Belinda Bencic: Wie Mainstream-Journalismus funktioniert

In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 4. November 2019 erzählt die Schweizer Tennisspielerin Belinda Bencic von ihren Verletzungen der vergangenen Wochen, vom Verhältnis zu ihrem Vater und von ihren Ferienplänen. Und dann setzt sie sich auch noch mit den Preisgeldern der grossen Turniere auseinander. Sie kritisiert, dass die Spielerinnen auf den vordersten Rängen viel zu hohe Preisgelder bekämen und jene auf den hinteren Plätzen praktisch leer ausgingen. Dabei, so Bencic, sollte sich doch auch eine Spielerin, die auf Platz 100 der Weltrangliste liege, einen Coach sowie medizinische Betreuung leisten können.

Gleichentags veröffentlicht das Gratisblatt «20minuten» das gleiche Interview, allerdings in stark gekürzter Form. Selbstverständlich ist da von den Verletzungen der Tennisspielerin die Rede, auch von ihrem Verhältnis zum Vater und von ihren Ferienplänen. Was hingegen vollständig fehlt: ihre Kritik an der Vergabe der Preisgelder und der Hinweis darauf, dass die Spielerinnen auf den vordersten Plätzen der Weltrangliste gegenüber den anderen viel zu stark bevorzugt würden.

Ein Beispiel dafür, wie «Mainstream-Journalismus» funktioniert. Wären doch Bencics Aussagen zu den Preisgeldern das Einzige in ihrem Interview, das tatsächlich Ecken und Kanten hat und eine Facette ihrer Persönlichkeit aufzeigt, die bisher weitgehend unbekannt war, das Bild einer sozial eingestellten jungen Frau, die nicht damit zufrieden ist, dass sie selber möglichst viel Geld einstreichen kann, sondern die ebenso besorgt ist um das Wohl jener Spielerinnen, die auf den hinteren Plätzen der Weltrangliste liegen und mit ihrem eigenen persönlichen Einsatz den Wettkampf um die vordersten Plätze erst möglich machen, denn Gewinnerinnen kann es bekanntlich nur geben, wenn es auch Verliererinnen gibt. Das alles wird dem Leser und der Leserin des Gratisblattes erspart: Es könnte ja dazu führen, dass der eine oder die andere auf einmal nachzudenken und Dinge anders zu sehen beginnt, als man sie zuvor gesehen hat…