Archiv des Autors: Peter Sutter

«Gleichwertige» Arbeit – was heisst das?

Anknüpfend an den Vormarsch der Frauen bei den Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober diskutierte die gestrige «Arena» des Schweizer Fernsehens über Frauenlöhne, Gleichstellung, Frauenquoten und ganz allgemein Diskriminierung von Frauen gegenüber Männern. Angeprangert wurde insbesondere der Umstand, dass ein erheblicher Prozentsatz der Frauen auch für «gleichwertige» Arbeit immer noch deutlich weniger verdienen als Männer. Was in solchen Diskussionen immer wieder auffällt: Der Begriff «gleichwertig» wird nie hinterfragt. Täte man dies, so müsste man sich nämlich mal ganz grundsätzlich – unabhängig von der Frauenfrage – mit dem gesellschaftlichen Wert von Arbeit auseinandersetzen. Ist die Arbeit eines Bauarbeiters weniger wert als die Arbeit eines Bankbeamten? Ist die Arbeit einer Krankenpflegerin weniger wert als die Arbeit einer Gymnasiallehrerin? Ist die Arbeit einer Köchin weniger wert als die Arbeit einer Innenarchitektin? Die wirklich grosse, himmelschreiende Ungerechtigkeit ist nicht jene zwischen der Frau und dem Mann, die in der gleichen Firma den gleichen Job verrichten – dieser Unterschied beträgt bis zu 20 Prozent des Lohnes. Die wirklich grosse, himmelschreiende Ungerechtigkeit ist jene zwischen so genannt «minderwertigen» und «höherwertigen» Jobs, egal ob diese von Frauen oder Männern ausgeübt werden – dieser Unterschied beträgt bis zum 300fachen zwischen den schweizweit höchsten und tiefsten Löhnen! Das zutiefst Ungerechte daran ist, dass ausgerechnet die am schlechtesten Verdienenden meist auch die härteste und anstrengendste Arbeit verrichten und dennoch die geringste gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. Man würde staunen, was passieren würde, wenn sämtliche Bäcker, Putzfrauen, Zeitungsausträger, Kehrichtmänner, Krankenpflegerinnen, Zimmermädchen, Köche und Dachdecker von heute auf morgen ihre Arbeit aufgäben: Das ganze schöne Gebäude, auf dessen oberen Rängen sich Hunderttausende Gutverdienende alle möglichen Luxusvergnügen leisten können, würde augenblicklich in sich zusammenbrechen. Es ist gut und wichtig, über die Unterschiede zwischen Frauenlöhnen und Männerlöhnen zu diskutieren. Mindestens so wichtig aber wäre es, darüber zu diskutieren, ob nicht die vielgeforderte «Lohngleichheit» in letzter Konsequenz bedeuten würde, dass eben nicht nur Männer und Frauen im selben Job, sondern auch Bankangestellte, Kellnerinnen, Lehrer, Krankenpflegerinnen, Rechtsanwälte, Bauarbeiter und Fabrikarbeiter – im Sinne eines «Einheitslohns» – logischerweise gleich viel verdienen müssten. Wäre das vielleicht ein Thema für eine nächste «Arena»-Sendung?

Kapitalismus: Nicht das Ende der Geschichte

Tag drei nach der historischen Schlappe: Das Präsidium der SP Schweiz trifft sich zur Lagebesprechung. Minus vier Sitze im Nationalrat, minus eins im Ständerat. Dann die 16,8 Prozent: So tief war der Wähleranteil noch nie. «So», sagt Co-Generalsekretär Michael Sorg, «können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.» Auch die Juso-Präsidentin Ronja Janssen ist nicht zufrieden: «Wir können die Menschen nicht begeistern mit einer lauwarmen Politik der Kompromisse.» Und auch für Nationalrat Cédric Wermuth ist klar: «Es darf nicht passieren, dass es in der Schweiz zu einem historischen Linksrutsch kommt und wir nicht davon profitieren. Die SP muss sich die Frage stellen, weshalb sie nicht Teil dieses Wandels ist.»

(W&O, 24. Oktober 2019)

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder rückt die SP weiter in die politische Mitte – dann wird sie erst recht immer mehr zwischen den frecher und kompromissloser agierenden Grünen auf der einen Seite und den bürgerlichen Parteien auf der anderen zerrieben werden. Oder sie besinnt sich wieder auf ihr historisches Grundanliegen der sozialen Gerechtigkeit, was aber zwangsläufig bedeutet, dass sie das Postulat einer «Überwindung des Kapitalismus» – wie es auch im aktuellen Parteiprogramm formuliert ist – wieder ins Zentrum ihrer politischen Arbeit stellen muss. Denn es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne eine Überwindung des Kapitalismus, alles andere ist Flickwerk und Augenwischerei. Dass die Jusos, von denen nun einige in den Nationalrat gewählt worden sind, genau diese Stossrichtung fordern, gibt viel Hoffnung – vorausgesetzt, die «arrivierten» und «traditionalistischen» Vertreter und Vertreterinnen der SP sind bereit, auf sie zu hören und von ihnen zu lernen. Geht es um die Überwindung des Kapitalismus, ist allerdings dreierlei zu bedenken. Erstens: Dieses Ziel des Aufbaus einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung lässt sich nur verwirklichen in einer globalen Zusammenarbeit sämtlicher antikapitalistischer Parteien, Gruppierungen und Bewegungen, die nicht an den einzelnen nationalen Grenzen Halt macht, sondern diese überwindet. Zweitens: Der Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darf sich nicht an historisch gescheiterten Gesellschaftsmodellen wie etwa dem Kommunismus orientieren, sondern muss etwas von Grund auf Neues sein und sich nur an den Lebens- und Zukunftsbedürfnissen der hier und heute lebenden Menschen orientieren. Drittens: Eine Vision zu verfolgen, bedeutet nicht, das Alltagsgeschäft und die politische Kleinarbeit zu vernachlässigen. Beides muss gleichzeitig mit gleicher Leidenschaft und Energie vorangetrieben werden: Eine neue Welt aufzubauen und ebenso in der alten Welt, in der wir noch leben, den Menschen das Leben so erträglich zu machen wie nur irgend möglich. Dann müsste sich die SP bei den nächsten Wahlen nicht mehr mit einem Wähleranteil von 16,8 Prozent zufrieden geben. Diese 16,8 Prozent hätte sie mit einer glaubwürdigen Sozial- und Umweltpolitik wieder auf sicher. Dazu aber kämen viele zusätzliche Wählerinnen und Wähler, für die der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist und die von einer friedlichen, gerechten und für alle Menschen lebenswerten Zukunft träumen.

Der Club: Kein guter Dienst für die Klimadiskussion

Der «Club» vom 22. Oktober zum Thema «Grün legt zu – und jetzt?» hat der Klimadiskussion keinen guten Dienst erwiesen. Weshalb wurden gleich zwei Vertreter radikaler Klimagruppen eingeladen, die unter anderem mit Aktionen wie Strassenblockaden, Brückenbesetzungen und dergleichen von sich reden machen, nicht aber ein Vertreter oder eine Vertreterin jener Zehntausender Kinder und Jugendlichen, welche seit Monaten gewaltfrei und friedlich auf die Strasse gehen und mit ihrem riesigen Engagement den Erdrutschsieg der Grünen bei den Parlamentswahlen vom 20. Oktober überhaupt erst möglich machten? Und warum sassen auf der Gegenseite ausgerechnet der in Klimafragen zweifellos aggressivste SVP-Politiker, nämlich Roger Köppel, sowie, mit Christian Wasserfallen, der praktisch einzige FDP-Exponent, der sich immer noch hartnäckig weigert, den von FDP-Präsidentin Petra Gössi vorgezeichneten «Klimapfad» zu beschreiten? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dem Schweizer Fernsehen mit dieser Sendung vor allem um die Einschaltquote gegangen ist und weniger um eine sachliche, konstruktive Diskussion. Das ist sowohl unfair wie auch gefährlich. Unfair gegenüber der gewaltfreien, friedlichen Klimajugend. Unfair aber auch gegenüber all jenen Politikern und Politikerinnen innerhalb des bürgerlichen Lagers, die es im Verlaufe der letzten Monate gewagt haben, aus dem Links-Rechts-Schema auszubrechen und gegenüber den Forderungen der Klimabewegung versöhnlichere Töne anzustimmen. Und gefährlich, weil so die Diskussion einmal mehr auf die Extreme der beiden Seiten zugespitzt wird, so dass es nur ein unschönes, gegenseitiges Hick-Hack geben kann, nicht aber das Bemühen, einander zuzuhören, einander ernst zu nehmen und ein Thema, von dem schliesslich alle betroffen sind, gemeinsam anzupacken.

Parlamentswahlen: Themen im Rampenlicht und Themen im Dunklen

Keine Frage, sowohl der Frauenstreik wie auch die Klimastreikbewegung haben einen enormen Einfluss auf die Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober gehabt. Was aber ebenso auffällt, ist, dass andere Themen von mindestens so existenzieller Bedeutung im Vorfeld der Wahlen mehr oder weniger inexistent waren. So etwa die Einkommens- und Vermögensverteilung, die in wenigen Ländern so krass ist wie in der Schweiz: Die höchsten Einkommen übertreffen hier die niedrigsten um das 300fache, der reichste Fünftel der Bevölkerung besitzt 86 Prozent des schweizerischen Gesamtvermögens! Auch dass rund eine halbe Million so genannte Working poor selbst bei voller Erwerbstätigkeit nicht genügend verdienen, um eine Familie ernähren zu können, und dass eine weitere halbe Million nur knapp an der Armutsgrenze leben, war im Wahlkampf kaum je ein Thema. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass körperliche und psychische Erkrankungen infolge des steigenden Drucks und der steigenden Hektik am Arbeitsplatz immer mehr zunehmen. Offenbar wird nur das zum politischen Thema, was sich medial möglichst lautstark in Szene setzt – an alles andere scheint man sich schon dermassen gewöhnt zu haben, dass man es gar nicht mehr wahrnimmt und es gar nicht mehr besonders auffällt, obwohl Hunderttausende von Menschen existenziell davon betroffen sind. Eine verhängnisvolle Entwicklung, die schliesslich dazu führt, dass immer mehr Vergessene und Zukurzgekommene, wie sich auch angesichts der tiefen Wahlbeteiligung am 20. Oktober zeigt, aus allem, was mit Politik zu tun hat, mit der Zeit ausklinken. Ganz so, wie es schon der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht sagte: «Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man sieht die im Lichte, doch die im Dunkeln sieht man nicht

46 Prozent Wahlbeteiligung – Ausdruck einer zweigeteilten Gesellschaft

Alle sprechen – in Bezug auf die schweizerischen Parlamentswahlen vom 20. Oktober – vom erdrutschartigen Vormarsch der Grünen. Vom Erstarken der politischen Mitte. Von den massiven Verlusten der SVP. Von der markanten Erhöhung des Frauenanteils. Erstaunlicherweise aber spricht niemand davon, dass sich nur gerade mal 46 Prozent der Bevölkerung an diesen Wahlen beteiligt haben. Eine Quote, die auch im Vergleich mit anderen, auch aussereuropäischen Ländern, sehr zu denken geben müsste, widerspricht dies doch zutiefst dem Grundideal einer Demokratie, an der sich möglichst alle Bürgerinnen und Bürger aktiv und gleichberechtigt beteiligen. Alles deutet daraufhin, dass wir es hier mit dem Problem einer «zweigeteilten» Gesellschaft zu tun haben. Zahlreiche Untersuchungen, die zu diesem Thema auch schon auf gesamteuropäischer Ebene gemacht wurden, zeigen denn auch, dass vor allem «Ungebildete» und «Geringverdienende» überdurchschnittlich oft der Urne fernbleiben, jene Menschen also, die entweder an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden oder zu niedrigem Lohn und mit geringer gesellschaftlicher Wertschätzung meist überdurchschnittlich anstrengende Arbeit verrichten und auf diese Weise jenes Fundament bauen, auf dem die gesamte Gesellschaft mitsamt ihren «demokratischen» und politischen Strukturen überhaupt erst aufbauen kann. Kapitalismus und Demokratie vertragen sich eben nur äusserst schlecht. Es müsste der Tag kommen, an dem auch Bauarbeiter, Kehrichtmänner, Sozialhilfebezüger, Putzfrauen und Migrosverkäuferinnen in den Parlamenten sitzen. Von diesem Tag scheinen wir allerdings noch ziemlich weit entfernt zu sein…

Angst vor einer Revolution mit unabsehbaren Folgen?

«Es ist sicher nicht so, dass viele Menschen in armen Ländern arm sind, weil wir reich sind. Die Welt ist kein Nullsummenspiel, wo der eine gewinnt und der andere verliert.»

(Dina Pomeranz, Wirtschaftsprofessorin und Entwicklungsökonomin an der Universität Zürich, www.srf.ch)

Mehr als erstaunlich, dass angesehene Ökonominnen und Ökonomen in der heutigen Zeit immer noch solchen Unsinn verbreiten können. Die These, wonach es zwischen Reichtum hier und Armut dort keinen Zusammenhang geben soll, kann man nur schon mit einem einzigen Beispiel widerlegen. Nehmen wir ein Smartphone: Der kongolesische Minenarbeiter schürft jene seltenen Metalle aus der Erde, die es für die Herstellung eines Smartphones braucht. Er verrichtet während zwölf oder mehr Stunden pro Tag härteste Arbeit zu einem Hungerlohn, von dem er seine Familie kaum ausreichend ernähren kann. Er lebt in bitterster Armut. Chinesische Fabrikarbeiterinnen setzen die einzelnen Bestandteile des Smartphones zum fertigen Gerät zusammen, eine Arbeit, die während vieler Stunden pro Tag höchste Konzentration und Fingerfertigkeit erfordert. Doch auch sie bekommen dafür bloss einen Lohn, von dem sie höchstens mehr schlecht als recht leben können, nicht selten schlafen sie mit zahlreichen Arbeitskolleginnen in einem einzigen grossen Raum und verfügen praktisch über kein Privatleben. Eines Tages liegt das fertige Smartphone in einem europäischen, japanischen oder US-amerikanischen Geschäft. Und jedes verkaufte Gerät spült ein Vielfaches jenes Geldes, welches der kongolesische Minenarbeiter und die chinesischen Fabrikarbeiterinnen bekommen haben, in die Taschen von Managern, Verwaltungsräten und Aktionären multinationaler Konzerne. Beliebig viele weitere Beispiele liessen sich anfügen, von der Kaffeebohne über Schuhe und Textilien bis hin zu Sportartikeln und Spielwaren, von Tropenfrüchten und Fleischprodukten über Autobatterien bis zu Möbeln und Badezimmereinrichtungen. Beispiele, die uns deutlich machen, wie eng Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite miteinander verflochten sind – die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille, deren Grundprinzip die Ausbeutung der arbeitenden Menschen zugunsten einer immer uferloseren Anhäufung von Kapital in den Händen der Reichen und Reichsten ist. Haben Ökonomen und Ökonominnen wie Dina Pomeranz noch nie etwas davon gehört? Oder wollen sie es bewusst nicht wahrhaben? Oder wäre die Wahrheit, käme sie ans Licht, vielleicht zu schmerzlich? Oder hat man gar Angst davor, dass diese Wahrheit eine Revolution mit unabsehbaren Folgen auslösen könnte?

Folgerichtiger Zusammenschluss von Klimabewegung und Gewerkschaften

Obwohl sie bisher konsequent zu den politischen Parteien Abstand genommen haben, sind die Klimaaktivisten kürzlich an den Schweizerischen Gewerkschaftsbund gelangt, um ihn zur Teilnahme an der grossen Kundgebung vom 20. Mai 2020 zu bewegen. Die Klimakrise, so erklären die Jugendlichen, sei untrennbar mit sozialen Fragen verknüpft. Damit wird die Kampfzone ausgeweitet – und das eigentliche Thema, das Klima, verliert an Bedeutung. Mit diesem Vorgehen begehen die Klimaaktivisten einen fatalen Fehler. Wenn sie die Klimaproblematik mit dem Klassenkampf koppeln, werden sie viele Wohlgesinnte abschrecken. Sie verlieren nicht nur viel Goodwill, sondern, schlimmer noch, ihre Kraft.

(Janine Hosp, Tages-Anzeiger, 18.Oktober 2019)

Leider droht in der gegenwärtigen Klimadebatte – dies zeigt auch obiger Artikel des Tages-Anzeigers – die eigentliche Hauptursache des Klimawandels immer mehr in den Hintergrund zu treten. Diese Hauptursache ist nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen Dogmen des immerwährenden Wachstums und der immerwährenden Profitvermehrung – auf Kosten der Erde wie auch der Menschen und der Tiere. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ist nur eines der vielen hässlichen Gesichter des Kapitalismus. Ein anderes ist die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft über alle Grenzen hinweg bis hin zu sklavenähnlichen Zuständen, die selbst in unserem 21. Jahrhundert für Millionen von Menschen bittere Tatsache sind. So ist es nichts anderes als folgerichtig, dass sich die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen mit den Gewerkschaften zusammenschliessen möchten. Das mag sie möglicherweise einen Teil ihrer bisherigen Sympathisanten und Sympathisantinnen kosten. Längerfristig aber wird es sich lohnen – wenn es gelingt, von der reinen Symptombekämpfung zu den eigentlichen Hauptursachen des Klimawandels vorzustossen und nicht weniger zu fordern als eine Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer von Grund auf neuen, am Wohl der Menschen, der Natur und zukünftiger Generationen orientierten Wirtschaftsordnung.

Man kann nicht die Armut bekämpfen, ohne gleichzeitig auch den Reichtum zu bekämpfen

«Wie die Menschheit Armut besser bekämpfen kann» – so der Titel eines Berichts im Tages-Anzeiger über die drei Preisträger des diesjährigen Wirtschaftsnobelpreises, Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer. Die drei Ökonomen hätten wesentlich dazu beigetragen, dass Armut weltweit bekämpft werden könne, begründete die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften ihren Entscheid. Duflo und Kremer haben einen neuen Ansatz eingeführt, um das Wesen der Armut besser zu verstehen. Einfach gesagt, geht es darum, das komplexe Thema in kleine und überschaubare Fragestellungen zu unterteilen. Zum Beispiel: Wie können Kinder und Jugendliche eine bessere Bildung erlangen? Wie lässt sich die Gesundheit von Kindern verbessern? Ähnliche Studien führte Banerjee durch und befasste sich dabei insbesondere mit der Vergabe von Mikrokrediten zwecks Bekämpfung der Armut.

(Tages-Anzeiger, 15. Oktober 2019)

Interessant, dass für solche Erkenntnisse, die eigentlich längstens schon Allgemeinplätze sind, gleich ein Nobelpreis verliehen wird. Und dies, obwohl man eigentlich schon lange weiss, dass bessere Schulbildung oder eine besondere Gesundheitsversorgung zwar für die davon Betroffenen ein Segen sind, insgesamt aber das Grundproblem der Armut bei weitem nicht zu lösen vermögen. Dieses Grundproblem muss man eben gerade nicht in «kleine und überschaubare Fragestellungen» aufteilen, sondern im Gegenteil als globales Gesamtphänomen betrachten. Und dieses globale Gesamtphänomen besteht darin, dass in gleichem Masse, wie die Armut der Armen zunimmt, eben auch der Reichtum der Reichen zunimmt – die unaufhörliche kapitalistische Umverteilung, die darin besteht, dass die Reichen nur deshalb immer reicher werden, weil die Armen immer ärmer werden, und umgekehrt, auf welchen verschlungenen, geheimnisvollen und unsichtbaren Wegen auch immer. Reichtum und Armut sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille. Um auf den Titel obigen Artikels zurückzukommen: Man kann nicht die Armut der Armen bekämpfen, ohne gleichzeitig auch den Reichtum der Reichen zu bekämpfen. Dies bedingt eine Abschaffung sämtlicher Ausbeutungsmechanismen, sei es in jedem einzelnen Land, aber auch von Land zu Land, sprich: eine Überwindung des weltweit herrschenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Härter arbeiten, wenig verdienen und erst noch früher sterben…

Wie extrem der sozioökonomische Status, vor allem Einkommen, Arbeitsstatus und Bildung, die Überlebenschancen beeinflusst, zeigt sich im Osten Deutschlands besonders deutlich. Hier zählen 14 Prozent der Männer zur untersten Einkommens- und Bildungsschicht. Diese Gruppe hat im Vergleich zur höchsten Einkommens- und Bildungsschicht ein mehr als achtmal so hohes Sterberisiko.

(www.bildungsklick.ch)

Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Diese 14 Prozent der Männer haben nicht nur ein viel tieferes Einkommen als die übrigen 86 Prozent. Sie verrichten zudem in aller Regel Arbeiten, die weit überdurchschnittlich stressig, anstrengend und monoton sind und daher häufig zu chronischen Beschwerden und Erkrankungen führen. Zudem sind sie von einer längeren Lebensarbeitszeit betroffen, da sie oft schon im Alter von 16 oder 20 Jahren zu arbeiten beginnen, während jene, die später bessere Jobs haben und mehr verdienen werden, noch in der Schule oder an der Universität sitzen. Weiter kommt dazu, dass sie über ein geringeres gesellschaftlichen Ansehen verfügen, sich wegen des geringeren Einkommens viel weniger leisten können und sich in ihrem Alltag weit mehr einschränken müssen als die anderen 86 Prozent. Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wird aber ihre Rente nach der Pensionierung um einiges tiefer sein als jene der ehemals Besserverdienenden. Und um dem allem noch die Krone aufsetzen, werden sie ihren Ruhestand weit weniger lange geniessen können und um vieles früher sterben als die ehemaligen Universitätsdozenten, Ärzte und Anwälte. Aber selbst das ist noch nicht alles. Führt man sich nämlich vor Augen, wie wichtig und grundlegend für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft all jene Tätigkeiten – vom Bäcker über den Kehrichtmann und Fabrikarbeiter bis zum Lastwagenfahrer – sind, welche von den am schlechtesten Verdienenden verrichtet werden, dann wird dieses ganze unbeschreibliche Unrecht erst in seiner ganzen Tragweite sichtbar: Ausgerechnet jene, die von der Plackerei der «unteren» Schichten profitieren, auf sie existenziell angewiesen sind und ihnen trotzdem kaum je die gebührende Wertschätzung entgegenbringen, werden am Ende noch dafür belohnt, dass sie um Jahre länger leben dürfen als jene. Hat da irgendwer mal etwas von «ausgleichender Gerechtigkeit» im Kapitalismus gesagt? Schön wäre es…

«Wir brauchen einen Konsumstreik»

Henrik Nordborg glaubt nicht daran, dass sich Wirtschaftswachstum und Klimaschutz unter einen Hut bringen lässt. Der Klima-Professor von der Hochschule für Technik Rapperswil HSR sagt: «Global gesehen sind der CO2-Ausstoss und die Wirtschaftsleistung gekoppelt.» Jede Tonne CO2 erhöhe das weltweite Bruttoinlandprodukt um etwa 2800 Dollar.

(www.20minuten.ch)

Vielleicht ist das der beste und wirkungsvollste Weg zur längst fälligen Überwindung des Kapitalismus, zum Aufbau eines neuen, nicht mehr an Profit und Wachstum, sondern am elementaren Wohl von Mensch und Natur orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.