Baskenland-Radrundfahrt im April 2024: “Das Gefährlichste sind die Fahrer selbst” – Wie das Konkurrenzprinzip unser Denken verdreht…

Wie das schweizerische “Tagblatt” am 6. April 2024 berichtete, hat “eine Sturzserie von Top-Fahrern bei der Baskenland-Rundfahrt den Radsport erschüttert”. Am schlimmsten traf es den Dänen Jonas Vingegaard, der neben mehreren Knochenbrüchen auch eine Lungenquetschung erlitt und nach seinem fürchterlichen Sturz lange regungslos am Streckenrand liegen blieb. Der Belgier Remco Evenepoel brach sich das Schlüsselbein und zog sich eine Fraktur des Schulterblatts zu. Und der Australier Jay Vine zog sich einen Halswirbelbruch und zwei Brüche an der Brustwirbelsäule zu. Die Bilder lösten einen derartigen Schock aus, dass selbst Thierry Gouvenou, Renndirektor von Paris-Roubaix, öffentlich die Forderung erhob: “Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden. Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken.”

Hätte man nun eine Grundsatzdebatte über Sinn oder Unsinn solcher Sportanlässe erwartet, so wurde man sogleich eines Besseren belehrt. “Ich glaube”, so kommentierte der Niederländer Mathieu van der Poel die Vorfälle, “das gefährlichste Moment sind die Fahrer selbst. Denn alle wollen vorn am gleichen Platz sein, und das ist nicht möglich.” Auch der Deutsche Simon Geschke meinte: “Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell. Es ist der Ehrgeiz der Profis, diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Jeder will in die ersten Zehn hinein. Und wenn dann keiner bremst, passiert eben so etwas. Viele Stürze sind allein die Schuld der Fahrer.”

Wie kann man simpelste Tatsachen dermassen ins Gegenteil verdrehen! Sind doch Sportanlässe dieser Art, bei denen es um nichts anderes geht als um Sieg oder Niederlage, von Natur aus auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, dass sich die, welche daran teilnehmen, bis aufs Blut gegenseitig zerfleischen. Man stelle sich einmal vor, ein einzelner Fahrer würde tatsächlich kurz vor einer gefährlichen Situation künstlich bremsen oder sich nicht mit der grösstmöglichen Geschwindigkeit auf den allersteilsten Abfahrten in die allerengsten Kurven legen – die ganze Sportwelt, alle Mitkonkurrenten, die Fernsehkommentatoren, die Sponsoren und das gesamte Publikum würden doch wie Hyänen über solche “Weicheier” herfallen…

Wie auch die Organisatoren mehrerer Skirennen, bei denen es im letzten Winter überdurchschnittlich viele schwere Stürze gab, von “Weicheiern” sprachen, als einzelne Fahrerinnen die Entschärfung besonders gefährlicher Streckenabschnitte forderten. Diese Frauen, so meinte ein auffallend fettleibiger Verbandsfunktionär, den man sich beim besten Willen nicht mit über hundert Stundenkilometern die Pisten hinabrasend vorstellen kann, hätten offensichtlich den falschen Job gewählt. Ebenso wie jene Kunstturnerin wohl den falschen Job gewählt hat, die sich darüber beschwerte, dass ihr Trainer sie gezwungen hätte, trotz gebrochenem Knöchel weiterzuturnen, und ebenso wie auch jene Synchronschwimmerin ganz offensichtlich den falschen Job gewählt hat, die sich weigerte, noch länger unter Wasser zu bleiben, nachdem sie im letzten Training beinahe ohnmächtig geworden war.

Aber nein. Das Gefährliche sind nicht die glitschigen Pflastersteine, über welche die Radrennfahrer gehetzt werden. Auch nicht die immer gefährlicheren Sprünge, welche von Kunstturnerinnen gefordert werden, und auch nicht die immer anstrengenderen Figuren, welche Synchronschwimmerinnen bewältigen müssen. Auch nicht die immer engeren Kurven auf den Skipisten, in denen Becken, Kniegelenke und Wirbelsäule der Fahrerinnen und Fahrern immer höheren tonnenweisen Belastungen ausgesetzt sind. Nein, das Gefährliche sind die Sportlerinnen und Sportler selber. So wie das Gefährliche auch der LKW-Fahrer ist, der während 24 Stunden ohne Schlaf unterwegs war, einen schweren Unfall baute und dafür mit dem Entzug seines Fahrausweises bestraft wurde, während sein Arbeitgeber weiterhin alle anderen verbliebenen Fahrer mit viel zu engen Zeitlimiten und mit viel zu wenig Schlaf über die Strassen jagt, auf denen in immer horrenderem Tempo alle gegenseitig ums Überleben kämpfen. Schuld daran, dass sie ihre Stimme verloren haben und Konzerte absagen mussten, waren auch Shania Twain, Jan Delay, Tim Bendzko, Ed Sheeran, Sam Brown, Rita Ora, Phil Collins, Rod Stewart, Selena Gomez, Rihanna und Christina Aguilera ganz alleine – und nicht etwa ihre Manager und Produzenten, von welchen sie erbarmungslos an 300 Tagen oder mehr pro Jahr von Bühne zu Bühne gehetzt und während der verbliebenen Zeit zu unzähligen Werbe-, Interview- und Fototerminen verpflichtet werden. Und selbst all jene Schülerinnen, welche unlängst in erschreckend hoher Anzahl in einer Befragung aller Vierzehnjährigen im Kanton Zürich zu Protokoll gaben, unter Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken zu leiden, sind offensichtlich ganz alleine selber Schuld – deshalb wurde ihnen vom Kantonalen Schulpsychologen ans Herz gelegt, mehr Sport zu treiben und sich mehr “Resilienz” anzueignen, um weniger stark unter dem Leistungs-, Prüfungs- und Notendruck der Schule zu leiden.

Offensichtlich haben wir das durch alle Lebensbereiche hindurchwirkende Konkurrenzprinzip, welches darauf beruht, die Menschen in einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen, um ein Höchstmass an Leistung aus ihnen herauszupressen, bereits dermassen verinnerlicht, dass uns seine ganze Absurdität und Zerstörungskraft und die Tatsache, dass seine Opfer am Ende noch selber daran Schuld sein sollen, schon gar nicht mehr besonders auffällt. Vermutlich ist da selbst nicht einmal mehr jener Gedanke besonders fern, wonach auch der ukrainische oder der russische Soldat, der im von ferner Hand aufgezwungenen gegenseitigen Vernichtungskampf das Leben verliert oder eine schwere Verletzung mit oft lebenslänglichen Folgen erleidet, an seinem Schicksal selber Schuld ist, hätte er doch härter kämpfen, mehr Mut haben oder sich besser schützen können…

Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik bestand bis ins 19. Jahrhundert eine Lieblingsbeschäftigung von Plantagenbesitzern darin, ihre Sklaven in zwei gleich grosse Gruppen aufzuteilen. Die beiden Gruppen mussten dann innerhalb einer gewissen Zeit möglichst viel Zuckerrohr ernten. Die, welche eine grössere Menge geerntet hatten, bekamen zur Belohnung eine Tasse Tee. Die anderen wurden ausgepeitscht…

Das Konkurrenzprinzip ist bis heute die Peitsche in den Händen der Reichen und Mächtigen, das effizienteste Mittel, um die Menschen gegenseitig zu entsolidarisieren und sie in einen permanenten gegenseitigen Kampf ums Überleben zu zwingen, der – ob in der Arbeitswelt, dem Sport, dem Showbusiness, der Schule oder ganz allgemein der kapitalistischen Klassengesellschaft, in der die Armen der Ärmsten gezwungen sind, immer härter gegenseitig um einen immer kleiner werdenden Kuchen zu streiten – zwangsläufig immer zerstörerische Formen annehmen muss, wie ein Wettrennen, in dem die an der Spitze gezwungen sind, sich immer mehr und bis zur Erschöpfung anzustrengen, um nicht von den anderen eingeholt zu werden, und die, welche hinten sind, ebenfalls gezwungen sind, immer grössere Anstrengungen zu unternehmen, um nicht den Abschluss zu verlieren. Alle anderen werden ausgespuckt und bleiben mit gebrochenen Körpern, zerstörten Träumen und kaputten Seelen am Strassenrand liegen. Und natürlich sind auch sie alle selber Schuld, wer denn sonst…

“Schwere Stürze lösen Debatte aus” – so der Titel des anfänglich zitierten Zeitungsartikels über die Sturzserie an der Baskenland-Rundfahrt vom April 2024. Die Debatte lässt auf sich warten…