Brexit: Das gute Leben

Es nützte nichts, dass der Speaker des britischen Unterhauses mit rotem Kopf immer wieder «Order! Order!» in die altehrwürdige Westminster Hall rief. Die Szenen blieben chaotisch. Tag für Tag mühten sich die Abgeordneten diese Woche mit Abstimmungen ab, nur um am Ende zur frustrierenden Erkenntnis zu gelangen, dass der Brexit-Albtraum weitergeht. Keine zwei Wochen vor dem offiziellen Austrittsdatum ist immer noch unklar, wann, wie und ob die Briten die EU verlassen. Der Brexit hat das politische Gefüge Grossbritanniens zertrümmert. Er hat das Land zweigeteilt. 51,9 Prozent stimmten am 23. Juni 2016 für den EU-Austritt, 48,1 Prozent dagegen. Der Spalt ging durch Familien, Generationen, Regionen und Schichten. Die Frage der EU-Mitgliedschaft hat die Parteien fragmentiert und die Politik paralysiert. In Grossbritannien, dessen politisches System auf Mehrheiten basiert, gab es plötzlich keine Mehrheiten mehr. Das Unterhaus ist seit zwei Jahren ausserstande, einen Konsens zu finden über die Zukunft das Landes.

(NZZ am Sonntag, 17. März 2019)

Letztlich ist das ganze Gerangel um den Brexit eine reine Scheindiskussion. Auch die Britinnen und Briten – wie die Bewohnerinnen und Bewohner aller Länder – wollen nicht anderes als ein gutes Leben: faire Arbeitsbedingungen und Löhne, ausreichende Renten, eine gute medizinische Versorgung, das Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Nun ist es einfach so, dass 51,9 Prozent der Bevölkerung denken, dass sich das gute Leben ohne EU besser erreichen lässt, während die übrigen 48,1 Prozent vom Gegenteil überzeugt sind. Bei alledem geht vergessen, dass sowohl Grossbritannien wie auch die EU kapitalistische Gebilde sind und alle sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Brennpunkte nicht so sehr eine Frage der EU sind, sondern vielmehr eine Frage des Kapitalismus. Um das gute Leben zu verwirklichen, müsste man daher nicht so sehr über den Verbleib oder den Austritt aus der EU debattieren, sondern über den Verbleib oder den Austritt aus dem Kapitalismus. Sonst könnte es schon bald zu einem bösen Erwachen kommen: Grossbritannien verlässt die EU, aber im Wesentlichen bleibt alles beim Alten und das gute Leben wird weiterhin auf sich warten lassen, weil Grossbritannien auch nach dem Austritt aus der EU weiterhin ein durch und durch knallhartes kapitalistisches Land bleiben wird, mit zunehmender sozialer Ungleichheit, Ausbeutung der Arbeitenden und der Armen durch die Reichen und Besitzenden und einer unbeirrt an Profit- und Wachstumszwang orientierten Wirtschaft.