Beizensterben – nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag

 

Jetzt hat auch noch die letzte Beiz in unserem Dorf dichtgemacht. Es sei einfach nicht mehr gegangen, klagte der Wirt: zu wenig Personal während der Stosszeiten, zu viel Personal während der übrigen Zeiten, zu hohe Miete, zu hohe Betriebskosten, und als er notgedrungen die Preise hätte erhöhen müssen, seien ihm die Gäste immer öfters ferngeblieben. Jetzt hat unser Dorf von immerhin über 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern kein einziges Restaurant mehr, keine einzige Beiz. Nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag, anders kann man es nicht sagen. Denn Restaurants und Beizen sind mehr als Orte, wo man etwas essen und trinken kann. Sie sind Begegnungsorte, Wohlfühloasen, ja so etwas wie Kulturzentren – fast die einzigen Schauplätze öffentlichen Lebens in einer kleinen Kommune, wo sonst nicht allzu viel los ist. Doch, und das ist das Übel, Restaurants und Beizen können fast nicht rentieren, zu gross ist die Diskrepanz zwischen den Betriebs- und Personalkosten auf der einen Seite, den Einnahmen auf der anderen. Rentieren können höchstens Restaurants, die sich voll und ganz auf ein Luxusangebot konzentrieren und wo genug gut betuchte Gäste bereit sind, für fingerhutgrosse Miniportionen, klitzekleine Salate und edle Weine noch so hohe Summen hinzublättern – und das ist dann genau das Gegenteil jenes Lokals, das angemessene Preise und gutes Essen auch für weniger gut Verdienende anzubieten vermag, Orte, wo sich Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten treffen und wo niemand ausgegrenzt wird, nur weil er weniger Geld in der Tasche hat als ein anderer. Die Lösung? Nun, ich sehe keinen anderen Ausweg als eine Subventionierung von Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand. Wir subventionieren ja auch die Schulen, die Museen, die Kirchen, die Bibliotheken, die Konzert- und Theaterhäuser, die Galerien. Restaurants und Beizen haben mindestens eine so wichtige soziale und kulturelle Funktion wie eine Bibliothek oder eine Kirche. Wer das nicht glaubt, soll sich mal in meinem Dorf umsehen. Seitdem auch noch die letzte Beiz dichtgemacht hat, scheint das Dorf wie ausgestorben zu sein, fast könnte man sagen, es fehle ihm die Seele. Denn Beizen und Restaurants sind auch Orte, wo man nach einem strengen Arbeitstag seine Kräfte wieder auftanken und sich etwas Feines gönnen kann, wo Freundschaften geschlossen oder vertieft werden, wo gelacht, gescherzt und geplaudert wird oder wo Geschäftsleute beim Arbeitslunch wichtige Angelegenheiten besprechen, Verträge abschliessen, sich von anderen inspirieren lassen – kurz: Das Restaurant und die Beiz haben eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und wirken sich auch positiv auf viele andere Arbeits- und Lebensbereiche aus. Doch von diesem Mehrwert, den sie schaffen, sehen sie selber keinen einzigen Rappen – höchstens das Trinkgeld, das der Kellnerin am Ende der Mahlzeit “grosszügigerweise” gegeben wird. Und es sind ja nicht nur die Restaurants und Beizen in den Dörfern und Städten. Es sind auch die Gaststätten hoch oben in den Bergen, wo die Diskrepanz zwischen den betriebswirtschaftlichen Aufwendungen und den zu erzielenden Einnahmen noch viel krasser ist: An einem schönen Wochenende wollen hundert Touristinnen und Touristen ihr Mittagessen möglichst gleichzeitig auf dem Tisch haben, das Personal in der Küche und im Service arbeitet bis zur Erschöpfung. Bei schlechtem Wetter bleiben die Gäste aus, das Personal muss trotzdem weiter entschädigt werden und eine Unmenge bereits eingekaufter, wertvollster Lebensmittel, die nun nicht gebraucht werden, landen im Müll. Und auch hier hat das Restaurant, obwohl es für die touristische Attraktivität einer Region unerlässlich ist, nicht den geringsten Anteil an jenen Profiten, mit denen sich andere eine goldene Nase verdienen. Zu alledem kommt der Konkurrenzkampf, dem die einzelnen Betriebe im Kampf um die Gunst der Gäste unterworfen sind. Öffnet ein neues Restaurant seine Pforten, stürzen sich die Menschen wie Fliegen darauf. Aber wehe, der Gast muss ein bisschen länger auf sein Essen warten, hat irgendetwas noch so Belangloses auszusetzen oder erscheint ihm die Rechnung überrissen – gleich wird er der neu eröffneten Gaststätte den Rücken kehren und sich im Internet auf die Suche nach einem “besseren” Angebot machen. Überhaupt, das Internet. Es befeuert die gegenseitige Konkurrenzierung zwischen den Gastronomiebetrieben um ein Vielfaches und leiht der gnadenlosen Jagd nach jenem Angebot, das sogleich das beste und billigste sein soll, unerbittlich Vorschub. Wer nicht rund um die Uhr 30 verschiedene Menus anbietet, kann gleich schon von Anfang an einpacken – und niemand fragt sich, was mit all den Lebensmitteln für jene Menus, die niemand bestellt, geschieht. Der Rentabilitätsdruck führt nicht zuletzt dazu, dass das Personal bis zum Gehtnichtmehr mit überlangen Arbeitszeiten und geringen Löhnen ausgepresst werden – ist es doch kein Zufall, dass die Löhne in der Gastronomie mit zu den tiefsten im Vergleich aller Branchen gehören. Logisch, wie sonst soll sich der Betrieb auch nur einigermassen über Wasser halten können. Was wiederum zur Folge hat, dass immer mehr in der Gastronomie Beschäftigte den Bettel hinschmeissen, sich einen leichteren und besser bezahlten Job suchen und die noch verbleibenden einem noch grösseren Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Aber auch die Wirte selber, ob sie nun Besitzer oder Pächter sind, stehen permanent unter Druck, müssen sich häufig verschulden und Existenzen, für die sie ein halbes Leben lang geschuftet haben, nicht selten von einem Tag auf den andern aufgeben. Eine Subventionierung der Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand gäbe allen einen festen Boden unter den Füssen, wäre eine faire Anerkennung des geleisteten gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Beitrags, würde den zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf beenden und liesse an vielen Orten weder jene Inseln purer Lebensfreude und Lebensqualität aus dem Boden spriessen, wo nicht nur die Gäste, sondern auch das Personal mit all seinen wunderbaren Begabungen des Kochens und der Gastfreundschaft voll und ganz auf ihre Rechnung kämen…