Carola Rackete: Verkehrte Welt

In der Nacht auf den 29. Juni durchbricht Carola Rackete, die junge deutsche Kapitänin des Flüchtlingsschiffs Sea-Watch 3, nach einem langen Patt mit 40 Migranten die Hafenblockade in Lampedusa. Der Notstand an Bord sei nach siebzehn Tagen auf See untragbar geworden, so Rackete. Es sei zu befürchten gewesen, dass sich einige ihrer Passagiere aus Verzweiflung das Leben nehmen würden. Darum habe sie beschlossen, ohne Erlaubnis in den Hafen zu fahren. Unmittelbar darnach wird Carola Rackete verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Nun wartet sie auf den Bescheid aus dem zuständigen Gericht von Agrigent. Bereits angeklagt ist sie für mögliche «Begünstigung der illegalen Einwanderung», ein Vergehen, das nach italienischem Recht mit bis zu 15 Jahren Gefängnis geahndet werden kann. Zudem riskieren Rackete und die Sea-Watch 3 eine Geldstrafe von bis zu 50’000 Euro, weil sie das Anlegeverbot missachtet haben. Sollte hingegen im besten Falle am Ende nichts an Rackete hängen bleiben, könnte sie immer noch des Landes verwiesen werden. Für fünf Jahre könnte der italienische Innenminister Salvini die Kapitänin aus Italien verbannen – «aus Gründen der nationalen Sicherheit».

(Tages-Anzeiger, 1. Juli 2019)

Seit 500 Jahren ist Afrika jeden Tag ein bisschen ärmer geworden, damit Europa ein bisschen reicher werden konnte. Endlos ist die Geschichte von den Gemetzeln an der afrikanischen Urbevölkerung, von der Versklavung unzähliger Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen, von der gnadenlosen Ausbeutung afrikanischer Bodenschätze und der millionenfachen Abholzung der afrikanischen Wälder. Mit dem, was der europäische Mensch dem afrikanischen Menschen im Laufe dieser Zeit angetan hat, könnte man nicht bloss ganze Bücher, sondern sogar ganze Bibliotheken füllen. Und obwohl alle diese Verbrechen, all dieser Völkermord, die Plünderei und die Versklavung eines ganzen Kontinents durchaus mit den Greueln des Nationalsozialismus zu vergleichen sind, hat, was die Ausplünderung Afrikas betrifft, nie auch nur ansatzweise eine so umfassende historische Aufarbeitung und Wiedergutmachung stattgefunden, wie dies beim Nationalsozialismus der Fall ist. Weshalb? Weil das nationalsozialistische Machtsystem zusammenbrach und es einen radikalen Neuanfang gab, während die Ausbeutung Afrikas nie ein Ende gefunden hat, sondern auch in unseren Tagen nahezu ungehindert weitergeht. Nur so ist die Absurdität zu erklären, dass man einerseits all jene Menschen, welche der jüdischen Bevölkerung während der Nazizeit zur Seite standen oder ihnen zur Flucht aus Deutschland verhalfen, heute als Heldinnen und Helden feiert, während man eine junge deutsche Kapitänin, die genau das Gleiche tut – nur dass es diesmal keine Juden sind, sondern Afrikanerinnen und Afrikaner -, ins Gefängnis wirft….