Archiv des Autors: Peter Sutter

Kämpfen, bis nur noch eine übrig bleibt

Zuerst begann es mit Krämpfen im hinteren Oberschenkel, die dann auf den Fuss ausstrahlten. Dann wurden die Schmerzen im Oberschenkel wieder stärker. So beschrieb Belinda Bencic ihren Leidensweg im Halbfinal der WTA Finals gegen Jelina Switolina, den sie beim Stand von 7:5, 3:6, 1:4 aufgeben musste. Zuvor waren ebenfalls verletzungsbedingt ausgeschieden: Kiki Bertens mit Fieber und hohem Blutdruck, Naomi Osaka wegen einer Verletzung an der Schulter und Bianca Andreescu wegen Knieschmerzen.

(www.srf.ch)

So will es das Konkurrenzprinzip, nicht nur im Sport – obwohl es hier besonders augenfällig in Erscheinung tritt -, sondern auch in der Arbeitswelt, von Firma zu Firma, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, in der Werbung, beim gesellschaftlichen Turteln um Image, Ansehen und Attraktivität, in der Schule, wo die Kinder gegeneinander um die besten Leistungen und die höchsten Noten kämpfen müssen. Etwas, was nie an ein objektives Ende gelangt, denn für jeden, der gut ist, gibt es immer noch einen, der besser ist, und so werden die Hürden, die man überspringen muss, immer höher und höher. Dass dabei die Freude und die Gesundheit auf der Strecke bleiben, liegt auf der Hand. Betrachtet man die Gesichter von Tennisspielerinnen und Kunstturnerinnen, von Angestellten, die unter hohem Zeitdruck arbeiten müssen, und von Schülerinnen und Schülern während einer Prüfung, so ist jegliches Lachen aus ihren Gesichtern verschwunden. So wie bei der Schlagersängerin Helene Fischer, von der kürzlich berichtet wurde, sie sei «grausam abgestürzt». Von der Bühne? Während einer Show? Bei einer Bergwanderung? Falsch. Abgestürzt ist Helene Fischer in einer Umfrage, mit der die beliebteste deutsche Frau ermittelt werden sollte. Gemäss dieser Umfrage ist Helene Fischer nicht mehr die beliebteste, sondern «nur» noch die achtbeliebteste Deutsche. Was für eine Katastrophe! Wann ist mit diesem Unfug endlich Schluss? Wann erkennen wir, dass ein System, in dem alles auf eine winzige Spitze ausgerichtet ist, während alle anderen, obwohl sie diese Erfolge doch mit ihrer Opferbereitschaft überhaupt erst möglich machen, dennoch früher oder später auf der Strecke bleiben, wann erkennen wir, dass dieses System an seiner eigenen Widersprüchlichkeit eines Tages zusammenbrechen muss?

Alle im gleichen Boot

Der Präsident der schweizerischen Vereinigung der selbsteinkellernden Weinbauern, der Genfer Willy Cretegny, ist in einen Hungerstreik getreten. Er will damit auf die verzweifelte Lage der Winzer – infolge der Konkurrenzierung durch überseeische Weine – und der Natur aufmerksam machen. Die Biodiversität verschwinde, die Gletscher schmelzten, ganze Teile der lokalen Wirtschaft brächen weg, schreibt Cretegny in einer Medienmitteilung. Seine Bemühungen, mit den Behörden in einen Dialog zu treten, seien bisher ohne Erfolg geblieben. Seinem Anliegen, die Absurdität der freien Märkte und des Freihandels anzuprangern, sei bisher kein Gehör geschenkt worden. Nun hofft Cretegny, mit dem Hungerstreik die nötige Aufmerksamkeit für die Schwere der Situation zu bekommen.

(www.schweizerbauer.ch)

Nebst dem endlosen Wachstum, dem Konkurrenzprinzip und der betriebswirtschaftlichen Rentabilität ist der so genannte «Freie Markt» die vierte heilige Säule des Kapitalismus. Autos, die in den USA gefertigt wurden, werden nach Europa exportiert. Die Spielsachen der europäischen Kinder stammen aus chinesischen und südkoreanischen Fabriken. Äpfel aus Neuseeland und Südafrika landen in deutschen und Schweizer Supermärkten, Seite an Seite mit Tomaten aus Marokko, Aprikosen und Erdbeeren aus Spanien, Wein aus Kalifornien und Rindfleisch aus Brasilien. Nicht nur eine soziale und gesellschaftliche Katastrophe – für all jene, die in diesem immer mehr sich verschärfenden globalen Verdrängungskampf nicht mehr mitzuhalten vermögen und auf der Strecke bleiben. Auch eine ökologische Katastrophe – durch eine laufend wachsende Warenflut und immer längere Transportwege. Ob der Hungerstreik von Willy Cretegny etwas Grösseres auslösen wird? Ist das vielleicht schon der Zeitpunkt, da sich spätestens auch die Bauern und Bäuerinnen, die Winzer und Winzerinnen, die Schreiner und Schreinerinnen, die Bäckerinnen und Bäcker der Klimabewegung anschliessen werden, sitzen wir doch alle im gleichen – kapitalistischen – Boot unzähliger «Absurditäten», in einem Boot, mit dem wir entweder alle miteinander untergehen oder aber alle miteinander überleben.

Frauenrenten und Männerrenten: «Ich wundere mich, dass die Frauen angesichts dieser Ungleichheit nicht aufschreien»

Viele Angestellte, die bei Gastro Social, der Pensionskasse des früheren Wirteverbands, versichert sind, werden einmal mit einer kleinen Rente auskommen müssen. Im Durchschnitt zahlt die Kasse heute Renten von 600 Franken im Monat. Das reicht den Empfängern selbst mit der AHV zusammen kaum zum Leben. Eine Erhebung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zeigt, dass auch die Renten der beruflichen Vorsorge im Detailhandel und in der Coiffeurbranche nicht viel höher sind als in der Gastronomie. Die Pensionskasse Coiffure & Esthétique bezahlt durchschnittlich 800 Franken pro Monat aus, jene von Coop 1390 Franken und von Manor 1410 Franken. Gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Sozialversicherungen sind Frauenrenten aus der beruflichen Vorsorge um satte 63 Prozent tiefer als jene der Männer. «Ich wundere mich, dass die Frauen angesichts dieser Ungleichheit nicht aufschreien», sagt SGB-Zentralsekretärin Gabriela Medici.

(Tages-Anzeiger, 31. Oktober 2019)

Dass die betroffenen Frauen nicht «aufschreien», hat wohl wesentlich damit zu tun, dass sie durch ihre berufliche Tätigkeit sozusagen daran gewöhnt sind, die Wünsche anderer Menschen zu erfüllen und ihre eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen, und dies auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Machtpyramide. Es handelt sich dabei um einen eigentlichen Systemfehler: Berufliche Tätigkeiten, bei denen das Dienen, Bedienen und das Erbringen von Dienstleistungen im Mittelpunkt stehen, werden schlechter entlöhnt und geniessen ein geringeres gesellschaftliches Ansehen als jene beruflichen Tätigkeiten, bei denen das Planen, Organisieren und Befehlen im Vordergrund stehen. Eine Ungerechtigkeit, die sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus hindurchzieht, von der Sklavenarbeit auf den nordamerikanischen Plantagen des 17. Jahrhunderts über die Fabrikarbeit zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zu den «modernen» Dienstleistungsberufen des 21. Jahrhunderts, angefangen von den Köchen und Kellnern auf  Kreuzfahrtschiffen und in Luxushotels über Coiffeusen, Kosmetikerinnen, Krankenpflegerinnen bis zu Verkäuferinnen, Zimmermädchen und Prostituierten. Das zutiefst Ungerechte daran ist, dass die dienenden Arbeiten zumeist viel anstrengender, beschwerlicher und unangenehmer sind und dennoch schlechter bezahlt sind als die planenden, organisierenden und befehlenden Tätigkeiten. Dies ist freilich kein Zufall: Die planenden, organisierenden und befehlenden Berufsleute verfügen über die Macht, jegliche unangenehme und beschwerliche Arbeit an andere zu delegieren bzw. diese für sich arbeiten zu lassen. Eigentlich müssten so gesehen die dienenden Berufsleute eher ein höheres Einkommen haben wie die planenden und befehlenden. Das Mindeste wäre eine Einheitslohn. Und dann wäre auch das Problem mit den Renten gelöst: Sie wären dann nämlich für alle gleich. Denn es kann ja nicht sein, dass Menschen, die ein Leben lang zu geringem Lohn schwer gearbeitet haben, zuletzt, nach der Pensionierung, als «Belohnung» für all die jahrzehntelange Plackerei auch noch mit einer Rente Vorlieb nehmen müssen, von der sie nicht einmal anständig leben können.

Der Anfang vom Ende des Kapitalismus?

Tausende Menschen gingen auch diese Woche wieder in Santiago de Chile und anderen Städten auf die Straße. Abermals gab es Krawalle und Ausschreitungen von Seiten der Demonstranten – und abermals ging die Polizei hart gegen die Protestierenden vor. Die Demonstranten sind sehr divers, kommen aus allen Schichten und allen Altersgruppen und sie haben daher auch verschiedene Forderungen. Sie eint allerdings das Gefühl, über Jahrzehnte ausgenutzt worden zu sein. Die Bevölkerung in Chile trägt die Hauptlast für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Die Menschen haben viele Opfer gebracht und nun haben sie genug. Was viele Menschen wollen, ist ein grundlegender Systemwechsel. Es wird daher nicht reichen, wenn die jetzige Regierung zurücktritt, die Unruhen werden weitergehen.

(Kathya Araujo, Soziologin, www.sueddeutsche.de)

Chile ist gegenwärtig nicht der einzige Schauplatz, wo die Interessen der Menschen und die Interessen des Kapitals knallhart aufeinanderprallen. Auch in Ecuador wird seit Wochen demonstriert, bereits sind zahlreiche Tote zu beklagen, hunderte Menschen wurden festgenommen, über 1000 verletzt. Die Unruhen entzündeten sich an einer Erhöhung des Benzinpreises – eine Sparmassnahme, zu deren Umsetzung sich die Regierung im Gegenzug für einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IMF) von 4,2 Milliarden Dollar verpflichtet hatte. Zudem richtet sich der Protest gegen die Erdölförderung in Gebieten, die von indigenen Völkern bewohnt sind, gegen den Abbau staatlicher Arbeitsplätze und gegen geplante Privatisierungen. Damit nicht genug. Auch im Libanon sind die Menschen auf der Strasse. Seit dem vergangenen Donnerstag demonstrieren sie im ganzen Land, an vielen Orten halten sie wichtige Verkehrsverbindungen mit Barrikaden blockiert. Und jeden Tag werden die Massen grösser. Unter den Demonstranten befinden sich viele Familien mit Kindern und Vertreter fast aller Bevölkerungsschichten. «Unser Land ist korrupt», sagt ein Demonstrant, «der Staat hat 85 Milliarden Dollar Schulden. Schauen Sie sich die Bankkonten unserer Politiker an, dann ist klar, wo das Problem liegt.» Der Staat solle das Geld nicht von den Bürgern, sondern von den Schweizer Bankkonten der Politiker nehmen, erklärt der Mann. Und damit immer noch nicht genug. Auch im Irak wird seit Wochen protestiert, bereits sind 104 Tote und mehr als 6100 Verletzte zu beklagen. Trotz sprudelnden Erdöleinnahmen finden Jugendliche, die jährlich zu Hunderttausenden auf den Arbeitsmarkt drängen, keine Jobs. Tausende irakische Familien verfügen über keinerlei Einkommen. Zudem werden der Regierung und den Behörden Korruption und die jahrelange Verschleppung schon längst versprochener Reformen vorgeworfen. Schliesslich Ägypten: Auch hier gibt es seit Wochen zunächst kleine, dann immer grösser werdende Demonstrationen, und dies, obwohl Regimegegner mit harter Bestrafung rechnen müssen. Ursprung des Unmuts ist der Bau eines Luxushotels für den Militärgeheimdienst, mit dem sich der Transportminister persönlich bereichert haben soll. Doch nicht nur ihm, sondern der gesamten Regierung wird Korruption vorgeworfen. Weitere Steine des Anstosses sind die stark steigenden Preise sowie Sparmassnahmen, die als Gegenleistung zu einem IWF-Kredit von 12 Milliarden Dollar ergriffen wurden.

Die Erde brennt – dieses Bild wird zwar aktuell vor allem in Bezug auf den Klimawandel benutzt. Man könnte es aber ebenso gut für den weltweiten Raubzug des Kapitalismus verwenden, der sich in der Bereicherung der Reichen auf Kosten der Armen, im Abbau und der Privatisierung staatlicher Leistungen und im Fehlen minimalster öffentlicher Einrichtungen wie Wohnungen, Schulen, Spitälern usw. manifestiert. Wenn wir die Zeitung lesen oder uns die Nachrichten am Fernsehen anschauen, dann scheinen die Ereignisse in Chile, Ecuador, Libanon, Irak und Ägypten nichts miteinander zu tun zu haben. Tatsächlich aber geht es stets um das selbe: um den Aufstand einer ausgebluteten Bevölkerung gegen ein kapitalistisches System, dessen fast einziger Erfolg darin zu bestehen scheint, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer zu machen. Ob dies vielleicht schon der Anfang vom Ende des Kapitalismus ist?

 

  

Mehrheiten gegen den Kapitalismus

In den USA, dem Heimatland der freien Marktwirtschaft schlechthin, wird der Kapitalismus mittlerweile von einer Mehrheit der unter 30-Jährigen abgelehnt, wie eine Umfrage der Harvard University im Frühjahr 2017 zeigte. Ein Drittel der jungen Amerikaner bekennt sich gar zum Sozialismus. Auch in der Alten Welt genießt die Wirtschaftsform kein besonderes Ansehen. Nach einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Infratest ist jeder Europäer davon überzeugt, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führe. Jeder dritte Befragte gab außerdem an, dass er sich eine wirkliche Demokratie nur ohne Kapitalismus vorstellen könne. Die Wirtschaftsführer selbst sind sogar noch systemkritischer sind als ihre Mitbürger. Während immerhin 20 Prozent der Gesamtbevölkerung daran glauben, dass der globalisierte Kapitalismus die Kluft zwischen Arm und Reich mindern kann, sind die Vorstandschefs von den Segnungen noch weniger überzeugt. Lediglich 13 Prozent sagen, dass der Kapitalismus die soziale Schere schließt. Das hat eine Umfrage des Beratungsunternehmen PwC ergeben, die gleich zu Beginn des Weltwirtschaftsgipfels in Davos vorgestellt wurde. Woher die Kluft rührt? Vielleicht daher, dass die Konzernbosse eine genauere Vorstellung davon haben, was auf die Menschheit zukommt. «In vielen Ländern haben die meisten Menschen bisher ein recht beschauliches Leben mit gutem Lebensstandard führen können. Das wird leider nicht so bleiben», sagt Norbert Winkeljohann, der Deutschlandchef von PwC, mit Blick auf die Umwälzungen, die die digitale Revolution mit sich bringen wird. «Wirtschaftsführer weltweit ahnen, dass die aktuelle Situation vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm ist.»

(www.welt.de)

Was nichts anderes heisst, als dass politische Parteien, die sich klar und unmissverständlich für eine Überwindung des Kapitalismus aussprechen, schnell mal eine Anhängerschaft von mindestens 30 wenn nicht 40 Prozent aller Wählerinnen und Wähler haben müssten…

Die Justiz am Gängelband des Kapitalismus

Die grüne Basisbewegung «Collective Climate Justice» will den Kapitalismus überwinden, da er einem gerechten Wirtschaftssystem im Weg stehe. Rund 100 Mitglieder der Organisation, ausgerüstet mit Arbeitskleidern und Mundschutz, einige mit Clownnasen und Clownperücken, blockierten am 8. Juli 2019 die Eingänge der Credit Suisse am Zürcher Paradeplatz und der UBS beim Aeschenplatz in Basel. Die Aktivisten protestierten gegen das finanzielle Engagement der Grossbanken zur Förderung von Kohle, Öl und Gas. Sie legen ihnen eine hohe Mitverantwortung für die «weltweite Klimakatastrophe» zur Last. Die Zürcher Staatsanwaltschaft erliess gegen 57 Beteiligte einen Strafbefehl wegen Nötigung und teilweisen Hausfriedensbruch. Sie erhielten bedingte Geldstrafen von je 60 Tagessätzen und müssen 800 Franken Verfahrenskosten tragen. Zwei Frauen aus Deutschland landeten sogar im Gefängnis. Sie kassierten 80 Tage unbedingte Haft und müssen insgesamt 3140 Franken für die Geldstrafe und die Verfahrenskosten zahlen.

(W&O, 28. Oktober 2019)

Die Justiz als parteilose, unabhängige Instanz im demokratischen Staat? Was für eine Illusion. Wer begeht denn das schlimmere Verbrechen, die Aktivisten und Aktivistinnen von «Collective Climate Justice», die völlig gewaltfrei und friedlich den Zugang zu zwei Grossbanken verbarrikadieren – oder diese beiden Grossbanken, die mit ihrer globalen Investitionspolitik zur Förderung fossiler Energien das Leben ganzer zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen? Wann endlich werden nicht mehr die Opfer, sondern die Täter unseres heutigen, auf nackten Profit ausgerichteten Wirtschaftssystems vor den Schranken der Gerichte stehen? Wann endlich wird die herrschende Wirtschaftsordnung als das entlarvt, was sie tatsächlich ist, nämlich nicht eine Demokratie – die nur ein Luxus jener ist, die sich das leisten können -, sondern, ganz im Gegenteil, eine Diktatur des Geldes und der weltweiten Ausbeutung der Armen durch die Reichen.

Entweder ist alles im Gleichgewicht oder es ist alles durcheinander

Sollte die Politik nicht nur Gesinnungsgrün, sondern auf richtig Grün umschalten, wird sie ziemlich sicher auch ungerechter werden. Die Idee der Gleichheit, insbesondere was den Wohlstand betrifft, muss dann auch offiziell vom Tisch. Ökologisch gesehen genauso wichtig, wie dass wir Reichen unseren Wohlstand runterschrauben, ist, dass die, die noch nicht so viel haben wie wir, nicht noch mehr bekommen.

(Christoph Zürcher, NZZ am Sonntag Magazin, 27. Oktober 2019)

Es wäre fatal, wenn Massnahmen zum Klimaschutz dazu führen würden, dass sich die sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich weiter vertiefen. Wir würden dann in einer Welt leben, in der sich ein Viertel der Menschheit weiterhin jedes mögliche und unmögliche Luxusvergnügen leisten könnten, während die übrigen drei Viertel davon ausgeschlossen blieben. Das kann und darf auf keinen Fall das Ziel einer wirksamen und zugleich möglichst gerechten Klimapolitik sein. Deshalb müssen die Klimafrage und die soziale Frage miteinander gekoppelt und gleichzeitig gelöst werden. Was würde das konkret bedeuten? Sämtliche Lebensgüter, die Nahrung, die Rohstoffe, all das, was die Erde hervorbringt, um uns ein gutes Leben zu ermöglichen, aber auch alle öffentlichen Dienste, welche die materielle, medizinische und soziale Versorgung gewährleisten, all das muss gerecht und gleichmässig auf sämtliche Bewohner und Bewohnerinnen der Erde verteilt werden. Es gibt keine einzige plausible Rechtfertigung dafür, dass ein Kind, bloss weil es in Afrika und nicht in Europa geboren wurde, ein schlechteres Leben haben sollte. Alles ist unter alle zu teilen. Zu dieser Vision einer grenzenlosen globalen Gerechtigkeit gehört auch, so utopisch dies im Moment auch klingen mag, die Vision eines globalen Einheitslohns pro Arbeitsstunde. Denn es lässt sich durch nichts begründen, dass ein kongolesischer Minenarbeiter und eine chinesische Fabrikarbeiterin weniger verdienen sollte als ein schwedischer Computerspezialist oder eine kanadische Zahnärztin. Wenn wir es erst einmal verinnerlicht haben, dass alles allen gehört, dann ist die Einführung eines Einheitslohns nur logisch. Und damit wäre auch die Klimafrage gelöst: Alle Menschen weltweit hätten beim Erwerb von Gütern, Lebensmitteln und Freizeitangeboten die genau gleich langen Spiesse. Alle Menschen hätten Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu medizinischer Grundversorgung, zu ausreichender Ernährung und Bildung. Aber Privatautos gäbe es dann höchstwahrscheinlich nicht mehr und Flugzeuge zu Ferienzwecken erst recht nicht. Auch so absurde Dinge wie das Reisen auf einem Kreuzfahrtschiff würden dann endgültig der Vergangenheit angehören. Das heisst nichts anderes, als dass durch die Lösung der sozialen Frage auch die Klimafrage gelöst wäre, nicht auf der Grundlage wachsender Ungleichheit zwischen Arm und Reich, sondern, ganz im Gegenteil, auf der Grundlage grenzenloser sozialer Gerechtigkeit. Denn der Friede mit der Erde und mit der Natur ist untrennbar verbunden mit dem Frieden und der Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Entweder ist alles im Gleichgewicht oder es ist alles durcheinander.

Lohnrunde 2020: Sind die mageren Jahre nun vorbei?

«Lohnrunde 2020: Die mageren Jahre sind vorbei.» – so titelt die NZZ am 27. Oktober 2019. Drei Jahre lang, so die NZZ, hätten die Löhne in der Schweiz stagniert oder seien sogar rückläufig gewesen. Doch nun gehe diese Durststrecke zu Ende. Zum ersten Mal seit 2016 könnten die Arbeitnehmer wieder mit einer «ansehnlichen Gehaltserhöhung» rechnen: Die Löhne würden im kommenden Jahr um durchschnittlich 1,1 Prozent steigen. Abzüglich der zu erwartenden Teuerung bleibe ein «stattlicher Reallohnzuwachs» von 0,9 Prozent.

(NZZ am Sonntag, 27. Oktober 2019)

Unglaublich, mit wie wenig man schon zufrieden ist. 0,9 Prozent – das sind gerade mal 45 Franken auf einen Monatslohn von 5000 Franken, ein paar Brosamen im Vergleich zu jenen 40 Milliarden Franken Dividenden, welche die 20 grössten Konzerne der Schweiz in diesem Jahr an ihre Aktionäre und Aktionärinnen ausgeschüttet haben, ohne dass dies auch nur einen Finger dafür hätten krumm machen müssen. Dazu kommt, dass nur 30 Prozent aller Firmen eine generelle Gehaltserhöhung auszahlen, bei den übrigen Firmen erfolgen die Erhöhungen individuell und nach persönlichen Kriterien, so dass nicht wenige Angestellte auf eine Gehaltserhöhung sogar gänzlich verzichten werden müssen. Bedenklich auch, dass ausgerechnet in Branchen, in denen schon bisher wenig verdient wurde, die zu erwartende Reallohnerhöhung am bescheidensten ist, so zum Beispiel mit 0,6 Prozent im Gesundheitswesen und mit 0,4 Prozent im Gastgewerbe. Hier von einer «erfreulichen» Entwicklung zu sprechen und davon, dass die «mageren Jahre» nun endlich vorüber seien, mutet nachgerade zynisch an – vor allem auch, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass nach wie vor rund eine halbe Million Menschen nicht genug verdienen, um davon leben zu können, und dass die höchsten Löhne die niedrigsten schweizweit um über das 300fache übertreffen…

Die Grünen nach der Wahl – mehr Kompromissbereitschaft?

«Wollen die Grünen ihren Wählerauftrag nicht aus der Hand geben, dann gibt es für sie nur einen Weg: Sie müssen sich entwickeln – zu einer kompromissbereiten Volkspartei. Noch immer sind die Grünen eine Partei mit Bewegungscharakter und bekunden Mühe, sich explizit von den radikalen Systemwechselforderungen mancher Klimaschützer auf den Strassen zu distanzieren.»

(Raphaela Birrer, Tages-Anzeiger, 26. Oktober 2019)

Das wäre wohl das Letzte, was den Grünen zu raten wäre: sich von den Forderungen der Klimabewegung zu distanzieren. Dies wäre geradezu ein Verrat gegenüber all jenen, welche den Wahlerfolg der Grünen überhaupt erst möglich gemacht haben. Und ein Triumph all jener, die bereits damit spekuliert haben, dass genau dies, nämlich der Einzug ins Parlament, der grünen Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen würde, da sie nun nicht mehr an Radikalforderungen festhalten, sondern sich immer wieder auf Kompromisse einlassen müssten. Doch so sehr es im Parlament auch um das Finden von Kompromissen geht: Kompromisse schliessen kann man erst, wenn man zunächst radikale Forderungen in den Raum stellt, und nicht, indem man den Kompromiss schon vorwegnimmt. Deshalb tun die grünen Parlamentarier und Parlamentarierinnen gut daran, eine Doppelstrategie zu fahren: Einerseits klar und unmissverständlich bleiben in ihren Maximalforderungen, von denen sie keinen Millimeter abweichen sollten, denn die Erde brennt und jedes noch so kleine Abrücken von Maximalforderungen ist ein Todesstoss für zukünftige Generationen. Und doch – das ist die andere Seite der Doppelstrategie – auch kleine Schritte als Teilerfolge zu anerkennen. Werden die Grünen durch die parlamentarische Arbeit allzu brav und kompromissbereit, dann wird ihnen in vier Jahren ein Wahlerfolg wie 2019 mit grösster Wahrscheinlichkeit verwehrt bleiben. Wie sagte schon der Urwalddoktor Albert Schweitzer: «Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den er gegen nichts eintauschen soll.»

«Gleichwertige» Arbeit – was heisst das?

Anknüpfend an den Vormarsch der Frauen bei den Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober diskutierte die gestrige «Arena» des Schweizer Fernsehens über Frauenlöhne, Gleichstellung, Frauenquoten und ganz allgemein Diskriminierung von Frauen gegenüber Männern. Angeprangert wurde insbesondere der Umstand, dass ein erheblicher Prozentsatz der Frauen auch für «gleichwertige» Arbeit immer noch deutlich weniger verdienen als Männer. Was in solchen Diskussionen immer wieder auffällt: Der Begriff «gleichwertig» wird nie hinterfragt. Täte man dies, so müsste man sich nämlich mal ganz grundsätzlich – unabhängig von der Frauenfrage – mit dem gesellschaftlichen Wert von Arbeit auseinandersetzen. Ist die Arbeit eines Bauarbeiters weniger wert als die Arbeit eines Bankbeamten? Ist die Arbeit einer Krankenpflegerin weniger wert als die Arbeit einer Gymnasiallehrerin? Ist die Arbeit einer Köchin weniger wert als die Arbeit einer Innenarchitektin? Die wirklich grosse, himmelschreiende Ungerechtigkeit ist nicht jene zwischen der Frau und dem Mann, die in der gleichen Firma den gleichen Job verrichten – dieser Unterschied beträgt bis zu 20 Prozent des Lohnes. Die wirklich grosse, himmelschreiende Ungerechtigkeit ist jene zwischen so genannt «minderwertigen» und «höherwertigen» Jobs, egal ob diese von Frauen oder Männern ausgeübt werden – dieser Unterschied beträgt bis zum 300fachen zwischen den schweizweit höchsten und tiefsten Löhnen! Das zutiefst Ungerechte daran ist, dass ausgerechnet die am schlechtesten Verdienenden meist auch die härteste und anstrengendste Arbeit verrichten und dennoch die geringste gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. Man würde staunen, was passieren würde, wenn sämtliche Bäcker, Putzfrauen, Zeitungsausträger, Kehrichtmänner, Krankenpflegerinnen, Zimmermädchen, Köche und Dachdecker von heute auf morgen ihre Arbeit aufgäben: Das ganze schöne Gebäude, auf dessen oberen Rängen sich Hunderttausende Gutverdienende alle möglichen Luxusvergnügen leisten können, würde augenblicklich in sich zusammenbrechen. Es ist gut und wichtig, über die Unterschiede zwischen Frauenlöhnen und Männerlöhnen zu diskutieren. Mindestens so wichtig aber wäre es, darüber zu diskutieren, ob nicht die vielgeforderte «Lohngleichheit» in letzter Konsequenz bedeuten würde, dass eben nicht nur Männer und Frauen im selben Job, sondern auch Bankangestellte, Kellnerinnen, Lehrer, Krankenpflegerinnen, Rechtsanwälte, Bauarbeiter und Fabrikarbeiter – im Sinne eines «Einheitslohns» – logischerweise gleich viel verdienen müssten. Wäre das vielleicht ein Thema für eine nächste «Arena»-Sendung?