Brexit: Man schlägt den Sack und meint den Esel

 

Die Lage spitzt sich zu: Nach wie vor können sich Grossbritannien und die EU nicht auf einen Rahmenvertrag einigen, der nach dem “Brexit” an die Stelle der früheren EU-Mitgliedschaft treten soll. Bereits hat Grossbritannien für den Fall eines No Deal spezielle Notstandsmassnahmen geplant: Vier Fährunternehmen sind angeheuert worden, um das Land im Notfall mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. 2000 Grenzbeamte sollen zusätzlich an Zollpunkten eingesetzt werden können. Testläufe zum Freihalten wichtiger Verkehrsadern zum Ärmelkanal haben begonnen. In Whitehall ist eine generalstabsmässige Übung mit Staatsbeamten aus 16 Ministerien geplant. Und es ist sogar schon von “Krieg” die Rede: Vier Kriegsschiffe sind bereit, um gegen Fischerboote aus EU-Ländern vorzugehen, die in britische Küstengewässer einzudringen versuchen. Doch wie hat das alles eigentlich begonnen? Wer wollte ihn und weshalb und wie kam es dazu, zu diesem bei einem so grossen Teil der britischen Bevölkerung trotz aller damit verbundener Widerwärtigkeiten so populären “Brexit”, in dessen Sog auch Boris Johnson an die Macht katapultiert wurde? Michael J. Sandel gibt dazu in seinem neuen Buch “Vom Ende des Gemeinwohls” eine interessante Erklärung: “Wie der Triumph des Brexit in Grossbritannien war auch die Wahl Donald Trumps ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit und eine Version der Globalisierung, die nur denen dient, die ohnehin an der Spitze stehen, normale Bürger aber mit einem Gefühl von Machtlosigkeit zurücklässt.” Man könnte hier auch noch die “Alternative für Deutschland”, die “Gelbwesten” in Frankreich oder populistische Strömungen wie zum Beispiel in Italien erwähnen. Stets geht es um das Gleiche: Bürgerinnen und Bürger, die unter zunehmend schlechteren Bedingungen leben müssen, sind wütend. Und gegen wen richtet sich ihre Wut? Natürlich gegen die “Eliten”, die auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten nach wie vor in Saus und Braus leben. Oder, im Falle von Grossbritannien, gegen das “Monster”, als welches die EU in den Augen so vieler Briten und Britinnen erscheint. Es ist ja auch kein Zufall, dass sich vor allem schlecht verdienende und sozial benachteiligte Briten und Britinnen für den Brexit aussprachen, mit dem Brexit erhofften sie sich nicht nur mehr Freiheit und Unabhängigkeit, sondern vor allem auch eine Verbesserung ihrer sozialen Situation. Doch genau dies könnte sich als Bumerang erwiesen. Denn im Grunde geht es nicht um die EU oder um diese oder jene Elite. Im Grunde geht es um den Kapitalismus. Mit oder ohne EU, mit oder ohne Boris Johnson, mit oder ohne Brexit, mit oder ohne Angela Merkel, mit oder ohne Donald Trump, mit oder ohne Joe Biden wird es den Menschen nicht wirklich viel besser oder viel schlechter gehen. Denn wer immer um sich schlägt, wer immer auch wütend ist und seine Fäuste ballt: Er schlägt immer nur den Sack, aber meint eigentlich den Esel. Und dieser Esel, das ist das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seiner, wie Sandel sagt, “über Jahrzehnte gewachsenen Ungleichheit und jener Version der Globalisierung, die nur denen dient, die ohnehin an der Spitze stehen, normale Bürger aber mit einem Gefühl von Machtlosigkeit zurücklässt.” Eigentlich ist es absurd. Das Problem, die Ursache von allem ist – von der wachsenden sozialen Ungleichheit bis zur Klimaerwärmung – der Kapitalismus. Logischerweise müsste das linken, antikapitalistischen politischen Kräften am meisten Auftrieb geben. Stattdessen beherrschen aber populistische Parteien, Bewegungen und Politiker das Feld. Höchste Zeit, dass sich die Linke neu erfindet. Aber nicht, indem sie sich an das herrschende Machtgefüge anpasst. Sondern indem sie deutlicher und klarer denn je glaubwürdige Alternativen zu einem auf reines Macht- und Profitdenken, endlosen Wachstumswahn und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ausgerichteten Wirtschaftssystem aufzeigt. Dass es genau für eine solche Politik Mehrheiten geben müsste, zeigt eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Meinungsumfrage, wonach 56 Prozent der Befragten fanden, der Kapitalismus sei insgesamt eher schädlich als nützlich. Vermutlich käme eine solche Befragung auch dann nicht viel anders heraus, wenn man sie in Grossbritannien, Spanien oder den USA durchführen würde, von Brasilien, Indien oder Mali gar nicht erst zu reden…