Spitzensport: perverseste Form des kapitalistischen Konkurrenzprinzips

Die 20-jährige US-Turnerin Melanie Coleman ist tot. Die Studentin der Krankenpflege war vergangene Woche in New Heaven (US-Bundesstaat Connecticut) während einer Trainingsübung am Stufenbarren vom Gerät gestürzt und hatte sich dabei lebensgefährliche Verletzungen an der Wirbelsäule zugezogen. Coleman, die als eine der besten College-Kunstturnerinnen der USA galt, erlag am Sonntag in der Klinik der massiven Schädigung des Rückenmarks. Das gab ihr Verein, die Southern Connecticut Owls, via Twitter bekannt.

(www.stern.de)

Nur logisch, dass es früher oder später so weit kommen musste. Dieses zerstörerische Konkurrenzprinzip, das sich durch alle Lebensbereiche und durch die gesamte Arbeitswelt des Kapitalismus hindurchzieht und im Spitzensport seine äusserste, perverseste Form erreicht. Wie viel Leiden, wie viele Qualen, wie viel Zerstörung braucht es noch, bis wir erkennen, dass die Menschen nicht dazu geschaffen sind, gegeneinander zu arbeiten, sondern miteinander und füreinander…

Erhöhung des Rentenalters: Das Gegenteil wäre logischer

Die am Montag publizierte jüngste Auflage des OECD-Länderberichts empfiehlt der Schweiz eine «nachhaltige Reform» der Altersvorsorge. Das allgemeine Normrentenalter solle schrittweise auf 67 steigen und dann im Einklang mit der Erhöhung der Lebenserwartung noch weiter zunehmen.

(www.nzz.ch)

 

Bald sind alle Häuser, wo es denn überhaupt noch Platz hat, fertiggebaut. Auch die Güter des täglichen Lebens sind in so verschwenderischer Fülle vorhanden, dass man kaum mehr etwas Zusätzliches produzieren muss. Und unzählige Arbeiten, die früher von Hand und mit menschlicher Arbeitskraft verrichtet wurden, werden heute von Computern und Maschinen erledigt. Zeit also, anzuhalten und auf das Erreichte voller Stolz und Zufriedenheit zurückzublicken. Logischerweise, da schon so vieles gemacht wurde, könnte man sich nun etwas Ruhe gönnen, sich mehr Freizeit leisten, längere Pausen machen, nur noch vier statt fünf Tage pro Woche arbeiten, längere Ferien machen, früher in Pension gehen. Doch absurderweise ist in der Realität genau das Gegenteil der Fall: Druck und Hektik am Arbeitsplatz nehmen immer mehr zu, im Büro, auf dem Bau, in den Spitälern, überall. Der Postbeamte hetzt im Sekundentakt von Haus zu Haus, die Kitaangestellte muss zehn statt sieben Kinder betreuen, der Journalist hat kaum mehr Zeit, für seine Artikel sorgfältig zu recherchieren. Und jetzt soll – gemäss Empfehlung der OECD – also auch noch das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben werden. Irgendetwas scheint da schiefgelaufen zu sein. Offensichtlich werden die Früchte nicht an jene verteilt, welche die Arbeit geleistet haben, sondern man presst sie wie Zitronen einfach immer weiter aus – je härter, je mehr und je länger sie schon gearbeitet haben, umso härter, mehr und länger sollen sie auch in Zukunft arbeiten, das Hamsterrad, das sich, je schneller man rennt, umso schneller dreht. Auf dass irgendwo, unsichtbar, die Früchte dann doch noch verzehrt werden, aber eben nicht von denen, die dafür geschuftet haben, sondern von denen, die das alles so eingerichtet haben, die Baustellen, die Fabriken, die Spitäler, die Supermärkte, das Hamsterrad, alles… 

Mehrheiten gegen den Kapitalismus

In den USA, dem Heimatland der freien Marktwirtschaft schlechthin, wird der Kapitalismus mittlerweile von einer Mehrheit der unter 30-Jährigen abgelehnt, wie eine Umfrage der Harvard University im Frühjahr 2017 zeigte. Ein Drittel der jungen Amerikaner bekennt sich gar zum Sozialismus. Auch in der Alten Welt genießt die Wirtschaftsform kein besonderes Ansehen. Nach einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Infratest ist jeder Europäer davon überzeugt, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führe. Jeder dritte Befragte gab außerdem an, dass er sich eine wirkliche Demokratie nur ohne Kapitalismus vorstellen könne. Die Wirtschaftsführer selbst sind sogar noch systemkritischer sind als ihre Mitbürger. Während immerhin 20 Prozent der Gesamtbevölkerung daran glauben, dass der globalisierte Kapitalismus die Kluft zwischen Arm und Reich mindern kann, sind die Vorstandschefs von den Segnungen noch weniger überzeugt. Lediglich 13 Prozent sagen, dass der Kapitalismus die soziale Schere schließt. Das hat eine Umfrage des Beratungsunternehmen PwC ergeben, die gleich zu Beginn des Weltwirtschaftsgipfels in Davos vorgestellt wurde. Woher die Kluft rührt? Vielleicht daher, dass die Konzernbosse eine genauere Vorstellung davon haben, was auf die Menschheit zukommt. «In vielen Ländern haben die meisten Menschen bisher ein recht beschauliches Leben mit gutem Lebensstandard führen können. Das wird leider nicht so bleiben», sagt Norbert Winkeljohann, der Deutschlandchef von PwC, mit Blick auf die Umwälzungen, die die digitale Revolution mit sich bringen wird. «Wirtschaftsführer weltweit ahnen, dass die aktuelle Situation vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm ist.»

(www.welt.de)

Was nichts anderes heisst, als dass politische Parteien, die sich klar und unmissverständlich für eine Überwindung des Kapitalismus aussprechen, schnell mal eine Anhängerschaft von mindestens 30 wenn nicht 40 Prozent aller Wählerinnen und Wähler haben müssten…

Eine Demokratie der verzauberten Bäume

Ob auf Wahlpodien, in Abstimmungszeitungen oder in Diskussionssendungen am Fernsehen: Kein Politiker fordert eine öffentliche Einheitskrankenkasse, obwohl sich eine solche auf die Gesundheitskosten ohne Zweifel überaus mässigend auswirken würde. Und keine Politikerin fordert ein generelles Waffenausfuhrverbot, obwohl es auch hierfür mehr als genug gute Gründe gäbe. Und schliesslich gibt es auch weit breit keinen Politiker und keine Politikerin, die eine Abschaffung der Schweizer Armee befürworten würde. Der Grund liegt auf der Hand: Über alle diese und vieleweitere Postulate wurde vor kürzerer oder längerer Zeit abgestimmt, sie fanden an der Urne keine Mehrheit, somit sind sie sozusagen abgehakt, erledigt

Doch das wirft ein paar grundsätzliche Fragen auf: Denn es ist ja nicht so, dass weit und breit niemand den betreffenden Abstimmungsvorlagen Sympathien entgegengebracht hätte. Im Gegenteil: Nicht selten betrug der Ja-Anteil 30 Prozent oder mehr, was nichts anderes heisst, als dass rund eine Million Schweizer und Schweizerinnen der betreffenden Vorlage zugestimmt hatten. So etwa erhielt 1987 die Initiative für eine koordinierte Verkehrspolitik 45,5 Prozent Ja-Stimmen. Der Armeeabschaffungsinitiative von 1989 stimmten 36 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zu. 33,3 Prozent sagten im Jahre 1998 Ja zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation. 2000 erhielt die Initiative für eine Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs – ein aus heutiger Sicht brandaktuelles Begehren – 21,3 Prozent Ja-Stimmen. 2001 würde über Tempo 30 generell innerorts abgestimmt, 20,3 Prozent waren dafür. Der Einführung einer sozialen Einheitskrankenkasse stimmten 2007 28,8 Prozent der Bevölkerung zu. 2007 wurde über eine Initiative gegen Tierquälerei und für einen besseren Rechtschutz der Tiere abgestimmt, 29,5 Prozent sagten ja. 2009 ging es um ein Verbot von Kriegsmaterialexporten, 31,8 Prozent waren dafür. Im gleichen Jahr hatten die Schweizerinnen und Schweizer über die Einführung von sechs Wochen Ferien für alle zu befinden, 33,5 Prozent fanden es eine gute Idee. Um die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken ging es 2012, 23,7 Prozent stimmten dieser Vorlage zu. 2014 kam es zu einer Neuauflage einer Einheitskrankenkassenvorlage, diesmal gab es immerhin bereits 38,1 Prozent Ja-Stimmen. Und schliesslich die Abstimmung über die Vorlage «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln», ebenfalls 2014, mit einem Ja-Anteil von 40,1 Prozent.

Was bedeutet dies? Es ist eine Demokratie der «Sieger», eine Demokratie der mathematischen Mehrheit, die, davon gehen wir offensichtlich aus, immer Recht hat. Die «Verlierer» bleiben auf der Strecke, ihre Argumente verschwinden in nichts, ihre Ideen, Wünsche und Visionen werden, selbst wenn sie einen Stimmenteil von 49,9 Prozent erzielt hätten, im Augenblick der Abstimmung, welche sie verloren haben, pulverisiert. Dabei haben sie sich mit den entsprechenden Vorlagen wohl ebenso gründlich auseinandergesetzt wie ihre politischen «Gegner», nur sind sie zu anderen Schlüssen gelangt. Wäre Demokratie nicht bloss die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, dann müsste man Mittel, Wege und Instrumente entwickeln, mit denen das Gedankengut, das Wissen, die Ideen und der Erfahrungsschatz der «Unterlegenen» in die jeweilige Ausgestaltung neuer gesellschaftlicher Konzepte einfliessen könnten.

Zurück zu unseren Politikern und Politikerinnen, die gewisse Themen gar nicht mehr ansprechen, weil sie bereits irgendwann durch eine entsprechende Volksabstimmung «erledigt» wurden. Das erinnert an Bäume, die verzaubert wurden. Und verzauberte Bäume berührt man nicht mehr. Mit anderen Worten: Man spricht nicht mehr von der Einführung einer Einheitskrankenkasse. Man spricht nicht mehr von der Abschaffung der Armee. Man spricht nicht mehr von einem generellen Ausfuhrverbot von Kriegsmaterial. Man spricht nicht mehr von sechs Wochen Ferien für alle. Man spricht nicht mehr von einem Mindestlohn für alle. Man spricht auch nicht mehr – obwohl dieses Problem dringender denn je einer Lösung bedarf – von einer Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs. Das alles sind Tabus, verzauberte Bäume. Eine fatale Entwicklung, führt sie doch dazu, dass immer mehr Bäume verzaubert sind und der Platz dazwischen, wo noch neue Bäume gepflanzt werden können, immer kleiner wird…

«Renn zur Million» – egal, was für einen Preis du dafür bezahlen musst

Sie war Sportsoldatin bei der Bundeswehr, professionelle Bobfahrerin und Teilnehmerin des diesjährigen Dschungelcamps. Doch so eine Blessur wie bei den Dreharbeiten zur ProSieben-Show «Renn zur Million … wenn Du kannst!» hat sich Sandra Kiriasis in ihrer gesamten Laufbahn nicht zugezogen. Die 44-Jährige stürzte aus drei Metern Höhe von einem Hindernis und rammte sich ihr Knie an das rechte Auge. «Beim Überqueren einer sich drehenden Walze bin ich abgerutscht. Während ich gefallen bin, dachte ich nur: Scheiße …! Leider hat es dann gekracht und ich hatte mein eigenes Knie am Kopf. Und ziemlich schnell bekam ich ein Riesen-Horn über der Augenbraue. Ich wurde direkt vor Ort versorgt und dann ins Krankenhaus gefahren und untersucht. Es war zum Glück nichts gebrochen», sagte Kiriasis.

(www.stern.de)

Kurz nach dem Vorfall beeilte sich der TV-Sender ProSieben mitzuteilen, dass in der abendlichen Ausstrahlung der Sendung der Sturz von Sandra Kiriasis in voller Länge gezeigt würde. Was die Einschaltquoten in die Höhe treibt, ist heilig. Und so wird die 44jährige Dschungelkämpferin in all den Sendungen, bei denen sie mitmachte, den betreffenden TV-Anstalten wohl um einiges mehr an Profit eingebracht haben, als sie jemals an Preisgeld bekommen wird. Schöne kapitalistische Welt. Und Millionen von Menschen schauen zu und haben ihre helle Freude daran…

Zwei Jobs und immer noch nicht genug zum Leben

Wenn andere ihren Feierabend geniessen, geht für E. (35) die Arbeit noch einmal von vorne los. Die Schweiz-Albanerin kümmert sich als Gouvernante um Zimmermädchen in einem Zürcher Nobelhotel, am Abend steht sie bei McDonald’s an der Kasse: «Das Geld reicht sonst nicht aus für unsere vierköpfige Familie. Ich sehe meine Kinder kaum. Wenn ich morgens um fünf Uhr aufstehe und zur Arbeit gehe, schlafen sie noch.» Da auch ihr Mann arbeitet, sind die Kinder oft auf sich alleine gestellt. «Einen betreuten Mittagstisch können wir uns nicht leisten.» Ganz ähnlich wie E. geht es immer mehr Menschen in der Schweiz: Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Im 1.Quartal 2019 hatten 393’000 Beschäftigte zwei oder mehr Jobs. Das sind 8,7 Prozent aller Arbeitnehmenden – so viele wie noch nie. Ihre Zahl steigt seit Jahren: Waren es 1991 noch rund vier Prozent, sind es heute mehr als doppelt so viele. Und: Frauen sind deutlich häufiger mehrfacherwerbstätig als Männer. Mehr als jede zehnte weibliche Berufstätige hat zwei oder mehr Jobs, von den Männern gerade mal jeder Zwanzigste. Am weitesten verbreitet ist Mehrfacharbeit unter Hilfskräften, namentlich in der Reinigungsbranche oder auf dem Bau. Die Gewerkschaften sprechen von «prekären Arbeitsverhältnissen» – prekär bedeutet so viel wie unsicher oder problematisch. Meist verdienen die Betroffenen mit nur einem Einkommen zu wenig zum Leben, sagt Gabriel Fischer von Travailsuisse: «Ein Job alleine reicht ihnen nicht.»

(www.blick.ch)

Verrückt. Selbst wenn E. sich in zwei oder mehr Jobs rund um die Uhr abrackert, verdient sie immer noch weniger als andere mit einem einzigen Job. Und während Spitzenlöhne explodieren, Aktienkurse und Dividenden in den Himmel steigen und sich ein wachsender Bevölkerungsteil Reicher und Reichster immer teurere Luxusvergnügungen leisten können, steigt gleichzeitig die Zahl jener, die, wie E., selbst von zwei Jobs ihre Familie kaum ausreichend ernähren können, immer weiter an. Das ist Kapitalismus pur: Je mehr Reichtum und Luxus sich auf den oberen Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide anhäufen, umso mehr fehlt es auf den unteren Rängen selbst am Lebensnotwendigsten. Zustände, die früher oder später eigentlich zu einer Revolution und einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse führen müssten…

Und die Kinder? Das sind dann genau jene, deren Eltern man als «bildungsfern» bezeichnet und denen man vorwirft, sie seien zu wenig präsent und würden sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Auf dass schön alles beim Alten bleibt und diese Kinder, wenn sie dann einmal erwachsen sind, wohl auch wieder in zwei oder drei Jobs arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen…

 

 

 

Mit «Goodies» Lehrlinge ködern

Wer bei Lidl die Lehre macht, bekommt vom Betrieb ein General-Abo geschenkt. Der Detailhändler erhofft sich damit, als attraktiver Ausbildungsbetrieb wahrgenommen werden – der Discounter hat für 2020 knapp 50 Lehrstellen zu besetzen. Doch Lidl ist nicht der einzige Händler, der solche Anreize bietet: Bei Coop gibts unter anderem einen Laptop-Gutschein im Wert von 500 Franken. Die Migros wirbt um Lernende mit zusätzlichen Ferien und finanziellen Vorteilen bei der eigenen Bank. Media-Markt gibt Lehrlingen einen Laptop, den sie nach dem Abschluss behalten dürfen. Manche Firmen locken sogar mit Geldprämien. Der Kleiderhändler Chicorée zahlt für besonders gute Noten Semesterprämien von bis zu 1100 Franken – und 600 Franken beim Lehrabschluss als Detailhandelsfachfrau. Auch bei Ikea Schweiz gibts bei guten schulischen Leistungen ein Geschenk – und Aldi Suisse stellt ausser Erfolgsprämien auch Reisegutscheine in Aussicht. Weshalb sind alle diese Firmen plötzlich so grosszügig? Die Antwort ist einfach: Es wird immer schwieriger, die offenen Lehrstellen im Bereich Detailhandel zu besetzen – derzeit sind schweizweit 7500 Lehrstellen offen und der Markt ist völlig ausgetrocknet.

(www.20minuten.ch)

Vielleicht müsste man sich, statt grosszügig Geschenke zu verteilen, einige grundsätzliche Fragen stellen. Denn der Lehrlingsmangel betrifft ja nicht nur den Detailhandel, sondern vor allem auch Handwerksberufe wie Sanitär, Maurer oder Elektromonteur, Coiffeuse und viele mehr. Drei Massnahmen könnten diesem Missstand Abhilfe schaffen: Erstens die Einführung eines Einheitslohns. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb eine Detailhandelsangestellte weniger verdienen soll als eine Juristin oder eine Kinderärztin – braucht es doch, damit Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes funktionieren, alle beruflichen Tätigkeiten und würde alles wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, wenn die auf den «unteren» Etagen Arbeitenden sich nicht Tag für Tag im Schweisse ihres Angesichts abplagten, um das Leben und Arbeiten auf den «oberen» Etagen überhaupt erst möglich zu machen. Zweitens: Alle beruflichen Tätigkeiten verdienen nicht nur den gleichen Lohn, sondern, damit verknüpft, auch das gleiche gesellschaftliche Ansehen. Es wäre dann nicht mehr eine Frage des «Prestiges», welchen Beruf ein junger Mensch ergreifen würde, ausschlaggebend wären einzig und allein das persönliche Interesse und die vorhandenen Begabungen und Talente. Drittens: Dem Lehrlingsmangel am wirkungsvollsten begegnen würde man mit einer Abschaffung der Gymnasien. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb nicht  jeder junge Mensch nach dem Abschluss der Volksschule eine praktische Berufslehre absolvieren sollte, ein Ausbildungsweg, der auf ideale Weise Praxis und Theorie miteinander verbindet – schon heute können sämtliche Berufe auf diesem Weg, mit entsprechender späterer Fort- und Weiterbildung erlernt werden. Das immense Potenzial arbeitsfähiger junger Menschen im Alter von 16 bis 20 Jahren könnte somit sinnvoll für Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden, statt in einer theoretischen und praxisfernen schulischen «Scheinwelt» zu verpuffen.

Eine Ladengasse in Thionville: Die unsichtbare Hand des Kapitalismus

Abendspaziergang durch Thionville (F). In einer Seitengasse des Stadtzentrums: Mindestens zwei Drittel der Geschäfte haben dichtgemacht. Entweder sieht man durch verstaubte Fensterscheiben in Berge herabgerissener Wände, Kabel, Farbkübel. Oder die Rollläden sind bis zum Boden heruntergelassen. Oder die Schaufenster sind gänzlich mit Brettern zugenagelt. Oder an den Türen hängen Plakate wie «Geschlossen», «Ladenlokal zu vermieten», «Verkaufsflächen verfügbar». Man kann den vergangenen Glanz einer schmucken Ladengasse mit einem überaus vielfältigen Angebot an Waren und Dienstleistungen nur erahnen. In vier oder fünf Jahren, wenn auch das letzte Geschäft in der Gasse geschlossen sein wird, wird ein Stadtführer seiner Touristengruppe erklären, dass hier dereinst Tausende Menschen von Geschäft zu Geschäft flanierten, Auslagen bestaunten und sich im einen oder anderen Café zum gemütlichen Schwatz niederliessen…

Hat jemals ein Bürgermeister, ein Stadtarchitekt, ein Städteplaner oder die davon betroffenen Häuserbesitzer, Geschäftsführer, Verkäuferinnen, Verkäufer oder die Kundschaft eines Tages beschlossen, dieser Ladengasse den Garaus zu machen? Natürlich nicht. Es ist alles von «selbst» so gekommen. Aber was heisst das: von «selbst»? Es ist die Macht des Geldes. Der Sog nach immer mehr und immer grösser und immer billiger. Kurz: die unsichtbare Hand des Kapitalismus. Schon längst hat der Mensch das Ruder aus der Hand gegeben, nicht nur was einst blühende Ladengeschäfte in unseren Grossstädten betrifft. Auch was den Verkehr betrifft. Auch was die weltweit fluktuierenden Finanzströme betrifft. Auch was die weltweiten Daten- und Informationsnetze betrifft. Der Mensch hat das Ruder aus der Hand gegeben im Vertrauen, dass es etwas Besseres und «Höheres» gibt als den menschlichen Verstand, nämlich den Freien Markt. Und dass alles, wenn man nur so viel als möglich diesem Freien Markt überlässt, am Ende ganz bestimmt gut herauskommt. Ich bezweifle, ob die ehemaligen Ladenbesitzer in Thionville, die Verkäuferinnen und Verkäufer und ihre Kundschaft das auch so sehen…

Griechenland: Im Würgegriff des Kapitalismus

Aus der Parlamentswahl in Griechenland am Sonntag ist die konservativ-liberale Nea Dimokratia (ND) als klarer Sieger hervorgegangen. Neuer Ministerpräsident wird der ND-Chef Kyriakos Mitsotakis. Der bisherige Premier Alexis Tsipras musste eine deutliche Niederlage einstecken. «Heute nehmen die Griechinnen und Griechen ihre Zukunft in die Hand», sagte Mitsotakis bei der Stimmabgabe. «Morgen wird ein besserer Tag für unser Land anbrechen.»

(W&O, 7. Juli 2019)

Ein besserer Tag für unser Land. Eine neue Zukunft. Genau das Gleiche versprach auch Alexis Tsipras dem griechischen Volk vor vier Jahren und wurde mit riesigen Erwartungen vor allem seitens der benachteiligten Bevölkerungsschichten zum Premierminister gewählt. Seither sind vier bittere Jahre vergangen und nahezu alle Versprechungen, die Tsipras gemacht hatte, haben sich in Luft aufgelöst: Die finanzielle Lage der unteren Einkommensschichten, der Mittelschicht wie auch der Rentner und Rentnerinnen hat sich weiter verschlechtert, bei der Grundversorgung wurde zusätzlich gespart und die Arbeitslosenquote beträgt immer noch 18 Prozent. Nun dürstet die ausgepowerte Bevölkerung nach neuer Hoffnung, diesmal in Gestalt der Nea Demokratia und ihres Führers Kyriakos Mitsotakis, der vergangenen Sonntag zum neuen griechischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Doch aller Voraussicht nach werden sich auch seine Versprechungen über kurz oder lang in Luft auflösen und nach weiteren vier Jahren wird eine abermals zutiefst enttäuschte Bevölkerung wiederum einem neuen Hoffnungsträger ihre Stimme geben. Ein Spiel, das endlos weitergeht und immer tiefere Wunden hinterlassen wird – so lange wir es nicht schaffen, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft auf eine von Grund auf neue, nichtkapitalistische Basis zu stellen, in der nicht mehr das Wohl von Banken, Börsen, Finanzinstitutionen, Vermögenden und Besitzenden an oberster Stelle steht, sondern das Wohl der ganz «gewöhnlichen» Menschen über alle Grenzen hinweg.

Härteste Arbeit trotz brütender Hitze: Das wahre Gesicht des Kapitalismus

Heute Nachmittag: über 38 Grad. Die heissesten Tage seit Jahren. Besonders krass trifft es die Strassenarbeiter. Und ganz schlimm ist es auch für die Dachdecker. «Heute Nachmittag», sagt einer von ihnen, «wird die Temperatur auf dem Dach bis zu 60 Grad ansteigen.» Doch weit und breit nichts von hitzefrei bzw. arbeitsfrei, auch nicht für ein paar wenige Stunden während der allergrössten Hitze.

(Radio SRF1, Nachrichten, 26. Juni 2019)

Hier zeigt der Kapitalismus sein wahres Gesicht. Die Profitmaximierungsmaschine darf keinen Moment stillstehen, im allgemeinen Konkurrenzkampf aller gegen alle gibt es keine Pausen. Wer das Tempo nicht mithält, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Dabei hat die Produktivität über die letzten Jahrzehnte um ein Vielfaches zugenommen – immer weniger Arbeiterinnen und Arbeiter erbringen eine immer grössere Leistung. Doch nichts davon scheint bei den Arbeiterinnen und Arbeitern anzukommen, sondern landet in immer grösserem Umfang in den Taschen der Reichen und Reichsten, aufgerechnet bei denen, die jetzt in klimatisierten Büros und Sitzungszimmern sitzen, während sich jene, die diesen Mehrwert und diese Profite überhaupt erst erwirtschaften, unter der brütenden Hitze mit härtester Arbeit zu Tode quälen.