Archiv des Autors: Peter Sutter

«Es gibt ein klares Machtgefälle»

Nicht nur abtretende Kadermitglieder im Top-Management werden beschattet, wie es jüngst bei der Credit Suisse der Fall war. Auch Büroangestellte, Kassierer oder Verkäufer können überwacht werden… Wer arbeitet, hinterlässt Spuren. Mit der zunehmenden Digitalisierung werden diese immer vielfältiger und breiter – und somit auch die Möglichkeiten der Überwachung… Wer zuhause arbeitet, ist besonders häufig mit dem Misstrauen seines Arbeitgebers konfrontiert. Oft machen Firmen Kontrollanrufe oder überprüfen den Online-Status im Mailserver. Besitzt der Arbeitnehmer ein Firmenhandy, kann der Arbeitgeber theoretisch jederzeit mittels GPS-Daten dessen Standort überprüfen.. Wehrt sich der Angestellte gegen unzulässige Überwachungsmethoden, riskiert er nicht selten, am Schluss ohne Job dazustehen. Denn, so Ursula Uttinger, Dozentin für Datenschutz: «Es gibt ein klares Machtgefälle.»

(www.srf.ch)

Wo bleibt da der Aufschrei jener politischen Parteien, die bei jeder Gelegenheit nach mehr Freiheit, Sicherheit und Selbstverantwortung rufen?

Zeichen einer neuen Zeit

Der deutsche Spielfilm mit dem markanten Titel «Systemsprenger» fesselt die Zuschauerinnen und Zuschauer von Anfang bis Schluss und weckt unglaublich viel Empathie für Bennie, ein traumatisiertes Mädchen, gespielt von der 11jährigen Helena Zengel, das mit seiner unbändigen Energie, die sich so oft in Gewalt entlädt, alle überfordert: die Frau vom Jugendamt, die Betreuer auf den diversen Wohngruppen, die Kinder- und Jugendpsychiaterin, den Anti-Gewalttrainer – und vor allem die Mutter. Benni ist eine «Systemsprengerin». Doch was ist das, eine «Systemsprengerin»? «Damit», so die Regisseurin Nora Fingscheidt, «ist ein Kind gemeint, für das die Kinder-und Jugendhilfe keinen Platz findet. Ein Kind, das überall rausfliegt und von einer Institution in die nächste muss. Doch leider sprengen sie das System nicht. Das besteht schön weiter.»

(W&O, 3. Oktober 2019)

Ein bemerkenswerter Film: Jugendliche Rebellion und die Lust am Widerstand, lange verpönt, systematisch bekämpft und durch Therapien aller Art ruhig gestellt, wird auf einmal zum Hauptthema – und die Sympathien sind nicht auf der Seite des Systems, sondern auf der Seite der «Systemsprengerin». Eine junge Frau führt Regie. Und ein 11jähriges Mädchen spielt die Hauptrolle – so überzeugend und leidenschaftlich, dass den Zuschauerinnen und Zuschauern förmlich der Atem stillsteht. Fühlen wir uns nicht an Greta Thunberg erinnert und an all die tanzenden, singenden und schreienden Kinder und Jugendlichen, die sich an den Klimastreiks beteiligen? So wie Benni im Film «Systemsprenger» ihren Kopf an der Türe der Jugend- und Sozialämter einschlägt, so rennen die «Klimajugendlichen» gegen das Machtsystem der weltweit miteinander verschworenen kapitalistischen Eliten an. Zeichen einer neuen Zeit. So wie das Ende des Patriarchats, so ist auch der Aufstand der Kinder und Jugendlichen ein historischer Zeitensprung, der sich nicht mehr aufhalten lässt…

System Change: Die Hoffnung, die jedes Kind von klein auf in sich trägt

In China wurde soeben der grösste Flughafen der Welt eröffnet, mit einer Kapazität von jährlich 100 Millionen Passagieren. Weiterhin stampfen Hunderttausende von Lastwagen voller zum grössten Teil überflüssiger Luxusgüter quer durch Europa. Russland, die USA, China und Indien liefern sich in der Produktion neuer Waffensysteme einen immer gigantischeren gegenseitigen Wettkampf. Unter dem schmelzenden Eis der Pole wittern die angrenzenden Staaten in Form riesiger Rohstoffvorkommen das ganz grosse neue Geschäft der kommenden Jahrzehnte. In Brasilien schreitet die Abholzung des Regenwaldes zwecks Gewinnung von Weideland für die globale Fleischproduktion schneller voran denn je. Und quer über den Globus schrauben sich Olympiastadien, Autobahnbrücken und Wolkenkratzer in immer schnellerem Tempo in den Himmel. Da wirken die paar punktuellen Massnahmen, welche bis jetzt von einzelnen wenigen Parlamenten und Regierungen gegen die Klimaerwärmung getroffen wurden, bloss wie winzige Tropfen auf einen riesigen, immer grösser werdenden heissen Stein. Nüchtern betrachtet, werden sich, wenn nichts Grundlegendes geschieht, die schlimmsten Prognosen von Klimaforschern und Wissenschaftlerinnen schon in wenigen Jahrzehnten erfüllen und jene Millionen von Menschen, die heute auf den Strassen gegen den Klimawandel ankämpfen, werden sich enttäuscht, entmutigt und verzweifelt in alle Winde zerstreut haben. Ja, wenn nichts Grundlegendes geschieht. Und dieses Grundlegende, das ist der Systemwandel, System Change, die Überwindung des Kapitalismus. Die heutige Klimabewegung wird nur dann zum Erfolg führen, wenn ihr millionenfaches Potenzial junger Menschen auf die Schaffung einer neuen Weltordnung ausgerichtet wird, in der es keinerlei Form von Unterdrückung und Ausbeutung mehr gibt und nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen den Menschen und der Natur weltweit Gerechtigkeit und Frieden herrschen – jene Vision, die jedes Kind schon von klein auf in sich trägt und die nun zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Chance hat, Wirklichkeit zu werden…

Arena: Totschlagargumente gegen neue Gesellschaftsvisionen

Als Ronja Jansen, Präsidentin der Juso, klimaschädliche Praktiken von Schweizer Firmen und Banken anprangert und strengere staatliche Eingriffe und Vorschriften fordert, wird ihr von Benjamin Fischer, Präsident der Jungen SVP, sogleich vorgeworfen, sie strebe die Zerschlagung des Kapitalismus an und sympathisiere ganz offensichtlich mit sozialistischen Ideen, die sich, wie man allgemein wisse, in der Vergangenheit als höchst untauglich erwiesen hätten. Und im späteren Verlauf der Diskussion plädiert Andri Silberschmid, Präsident der Jungen FDP, für eine Diskussionskultur, die weniger stark von «ideologischen Scheuklappen» geprägt sei – womit auch er auf die Ausführungen der Juso-Präsidentin anspielte…

(Schweizer Fernsehen SRF1, 27. September 2019, Politsendung «Arena» mit den Präsidenten und Präsidentinnen der Schweizer Jungparteien zu den Themen Klimawandel und Rentenalter)

Dass all jenen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem in Frage zu stellen wagen, sogleich vorgehalten wird, sie strebten einen Rückfall in das Zeitalter der Sowjetunion oder der DDR an, erstickt auch nur schon den kleinsten Anfang einer Diskussion, die von grösster Bedeutung wäre. Denn der Kapitalismus hat sich nicht nur hierzulande, sondern auch weltweit, dermassen verheerend in seine eigenen Widersprüche verstrickt, dass es höchste Zeit ist, über mögliche Alternativen nachzudenken. Dass man dabei das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und vergangene Staatsmodelle wie die Sowjetunion, die DDR oder Kuba wieder aufleben lassen möchte, ist wohl auch den schärften Kritikern des Kapitalismus sonnenklar. Nein, wir brauchen nicht die Kopie von etwas Vergangenem. Wir brauchen etwas von Grund auf Neues, etwas Drittes, jenseits des alten Kommunismus und des heutigen Kapitalismus. Und es wird die ganze Phantasie und Kreativität von uns heutigen Menschen brauchen, um dieses Neue zu schaffen. Die Totschlagargumente derer, die am liebsten gar nichts verändern möchten, haben auch in dieser Arena-Diskussion einmal mehr dazu geführt, dass die «Systemfrage», obwohl doch eigentlich das Wichtigste wäre, unter den Tisch gewischt wurde und man sich lieber mit einzelnen Sachfragen beschäftigte, die allesamt keinen Millimeter über den kapitalistischen Mainstream hinausgingen. Und wenn dann zum Schluss der Sendung Andri Silberschmid noch den Wunsch äusserte, zukünftige politische Diskussionen seien «ohne ideologische Scheuklappen» zu führen, dann ist das schon fast grotesk, ist doch der Kapitalismus, an dem Silberschmid und seine Mitstreiter nicht rütteln mögen, nichts anderes als eine Ideologie, nur dass wir alle – im Gegensatz zu einer neuen, noch nicht realisierten Gesellschaftsordnung – mittendrin leben, sozusagen in einer so grossen Zahl von Bäumen, dass wir den Wald gar nicht mehr zu sehen vermögen. Ideologisch sind heute nicht jene Politiker und Politikerinnen, die sich auf den Weg zu einer neuen, an den Bedürfnissen von Mensch und Natur orientierten Gesellschaftsordnung begeben. Ideologisch sind jene, die sich verzweifelt am Bisherigen festklammern und jedes auch nur ansatzweise Nachdenken über etwas Neues, Besseres grossspurig in den Wind schlagen.

Als lebten wir in zwei Welten

Die grösste Baustelle der Schweiz befindet sich derzeit am Flughafen Zürich. Dort entsteht der sogenannte The Circle, ein Gebäude, das Platz für Gewerbe, Büros und Anlässe bieten wird. Ende 2019 soll dieses fertig gebaut sein. Doch damit hat der Flughafen sein neues Gesicht bei weitem noch nicht erhalten. Voraussichtlich ab 2025 werden Bagger für ein neues Grossprojekt in Kloten auffahren. Das Terminal 1, früher auch Terminal A genannt, wird umgebaut. In der ersten Etappe stehen das Dock A, wo Flugzeuge parkiert sind, die Dockwurzeln, der Tower der Flugsicherung Skyguide und verschiedene Vorderflächen im Fokus. Rund 800 Millionen will der Flughafen in dieses Projekt investieren. Damit wird die Erweiterung zu einem der grössten Bauprojekte der Schweiz. Anlass für dieses Projekt ist das Ende der Lebensdauer zentraler Flughafenbauten, aber auch das Passagierwachstum. «Als vorausschauende Planerin entwickelt die Flughafen Zürich AG den grössten Landesflughafen der Schweiz gesamtheitlich für die nächste Generation», sagt Projektleiter Bircher. Es sei naheliegend, dass ein Neubau, der frühestens bis 2030 umgesetzt wird, so geplant werde, dass er die künftig zu erwartenden Passagierzahlen bewältigen kann. «Wichtig ist für uns als Flughafen insbesondere, dass wir das heutige Qualitätsniveau mit Blick auf die prognostizierten Passagierzahlen halten können», sagt Bircher. Wenn von einem jährlichen Passagierwachstum von 2 bis 3 Prozent ausgegangen wird, fliegen 2040 etwa 50 Millionen Passagiere pro Jahr über Zürich.

(www.20minuten.ch)

Als lebten wir in zwei Welten. In der einen Welt gehen Abertausende Jugendliche auf die Strasse, diskutieren eifrigst, mit welchen Mitteln man die drohende Klimaerwärmung aufhalten könnte, und träumen von einer Zukunft, in welcher der Mensch und die Natur im Einklang leben. In der anderen Welt, als wäre nichts geschehen, buttert man ohne mit der Wimper zu zucken 800 Millionen Franken in ein neues Flughafenprojekt, damit dann 2040 – also genau dann, wenn der weltweite CO2-Ausstoss allmählich bei Null liegen müsste – jährlich etwa 50 Millionen Passagiere über Zürich fliegen können. Wie viele Millionen klimastreikender Jugendlicher braucht es noch, bis auch dem letzten Ewiggestrigen die Augen aufgehen?

Ein Marshallpan für eine «neue Welt»

Dass sich die Gewerkschaft Unia am nationalen Klimastreik vom kommenden Samstag in Bern beteiligen wird, ist für die Moderatoren der Sendung «Rundschau Talk» ein gefundenes Fressen. Sie zerzausen ihren Studiogast, Unia-Präsidentin Vania Alleva, regelrecht, versuchen mit allen Mitteln, soziale und ökologische Anliegen gegeneinander auszuspielen, geben zu bedenken, dass höhere Abgaben auf Heizöl, höhere Benzinpreise und Abgaben auf Flugtickets vor allem die sozial Schwächeren überproportional treffen und zitieren einen Schreiner aus Zernez, der im Umkreis von 15 Kilometern arbeite und im Falle einer Benzinpreiserhöhung seine Existenz gefährdet sehe. Keine leichte Aufgabe für die Gewerkschaftssekretärin. Denn im Grunde haben die Moderatoren recht: Jede fiskalische Massnahme zum Zwecke des Klimaschutzes trifft die sozial Schwächsten am meisten. Dies, nämlich eine Erhöhung des Benzinpreises, führte ja in Frankreich zum Aufstand der «Gelbwesten» und zu einer regelrechten Erschütterung der französischen Regierung. Nun, auch Vania Alleva fällt zu diesem Thema nicht viel mehr als die Forderung nach «Lenkungsabgaben», damit die erhöhten Gebühren und Abgaben schliesslich wieder zu denen zurückfliessen, die sonst über die Massen belastet wären. Und dann spricht sie auch noch von einem «Marshallplan», mit dem auf breiter Ebene, unter Einbezug der sozialen Frage, ein ökologischer Umbau in grossem Stil vorangetrieben werden müsste – ohne die mögliche Stossrichtung eines solchen «Marshallplans» näher auszuführen.

(«Rundschau Talk», Schweizer Fernsehen SRF1, 25. September 2019)

Immer wieder zeigt sich in solchen Diskussionen, dass in unserem hochkomplexen kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem alles dermassen miteinander verknüpft und ineinander verschachtelt ist, dass man kaum an einem Ort einen Nutzen erreichen kann, ohne an einem anderen wieder einen Schaden anzurichten. Konkret: Wir retten das Klima, aber zerstören die Existenz eines Schreiners und seiner Familie in Zernez. Oder: Wir unternehmen keine Flugreisen mehr, aber vernichten Zehntausende von Arbeitsplätzen in den Flugzeugfabriken. Oder: Wir verzichten auf einen grossen Teil bisher aus fernen Ländern stammender Lebensmittel, aber werfen die Menschen, welche diese bisher angepflanzt und geerntet haben, vollends ins Elend. Deshalb braucht es wahrscheinlich, wie Vania Alleva richtigerweise meinte, tatsächlich so etwas wie einen «Marshallplan», nur in einem noch viel umfassenderen Sinn: eine radikale gesellschaftliche Neuordnung, einen Neubeginn von Anfang an, einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau, bei dem kein Stein auf dem andern bleibt. In dieser «neuen Welt» wären soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Lebensgrundlagen keine Gegensätze mehr, die man gegeneinander ausspielen kann, sondern, ganz im Gegenteil, die beiden Kehrseiten der gleichen Medaille. Noch sind wir von dieser neuen Welt meilenweit entfernt, aber wir nähern ihr uns jeden Tag ein bisschen mehr…

Systemwechsel – dringender denn je

Von Anfang an haben zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung einen «Systemwechsel» gefordert, für den Fall nämlich, dass sich die notwendigen klimapolitischen Massnahmen im bestehenden Wirtschaftssystem nicht verwirklichen lassen – in weiser Voraussicht, dass der Kapitalismus und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen letztlich unvereinbar sind. Wie die von Ständerat und Nationalrat bisher getroffenen Massnahmen zeigen, haben diese radikalen Stimmen der ersten Stunde Recht bekommen. Und zweifellos wird auch der Uno-Umweltgipfel, der in diesen Tagen über die Bühne geht, ein ähnliches Bild zeigen. So wird ein «Systemwechsel» dringender denn je. Und wer, wenn nicht die Millionen Jugendlichen, die hier und heute auf die Strassen gehen, ist befugter, diesen Systemwechsel in Gang zu bringen. Was es braucht, sind Zukunftswerkstätten, initiiert und geleitet von Jugendlichen, in denen es keine Denkbarrieren geben darf, keine falschen Scheuklappen, keine Tabus. Wer die neue Zeit schaffen will, muss bereit sein, sich auf Ideen einzulassen, die im Moment noch jenseits aller Denkvorstellungen liegen. Es müsste gelingen. Denn genau so, wie der Kapitalismus von Menschen aufgebaut wurde, so kann er jederzeit auch wieder durch Menschen abgebaut und durch etwas von Grund auf Neues ersetzt werden…

Parlament: Kein angemessenes Abbild der Bevölkerung

Mit einem Frauenanteil von 32 Prozent im Nationalrat belegt die Schweiz derzeit den 36. Rang unter 191 Staaten. Im Jahr 2004 hatte die Schweiz noch an 22. Stelle rangiert. Seither wurde sie vor allem von afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten überholt. Ein afrikanisches Land ist es auch, das die IPU-Rangliste seit Jahren dominiert: Ruanda, dessen Parlament zu fast zwei Dritteln weiblich besetzt ist. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Bolivien und Kuba.

(www.handelszeitung.ch)

Zweifellos ist die Diskussion rund um den Frauenanteil in Parlamenten, aber auch auf den Chefetagen der Wirtschaft von grösster Bedeutung. Daneben aber findet eine andere, mindestens so notwendige Diskussion erstaunlicherweise ganz und gar nicht statt, die Diskussion nämlich, wie die einzelnen Berufsgruppen sowie die sozialen Schichten in Regierungen und Parlamenten vertreten sind. Schauen wir uns die Zusammensetzung des Nationalrats an, so finden wir eine überwiegende Anzahl von Männern und Frauen mit höheren Berufsabschlüssen. Hingegen fehlen Personen, die «nur» einen Volksschulabschluss haben, gänzlich. Vergebens sucht man im Parlament ein Zimmermädchen, einen Koch, eine Serviceangestellte, eine Putzfrau, einen Automechaniker, einen Fabrikarbeiter, einen Bauarbeiter, eine Coiffeuse, eine Krankenpflegerin, eine Floristin, einen Kehrichtmann, eine Verkäuferin, einen Postboten, einen Kanalreiniger oder eine Prostituierte. Hunderttausende von Werktätigen, die meist wenig verdienen, mit ihrer täglichen Plackerei aber jene Basis bilden, ohne die unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und damit auch unsere Politik von einem Tag auf den anderen in sich zusammenfallen würden, sind in unseren Parlamenten und unseren Regierungen mit keiner einzigen Stimme vertreten! Und wenn man dann noch bedenkt, dass jeder Kandidat und jede Kandidatin für den National- und Ständerat aus dem eigenen Sack durchschnittlich 7500 Franken aufzuwerfen hat, dann wird eine solche «Demokratie» erst recht zur Farce und wir haben wenig Grund, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen, in denen Korruption und käufliche Karrieren an der Tagesordnung sind. Wir sind selber auf dem besten Weg dorthin…

 

Das Märchen von der selbstverschuldeten Armut

Etwas mehr als die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Personen weist ein Vermögen von weniger als 50’000 Franken auf, ein Viertel gar keines. Knapp 6 Prozent besitzen mehr als eine, 0,28 Prozent oder 14’803 Personen mehr als 10 Millionen. Aktuell besitzt ein Prozent der Schweizer Bevölkerung rund 40 Prozent des Gesamtvermögens. Dieser Wert ist rund doppelt so hoch wie in Frankreich und England. Anders formuliert: Wenige «Superreiche» hängen mit ihrem Vermögen den Rest immer stärker ab. Das gleiche Phänomen lässt sich bei den Einkommen beobachten. Daniel Lampart, Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, ortet eine Reihe von Schwierigkeiten. Reiche Eltern könnten ihren Kindern zum Beispiel eine bessere Ausbildung ermöglichen. Und: «Menschen mit hohem Vermögen können mehr Einfluss auf Politik und Wirtschaft ausüben.»

(W&O, 24. September 2019)

Kann man da noch von einer funktionierenden Demokratie sprechen? Wohl kaum. Vielmehr von einer Klassengesellschaft, in der Lebensstandard, persönliches Wohlergehen, Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten sowie Zukunftschancen höchst ungleich verteilt sind. Dass es nicht schon längst zu einem Aufstand der unteren Klassen gekommen ist, hat erstens damit zu tun, dass es im reichsten Land der Welt auch den Ärmsten immer noch besser geht als der überwiegenden Mehrheit der gesamten Weltbevölkerung. Und zweitens, was vielleicht noch entscheidender ist: dass auch die Armen und Ärmsten immer noch an jenes Märchen glauben, das man ihnen von klein auf eingebläut hat, nämlich, dass, wer arm ist, selber daran Schuld sei. Während in Tat und Wahrheit doch das Geld, das in den Taschen der Reichen und Reichsten dermassen im Überfluss vorhanden ist, genau jenes Geld ist, das in den Taschen der Armen und Ärmsten so schmerzlich fehlt – als Folge der unaufhörlichen kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen auf  was für verschlungenen, geheimnisvollen und unsichtbaren Wegen auch immer…

Was Menschen aufgebaut haben, können Menschen auch wieder abbauen und durch etwas von Grund auf Neues ersetzen

Angela Merkel hatte den Kampf gegen den Klimawandel selbst als «Menschheitsaufgabe» beschrieben. Doch was am Freitag in Berlin vorgestellt wurde, fiel nach Ansicht von Beobachtern und Experten erschreckend kleinteilig und zaghaft aus. Zwar werden 50 Milliarden Euro ausgegeben – für mehr Elektroautos, bessere Heizungen und günstigeres Bahnfahren und vieles mehr. Doch es fehlen der grosse Wurf und der Wille, eine klimapolitische Wende tatsächlich umzusetzen. Im Mittelpunkt der Kritik steht die CO2-Steuer, die zwar kommen soll, aber mit 20 Euro pro Tonne so niedrig angesetzt ist, dass sie frühestens in zehn Jahren Wirkung zeigen wird.

(NZZ am Sonntag, 22. September 2019)

Von Anfang an haben zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung einen «Systemwechsel» gefordert, für den Fall nämlich, dass sich die notwendigen klimapolitischen Massnahmen im bestehenden Wirtschaftssystem nicht verwirklichen lassen – in weiser Voraussicht, dass der Kapitalismus und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen letztlich unvereinbar sind. Wie die von der deutschen Regierung getroffenen «kleinteiligen» und «zaghaften» Massnahmen zeigen, haben diese radikalen Stimmen der ersten Stunde Recht bekommen. Und zweifellos wird auch der Uno-Umweltgipfel, der in diesen Tagen über die Bühne geht, ein ähnliches Bild zeigen. So wird ein «Systemwechsel» dringender denn je. Und wer, wenn nicht die Millionen Jugendlichen, die hier und heute auf die Strassen gehen, ist befugter, diesen Systemwechsel in Gang zu bringen. Eine Herausforderung historischen Ausmasses. Die Verstaatlichung der Privatwirtschaft und die Aufhebung des Konkurrenzprinzips als Grundantrieb für wirtschaftliche Entwicklung. Die Abschaffung aller Waffen und Armeen. Die Abschaffung der wundersamen Geldvermehrung durch Zins und Zinseszins. Ein Einheitslohn. Ein selektionsfreies Bildungssystem. Die Abschaffung des motorisierten Individualverkehrs. Dies nur einige von zahllosen möglichen Mosaiksteinen, welche in von der Klimajugend initiierten und geleiteten Zukunftswerkstätten diskutiert werden müssten. Dabei darf es keine Denkbarrieren geben, keine falschen Scheuklappen, keine Tabus. Wer die neue Zeit schaffen will, muss bereit sein, sich auf Ideen einzulassen, die im Moment noch jenseits aller Denkvorstellungen liegen. Es müsste gelingen. Denn genau so, wie der Kapitalismus von Menschen aufgebaut wurde, so kann er jederzeit auch wieder durch Menschen abgebaut und durch etwas von Grund auf Neues ersetzt werden…