Boris Johnson: “Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen”

 

“Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen”, sagt der britische Premierminister Boris Johnson in der “Sunday Times” vom 18. Juni 2022. Das scheinen eine wachsende Zahl ukrainischer Soldatinnen und Soldaten nicht ganz genau gleich zu sehen: Gemäss Berichten des Washingtoner Instituts für Kriegsstudien und des britischen Militärgeheimdienstes hätte das ukrainische Militär angesichts der materiellen Unterlegenheit und daraus resultierenden explosionsartigen Verlustzahlen zunehmend Probleme, die Fälle von Desertionen nähmen von Woche zu Woche zu. Aber auch bei den russischen Truppen sei eine sinkende Moral festzustellen, es komme ebenfalls gehäuft zu Desertionen. So ist es mehr als zynisch, wenn Johnson von einem “langen Krieg” spricht, für den “wir uns stählen müssen.” Wer ist mit “wir” gemeint? Ist es Boris Johnson und all die gut geschützten und in Sicherheit lebenden Politiker und Politikerinnen jener westlichen Staaten, deren Ziel es ist, den russischen Truppen eine vernichtende Niederlage zuzufügen und sie zur Gänze aus dem ehemals ukrainischen Staatsgebiet hinauszudrängen – was nur, wenn überhaupt, möglich ist mit dem Einsatz schwerster militärischer Mittel und dem Tod Zehntausender Soldatinnen, Soldaten und Zivilpersonen? Oder ist mit “wir” die ukrainische Zivilbevölkerung gemeint, von denen wohl die meisten nichts anderes wollen, als schlicht und einfach in Frieden zu leben? Oder sind mit “wir” die Soldatinnen und Soldaten gemeint, die gezwungen sind, andere Menschen zu töten, bloss um nicht selber umgebracht zu werden in einem Krieg, der auf beiden Seiten eine immer grössere Zahl von Opfern fordert und dem “Sieger”, wer immer auch das sei, nichts anderes hinterlässt als verbrannte Erde, menschenleere Siedlungen und eine alles Leben verschlingende Spur der Verwüstung? Ein “wir” gibt es schon lange nicht mehr. Das “wir” gaukelt bloss ein gemeinsames Interesse aller Menschen vor, tatsächlich aber ist die Menschheit gespaltener denn je. Noch immer, wie im 17. und 18. Jahrhundert, gibt es die “Kriegstreiber” und das “Kanonenfutter”, diejenigen, die befehlen, und diejenigen, die zu gehorchen haben, diejenigen, die profitieren, und diejenigen, die dafür mit ihrem Leben bezahlen. Egal ob die politischen Führer des Westens oder Wladimir Putin: Sie alle scheinen ein elementares Interesse daran zu haben, einen fürchterlichen Krieg zu “gewinnen” – der Macht zuliebe, dem Prestige zuliebe, wirtschaftlichen Interesse zuliebe. Aber nicht den Menschen zuliebe, die in diesem Krieg ihre Heimat, ihre Existenz, ihre Eltern, ihre Kinder oder gar ihr eigenes Leben verlieren. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass die Demokratie – würde man sie wirklich ernst nehmen – eine der grössten Errungenschaften der Menschheit ist. Nicht eine Scheindemokratie, in der man zu allen möglichen Nebensächlichkeiten seine Stimme abgeben darf. Sondern eine echte Demokratie, in der die Bevölkerung auch befragt wird, ob sie Krieg oder Frieden will. Ich bin fast ganz sicher, dass weder die russische Bevölkerung noch die ukrainische noch die deutsche noch die italienische sich mehrheitlich für den Krieg aussprechen würde. Jedes Volk ist im Grunde friedliebend, wie auch jeder Mensch im Grunde gut ist – das vergisst man in diesen dunklen Zeiten leider nur allzu oft. Der von den USA 2003 gegen den Irak angezettelte Krieg ist das beste Beispiel: Meinungsumfragen in den USA zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Krieg wollte. Erst als von der US-Regierung die Lüge verbreitet wurde, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, kippte die öffentliche Meinung. Das zutiefst Ungerechte ist, dass ausgerechnet die, welche den Krieg wollen, am Ende ungeschoren davon kommen oder sogar einen persönlichen Nutzen daraus ziehen, während all jene, die den Krieg nicht wollen, mit der Zerstörung ihrer Heimat oder mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen.

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den
Krieg”, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, “bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die,
die nicht hingehen müssen.”