Gross war auch in der Schweiz in linken und intellektuellen Kreisen das Entsetzen über die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Gründe dafür wurden hauptsächlich bei den viel zu vielen “ungebildeten” Menschen gesucht, die sich von diesem “Populisten” und “Demagogen” – einige bezeichnen ihn sogar als “Faschisten” – hätten über den Tisch ziehen lassen. Nur von Selbstkritik war praktisch nichts zu hören.
Dabei wäre es aus linker und intellektueller Sicht höchste Zeit, sich auch ein paar selbstkritische Fragen zu stellen. War Kamala Harris tatsächlich eine glaubwürdige Alternative? Wie geschickt haben sich die Linken und Intellektuellen im Wahlkampf verhalten? Müsste man nicht, statt sich in oberflächlichen Schuldzuweisungen zu verlieren, grundsätzlich die Frage stellen, in was für einer Welt wir denn eigentlich leben und weshalb so viele Menschen offensichtlich schon so verzweifelt sind, dass sie in Politikern wie Donald Trump so etwas wie die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben setzen? Müsste man dann nicht, wenn man dieser Frage konsequent nachginge, früher oder später zum Schluss gelangen, dass die Schuld an allem vermutlich nicht vor allem bei einem besonders “demagogischen” Präsidentschaftskandidaten und einem angeblich “ungebildeten” und “manipulierbaren” Volk liegt, sondern möglicherweise viel eher bei einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches auf eine immer grössere soziale Ungleichheit, ein immer unverschämteres Hinabdrücken und eine immer arrogantere Entmündigung jener Abermillionen von Menschen hinausläuft, die mit ihrer täglichen Schufterei das ganze Gebäude, auf deren obersten Etagen sich neben den Reichen und Reichsten auch die überwiegende Mehrheit der sogenannten Linken und Intellektuellen sonnen, überhaupt noch vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren? Wenn dann ausgerechnet jene, die von der Schufterei und dem täglichen knallharten Überlebenskampf derer an den untersten Rändern der Gesellschaft profitieren und sich auf deren Kosten jeden noch so unnötigen Luxus leisten können, diese dermassen Ausgebeuteten, wie das Joe Biden gegen Ende des Wahlkampfs tat, als “Müll” bezeichnen, dann muss das Fass überlaufen.
Mittlerweile hat sich, genährt durch Armut, Ausbeutung, fehlende Wertschätzung, laufend steigende Lebenskosten und die permanente Konfrontation mit jenen privilegierteren Gesellschaftsschichten, die einen viel schöneren und weniger belasteten Alltag vorleben – den man selbst bei grösster Anstrengung nie erreichen und gegenüber dem man lebenslang im Hintertreffen bleiben wird – ein immenses revolutionäres Potenzial aufgebaut. Und genau dieses scheint nun Trump ganz einfach besser abgefangen zu haben als seine Kontrahentin – indem er sich als Systemkritiker und Gegner des “Establishments” darstellte – obwohl er freilich selber auch ein Teil davon ist -, während Kamala Harris keine eigenen Visionen entfaltete, sondern bloss nachplapperte, was unzählige andere Politikerinnen und Politiker des herrschenden Mainstreams schon lange zuvor vorausgeplappert hatten und höchstwahrscheinlich auch weiterhin ausplappern werden. Die Unzufriedenheit in den benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist mittlerweile dermassen gross, dass nur ein Politiker oder eine Politikerin, die Hoffnung auf “neue” und “andere” Zeiten zu wecken vermag, Chancen hat, gewählt zu werden. An jeden noch so kleinen Strohhalm würden sich die Menschen klammern, bloss um die Hoffnung nicht zu verlieren, dass sich etwas ändern wird – denn eigentlich, denken sie, kann es nur besser werden. Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Denn auch Trump wird nicht viel zu verändern vermögen, solange nicht das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell grundlegend überwunden wird. Und so stürzen die Menschen von einer Hoffnung zur nächsten und sind jedes Mal von Neuem enttäuscht, wenn sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen. So wie damals bei Barack Obama, in den insbesondere die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner immense Erwartungen gesetzt hatten, um anschliessend umso mehr enttäuscht zu sein und nicht mehr eine Demokratin – Hillary Clinton – zu wählen, sondern, mit Donald Trump, einen Republikaner. Gleichzeitig versinken durch diese wiederholten Enttäuschungen und zerstörten Hoffnungen immer mehr Menschen in Resignation und Verzweiflung.
“Es ist die Rache ganz normaler Leute”, sagt Scott Jennings, einst Berater von Ex-Präsident George W. Bush, “die zermürbt und beleidigt wurden. Sie sind kein Müll, keine Nazis. Sie sind einfach gewöhnliche Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten. Diesen Leuten hat man zu erkennen gegeben, dass sie den Mund halten sollen. Dabei haben sie sich nur über Dinge beklagt, die sie im Alltag belasten: Hohe Preise, Kriminalität, die Folgen illegaler Einwanderung.” Sie fühlen sich von den geistigen “Eliten”, den Akademikerinnen und Akademikern, den etablierten, gutverdienenden und bloss auf den Erhalt ihrer eigenen Privilegien und Machtpositionen bedachten Politikerinnen und Politikern im Stich gelassen. Das heisst nicht, dass eine Linke, die wieder erfolgreich politisieren will, auf jede Forderung und sämtliche Ängste der Bevölkerung “populistisch” und unkritisch eingehen müsste. Aber sie müsste alles daran setzen, sich für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und das Wohl der Einzelnen einzusetzen. Und gleichzeitig müsste sie darüber aufklären, dass beispielsweise Kriminalität stets gesellschaftliche Ursachen hat und auch Migrantinnen und Flüchtlinge nichts anderes sind als Opfer des gleichen, auf 500 Jahren Ausbeutung und Kolonialismus beruhenden kapitalistischen Wirtschaftssystems und dass eine nachhaltige Lösung nicht darin bestehen kann, rund um die reichen Länder herum immer höhere Mauern zu bauen, sondern nur darin, eine weltweit gerechte Wirtschaftsordnung aufzubauen, so dass niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat zu verlassen, bloss um einigermassen überleben zu können.
Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft, die einen Politiker wie Donald Trump zu ihrem Präsidenten wählen, sind nicht dumm. Im Gegenteil, sie durchschauen in aller Regel die Machtspiele der Reichen und Mächtigen sehr genau, besser sogar als all jene, die ein Leben lang – abgeschirmt vom täglichen Überlebenskampf auf der Strasse oder in herabgekommenen Wohnquartieren oder bei Arbeitstagen von 14 Stunden in Fabriken oder auf Gemüsefeldern bei Hitze und Kälte – in irgendwelchen Universitäten herumsitzen und so komplizierte Studien und Bücher verfassen, dass ein normaler Mensch sie nicht einmal verstehen, geschweige denn ihnen irgendeinen Sinn abgewinnen kann. Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft würden auch Politikerinnen und Politkern wie Nelson Mandela, Martin Luther King oder Lula da Silva ihre Stimme geben. Aber wenn sie nur die Auswahl zwischen Donald Trump und Kamala Harris haben, dann wählen sie halt das kleinere Übel, und das ist eben der, welcher ein bisschen stärker auf die Pauke haut.
Das gilt ja alles nicht nur für die USA. Wie ja auch der Kapitalismus nicht nur in den USA wütet und immer verrücktere Blüten treibt, wenn auch dort besonders schlimm. Auch die deutsche AfD ist ein Auffangbecken für die immer zahlreicheren Opfer dieses auf reine Profitmaximierung und Ausbeutung von Mensch und Natur fixierte Wirtschaftsmodell, dessen Widersprüche immer klarer zutage treten. Und auch in Deutschland wird die Wut derer, die sich dagegen aufbäumen, nur immer noch stärker, wenn sie von den herrschenden Eliten als dumm, manipulierbar oder gar faschistisch beschimpft werden, ausgerechnet von jenen Eliten, die im Namen von “Demokratie” und “Menschenwürde” mit moralischem Zeigefinger gegen ihre politischen Kontrahenten auftreten, tatsächlich aber nichts anderes sind als Komplizen eines gnadenlosen weltweiten Ausbeutungssystems, an dessen oberem Ende sich immer mehr Multimilliardäre ansammeln und an dessen unterem Ende jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs qualvoll sterben müssen, weil sie nicht genug zu essen haben.
Auch der Erfolg der schweizerischen SVP beruht nicht nur auf falschen Versprechen und falschen Hoffnungen, sondern vor allem auf dem Versagen jener linken politischen Kräfte, die sich schon längst von ihren ursprünglichen revolutionären Idealen verabschiedet, sich himmelweit von den Sorgen und Nöten der “einfachen” Menschen entfernt haben und sich lieber in ihre Ferienhäuschen in der Toscana zurückziehen, um dort und an vielen anderen genussvollen Orten von all den Privilegien zu profitieren, welche ihnen das sich nahtlose Einfügen in das kapitalistische Machtsystem beschert hat.
Wie sehr die Linke ihren ursprünglichen revolutionären Schwung verloren hat, zeigt sich ja auf geradezu absurde Weise bei all jenen Themen, auf die sie sich in letzter Zeit immer akribischer fokussiert. Doch mit Gendersternchen lässt sich nun mal weder das Patriarchat noch der mit ihm unauflöslich verbundene Kapitalismus mit sämtlichen seiner Ausbeutungsmechanismen wirkungsvoll überwinden. Und das müsste doch das eigentliche Hauptziel einer glaubwürdigen Linken sein. Und steht sogar immer noch, wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, im Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei…
Die Revolution kann man nicht mieten, um sie für immer zu behalten. Man muss sie immer wieder neu erkämpfen, jeden Tag ab dem Punkt Null. Jetzt gerade droht das in allen Menschen im tiefsten Inneren steckende revolutionäre Potenzial, die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, Frieden und einem guten Leben für alle, der Linken ganz gehörig zu entgleiten und in die Hände der Rechten geraten zu sein. Will sie es wieder zurückholen, muss sie sich ganz gehörig auf die Socken machen. Denn die unten sind längst bereit. Nur die oben haben immer noch nicht begriffen, dass die Zukunft der Menschheit nicht in Raffgier und Macht um der Macht willen liegen kann, sondern nur darin, alles Vorhandene möglichst gerecht miteinander zu teilen…