Bahnhof St. Gallen, zwischen dem Ausstieg aus dem soeben angekommenen Zug und dem Weg zum Bahnhofplatz. Eine junge Mutter, sie schiebt den Kinderwagen mit ihrem Baby, neben ihr die etwa fünfjährige Tochter, die beim Schieben des Kinderwagens mithilft, Mutter und Kind plaudern eifrig. Einen halben Meter hinter ihnen der Papa, die Ohren zugepflastert mit einem grossen dicken Kopfhörer.
Mehr als 1000 Worte
Ich sitze in einem Zugabteil zusammen mit einer Mutter aus Japan mit ihren zwei Töchtern, die eine etwa zwölf, die andere etwa neun Jahre alt. Was für ein wunderbares, liebevolles und fröhliches Miteinander. Kaum sagt die eine etwas, lachen die beiden anderen aus vollem Herzen. Schöner kann man sich ein Zusammensein von drei Menschen gar nicht vorstellen. Und auf einmal kann ich nicht anders als ein wenig mitzulächeln, obwohl ich ja kein Wort verstehe. Die Kleine hat das augenblicklich wahrgenommen und wirft mir nun ihrerseits ein so herzliches Lächeln zu, als würde sie mich schon seit Jahren kennen. Jetzt spiegelt sich ihr Lächeln auch im Gesicht der Mutter und der Schwester. Und plötzlich bin ich für eine halbe Stunde Teil dieser Familie geworden. Als ich das Abteil verlasse, geben sie mir alle drei ein allerherzlichstes “Goodbye” mit auf den Weg. Wir haben zwar kein einziges “richtiges” Wort gewechselt, aber in unseren Blicken, unserem gegenseitigen Lächeln und einer tiefen, unaussprechlichen Verbundenheit ist zwischen uns vielleicht mehr entstanden als während einer stundenlangen Diskussion zwischen Menschen, die zwar die gleiche Sprache sprechen und wo jedes Wort seine ganz unmissverständliche Bedeutung hat, die aber dennoch so oft nie jene geheimnisvolle Tiefe erreicht, die ich in dieser halben Stunde Zugfahrt zwischen Pfäffikon und Zürich erfahren durfte.
Sturm der Globalisierung
Mit äusserster Anstrengung hievt Pflegehelferin Hristina aus Kroatien die in Israel geborene, schwer übergewichtige, 76jährige Avigail aus ihrem Bett in den Rollstuhl. In einem kurzen Moment des Innehaltens, bevor Avigail in ihren Rollstuhl fällt, blicken sich die beiden in die Augen. Avigail murmelt etwas in gebrochenem Englisch, Hristina versteht kein Wort. Beide sind nahe der Verzweiflung. Die eine, weil sie etwas sagen will, was die andere nicht versteht, diese wiederum, weil sie den Wunsch noch so gerne erfüllen würde, wenn sie denn nur den gemurmelten Wörtern einen Sinn abgewinnen könnte. Nur zwischen ihren Augen entsteht so etwas wie eine kurze Begegnung zwischen den nach der gleichen Liebe dürstenden Seelen zweier Menschen, die der Sturm der Globalisierung aus zwei entgegengesetzten Richtungen in das gleiche schweizerische Altersheim verschlagen hat, in dem sie sich nun sprachlos gegenüberstehen. Wäre das nicht geschehen, dann wäre Avigail bis zu ihrem Tod im Kreise ihrer Familie aufgehoben geblieben und Hristina hätte nicht alte und pflegebedürftige Menschen in einem fremden Land mit einer fremden Sprache gepflegt, sondern alte und pflegebedürftige Menschen in ihrem eigenen Land, dort, wo sie jetzt so schmerzlich fehlt, dass man schon Pflegepersonal aus Nepal und den Philippinen herbeizuholen begonnen hat, wo dieses dann umso schmerzlicher fehlt, bis am Ende nichts mehr übrigbleibt und der Sturm der Globalisierung auch noch die allerletzten Wurzeln, mit denen die Menschen und ihre Erde miteinander verbunden waren, ausgerissen hat.
Geschenke am Wegesrand
Eigentlich sollte hier kein Löwenzahn wachsen. Oben ist eine Mauer aus Steinen, unten ein dicker, undurchdringlicher Teerbelag. Und doch ist der Löwenzahn da. Wie ein ungewolltes Kind, das dennoch eines Tages in voller Pracht erblühen wird. Auch wenn alle sagen, es sei der falsche Ort und die falsche Zeit: Manchmal muss man es einfach trotzdem tun. Die unscheinbarsten Dinge erzählen uns oft die bedeutungsvollsten Geschichten.
Ein Lächeln
Flüchtig auf der Strasse begegne ich einer älteren Frau. Wir kennen uns nicht. Und doch ist da irgendetwas zwischen uns. Irgendein kurzer Augenblick. Kein “Grüezi”, keinen “Guten Tag”, kein “Hallo”. Nur ein kurzer Augenblick. Unsere Blicke treffen sich, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, ich lächle zurück. Fast nichts. Und doch bleibt beim Weitergehen in mir so etwas wie ein ganz kleines Feuer, das weiterbrennt, noch eine Zeitlang. Immer besser verstehe ich die Kinder, wenn sie sich, auch wenn die Erwachsenen dies von ihnen erwarten, dagegen wehren, “Grüezi”, “danke” oder “bitte” zu sagen. Weil sie wahrscheinlich spüren, dass ehrliche Gefühle so viel stärker sind als Worte, die man bloss sagt, weil alle anderen sie auch sagen. Mit ihren Augen, einem kurzen Blick, einem herzlichen Lachen werden sie dir, vielleicht erst später und zu einem “falschen” Zeitpunkt, ihre Dankbarkeit, ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe zeigen, ganz spontan und aus ihrem tiefsten Wesen. Man kann auch mit Worten Gleichgültigkeit zeigen. Und man kann auch ohne Worte Liebe zeigen und in kurzen Augenblicken des Alltags kleine Wunder vollbringen…
Unbezahlbar
Nein, das ist nicht das Gemälde eines berühmten Künstlers oder einer berühmten Künstlerin in einem Museum. Es ist schlicht und einfach der Blick aus meinem Bett durch das Dachfenster in den Himmel. Ein Bild, das sich in jeder neuen Sekunde neu kreiert, nie gleich ist, nie auch nur von einem einzigen Menschen auf der ganzen Welt genau so gesehen worden ist, wie ich es jetzt hier und in dieser Sekunde genau so sehe. Faszinierender als alle Bilder in allen Museen der Welt. Einzigartig. Einmalig. Unbezahlbar und doch kostenlos.
Ein Königreich aus Holz
Meine Enkelkinder haben aus den simplen Holzbauklötzen, die noch aus dem letzten Jahrtausend stammen, ein wunderbares Königreich gebaut und dazu eine riesige Rahmengeschichte erfunden. Kein noch so ausgeklügeltes Techno-Spielgerät, kein noch so raffiniertes Lego-Set, nichts, womit sich die Spielzeugindustrie ihre goldenen Nasen verdient, hätte ihre Kreativität nur annähernd so wunderbar anregen können…
Blablabla
Während Papa und Opa wieder einmal heftig über den Nahostkonflikt diskutiert hatten und es beinahe zu einem Streit gekommen wäre, war Livia verstummt. Dann zeigte sie uns die Zeichnung, die sie in der Zwischenzeit gemacht hatte: „Schaut, während ihr Blablabla gemacht habt, habe ich das gemacht.“ Es war ein hübsches buntes Bild, mit Herzchen in verschiedenen Farben, in der Mitte ein lustiges Wort, das sie aus den Buchstaben, die sie schon kennt, zusammengebastelt hatte, vielleicht, aus ihrer Sprache übersetzt, das Wort für FRIEDEN. Ich war sprachlos.