Berliner Mauerfall: Auch der Kapitalismus baut seine Mauern

9. November 2019. Heute vor genau 30 Jahren ist die Mauer zwischen Ost- und Westberlin gefallen. 30 Jahre seit dem Sieg des kapitalistischen Westeuropa über das sozialistische Osteuropa. 30 Jahre seit dem endgültigen Durchbruch von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie für all jene Menschen, die zuvor während über vier Jahrzehnten im «Reich des Bösen» gelebt hatten. So jedenfalls will es die offizielle Geschichtsschreibung. Aber gehören damit Mauern quer durch Europa tatsächlich endgültig der Vergangenheit an? Sind in diesen 30 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer nicht unzählige neue Mauern entstanden, still und heimlich, Mauern der sozialen Apartheid, mitten im Reich der vermeintlichen Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie? Mauern zwischen den Zonen der Reichen, denen vom Luxushotel und dem Golfplatz über die Segelyacht und dem eigenen Swimmingpool bis zum Kreuzfahrtschiff alle nur erdenklichen Luxusvergnügungen zur Verfügung stehen – und den Zonen der Armen, die sich an lärmigen Strassen in viel zu kleine Wohnungen zwängen und schon dankbar sein müssen, wenn der Lohn gerade mal fürs Essen bis Ende Monat ausreicht. Ebenso unüberwindbar ist diese Mauer zwischen Arm und Reich wie jene frühere zwischen Ost- und Westberlin. Doch während die Menschen im damaligen Ostdeutschland wenigstens die Sympathie und die moralische Unterstützung durch den Westen erfahren durften, sind die Armen Europas sich und ihrem Elend selber überlassen, ohne Aussicht, dass sich daran etwas ändern wird. Doch damit nicht genug. Eine weitere, ebenso unüberbrückbare Mauer ist an der südlichen und östlichen Grenze Europas hochgezogen worden, Jahr um Jahr, höher und höher. Und wieder geht es um Reichtum und Armut. Noch verzweifelter als die Armen Europas sind die Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten, bereit, alle ihre Habseligkeiten und sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ins vermeintliche Paradies des Nordens zu gelangen. Doch auch für die meisten von ihnen endet alle Hoffnung in Resignation, bitterer Enttäuschung oder, schlimmstenfalls, dem Tod. Wann wohl werden wir auf den Fall und die Beseitigung der heutigen Mauern in und um Europa mit soviel Genugtuung und Freude zurückblicken können, wie wir heute auf den Fall der Berliner Mauer zurückblicken?