Beispiellose Hexenjagd gegen eine unbequeme junge Frau, die niemandem etwas zuleide getan hat: 40’000 Menschenleben darf man zerstören, ein Papierbild nicht…

Wenn Sanija Ameti, Co-Präsidentin der schweizerischen Operation “Libero”, mit ihrer Sportpistole gezielt auf ein Bild von Maria und Josef geschossen hätte, wäre das zugegebenermassen eine ziemlich derbe Geschmacklosigkeit gewesen. Aber wahrscheinlich war es ja nicht einmal das, sondern ganz einfach ein dummes Mischgeschick, ein zufällig aus einem Kunstkatalog herausgerissenes Bild. Und selbst wenn sie es bewusst gemacht hätte: Dumm und unüberlegt, aber sie hat damit keinem einzigen Menschen etwas zuleide getan. Wenn Anna Wanner im “Tagblatt” vom 10. Dezember 2024 schreibt: “Und jetzt die Schüsse auf Jesus”, so ist das eine fahrlässige Verzerrung der Realität. Sie hat nicht auf Jesus geschossen, sondern auf ein Bild von Jesus. Und das ist doch ein wesentlicher oder sogar der entscheidende Unterschied. Zudem hat sie sich für diesen Fehler sofort entschuldigt und sogar dem Bischof von Chur einen Brief geschrieben, er möge ihr verzeihen. Auch ist sie alles andere als eine fanatische Religionsanhängerin, sondern, ganz im Gegenteil, eine bekennende Atheistin und hat sich auch noch nie zu Religionsfragen öffentlich geäussert. “Eigentlich”, so die “Republik” am 11. September, “hat sie alles richtig gemacht. Wann hat das letzte Mal jemand in der Schweizer Politik so schnell, so bedingungslos und ohne jegliche Relativierung einen Fehler zugegeben? In dieser Hinsicht verdient sie nicht Ausschluss und Häme, sondern Respekt und Grossmut.”

Dennoch waren die Reaktionen erbarmungslos. Innerhalb eines Tages verlor Sanija Ameti ihren Job als Co-Chefin der Operation “Libero” und ihre Stelle bei der PR-Agentur Farner, musste aus der kantonalen Parteileitung austreten und sieht sich jetzt mit einem Ausschlussverfahren ihrer Mutterpartei, der GLP, konfrontiert.

Aber noch viel schlimmer ist die Welle des Hasses, die über sie hereinbrach: Innerhalb kürzester Zeit erhielt sie auf ihrem Post über 3000 fast ausschliesslich negative, vielfach islamophobe Kommentare. Die Junge SVP verglich sie mit einer “islamischen Terroristin” und reichte gegen sie eine Strafanzeige wegen “Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit” ein. Ex-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli versuchte ebenfalls einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Sanija Ameti und islamistischen Anschlägen. Nicolas Rimoldi bezeichnete sie als “feindliche Agentin”, die “böswillig unsere Heimat zersetzen” wolle, und als “fremde Invasorin”, die “deportiert werden” müsse. Die “Junge Tat” schrieb: “Raus mit diesem Albanerweib!”. Und die “NZZ”: “Eine Grünliberale, die als schiessfreudige Muslimin die Gefühle von Christen beleidigt, ist das Letzte, was die GLP benötigen kann.” Sogar der Vizechef der deutschen Afd-Jugendorganisation mischte sich ein und fand, Ameti habe “weder bei uns noch in der Schweiz etwas verloren”. Ein rechtsgerichtetes österreichisches Onlinemagazin verbreitete die Lüge, Ameti habe in ihrem Post geschrieben: “Tötet Maria und Josef!”. Und der russische Propagandasender RT veröffentlichte einen Kommentar, in dem Ameti eine “Kugel in den Kopf” gewünscht wird. “Es erinnert”, so Peter Blunschi auf “Watson”, “an eine mittelalterliche Hexenjagd. Es ist unerträglich, dass man sie als moderne Hexe auf dem virtuellen Scheiterhaufen verbrennt. Immerhin bittet sie um Vergebung, was doch guter christlicher Tradition entspricht.” Und der Kommunikationsexperte David Schaerer lässt im “Tagesanzeiger” vom 11. September verlauten, er habe”noch nie erlebt, dass jemand öffentlich so fertiggemacht, so vernichtet wurde.”

Umso verwerflicher und scheinheiliger ist das alles, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet die SVP, welche hier wieder einmal an vorderster Front Feindbilder schürt und mit total verzerrten Schuldzuweisungen um sich wirft, genau jene politische Kraft ist, die sich in diesen Tagen im Nationalrat mit der Forderung durchgesetzt hat, dass die Schweiz dem palästinensischen Hilfswerk UNRWA zukünftig kein Geld mehr zur Verfügung stellen soll, und dies, obwohl sämtliche Länder der Welt ausser den USA aufgrund eines Expertenberichts, der die Vorwürfe der israelischen Regierung gegenüber der UNRWA weitgehend als unbegründet befunden hat, ihre Zahlungen an die UNRWA inzwischen wieder aufgenommen haben, selbst Deutschland, das sich noch am längsten um einen Entscheid gedrückt hatte. Sie alle wissen nur zu gut, dass sich ohne diese Zahlungen an die UNRWA schon in naher Zukunft eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmasses anzubahnen droht. “Die Lage im Gazastreifen”, so der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier, der mittels eines Postulats an den Stadtrat die Auszahlung von UNRWA-Geldern durch die Stadt Zürich erwirken möchte, “ist verheerend: 81 Prozent der Haushalte haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen haben ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot steht kurz bevor.” Nicolas Walder, grüner Aussenpolitiker, gibt zu bedenken, dass im Gazastreifen keine andere Organisation vorhanden ist, welche die Aufgaben der UNRWA übernehmen könnte: “Die UNRWA bleibt die tragende Säule der humanitären Hilfe in Gaza. Fällt die UNRWA weg, würde dies zu einem Zusammenbruch des gesamten humanitären Systems in Gaza führen.” Und Philippe Lazzarini, Schweizer Diplomat und seit mehreren Jahren Chef der UNRWA, erklärte bereits am 28. März 2024 in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.” Doch die Nachricht von der endgültigen Sperrung des Schweizer Beitrags an die UNRWA mitsamt all ihren verheerenden Folgen ging im Getöse des Vernichtungsfeldzugs gegen Sanija Ameti komplett unter. Würde man hundert Schweizerinnen und Schweizer befragen, ob sie diese Nachricht mitbekommen hätten, gäbe es vermutlich nur ein paar vereinzelte, welche diese Frage bejahen würden.

Besonders brisant ist, dass die SVP als treibende Kraft für die Blockierung des Schweizer Beitrags an die UNRWA sich nicht zu schade war, ihre gesamte Argumentation im Nationalrat auf einen einzigen, von einem Genfer Büro aus agierenden kanadischen Anwalt abzustützen, nämlich Hilel Neuer, der seit Jahren alles daran setzt, sein Publikum auf eine Zerschlagung der UNRWA einzuschwören. Der SVP gelang es auf diese Weise, dieser einzelnen Stimme mehr Gewicht zu verleihen als dem langjährigen Leiter der UNRWA, sämtlichen Vertreterinnen und Vertretern schweizerischer Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen sowie einer von 45’000 Schweizerinnen und Schweizer unterzeichneten Petition, welche die Weiterführung der Zahlungen an die UNRWA forderte. Ausgerechnet für die SVP, welche sich sonst stets mit lautestem Geschrei gegen jegliche Einmischung von aussen wehrt, scheint also die Stimme eines einzelnen kanadischen Anwalts ausschlaggebender zu sein als die Stimmen des Schweizer UNRWA-Chefs, zahlloser Schweizer Hilfswerke und weiterer Organisationen sowie den Stimmen von 45’000 Bürgerinnen und Bürger ihres eigenen Landes. Noch viel brisanter und noch viel unglaublicher und erschreckender aber ist, dass sich genügend weitere Parlamentarierinnen und Parlamentarier anderer bürgerlicher Parteien vor diesen Karren spannen liessen und die Schweiz nun somit, abgesehen von den USA, das einzige Land der Welt ist, das sich für eine vorauszusehende humanitäre Katastrophe mit Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Opfern verantwortlich erklären muss. Das Land, das einmal als Hort der Menschenrechte, der Humanität und der Friedensförderung galt und in der gegenwärtig auch noch das Letzte kaputt zu gehen droht, was an diese Zeit erinnert. “Eines der reichsten Länder der Welt”, schreibt die “Wochenzeitung” am 12. September, “ist nicht bereit, auch nur einen Rappen an eine international anerkannte und als unverzichtbar beschriebene Organisation zu spenden, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung wenigstens rudimentär zu mildern.”

In totalem Gegensatz zur Schiessübung von Sanija Ameti wurden im Gazastreifen seit dem vergangenen Oktober nicht etwa Papierbilder zerstört, sondern das reale Leben von über 40’000 Kindern, Frauen und Männern, von denen höchstwahrscheinlich weit über 99 Prozent nicht das Geringste mit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu tun hatten, weitere rund 100’000 wurden verletzt und eine Vielzahl von Spitälern, Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen wurden dem Erdboden gleichgemacht, ohne dass dies bei jenen politischen Kräften, die nun am heftigsten über Sanija Ameti herfallen, auch nur eine annähernd so grosse Empörung ausgelöst hätte. Und nicht einmal die Tatsache, dass nun infolge der Sperrung des UNRWA-Beitrags weitere Abertausende Unschuldige von baldigem Hungertod betroffen sein könnten, erregt auch nur ansatzweise so viel Empörung, nicht einmal bei all denen, die sich ganz und gar nicht als Anhängerinnen oder Anhänger der SVP oder der anderen, ins gleiche Horn blasenden bürgerlichen Politikerinnen und Politiker verstehen. Fazit: Menschen darf man zerstören, Papierbilder nicht.

Zerstört wird hingegen jetzt auch das Leben einer jungen, unangepassten, vielleicht manchmal etwas aufmüpfigen Frau, die immerhin viel frischen Wind in die oft allzu starre und festgefahrene Schweizer Politlandschaft gebracht hatte und keinem Menschen je irgendeinen Schaden zugefügt hat. Während die israelische Regierung unter Präsident Netanyahu ihr Tötungswerk ungehindert und in aller Ruhe weiterführen kann und die mächtigsten Politiker des Westens dies sogar mit einem nicht mehr zu überbietenden Zynismus damit rechtfertigen, dass es hierbei um die Verteidigung westlicher Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit oder Demokratie gehe. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich und um noch wie viel verrückter ist, dass wir diese Verrücktheit offensichtlich nicht einmal mehr als solche wahrzunehmen vermögen?