Archiv des Autors: Peter Sutter

Synthetisches Kerosin als einzige Alternative?

Ein Modell für schadstoffarmes Kerosin – das haben der grünliberale Nationalrat und Chemiker Martin Bäumle, ETH-Professor Anthony Patt sowie Peter Metzinger, FDP-Politiker und Physiker, gemeinsam entwickelt. Der Plan sieht so aus: Auf Flugtickets wird eine Gebühr erhoben, die tief angesetzt ist. Das Geld fliesst nicht wie bei einer Lenkungsabgabe an die Bevölkerung zurück; es wird für die Entwicklung von synthetischem Kerosin eingesetzt. Der Flughafen Zürich und die Fluggesellschaft Swiss reagieren positiv auf den neuen Plan. Eine Swiss-Sprecherin erklärt, es handle sich um die einzige Option, die das Fliegen künftig klimaneutral machen könnte.

(NZZ am Sonntag, 8. September 2019)

Wenn die Swiss-Sprecherin meint, synthetisches Kerosin wäre die einzige Option für klimafreundliches Fliegen, dann irrt sie sich gewaltig. Es gibt nämlich eine viel näherliegende Option: überhaupt nicht zu fliegen. Weshalb können sich das so viele Menschen nicht vorstellen? Es muss etwas zu tun haben mit dem Grundbedürfnis nach «Freiheit»: Sowohl das Auto wie auch das Flugzeug vermitteln dieses Gefühl von Freiheit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt schnell und bequem von jedem beliebigen Punkt A an jeden beliebigen Punkt B zu gelangen. Ein Gefühl, das vermutlich gerade deshalb so wichtig ist, weil es anderen Orten, insbesondere in der Arbeitswelt, aber auch in der Schule, viel zu kurz kommt. Wir sprechen zwar immer von der «freien» Marktwirtschaft, doch der einzelne Mensch wird immer mehr zu einem winzigen Rädchen, das je länger je mehr nur nach vorgeschriebenen Zwängen zu funktionieren hat. Wird die Freiheit am einen Ort dermassen eingeschränkt, so muss man sich nicht wundern, wenn sie am anderen umso heftiger aufbricht. So legt der durchschnittliche Schweizer, die durchschnittliche Schweizerin pro Jahr fast 25’000 Kilometer zurück, das ist die Distanz von Zürich nach Hawaii und umgekehrt, den allergrössten Teil davon mit Flugzeug und Auto – eine Steigerung von 21 Prozent in den letzten fünf Jahren! Das, liebe Swiss-Sprecherin, wäre doch auch eine Option: Dass die Arbeitswelt so umgestaltet wird, dass sich jeder Mensch in seiner täglichen Arbeit möglichst frei, autonom und selbstbestimmt fühlen kann. Wetten, dass dadurch das Bedürfnis nach möglichst vielem und weitem Reisen mit Auto und Flugzeug schlagartig abnehmen würde…

Gewerkschaften viel zu brav

Die Mitgliedsverbände des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes fordern für die Lohnrunde 2019/20 eine generelle Lohnerhöhung von zwei Prozent.

(Tages-Anzeiger, 7. September 2019)

Bescheidener geht es nun wirklich nicht mehr. Denn wer schon mit einem Lohn von 3800 oder 4000 Franken pro Monat nicht anständig leben kann, dem geht es auch mit einem Lohn von 3876 bzw. 4080 Franken nicht wirklich viel besser. Die Forderungen der Gewerkschaften müssten viel radikaler sein. Eigentlich müssten sie einen Mindestlohn von 5000 Franken fordern – selbst wenn das hier und jetzt als «unrealistisch» erscheinen mag, aber es würde wenigstens den ganzen Skandal aufdecken, dass es im reichsten Land der Welt immer noch Hunderttausende von Menschen gibt, deren Existenz selbst bei voller Erwerbsarbeit nicht gesichert ist, während Spitzenverdiener bis zu 300 Mal so viel verdienen wie die am schlechtesten Verdienenden. Wenn die Gewerkschaften eine generelle Lohnerhöhung von zwei Prozent fordern, so ist das ein beispielloser Kniefall vor der Arbeitgeberschaft, sie fordern nämlich genau so viel, wie dann höchstwahrscheinlich auch realisiert werden kann. Doch jedes Kind weiss, dass man, um etwas zu bekommen, möglichst ein Vielfaches davon fordern muss. Radikalere Forderungen bis hin zur Einführung eines Einheitslohns würden die allgemeine Diskussion beleben und längerfristig vielleicht sogar zu einem Zustand echter Lohngerechtigkeit führen. Hierzu aber müssten die Gewerkschaften aus dem kapitalistischen Denk- und Machtsystem ausbrechen und genau so selbstbewusst auftreten, wie das ihre Kontrahenten, die Arbeitgeberschaft, seit Jahrzehnten tun, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

Wirtschaftswachstum als Voraussetzung für Entwicklungshilfe?

Bundesrat Cassis will die Schweizer Entwicklungshilfe neu ausrichten. Zukünftig sollen vor allem jene Länder in den Genuss von Entwicklungshilfegeldern gelangen, die ein Wirtschaftswachstum ausweisen. Jan Atteslander vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse unterstützt diese Stossrichtung: Wirtschaftswachstum haben bereits hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit, es sei auch Aufgabe der Entwicklungsländer selber, eine entsprechende Entwicklung anzustreben. Es gäbe, so Atteslander, dazu keine Alternative.

(www.srf.ch)

Bundesrat Cassis will also ausgerechnet jene Länder mit Geld belohnen, die – aus seiner Sicht – ohnehin schon auf «Erfolgskurs» sind. Und was ist mit allen anderen Ländern, die kein Wirtschaftswachstum ausweisen, gehen sie zukünftig leer aus? Bräuchten sie nicht umso mehr Unterstützung für ihre Entwicklung? Und überhaupt: Gäbe es nicht noch andere Kriterien als das Wirtschaftswachstum, die man heranziehen könnte, um die Kreditwürdigkeit eines Landes zu definieren? Zum Beispiel, wie viel das Land in Bildung, Gesundheit und Sozialprogramme investiert. Oder, welche Massnahmen das Land trifft, um das Gefälle zwischen Arm und Reich zu verringern. Oder, wie konsequent das Land gegen Misswirtschaft und Korruption vorgeht. Oder, wie nachhaltig und umweltfreundlich Rohstoffabbau, Industrie und Landwirtschaft betrieben werden. In einer Zeit, da das kapitalistische Wachstumsmodell angesichts der drohenden Klimakrise immer mehr in Frage zu stellen ist, in einer solchen Zeit ausgerechnet das Wirtschaftswachstum als Hauptkriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe zu definieren, ist mit dem besten Willen nicht nachvollziehbar. Und wenn dann die Economiesuisse noch nachdoppelt und sogar behauptet, es gäbe zum kapitalistischen Wachstumsmodell keine Alternative, dann zeigt dies erst recht die Blindheit und Rückwärtsgewandtheit unserer heutigen «Wirtschaftselite». Natürlich gibt es zum Kapitalismus eine Alternative. Es muss eine solche geben, ausser man hat sich bereits damit abgefunden, dass die Menschheit die nächsten 100 Jahre ohnehin nicht überlebt. Wie diese Alternative aussehen wird, das wissen wir heute allerdings noch nicht oder höchstens in ein paar wenigen Ansätzen. Umso wichtiger, auch Staaten, Volkswirtschaften und Wirtschaftsmodelle zu unterstützen, die noch nicht blindlings auf den kapitalistischen Wachstumspfad eingeschworen sind und vielleicht gerade deshalb über günstigere Voraussetzungen verfügen, von Grund auf neue, kreative und zukunftsträchtige Wege zu erproben.

50 Millionen Franken für Wahlkampf – Gäbe es für dieses Geld nicht gescheitere Verwendungszwecke?

Die nationalen politischen Parteien der Schweiz budgetieren gesamthaft etwa 8 Millionen Franken in den Wahlkampf für den National- und Ständerat. Zu dieser Summe kommen die Ausgaben der kantonalen Parteien. Diese belaufen sich auf mindestens 17 Millionen Franken. Schliesslich noch die persönlichen Ausgaben der Kandidatinnen und Kandidaten. Es ist davon auszugehen, dass diese sich in einem ähnlichen Rahmen bewegen wie vor vier Jahren, als jeder Kandidat und jede Kandidatin für seinen bzw. ihren Wahlkampf im Durchschnitt 7500 Franken ausgab. Somit dürfte angesichts der Rekordzahl von über 4600 Kandidierenden in diesem Jahr die Gesamtsumme, die in persönliche Kampagnen gesteckt wird, 30 Millionen Franken übersteigen. Insgesamt also werden die Auslagen für den Wahlkampf in diesem Jahr voraussichtlich die Grenze von 50 Millionen Franken deutlich überschreiten. Um einen Sitz im National- oder Ständerat zu ergattern, werden also durchschnittlich 200’000 Franken aufgeworfen.

(www.swissinfo.ch)

Gäbe es für diese 50 Millionen Franken nicht gescheitere Verwendungszwecke? Denn eigentlich ist das Ganze ein Nullsummenspiel: Jedes Plakat, jeder Flyer und jedes Inserat, mit dem die eine Partei der anderen eine Wählerin oder einen Wähler abspenstig macht, führt dazu, dass nun auch die andere Partei wiederum mit noch gröberen Mitteln und einem noch grösseren Aufwand der ersten Partei möglichst viele Wählerinnen und Wähler abjagt, ein gegenseitiges Sichhochschaukeln, eine Art Aufrüstung und Gegenaufrüstung, bei der schliesslich jener mit den stärksten Ellenbogen bzw. dem dicksten Portemonnaie die Nase vorne hat, was einer echten Demokratie, in der alle die gleich langen Spiesse haben müssten, im Grunde unwürdig ist. Es würde doch genügen, in jedem Kanton eine Wahlzeitung zu publizieren und in alle Haushaltungen zu verteilen, eine Wahlzeitung, in der sämtliche Kandidierenden aller Parteien abgebildet wären, zusammen mit einer Kurzbiografie sowie den wichtigsten politischen Anliegen. So könnten sich alle Wählerinnen und Wähler über die Kandidierenden ein objektives Bild machen, ohne sich von Plakaten, Flyern und Inseraten, die wenig bis gar keine Aussagekraft besitzen und nicht selten von Schlagwörtern und leeren Versprechungen nur so strotzen, bombardieren lassen zu müssen. Zudem könnte man in öffentlichen Podiumsdiskussionen den Kandidierenden der verschiedenen Parteien auf den Zahn fühlen, um sich eine persönliche Meinung bilden zu können. Mehr bräuchte es nicht. Der grösste Teil der 50 Millionen Franken wäre damit gespart und könnte stattdessen in soziale, nachhaltige Projekte und Programme investiert werden, die heute absurderweise ausgerechnet von jenen Politikern und Politikern weggespart und wegrationalisiert werden, die zur Eroberung ihres Parlamentssitzes am allermeisten Geld aufwerfen.

Preisabsprachen: Als wäre es eine Todsünde

Gemäss Wettbewerbskommission (Weko) haben zwölf Bündner Baufirmen zwischen 2004 und 2010 mehrere Hundert kantonale und kommunale Strassenbauprojekte untereinander aufgeteilt. Es geht um ein Auftragsvolumen von mindestens 190 Millionen Franken. Gemäss Frank Stüssi, stellvertretender Direktor der Weko, erhöhten sich die Preise durch die Absprachen um mindestens 8 bis 10 Prozent. Für Kanton und Gemeinden entstand also ein Schaden von bis zu 19 Millionen Franken. Die Baufirmen trafen sich teilweise wöchentlich im Geheimen. Im Vorfeld eines Treffens berechneten alle Teilnehmer ihren Preis für einen bestimmten Auftrag. Der Durchschnitt aus diesen Preisen wurde dann als tiefste Offerte eingereicht. Die beteiligten Unternehmen wurden von der Weko mit total 11 Millionen Franken gebüsst.

(Tages-Anzeiger, 4. September 2019)

Ist es denn so verwerflich, wenn sich Firmen, die im gegenseitigen Konkurrenzkampf  um Aufträge stehen, gegenseitig absprechen, um sich nicht wie Freiwild gegeneinander ausspielen zu lassen? Überlässt man nämlich alles schrankenlos dem «freien Markt», so wird jede Firma, um einen Auftrag zu bekommen, gezwungen, Leistungen anzubieten, die möglichst schneller und billiger sind als jene der Konkurrenz, was sich nicht nur auf die Löhne, die Arbeitszeiten und die Gesundheit der Arbeiter auswirkt, sondern auch auf die Qualität der geleisteten Arbeit. Gegenseitige Absprachen sind ein Mittel, um realistische und menschenwürdige Bedingungen durchzusetzen, die Gesundheit der Arbeiter zu schonen, eine gute Qualität zu gewährleisten und die Aufträge auf möglichst viele verschiedene Anbieter zu verteilen – dies alles freilich zu einem Preis, der über jenem liegt, den man in einem möglichst schrankenlosen freien Markt dem «günstigsten» Anbieter hätte zahlen müssen. Was soll daran so schlecht sein? Letztlich entspringen die gegenseitigen Absprachen doch einem zutiefst menschlichen und sozialen Grundbedürfnis, nämlich dem der Verweigerung, sich als Anbieter zu gegenseitigen Feinden machen zu lassen, die, um überleben zu können, gezwungen sind, sich gegenseitig in den Boden drücken zu lassen.

Ein fataler Entscheid mit tödlichem Ausgang

Nachdem am 4. August ein Zugbegleiter von einer defekten Tür eingeklemmt, mitgeschleift wurde und verstarb, haben die SBB Sonderkontrollen durchgeführt. Dabei seien bei 384 kontrollierten Zügen und 1536 Türen 512 Mängel entdeckt worden. 66 Mal sei beim Einklemmschutz ein Mangel in der Funktionsweise erkannt worden, wobei 7 nicht funktioniert hätten. Die SBB prüfe zurzeit, ob der Abfertigungsprozess weiter verbessert werden könnte.

(www.20minuten.ch)

512 Mängel bei 384 Zügen, die erst noch nicht einmal aufgedeckt worden wären, hätte nicht der tragische Tod des Zugbegleiters zu eben diesen Kontrollen geführt. Das ist mehr als bedenklich – vor allem, wenn man bedenkt, wie viele weitere Züge es noch gibt, die nicht kontrolliert wurden. Doch dies alles ist weder ein seltsamer Zufall noch ein nicht lösbares technisches Problem. Sondern die ganz logische und direkte Folge jenes ominösen Jahrs 1999, als die SBB in eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft ausgegliedert und in die Departemente Personenverkehr, Güterverkehr und Infrastruktur aufgespalten wurde – etwas, was langjährige SBB-Mitarbeiter heute noch mit dem «Zerschlagen einer Familie» vergleichen. Künftig würde jedes Departement auf eigene Rechnung geführt mit dem Ziel, möglichst keines oder ein möglichst geringes Defizit zu schreiben. Und da beim Ressort Unterhalt keine Einnahmen zu erzielen sind, wurde das Personal entsprechend zurückgefahren und Instandhaltung, Reparaturen und Unterhalt auf das absolut unerlässliche Minimum reduziert. Eines von vielen Beispielen, und dieses sogar mit buchstäblich tödlichem Ausgang, wenn man von der fatalen Irrmeinung ausgeht, man könne Prinzipien der Privatwirtschaft unbesehen auf eine öffentliche Dienstleistung übertragen. Ob man vielleicht, nach allen negativen Erfahrungen, eines Tages wieder zur Vernunft kommt und die verschiedenen Departemente wieder unter ein einziges Dach zusammenführt?

Die Zimmermädchen von Ibiza und Formentera: Irgendwo muss ja der erste Funke springen

Tausende Feriengäste werden am Wochenende auf den Mittelmeerinseln Ibiza und Formentera ihre Zimmer selbst herrichten müssen. Die 8000 Zimmermädchen in den Hotels fühlen sich von den Hoteliers nämlich schlecht behandelt und rufen mitten in der Hochsaison zum Streik auf. Geringe Löhne, harte Akkordarbeit, unbezahlte Überstunden, keine freien Tage, mangelhafte soziale Absicherung, Diskriminierung – die Liste der Klagen ist lang. «Wir halten den Tourismus, den wichtigsten Motor der nationalen Wirtschaft, in Gang», klagt eines der Zimmermädchen. Doch die Zimmermädchen würden mancherorts wie Sklavinnen behandelt. Etliche Hoteliers bekamen in den letzten Monaten bereits die Wut der Zimmermädchen zu spüren. Mit Transparenten postierten sich die Zimmermädchen, die sich unter dem Namen «Las Kellys» organisiert haben, vor Hotels und verlangten «würdige Arbeitsbedingungen». Dazu gehöre, dass die Arbeitsbelastung verringert werde, sagt Milagros Carreño. Die 54Jährige arbeitet seit 30 Jahren als Zimmermädchen und ist Sprecherin der «Kellys» auf Ibiza. «Normalerweise müssen wir 21 oder 22 Zimmer am Tag säubern, aber manche Kolleginnen müssen bis zu 30 Zimmer herrichten. Carreños Fazit: «Das ist unmenschlich.» Die Folge dieser beschwerlichen Arbeit und Hetzjagd von Zimmer zu Zimmer seien chronische Gesundheitsschäden. Viele Frauen würden die Arbeit nur mit Pillen durchstehen. Laut einer Umfrage der Gewerkschaften schlucken 70 Prozent der Zimmermädchen Tabletten.

(W&O, 23. August 2019)

Endlich. Nun müssten nur noch die Köche und das Servicepersonal auf die Barrikaden – sie hätten allen Grund dazu. Ist doch das Hotel im Kleinen sozusagen ein massstabgetreues Abbild des Kapitalismus im Grossen: Hier das bis zum Äussersten ausgewundene Personal, dort die Gäste, welche – auf was für Irrwegen auch immer – sich genügend überschüssiges Geld ergattert haben, um die Dienste der im Hotel Beschäftigten in Anspruch nehmen zu können. Und schliesslich Manager, Verwaltungsräte und Aktionäre, die, ohne sich besonders anstrengen zu müssen, dennoch ein Vielfaches dessen «verdienen», was die Angestellten am Ende des Monats in ihrer Lohntüte finden. Wenn wir bedenken, dass die Hotels auf Ibiza und Formentera nur ein paar ganz wenige Ausbeutungsinstrumente des weltweiten kapitalistischen Systems sind und sich das, was dort bittere Realität ist, von Land zu Land millionenfach wiederholt, von den Minenarbeitern im Kongo über die Textilarbeiterinnen in Taiwan bis zu den Plantagenarbeitern in Mittel- und Südamerika, dann wäre der Gedanken wohl nicht allzu weit hergeholt, der Aufstand der Zimmermädchen auf Ibiza und Formentera könnte vielleicht zum Anfang einer weltweiten Bewegung, eines weltweiten Generalstreiks, einer weltweiten Revolution werden. Irgendwo muss ja der erste Funke springen. Und weshalb sollten ihm nicht unzählige weitere folgen? Was ein einzelner Mensch bewirken kann, wissen wir spätestens seit der schwedischen Umweltaktivistin Greta Thunberg. Könnte nicht Milagros Carreño zu einer ähnlichen Symbolfigur werden? An den Schmerzen, an den Demütigungen und am Unrecht, das ihren zahllosen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen weltweit zugefügt wird, fehlt es wohl kaum…

Kooperation statt gegenseitiger Konkurrenzkampf

Man wird häufig unterbrochen, erhält widersprüchliche Anweisungen, muss parallel an zu viele Dinge denken oder steht ständig unter Zeitdruck: Wer dies an seinem Arbeitsplatz erlebt, steht unter Stress. Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung traf dies im Jahr 2017 auf 21 Prozent der Erwerbstätigen zu. Das sind drei Prozent mehr als noch im Jahr 2012. Mit 25 Prozent signifikant mehr Stress als der Durchschnitt erleben Verkäufer, Köche, Friseure, Kosmetiker und Angestellte in ähnlichen Berufen, wie das Bundesamt für Statistik gestern auf Anfrage mitteilte. Überdurchschnittlich viel Stress (22,8) erleben auch Führungskräfte oder Hilfsarbeiter (22,3 Prozent).

«Der zunehmende Stress in der Arbeitswelt wird mehr und mehr zu einem Gesundheitsrisiko für die Arbeitnehmenden und produziert hohe volkswirtschaftliche Kosten», schreibt die Gewerkschaft Travailsuisse. Mehr als die Hälfte der Frauen und Männer fühlt sich meistens oder immer unter Zeitdruck. Rund jeder siebte Angestellte bangt ständig um den Arbeitsplatz. Ausländer und Personen mit tiefem Bildungsniveau haben am meisten Angst vor einem Jobverlust. Emotional erschöpft fühlen sich 20 Prozent der Erwerbstätigen.

(www.tagblatt.ch)

 

Eigentlich wussten wir es schon lange und doch sind wir jedes Mal wieder von Neuem überrascht. Der Druck und der Stress am Arbeitsplatz, verbunden mit der Angst, den Job zu verlieren, nehmen von Jahr zu Jahr zu und treiben immer mehr Menschen in Krankheit und Erschöpfung. Doch das ist kein Zufall, auch nicht irgendein Naturgesetz, sondern die ganz direkte und logische Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der kapitalistischen Arbeitswelt. Ihr höchstes Dogma, das Gesetz aller Gesetze, ist das Konkurrenzprinzip: Da jede Firma mit allen Mitteln bestrebt ist, möglichst viel Absatz und Kundschaft zu haben und einen wenn möglich von Jahr zu Jahr wachsenden Gewinn, zwingt sie damit alle anderen Firmen der gleichen Branche, noch grössere Anstrengungen zu unternehmen, um im gegenseitigen Konkurrenzkampf nicht den Kürzeren zu ziehen. Naturgemäss geht dieser gegenseitige Vernichtungskampf immer mehr an die gerade noch mögliche Belastbarkeit der Menschen und nur allzu oft sogar weit darüber hinaus. Es ist das gleiche Prinzip wie bei einem Skirennen, bei dem die Fahrerinnen und Fahrer im gegenseitigen Wettkampf um Tausendstelsekunden immer mehr an ihre körperlichen Grenzen gelangen und immer höhere gesundheitliche Risiken auf sich nehmen. Oder wie in der Schule, beim Wettkampf um gute Noten, unter dem vor allem jene Kinder unsäglich leiden, die es trotz grösster Anstrengung nie auf einen grünen Zweig bringen. Längerfristig verursacht das kapitalistische Konkurrenzprinzip immer verheerendere körperliche und seelische Leiden. Längst fällig wäre ein radikales Umdenken, so dass nicht mehr die gegenseitige Konkurrenzierung und der gegenseitige Wettkampf die Basis der Gesellschaft, der Arbeitswelt und der Wirtschaft wäre, sondern die gegenseitige Kooperation, die gegenseitige Fürsorge und das Gemeinwohl. 

 

 

Freiheit für alle statt Privilegien für wenige

Man braucht sie für die Fahrt zum Ferienhaus in den Bergen oder wegen der besseren Übersicht im Verkehr: SUV boomen wie keine zweite Autokategorie. Gemäss Schweizer Neuwagenstatistik waren in der ersten Hälfte des Jahres 2019 rund 42 Prozent der neuen Autos SUV. Das bedeutet über 66’000 neue Autos mit grösseren Rädern, bulliger Bauweise, mehr PS, höherem Treibstoffverbrauch und erhöhtem CO2-Ausstoss.

(www.20minuten.ch)

Kein Fussgänger würde eine Strasse überqueren, wenn sich gleichzeitig ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit nähert. Niemand würde seine Hand auf eine heisse Herdplatte legen. Und kein Mensch käme auf die Idee, sich in einen Tümpel voller hungriger Krokodile zu werfen. Aber 66’000 Schweizerinnen und Schweizer haben sich allein in der ersten Hälfte des Jahres 2019 genau so verhalten: Obwohl sie wissen, dass die Pole schmelzen und die Meere weltweit dramatisch ansteigen werden, immer mehr Länder und Regionen unbewohnbar zu werden drohen und ein Überleben der gesamten Menschheit in 50 oder 100 Jahre in Frage gestellt sein könnte, tun sie genau das Gegenteil dessen, was ihre Vernunft eigentlich gebieten würde. Wie ist das zu erklären? Menschen, die ihren egoistischen Bedürfnissen mehr Gewicht geben als der Rücksichtnahme auf andere, begründen dies oft mit dem Begriff der «Freiheit»: Sie wollen sich von nichts und niemandem vorschreiben lassen, was sie tun dürfen und was nicht. Doch kann «Freiheit» allen Ernstes darin liegen, unserem Planeten den Garaus zu machen und zukünftigen Generationen das Leben zur Hölle zu machen? Der Freiheitsbegriff müsste neu definiert und neu praktiziert werden. «Freiheit» als Privileg der einen auf Kosten anderer wäre nicht länger als echte Freiheit zu verstehen, sondern als Raubbau, als Diebstahl, als reines Privileg, das sich die einen nur deshalb leisten können, weil andere es sich nicht leisten können. Es braucht gesellschaftliche Leitplanken zur Einschränkung dessen, was nicht echte Freiheiten sind, sondern bloss Luxusvergnügungen und Privilegien auf Kosten. Damit echte Freiheit für alle möglich wird. Nicht nur hier und heute, sondern überall und auch morgen und übermorgen.

Zwei Jobs und immer noch nicht genug zum Leben

Wenn andere ihren Feierabend geniessen, geht für E. (35) die Arbeit noch einmal von vorne los. Die Schweiz-Albanerin kümmert sich als Gouvernante um Zimmermädchen in einem Zürcher Nobelhotel, am Abend steht sie bei McDonald’s an der Kasse: «Das Geld reicht sonst nicht aus für unsere vierköpfige Familie. Ich sehe meine Kinder kaum. Wenn ich morgens um fünf Uhr aufstehe und zur Arbeit gehe, schlafen sie noch.» Da auch ihr Mann arbeitet, sind die Kinder oft auf sich alleine gestellt. «Einen betreuten Mittagstisch können wir uns nicht leisten.» Ganz ähnlich wie E. geht es immer mehr Menschen in der Schweiz: Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Im 1.Quartal 2019 hatten 393’000 Beschäftigte zwei oder mehr Jobs. Das sind 8,7 Prozent aller Arbeitnehmenden – so viele wie noch nie. Ihre Zahl steigt seit Jahren: Waren es 1991 noch rund vier Prozent, sind es heute mehr als doppelt so viele. Und: Frauen sind deutlich häufiger mehrfacherwerbstätig als Männer. Mehr als jede zehnte weibliche Berufstätige hat zwei oder mehr Jobs, von den Männern gerade mal jeder Zwanzigste. Am weitesten verbreitet ist Mehrfacharbeit unter Hilfskräften, namentlich in der Reinigungsbranche oder auf dem Bau. Die Gewerkschaften sprechen von «prekären Arbeitsverhältnissen» – prekär bedeutet so viel wie unsicher oder problematisch. Meist verdienen die Betroffenen mit nur einem Einkommen zu wenig zum Leben, sagt Gabriel Fischer von Travailsuisse: «Ein Job alleine reicht ihnen nicht.»

(www.blick.ch)

Verrückt. Selbst wenn E. sich in zwei oder mehr Jobs rund um die Uhr abrackert, verdient sie immer noch weniger als andere mit einem einzigen Job. Und während Spitzenlöhne explodieren, Aktienkurse und Dividenden in den Himmel steigen und sich ein wachsender Bevölkerungsteil Reicher und Reichster immer teurere Luxusvergnügungen leisten können, steigt gleichzeitig die Zahl jener, die, wie E., selbst von zwei Jobs ihre Familie kaum ausreichend ernähren können, immer weiter an. Das ist Kapitalismus pur: Je mehr Reichtum und Luxus sich auf den oberen Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide anhäufen, umso mehr fehlt es auf den unteren Rängen selbst am Lebensnotwendigsten. Zustände, die früher oder später eigentlich zu einer Revolution und einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse führen müssten…

Und die Kinder? Das sind dann genau jene, deren Eltern man als «bildungsfern» bezeichnet und denen man vorwirft, sie seien zu wenig präsent und würden sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Auf dass schön alles beim Alten bleibt und diese Kinder, wenn sie dann einmal erwachsen sind, wohl auch wieder in zwei oder drei Jobs arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen…