Weitsicht. Man stelle sich einmal das Umgekehrte vor: Kanada und Mexiko würden einem Militärbündnis mit Russland beitreten – undenkbar, dass die USA dies stillschweigend akzeptieren würden. Man führe sich auch vor Augen, dass die USA weltweit über 1000 Militärbasen verfügt, rund 50 Mal mehr als Russland. Da fragt sich dann schon, wer nun eigentlich wen bedroht. Was für eine Chance wäre eine neutrale, blockfreie Ukraine, ein Schmelztiegel, eine Brücke zwischen Ost und West, ein Land, wo die Menschen gelernt haben, Krieg in Frieden zu verwandeln, ein Ort für internationale Konferenzen zur Völkerverständigung, ein Musterbeispiel von Demokratie. Vielleicht müsste man nur die Kinder fragen, wie es weitergehen könnte. Meine Enkelkinder, dreieinhalb Jahre alt, wollten unbedingt Schach spielen. Da haben sie kurzerhand die Spielregeln abgeändert: Wenn zwei gegnerische Figuren aufeinander trafen, haben sie sich nun nicht mehr gegenseitig gefressen, sondern sich ineinander verliebt und das Spielfeld paarweise verlassen…

Bundesrätin Viola Amherd möchte die Schweiz unter einen internationalen Raketenschirm stellen: Fragwürdiger Entscheid mit weitreichenden Folgen…

 

Die von der schweizerischen Bundesrätin Viola Amherd unterzeichnete Absichtserklärung, die Schweiz gemeinsam mit Deutschland und Österreich unter einen internationalen Raketenschirm zu stellen, wirft viele Fragen auf. Kann ein so weitreichender und möglicherweise folgenschwerer Entscheid tatsächlich, wie Amherd sagt, allein vom Bundesrat, ohne Mitwirkung des Parlaments und des Parlaments, getroffen werden? Lässt sich der Entscheid tatsächlich mit dem schweizerischen Grundsatz der Neutralität vereinbaren, wo er doch eindeutig als “Reaktion europäischer Länder auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine” begründet wird? Amherd behauptet zwar, die Schweiz würde trotz dieser Absichtserklärung “jegliche Teilnahme an internationalen militärischen Konflikten ausschliessen”. Aber was soll es dann für einen Sinn machen, gemeinsam mit anderen Ländern Waffen anzuschaffen, gemeinsam zu trainieren und eine gemeinsame Logistik aufzubauen – um dann, wenn es tatsächlich drauf und dran käme, aus dem ganzen Projekt wieder auszusteigen? Viel wahrscheinlicher wäre es dann wohl, dass die Schweiz – mitgehangen, mitgefangen – wohl oder übel in einen internationalen militärischen Konflikt hineingerissen würde. Es ist schon bemerkenswert, mit was für einer Hektik und einem vorauseilenden Gehorsam die Schweiz hier in die Bresche springt, während etwa Länder wie Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Polen und die Türkei noch abwartend beiseite stehen. Was noch viel erstaunlicher ist: Dass die Opposition gegen diesen Entscheid ausschliesslich von der SVP kommt, während sich die Linken und die Grünen trotz ihrer pazifistischen und neutralitätspolitischen Tradition vornehm in Schweigen hüllen. 

Sparmassnahmen in Neukölln: Wohin das Geld, das früher offensichtlich in genügendem Masse vorhanden war, plötzlich verschwunden ist…

 

Wie die “Berliner Zeitung” vom 28. Juni 2023 berichtet, hat der Bezirk Berlin-Neukölln drastische Sparmassnahmen beschlossen. Nach der Zuweisung durch den Senat fehlen dem Bezirksamt Neukölln für die Haushaltsjahre 2024/25 pro Jahr 22,8 Millionen Euro, um den Status Quo zu halten. Folgende Sparmassnahmen sind vorgesehen: Der Wachschutz an zwölf Neuköllner Schulen entfällt; die Tagesreinigung an den Neuköllner Schulen wird aufgehoben; die Obdachlosenhilfe wird reduziert; die aufsuchende Suchthilfe wird gestrichen; Wasserspielplätze werden geschlossen; kaputte Spielgeräte auf Spielplätzen werden nicht mehr repariert; die Müllentsorgung in Grünanlagen wird halbiert; drei Jugendfreizeitzentren und Familieneinrichtungen werden geschlossen; Jugendreisen für besonders betroffene Jugendliche werden nicht mehr finanziert; der Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt fällt weg; freie Stellen im Bezirksamt werden temporär nicht mehr nachbesetzt. “Die Finanzplanungen des Senats”, so Bezirksbürgermeister Martin Hikel von der SPD, “werden auf viele Jahre die soziale Infrastruktur in Neukölln zerstören.” Auch viele andere Kommunen in Deutschland sind überschuldet und müssen deshalb Schwimmbäder, Bibliotheken und Theater schliessen, Schulen warten auf dringende Renovierungen, in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen herrscht massiver Personalmangel.

Schon erstaunlich, dass die Empörung in der betroffenen Bevölkerung zwar riesig ist, aber dennoch niemand fragt, wohin denn all das Geld, das früher für alle diese staatlichen Leistungen offensichtlich in genügender Menge vorhanden war, denn nun plötzlich verschwunden ist. So selten die Frage gestellt wird, so einfach wäre die Antwort: Das früher vorhandene Geld ist schlicht und einfach nach und nach aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen geflossen, aus dem öffentlichen in den privaten Raum. So gehört heute dem reichsten Prozent der Bevölkerung, das entspricht etwa 840’000 Personen, etwas mehr als ein Drittel aller Vermögen, die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. 20 Prozent der Haushalte besitzen gar kein Vermögen, etwa neun Prozent sind verschuldet. 2022 gab es in Deutschland 1,63 Millionen Millionäre, 6,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Gemäss der Hans-Bröcker-Stiftung sind in fast keinem anderen Land die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Und so wird auch der soziale Graben immer tiefer und die Mauern der sozialen Apartheid werden immer dicker, zwischen denen, die sich bis zum Tiefseetauchen im privaten U-Boot über den Helikopterflug zum Skifahren auf den letzten kanadischen Gletschern und der Luxusreise mit einem Kreuzfahrtschiff immer verrücktere Vergnügungen leisten können, während die anderen schon froh sein müssen, wenn sie am Ende des Monats wenigstens noch eine einzige anständige Mahlzeit auf dem Tisch haben.

Geld wächst bekanntlich nicht auf Bäumen, es fällt auch nicht vom Himmel und man findet es auch nicht in irgendwelchen Muscheln tief auf dem Meeresgrund. Wenn es sich am einen Ort so gigantisch anhäuft, dann muss es an allen anderen Ecken und Enden umso schmerzlicher fehlen. Alle diese Millionen und Milliarden in den Händen der Reichen und Superreichen wurden dem Volk und dem öffentlichen Raum auf die eine oder andere Weise “geklaut”, auf scheinbar “legale” Weise, etwa dadurch, dass über Generationen angehäufte Reichtümer auf die nächste Generation übertragen werden, ohne dass diese dafür eine entsprechende Arbeitsleistung erbringen müsste. Oder dadurch, dass Millionen von Beschäftigen für ihre Arbeit weit weniger Lohn erhalten, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre, um auf diese Weise die Löhne der Besserverdienenden zu subventionieren und den Unternehmen grösstmögliche Profite zu ermöglichen, die in Form von Dividenden wiederum in den Taschen der Reichen landen, ohne dass diese hierfür einen Finger krumm machen müssen. Oder dadurch, dass es nebst Dividenden, Finanzgeschäften, Einnahmen aus dem Besitz von Immobilien, Spekulation und dem Handel mit Rohstoffen noch viele andere verschlungene Formen von Kapitalbeteiligungen gibt, die alle darauf hinauslaufen, dass insgesamt nicht jene reich werden, die besonders viel und hart arbeiten, sondern ausgerechnet jene, die sowieso schon zu viel besitzen. “Geld”, sagte der CDU-Politiker Heiner Geissler, “ist vorhanden wie Dreck, nur befindet es sich in den falschen Händen.” Und seit die Vermögenssteuer in Deutschland im Jahre 1997 abgeschafft wurde, besteht nicht einmal mehr die Möglichkeit, zumindest einen kleinen Teil all dieses geklauten Geldes wieder in die Hände der arbeitenden Bevölkerung, in die Sicherung der Sozialwerke und in die soziale und kulturelle Infrastruktur des öffentlichen Raumes zurückzuholen.

Wir bilden uns ein, von politischen Parteien regiert zu werden. Tatsächlich aber werden wir vom Kapitalismus regiert. Und solange nicht der Kapitalismus als herrschendes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Denksystem überwunden wird, solange werden auch die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, die unaufhörliche Umverteilung von unten nach oben, von der Arbeit zum Kapital und aus dem öffentlichen in den privaten Raum nicht beendet werden können. Wie viele kaputtgesparte Schulen, wie viele Schliessungen von Schwimmbädern, Theatern, Kultur- und Jugendzentren, wie viele soziale Sparprogramme wird es noch brauchen, bis eine Mehrheit der Bevölkerung dies erkennen und daraus die folgerichtigen Schlüsse ziehen wird? 

Hunger und Gewalt in Haiti: Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens…

 

“Laut den Vereinten Nationen”, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 14. Juni 2023, “gab es allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 800 Morde in Haiti. Dazu kommen Hunderte Entführungen und systematische, massenhafte Vergewaltigungen.” Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, stehe am Abgrund, insgesamt 4,9 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung – wüssten nach Angaben der Vereinten Nationen nicht, wie sie sich dauerhaft ernähren könnten. In dieser verzweifelten Lage würden immer mehr Menschen das Gesetz selber in die Hand nehmen: “Am 24. April schlug die Verzweiflung endgültig in Wut um, Passanten zerrten in Port-au-Prince Gangmitglieder, die bereits verhaftet worden waren, aus einem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin darüber und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Von da an war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet: Bilder und Videos von den Lynchmorden machten im Nu die Runde und bald zogen auch anderswo Mobs mit Stöcken und Macheten bewaffnet durch die Strassen und jagten Kriminelle, es entstand eine eigentliche Selbstjustiz- und Bürgerrechtsbewegung.”

Was der “Tagesanzeiger” verschweigt: Dass zur gleichen Zeit, da die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hungert und sich die Gewalt im Lande immer hemmungsloser ausbreitet, Unmengen an Kaffee, Kakao, Zuckerrohr, Sisal, Mango und Vetiveröl aus Haiti in die reichen Länder des Nordens exportiert werden. Beim Vetiveröl, das für die Herstellung von Parfüms und für Aromatherapien verwendet wird, beträgt der Anteil Haitis an der gesamten Weltproduktion sogar rund 50 Prozent. Auch verschwiegen wird, dass Haiti im Jahre 2022 Waren im Wert von etwa 910 Millionen US-Dollar exportierte, gleichzeitig aber Waren im Wert von drei Milliarden US-Dollar importierte, was die ohnehin schon verheerende Verschuldung des Landes erheblich weiter verschärfte, und das nur, weil exportierte Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt einen so viel tieferen Preis haben als die importierten, industriell gefertigten Fertigprodukte. Und schliesslich wird auch verschwiegen, dass die katastrophale Ernährungssituation des Landes vor allem damit zu tun hat, dass in den 1980er und 1990er Jahren die meisten für die Versorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln arbeitenden Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten verdrängt wurden, während gleichzeitig die Importe von subventioniertem US-Reis und Zucker massiv gesteigert wurden.

So hängen auch heute noch die Armut im Süden und der Reichtum im Norden unauflöslich miteinander zusammen und die kolonialistische Ausbeutung geht allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bis in unsere Tage nahtlos weiter. Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens. In Tat und Wahrheit aber machen wir uns mit jeder Tasse Kaffee, die wir trinken, mit jeder Tafel Schokolade, die wir essen, und mit jedem Tropfen Parfüm, das wir uns auf die Haut spritzen, am Elend, am Hunger und an der gegenseitigen Gewalt all jener Menschen schuldig, denen die eigene Erde entrissen wurde und die in einen nicht endenden Sklavendienst gezwungen wurden, nur damit multinationale Konzerne laufend wachsende Milliardengewinne scheffeln können und unser “Wohlstand”, der im Grunde nichts anderes ist als reiner Luxus auf Kosten anderer, ungehindert weiter bestehen kann. Weshalb eigentlich müssen nur Zigarettenpackungen mit der Etikette “Rauchen ist tödlich” versehen werden und nicht auch die Packungen mit Kaffeebohnen, Mango, Schokolade und die Fläschchen mit Aromen und Parfüms in Hotels und Wellnessoasen? Oder haben 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche in unseren Köpfen schon so unauslöschlich ihre Spuren hinterlassen, dass uns nicht einmal mehr dies zu erschrecken und aufzuwecken vermöchte? 

Der Höhenflug der AfD und weshalb Probleme nie mit der gleichen Denkweise gelöst werden können, durch die sie entstanden sind…

“Die AfD klettert in den Umfragen immer höher” – titelt der “Tagesanzeiger” am 6. Juni 2023. Die AfD liegt mit 18 Prozent bereits gleichauf mit der SPD, zusammen mit dieser an zweiter Stelle in der Wählergunst hinter der CDU/CSU. “Und die anderen Parteien”, so der “Tagesanzeiger”, “zeigen mit Fingern aufeinander.” Ob es sein könnte, so fragt sich der “Tagesanzeiger” im Folgenden, dass die AfD Wählerinnen und Wähler anspreche, die von den anderen Parteien kaum oder gar nicht mehr erreicht würden? Dass genau hierin die Ursache für den Höhenflug der AfD liegen könnte, schiene sich auch dadurch zu bestätigen, dass zwei von drei Anhängern der AfD sagten, sie würden diese Partei “aus Enttäuschung über die anderen Parteien” wählen, nur einer von drei aus Überzeugung.

Machen also alle anderen Parteien ihre Arbeit so schlecht, dass sie ihre potenzielle Wählerschaft gleich scharenweise in die Arme der AfD drängen? Diese Schlussfolgerung würde wahrscheinlich zu kurz greifen. Wir kommen nicht umhin, die gegenwärtige Situation in einer grösseren Sichtweise und aus grösserer Distanz zu betrachten. Das, was die Menschen am meisten beschäftigt – Armut, soziale Ungerechtigkeit, steigende Lebenskosten, Arbeitslosigkeit, Probleme im Zusammenhang mit Migration, Angst vor einem grösseren Krieg – sind nicht so sehr die Folgen einer verfehlten Regierungspolitik. Höchstwahrscheinlich wären die Zustände um keinen Deut besser, wenn die CDU/CSU oder gar die AfD an der Macht wären. Die Ursachen liegen tiefer. Und zwar im kapitalistischen Wirtschaftssystem, welches die grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur und die Profitmaximierung und den Reichtum einer Minderheit höher gewichtet als die allgemeine Wohlfahrt, in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das mit dem blinden Glauben an ein ewiges Wachstum für die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen verantwortlich ist und nicht zuletzt mit dem von ihm erzeugten weltweiten Wohlstandsgefälle all die damit verbundenen,  häufig als Bedrohung empfundenen Begleiterscheinungen verursacht. Selbst der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat seine tiefen kapitalistischen Wurzeln, denn es ist eben schon so, wie der französische Sozialist Jean Jaurès einmal sagte: “Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen” – Kriege haben stets etwas zu tun mit Machtausdehnung, Wachstum, Expansion, wirtschaftlichen Interessen, all jenen Kräften, die auch der kapitalistischen Wirtschaftsideologie zu eigen sind und die extremste Zuspitzung eines auf gegenseitige Zerstörung ausgerichteten Konkurrenzprinzips bilden.

Eigentlich ist es absurd. Ausgerechnet die SPD und die Grünen mit ihrer ursprünglich kapitalismuskritischen Tradition und ihren früheren Visionen von einer gerechteren und friedlicheren Welt finden sich heute in der Rolle jener, die diesen Kapitalismus, dem sie früher so kritisch gegenüberstanden, am vehementesten verteidigen, verwalten und weiterzuführen. So ist ein riesiges Loch entstanden, in welches nun die vermeintlichen früheren Widersacher am anderen Ende des Politspektrums nur zu gerne hineinspringen. Denn dass der Weg eines auf blosse Profitvermehrung und auf grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichteten Kapitalismus kein guter Weg sein kann, diese Einsicht scheint ein überwiegender Teil der Bevölkerung noch immer zu teilen: Umfragen zeigen, dass rund 55 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Kapitalismus hätte mehr Nachteile als Vorteile. Nur ausgerechnet jenen, die an die Macht gelangen, scheint diese Einsicht jedes Mal wieder von neuem abhanden zu kommen.

Eine Lösung der gegenwärtigen sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und geopolitischen Herausforderungen innerhalb des kapitalistischen Denksystems ist nicht möglich. “Probleme”, sagte Albert Einstein, “kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Eine dauerhafte Lösung kann es nur geben, wenn das kapitalistische Wirtschaftssystem mit all seinen Widersprüchen und verheerenden Auswirkungen radikal überwunden und durch ein neues, am Wohl der Menschen und der Natur orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ersetzt werden kann. Das grösste Hindernis auf diesem Weg besteht darin, dass solche Forderungen sogleich die Angst auslösen, eine Abkehr vom Kapitalismus würde zwangsläufig zu einem Rückfall in die Zeiten der DDR, der Sowjetunion und die sozialistische Planwirtschaft führen. Das ist ein gewaltiger Trugschluss. Denn es würde ja bedeuten, dass der Kapitalismus auf der einen Seite und die sozialistische Planwirtschaft auf der anderen die einzigen möglichen Wege seien, wie Wirtschaft und Gesellschaft sinnvoll organisiert werden können. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann dies: Dass sowohl der ungezügelte Kapitalismus wie auch die sozialistische Planwirtschaft Irrwege gewesen sind, die, aus unterschiedlichen Gründen, nicht wirklich zum Wohle der Menschen und ebenso wenig zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen geführt haben. Die Schlussfolgerung ist klar: Es braucht einen dritten, besseren Weg.

Ein dritter, besserer Weg, der die Vorteile bisheriger Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle verbinden und gleichzeitig ihre Nachteile überwinden müsste. Darüber müsste, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, eine intensive öffentliche Debatte beginnen, die sich nicht bloss auf das gegenseitige Auswechseln einzelner Parteien beschränken dürfte, auf gegenseitige Schuldzuweisungen und ein kleinliches Hickhack zwischen Besserwissern und Nochbesserwissern, die sich gegenseitig jedes Wort im Munde umdrehen und damit prahlen, alles wäre gut, wenn nur sie alleine alle Macht in ihrer Hand hätten. “In vormodernen Zeiten”, schreibt Yuval Noah Hariti in seinem Buch “21 Lektionen für das 21. Jahrhundert”, “haben die Menschen nicht nur mit verschiedenen politischen Systemen experimentiert, sondern auch mit einer verblüffenden Vielfalt wirtschaftlicher Modelle. Heute dagegen glaubt so gut wie jeder in leicht unterschiedlichen Variationen an das gleiche kapitalistische Thema und wir alle sind nur winzige Teile in einem einzigen globalen Räderwerk.”

57 private Krankenkassen und Managerlöhne von bis zu einer Million Franken: Was für ein Unfug…

 

Viele Familien, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 24. Mai 2023, wissen kaum mehr, wie sie ihre Krankenkassenprämien noch bezahlen sollen. Diesen Januar sind die Prämien um durchschnittlich 6,6 Prozent gestiegen und im Herbst wird Gesundheitsminister Berset einen weiteren markanten Schub bekannt geben müssen. Dessen ungeachtet klettern die Löhne der Krankenkassenchefs ungebremst in die Höhe: Andreas Schönenberger, CEO der Sanitas, erhielt im vergangenen Jahr 956’486 Franken – rund doppelt so viel wie ein Bundesrat. Auch die Löhne der übrigen Krankenkassenchefs – sämtliche Chefs der zehn grössten Krankenkassen verdienen mehr als ein Bundesrat – sind mehr als fürstlich.

Damit nicht genug. Der Luxus, den sich die Schweiz mit insgesamt 57 privaten Krankenkassen leistet – weltweit wohl ein Unikum – hat weitere gravierende finanzielle Konsequenzen. Denn jede dieser Krankenkassen braucht eine eigene Verwaltung, eigene Gebäude, eine eigene Infrastruktur. Zudem ist jede Kasse, um im Wettbewerb mit ihren Konkurrentinnen mitzuhalten und ihnen möglichst viele Kundinnen und Kunden abzujagen, gezwungen, erhebliche Mittel in die Werbung zu investieren. Schliesslich fallen in Form der Provisionen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Abwerben von Kundinnen und Kunden zugute kommen, weitere Kosten an. So ist es nicht verwunderlich, wenn allein für die Grundversicherung jährliche Verwaltungskosten von insgesamt 1,5 Milliarden Franken anfallen, während etwa die Suva als gesamtschweizerische Unfallversicherungskasse mit einem Drittel davon, nämlich 558 Millionen Franken, auskommt. 

Offensichtlich nehmen in der Schweizer Bevölkerung angesichts des explodierenden Prämiendrucks die Sympathien für eine staatliche Einheitskrankenkasse laufend zu. Bereits viermal wurde über die Einführung einer Einheitskrankenkasse abgestimmt: 1994 wurde das Anliegen mit 77 Prozent Neinstimmen abgelehnt, 2003 waren es 73 Prozent, 2007 71 Prozent und 2014 noch 62 Prozent. Eine gesamtschweizerische Umfrage im Jahre 207 ergab mit 67 Prozent Zustimmung erstmals eine Mehrheit für die Einführung einer Einheitskrankenkasse. Höchste Zeit also für eine fünfte und hoffentlich endgültig letzte Abstimmung über die Einführung einer Einheitskrankenkasse. Gleichzeitig müsste auch eine einkommensabhängige Abstufung der Prämien eingeführt werden. Denn nicht nur die Vielzahl an privaten, sich gegenseitig konkurrenzierenden Kassen bildet einen mit dem gesunden Menschenverstand schon längst nicht mehr nachvollziehbaren Anachronismus, sondern auch die – ebenfalls weltweit als Unikum geltende – Tatsache, dass alle – von der Putzfrau bis zum Bankdirektor – die gleich hohe Prämie zu bezahlen haben.

“Die Bevölkerung”, so schreibt die Branchenorganisation Santésuisse auf ihrer Webseite, “will Wettbewerb und Wahlfreiheit und kein Staatsmonopol.” Höchste Zeit, diese Behauptung anlässlich einer gesamtschweizerischen Urnenabstimmung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen… 

Sechs- oder mehrspurige Autobahnen oder wie ein zeitgemässes Gesamtverkehrskonzept auch noch ganz anders aussehen könnte…

 

Der Schweizer Bundesrat hat, wie das “Tagblatt” vom 11. Mai 2023 berichtet, eine Forderung der SVP übernommen: Die Autobahn A1 soll auf den Streckenabschnitten Bern-Zürich und Lausanne-Genf auf mindestens sechs Spuren ausgebaut werden. Gleichzeitig zeigen neueste Zahlen des Bundesamtes für Umwelt, dass der Verkehr für 30,6 Prozent aller Treibhausemissionen der Schweiz verantwortlich ist und 32 Prozent des gesamten Energieverbrauchs beansprucht. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Anzahl der immatrikulierten Personenwagen zwischen 2000 und 2022 um 33 Prozent zugenommen hat, während sich die Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum nur um 21 Prozent erhöht hat. Bereits ohne den geplanten Ausbau von Autobahnstrecken nimmt die Verkehrsinfrastruktur der Schweiz den im internationalen Vergleich überaus hohen Anteil von einem Drittel der gesamten Siedlungsfläche in Anspruch. 

Höchste Zeit für einen Marschhalt. Denn man braucht nicht allzu viel von Mathematik zu verstehen, um auszurechnen, wie sich alle diese Zahlen in den nächsten 10 oder 20 Jahren weiterentwickeln werden, wenn nicht grundsätzliche verkehrspolitische Weichenstellungen in eine andere Richtung erfolgen. 

Betrachten wir zunächst den Pendlerverkehr. Er ist dadurch bedingt, dass Wohnorte und Arbeitsorte zunehmend weiter voneinander entfernt sind. Arbeiten heute 71 Prozent der Berufstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde, waren es 1990 erst 58 Prozent. Dazu drei Gedanken: Erstens sollte ein so grosser Anteil der Arbeitswege wie nur möglich mit dem öffentlichen Verkehr abgewickelt werden. Zweitens sollten Arbeitswege, wo immer die Distanz es zulässt, mit dem Fahrrad oder zu Fuss erfolgen, was zwar möglicherweise mehr Zeit “verschlingt”, der Umwelt wie auch vor allem der individuellen Gesundheitsförderung umso mehr zugute kommt. Voraussetzung dafür wären ein grosszügig ausgebautes Radwegnetz und möglichst sichere Fusswege. Drittens, und dies wäre wohl die wirkungsvollste Massnahme, müsste alles daran gesetzt werden, dass Arbeitsorte und Wohnorte möglichst wenig voneinander entfernt wären. Dies lässt sich freilich nur erreichen durch eine gezielte Steuer-, Boden- und Wohnbaupolitik, würde aber nicht zuletzt die Lebensqualität all jener Pendlerinnen und Pendler massiv verbessern, die dann nicht mehr gezwungen wären, bis zu einem Viertel ihres Arbeitstages in einem überfüllten Zug oder Bus oder mit dem zermürbenden Warten in einer Autoschlange zu verbringen.

Ein weiterer grosser Anteil der Gesamtmobilität, nämlich rund 40 Prozent, geht auf das Konto des Freizeitverkehrs. Hier täte ein kritisches Hinterfragen so mancher liebgewonnener Gewohnheiten dringendst Not. Macht es wirklich Sinn, mit dem Auto zum Fitnessclub zu fahren, um dort seine Muskeln zu stärken, oder wäre es nicht gescheiter, sich seine Fitness mit täglichem Radfahren in der freien Natur aufzubauen? Liegt das Schöne immer nur in der Ferne oder gäbe es nicht auch in der nächsten Umgebung des eigenen Wohnortes noch viel Spannendes zu entdecken? Ist das Wandern oder Radfahren durch neue, unbekannte Landschaften nicht so viel erholsamer und erlebnisvoller, als wenn man bloss mit dem Auto in Windeseile alle verborgenen Schätze blindlings an sich vorbeisausen lässt?

Wir sind uns gewohnt, bei der Arbeit wie auch im Alltag, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erledigen. Wenn wir für eine Strecke von A nach B mit dem Auto 20 Minuten benötigen, mit dem öffentlichen Verkehr aber eine halbe Stunde, dann nehmen wir in aller Regel das Auto. Wir könnten aber auch den Zug nehmen und in dieser “verlorenen” Zeit ein Buch lesen und hätten die “verlorene” Zeit schon wieder gewonnen. So oft ist Zeit, die “verloren” zu gehen scheint, bei näherer Betrachtung Zeit, die man gewinnt. Wir brauchen, so irritierend das auf den ersten Blick klingen mag, eine neue Kultur der Langsamkeit. Der Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr erledigen, verprassen und geniessen zu wollen, wird uns an einen Punkt bringen, an dem das ganze System kollabiert und es am Ende überhaupt nichts mehr zu geniessen gibt. Schon heute verbraucht die Schweiz drei Mal so viel Energie und Ressourcen, als die Erde auf natürliche Weise im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag. Der Klimawandel, das Tier- und Pflanzensterben und der Verlust an Biodiversität bedrohen zunehmend unsere zukünftigen Lebensgrundlagen. Ob wir wollen oder nicht: Ohne ein radikales Hinterfragen unserer bisherigen Verschwendungssucht besteht wenig Aussicht darauf, dass all das, was uns heute noch selbstverständlich erscheint, auch in 10 oder 20 Jahren noch selbstverständlich sein wird.

“Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte Friedrich Dürrenmatt. Unsere Verkehrsgewohnheiten geben das beste Beispiel dafür ab. Das private Automobil, in grossem Stil aufgekommen nach dem Zweiten Weltkrieg, basiert auf dem Irrglauben grenzenloser Freiheit, die sich heute immer stärker als Illusion entpuppt, bedroht die “Freiheit” der einen doch in immer stärkerem Ausmass die Freiheit aller anderen. Der öffentliche Verkehr dagegen beruht auf der genialen Idee, dass Mobilität etwas ist, was “alle angeht” und daher auch nur “von allen gelöst” werden kann. Dies würde voraussetzen, das öffentliche Verkehrsnetz so weit auszubauen, dass das private Automobil früher oder später überflüssig geworden sein wird bzw. nur noch für jene Zwecke gebraucht wird, wo es keine sinnvolle Alternative gibt, also zum Beispiel für Ambulanzen, Polizei, Handwerker, Bau- und Transportgeschäfte, abgelegene Berggebiete, Transport älterer oder behinderter Menschen, usw. 

Eine logische Konsequenz aller dieser Überlegungen wäre die Einführung eines Nulltarifs im öffentlichen Verkehr. Denn rechnet man all die Kosten zusammen, die heute für den Bau und Unterhalt von Strassen, für die Herstellung und den Betrieb von Automobilen sowie für Massnahmen zu Umwelt- und Klimaschutz ausgegeben werden, so müsste die Finanzierung eines kostenlosen öffentlichen Verkehrssystems nicht allzu unrealistisch erscheinen. Und das Beste ist: Eine solches radikales Gesamtverkehrskonzept müsste von niemandem als Verlust, Verzicht oder Einschränkung empfunden werden, sondern wäre ein Gewinn für alle. 

KI – der fatale Traum milliardenfach sich replizierender Algorithmen und dass die von Menschen dominierte Geschichte an ihr Ende käme…

 

“Lernfähigkeit”, so Jürgen Schmidhuber, wirtschaftlicher Direktor des schweizerischen Forschungsinstituts IDSIA in Lugano, in der “NZZ am Sonntag” vom 30. April 2023, “ist in der Tat das zentrale Merkmal moderner künstlicher Intelligenz. Mit KI betriebene Netzwerke werden in absehbarer Zeit in der Tat bessere allgemeine Problemlöser sein als alle Menschen. Und eines Tages wird es viele Geräte geben, von denen jedes so viel rechnen kann wie alle zehn Milliarden Menschen zusammen. Sie werden sich nicht mit dem Leben auf der Erde zufrieden geben, sondern vielmehr an den unglaublichen Möglichkeiten im Weltraum interessiert sein. Sie werden auswandern wollen und mithilfe unzähliger sich selbst replizierender Roboterfabriken im All zuerst das Sonnensystem, dann die Milchstrasse und in zig Milliarden Jahren den Rest des erreichbaren Universums umgestalten wollen. Eine phantastische Entwicklung steht bevor. Die von Menschen dominierte Geschichte könnte sich dem Ende zuneigen.”

Die KI-Netzwerke sollen bessere Problemlöser werden als alle Menschen? Eine phantastische Entwicklung soll uns bevorstehen? Die von Menschen gemachte Geschichte soll sich dem Ende zuneigen? Was Schmidhuber hier beschreibt, ist nichts anderes als die perfekte Fortschreibung des Kapitalismus mit anderen Mitteln. Wurde bis anhin der Mensch durch vielfältigste Formen von Erziehung, Manipulation und Propaganda darauf getrimmt, im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem möglichst reibungslos und gewinnbringend zu funktionieren, so wird dieser Prozess nun mithilfe der Künstlichen Intelligenz sozusagen objektiviert, verabsolutiert, materialisiert und perfektioniert bis in die fernste Zukunft hinein, so wie eine alleinseligmachende Religion, zu der es keine Alternative gibt: Was KI denkt und tut – und uns Menschen in letzter Konsequenz überflüssig macht – kann ja nicht falsch sein, nur Menschen können Fehler machen und sich irren, nicht aber Maschinen und künstliche Denksysteme. Es ist der letzte Schritt zur Verabsolutierung und Verewigung des kapitalistischen Machtsystems und treibt alles Bisherige auf die äusserste Spitze. Die kapitalistische Ideologie des immerwährenden Wachstums und der unbegrenzten Welteroberung dehnt sich ins Unendliche aus und erobert selbst nicht nur die Milchstrasse, sondern “in zig Milliarden Jahren auch noch den ganzen Rest des erreichbaren Universums” in einer Welt, in der sich “die von Menschen dominierte Geschichte ihrem Ende zugeneigt haben wird.”

Doch wollen wir tatsächlich eine Welt, in der wir eines Tages überflüssig geworden sein werden? Kann und soll menschliche “Intelligenz” allen Ernstes dazu dienen, den Menschen überflüssig zu machen? Hätten wir nicht genug Probleme in unserer Zeit, die wir auch ganz ohne künstliche Intelligenz, bloss mit ein bisschen gesundem Menschenverstand, lösen könnten: Armut, soziale Ungleichheit, Hunger, Kriege, Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen? Die Verabsolutierung der künstlichen Intelligenz macht uns blind dafür, dass die wertvollsten menschlichen Eigenschaften eben gerade nicht jene sind, welche sich in Zahlen und Algorithmen ausdrücken und umrechnen lassen. Die wertvollsten menschlichen Eigenschaften, all jene, die tatsächlich zu einer Lösung all unserer drängenden Gegenwarts- und Zukunftsprobleme beitragen können, sind die soziale Empathie, das Mitleid, die Liebe, die Fürsorglichkeit, die menschliche Anteilnahme, die Phantasie, der Sinn für soziale Gerechtigkeit und der Humor, kurz: genau all das, was der künstlichen Intelligenz fehlt und sie daher so “unmenschlich” macht. Der Grundirrtum der künstlichen “Intelligenz” liegt nur schon in ihrer eigenen Selbstdefinition, in der Reduktion von “Intelligenz” auf den winzigsten – und zugleich unheilvollsten – Teil jener unfassbaren Vielfalt von Begabungen, zu denen Menschen fähig sind. Träumt Schmidhuber von einer Welt, in der “unzählige sich selber replizierende Roboterfabriken den Rest des erreichbaren Universums umgestalten werden”, so träume ich von einer Welt, in der das wertvollste Gut der Menschen, die Liebe, derart milliardenfach sich selbst replizieren wird, dass die Erde endlich jenes Paradies werden kann, das sich sie Menschen schon seit Urgedenken erträumt haben.