Archiv des Autors: Peter Sutter

Es braucht einen neuen Pazifismus

Fieberhaft arbeiten die grossen Nationen mit immensem technischem und finanziellem Aufwand an der Entwicklung von mit künstlicher Intelligenz gesteuerten Kriegsmaschinen und Killerrobotern. Die neueste Generation dieser Geräte verfügt bereits über die Fähigkeit, selber zu entscheiden, ob ein Mensch getötet werden soll oder nicht. Das wirft die Frage auf, ob Killer-Roboter in letzter Konsequenz eines Tages fähig sein werden, die gesamte Menschheit auszulöschen.

(Tages-Anzeiger, 23. November 2019)

Wenn es also die Klimaerwärmung nicht schafft, könnten es ja eines Tages die Killer-Roboter schaffen: die gesamte Menschheit auszulöschen. Was für ein Schreckensszenario. Da fragt man sich unwillkürlich, wo denn all die Pazifisten und Pazifistinnen des 20. Jahrhunderts geblieben sind, welche nicht nur die Abschaffung der Waffen und Armeen, sondern auch die Abschaffung aller Kriege schlechthin forderten. Wäre eine weltweite pazifistische Bewegung heute nicht dringender denn je? Weshalb ist die Erkenntnis, dass sich Konflikte, im Kleinen wie im Grossen, niemals durch Gewalt und schon gar nicht durch Kriege lösen lassen, nicht schon längst zum Allgemeingut menschlichen Denkens und Handelns über alle Grenzen hinweg geworden? Wie wäre es, wenn die Klimabewegung als aktuell am globalsten agierende politische Kraft die Abschaffung aller Armeen und aller Kriege in ihren Forderungskatalog aufnehmen würde – was zugleich den höchst wünschbaren Nebeneffekt hätte, dass man die finanziellen Mittel, die bisher in die Entwicklung und den Bau von Waffen gesteckt wurde, für Klimaschutzprojekte verwenden könnte.

Tourismus in Simbabwe: ein kapitalistisches Lehrstück

Der Tourismus ist enorm wichtig für Simbabwe. Er trägt über acht Prozent zum Bruttoinlandprodukt des herabgewirtschafteten Staates im südlichen Afrika bei. Hauptattraktion sind die Victoriafälle. 150 Franken kostet ein Helikopterflug von zwölf Minuten, um aus der Luft ein gutes Foto schiessen zu können. Auch Riverrafting ist sehr beliebt: «Amazing!», schwärmt eine Amerikanerin bei Speck, Würstchen und Cornflakes. Doch nicht nur das reichhaltige Frühstücksbuffet, auch Unterkunft, Swimmingpool, Wellnessangebote und der üppige Park des Luxusresorts lassen dem verwöhnten Publikum aus Amerika und Europa keine Wünsche offen. Schliesslich will man etwas haben für die 250 Franken, welche eine Nacht hier kostet. Derweilen die Kellnerinnen, welche die internationale Gästeschar bedienen, pro Tag zehn Stunden arbeiten müssen, mit zwei Mal fünf Minuten Pause. Und das für gerade mal 20 Franken pro Monat. «Meine Beine und Füsse schmerzen», sagt die 23jährige Nokuthaba, als sie nach getaner Arbeit nach Hause kommt, um für ihre Kinder zu kochen. Die Miete ihres Häuschens kann sie nur dank dem Trinkgeld bezahlen, der Monatslohn würde dafür nicht ausreichen.

(www.srf.ch)

Brutaler könnten die reiche Welt des Nordens und die arme Welt des Südens nicht aufeinanderprallen. Die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille, auf deren einer Seite der wohlgenährte Tourist aus den USA oder Europa seine Füsse im Hotelpool baumeln lässt, neben sich eine Platte erlesenster Köstlichkeiten, bevor er sich zur Ganzkörpermassage begibt und anschliessend zu einem opulenten Festmahl. Während die junge Frau, die ihn zehn Stunden lang bedient hat, hungrig und mit schmerzenden Füssen voller Blasen nach Hause humpelt. Doch während die kapitalistischen Ausbeutungsketten in den meisten Fällen weltweit weit auseinandergerissen sind – der Käufer eines Handys irgendwo in Europa ist nie konfrontiert mit den chinesischen Arbeiterinnen, welche das Handy hergestellt haben -, treffen im Tourismus Täter und Opfer unmittelbar aufeinander. Man meint, der Gast aus dem Norden würde es nicht aushalten, sich von einer einheimischen Frau bedienen zu lassen, welche in einem ganzen Monat zwölf Mal weniger verdient, als er für eine einzige Nacht im Hotel zu zahlen bereit ist. Man meint, er müsste aus seiner Rolle ausbrechen, der Frau sein halbes Reisegeld überlassen oder auf einen Helikopterflug verzichten, um der Frau das gesparte Geld zu geben. Man meint, er müsste sich beim Hotelbesitzer über die unsäglichen Arbeitszeiten und die skandalösen Hungerlöhne der Angestellten beschweren, zum Revolutionär werden oder zumindest zu einem fortan überaus kritischen Zeitgenossen, der sich überall und jederzeit für soziale Gerechtigkeit und gegen Ausbeutung einsetzen wird. Doch weit gefehlt. Nichts dergleichen geschieht. So tief hat sich der Kapitalismus in unser Denken eingegraben und das Verrückte zum Normalen gemacht, dass wir das alles wissen, uns an allem beteiligen – und dennoch ruhig und mit gutem Gewissen schlafen können…

Höchste Zeit für einen Haus- und Familienarbeitslohn

Serviceangestellte, Hilfspflegerin, Verkäuferin, Kinderbetreuerin, Hilfsarbeiterin, Coiffeuse, Kosmetikerin: Je «weiblicher» ein Beruf, umso geringer der Lohn. Am untersten Rand dieser Skala steht die – ebenfalls mehrheitlich von Frauen geleistete – Haus- und Familienarbeit. Obwohl es sich dabei um eine äusserst intensive, anstrengende, vollwertige berufliche Tätigkeit handelt, gibt es dafür nicht bloss einen kleinen, sondern sogar überhaupt keinen Lohn. Und dies, obwohl es zweifellos keinen gesamtgesellschaftlich betrachtet wichtigeren Beruf gibt, bildet doch, was ein Kind in seinen ersten Lebensjahren an Liebe, Aufmerksamkeit und Unterstützung erfährt, die eigentliche Basis für die folgende Generation Erwachsener, nicht nur in persönlicher, sozialer und gesellschaftlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Was spricht dagegen, einen Haus- und Familienlohn auszurichten? Eigentlich nichts. Denn dann würden Hausfrauen und Hausmänner auf eigenen finanziellen Füssen stehen und wären frei von wirtschaftlicher Abhängigkeit. Bleibt schliesslich die Frage der Finanzierung eines solchen Familien- und Hausarbeitslohnes. Eine mögliche Lösung wäre die Einführung eines Einheitslohnes – basierend auf der Tatsache, dass es keine «minderwertigen» und «höherwertigen» Berufe gibt, sondern alle, für das Funktionieren der Gesellschaft, gleich wichtig sind und damit auch das Anrecht auf die gleiche Entlöhnung haben sollten. Somit würden dann alle, die mehr als den aktuellen schweizerischen Durchschnitt von rund 6500 Franken verdienen, durch eine Reduktion ihres Lohnes – zum Beispiel in Form eines nationalen Ausgleichsfonds – dazu beitragen, dass auch Coiffeusen, Fabrikarbeiterinnen und eben auch Hausfrauen und Hausmänner diesen Einheitslohn bekämen. Dank des Einheitslohns könnte jederzeit vom einen in den anderen Job gewechselt und eben auch Haus- und Familienarbeit geleistet werden, ohne dass dies mit einer finanziellen Einbusse oder einem sozialen Abstieg verbunden wäre. Ein wahrer Segen wäre der Haus- und Familienlohn insbesondere auch für alleinerziehende Väter und Mutter, die sich dann nicht mehr im Spagat zwischen Kinderbetreuung, Hausarbeit und ausserhäuslicher Berufstätigkeit zerreiben lassen müssten.

Aufstände von Frankreich bis Hongkong: Was treibt die Menschen auf die Strassen?

Wieder sind in Frankreich Abertausende «Gelbwesten» auf den Strassen, stecken Autos in Brand, zerstören Monumente und schlagen Schaufenster ein, die Polizei kontert mit Tränengas und mobilen Einsatztruppen. Gleichzeitig protestieren in Prag Hunderttausende gegen Regierungschef Andrej Babis, einen Multimilliardär, der ein Firmengeflecht begründete, das von der Agrarwirtschaft über die Chemieindustrie bis zur Medienbranche reicht. Während auch Hongkong nicht zur Ruhe kommt, ganz im Gegenteil: Die anfänglich friedlichen Proteste gegen ein Auslieferungsabkommen mit China entwickeln sich immer mehr zum Bürgerkrieg. Immer mehr Demonstrierende rüsten sich mit Pfeil und Bogen aus, die Zahl der Verwundeten nimmt auf beiden Seiten, bei den Aufständischen wie auch bei den Sicherheitskräften, immer mehr zu. Und damit nicht genug: Auch die Regierung des Iran steckt im Schussfeld einer wachsenden Anzahl unzufriedener Bürger und Bürgerinnen. Hauptgrund für die Proteste ist die drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen infolge der US-Sanktionen.

Was treibt die Menschen von Frankreich bis Hongkong auf die Strassen? Das Schlüsselwort ist zweifellos die soziale Gerechtigkeit. Es gibt im Menschen wohl keine tieferliegende, ursprünglichere und stärkere Sehnsucht als die nach Gerechtigkeit. Wird diese mit Füssen getreten, entstehen Verzweiflung, Wut – bis hin zur Gewalt. Das zeigt sich auch darin, dass die Wut gegen die Herrschenden vor allem dort am grössten ist, wo diese, wie das Beispiel des tschechischen Regierungschefs Andrej Babis zeigt, unsäglichen Reichtum um sich herum angesammelt haben, während sich ein grosser Teil der Bevölkerung mehr schlecht als recht über Wasser zu halten vermag. Wer daher im Zusammenhang mit Volksaufständen behauptet, der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, der irrt. Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist eine zutiefst positive Kraft, welche die Menschen in Fürsorge und Gemeinschaft miteinander verbindet und den Blick öffnet in eine Zukunft, in der sowohl Gewalt im Kleinen wie auch im Grossen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen eines Tages, wenn endlich weltweite soziale Gerechtigkeit herrscht, der Vergangenheit angehören werden.

Drogenfreie Gesellschaft: Ja, aber…

«Drogenkonsumenten sind oftmals sehr sensible Menschen, Menschen, die dem Leistungsdruck in unserer Gesellschaft und schon in der Schule nicht standhalten und dann in einen Teufelskreis hineinkommen: Sie sind nirgends erfolgreich und mit den Drogen haben sie wenigstens ein gutes Gefühl. Aber die meisten möchten von dieser Abhängigkeit wieder wegkommen und frei und selbstbestimmt leben.»

(Andrea Geissbühler, Nationalrätin SVP, in der Diskussionssendung «Arena» vom 15. November 2019 am Schweizer Fernsehen mit Befürworterinnen und Gegnern einer Drogenliberalisierung)

Erstaunlich, dass ausgerechnet die SVP-Vertreterin in der Diskussionsrunde die wohl pointierteste Kapitalismuskritik äussert: Drogenkonsum als Flucht, als Reaktion oder als Ausgleich zu einer immer härteren Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, die schon in der Schule beginnt und die Menschen kleinmacht, bevor sie überhaupt gross geworden sind. Wäre dann das Ziel einer drogenfreien Gesellschaft doch nicht so gänzlich aus der Luft gegriffen, wie dies von liberaler und linker Seite immer wieder behauptet wird? Könnten sich «links» und «rechts» vielleicht sogar in dem Punkte treffen, dass eine drogenfreie Gesellschaft tatsächlich das anzustrebende Ziel sein müsste, aber, und das ist das Entscheidende, nicht mithilfe von Repression und Verboten, sondern mithilfe einer Umgestaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und der Arbeitswelt, so dass sich alle Menschen rundum wohlfühlen, Wertschätzung und Anerkennung erfahren, in Musse, mit Freude, selbstbestimmt und ohne permanenten Leistungsdruck lernen und arbeiten können, genügend Pausen, Erholung und Ferien haben, in ihrer täglichen Arbeit Sinn, Erfüllung und Befriedigung erfahren, ihre Ideen, ihre Phantasie und ihre Persönlichkeit ausleben können – und so jeden Tag auf natürliche Weise all jene Glücksgefühle erfahren, welche ihnen sonst nur der Konsum einer Droge vermitteln könnte. Andrea Geissbühler und mit ihr die ganze SVP seien herzlich eingeladen, sich aktiv an dieser gesellschaftlichen Umgestaltung zu beteiligen, denn das ist eine so grosse Aufgabe, dass sie nicht nur von einer einzelnen politischen Kraft bewältigt werden kann.

Spitzensport: perverseste Form des kapitalistischen Konkurrenzprinzips

Die 20-jährige US-Turnerin Melanie Coleman ist tot. Die Studentin der Krankenpflege war vergangene Woche in New Heaven (US-Bundesstaat Connecticut) während einer Trainingsübung am Stufenbarren vom Gerät gestürzt und hatte sich dabei lebensgefährliche Verletzungen an der Wirbelsäule zugezogen. Coleman, die als eine der besten College-Kunstturnerinnen der USA galt, erlag am Sonntag in der Klinik der massiven Schädigung des Rückenmarks. Das gab ihr Verein, die Southern Connecticut Owls, via Twitter bekannt.

(www.stern.de)

Nur logisch, dass es früher oder später so weit kommen musste. Dieses zerstörerische Konkurrenzprinzip, das sich durch alle Lebensbereiche und durch die gesamte Arbeitswelt des Kapitalismus hindurchzieht und im Spitzensport seine äusserste, perverseste Form erreicht. Wie viel Leiden, wie viele Qualen, wie viel Zerstörung braucht es noch, bis wir erkennen, dass die Menschen nicht dazu geschaffen sind, gegeneinander zu arbeiten, sondern miteinander und füreinander…

Überwindung des Kapitalismus: ein Flop?

Der Rücktritt von Parteipräsident Christian Levrat löst innerhalb der Partei eine breite Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der SP aus. Auch der Tages-Anzeiger befasst sich mit diesem Thema. Und zieht eine Bilanz der bisherigen SP-Politik. Dabei werden drei Tops und drei Flops genannt. Einer der Flops ist aus Sicht des Tages-Anzeigers das Ziel einer «Überwindung des Kapitalismus» – ein Postulat, das «gegen den Willen des Parteipräsidenten» und nur auf Druck der Juso ins Parteiprogramm aufgenommen worden sei. Nicht wenigen SP-Politikern und -Politikerinnen am «rechten» Rand der Partei wäre es am liebsten, wenn die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus lieber heute als morgen wieder aus dem Parteiprogramm verschwinden würde.

(Tages-Anzeiger, 13. November 2019)

Wenn wir die heutige Welt betrachten, dann haben all jene Probleme, unter denen die Menschheit am meisten leidet, mit der globalen Dominanz des auf permanente Profitmaximierung und Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaftssystems zu tun – von der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zum Klimawandel. Dennoch bewegen sich Politiker und Politikerinnen sowie politische Parteien weltweit fast ausschliesslich immer noch im Denksystem des Kapitalismus – mit dem Resultat, dass wir die grossen Probleme weiter vor uns herschieben und keiner dauerhaften Lösung näherkommen. Es braucht daher eine radikal neue Herangehensweise, eine Überwindung des herrschenden Denksystems, eben: eine Überwindung des Kapitalismus. Nichts wäre daher so falsch, als wenn die SP auf das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus verzichten würde. Im Gegenteil: Mit diesem Ziel vermittelt die SP über das politische Alltagsgeschäft hinaus eine Vision, welche mit der Zeit sogar immer mehr Menschen, die sich heute für Politik nicht interessieren oder aufgrund ihrer Lebenssituation bereits resigniert haben, begeistern könnte. Denn die Zahl jener Menschen, die spüren, dass sich heute ganz grundsätzlich zu vieles in eine falsche Richtung bewegt, wird wohl in Zukunft kaum kleiner, sondern eher immer grösser werden.

Kapitalistische Wirtschaft als Religion?

Gemäss einer Befragung von Travail Suisse fühlen sich 42 Prozent der Befragten in ihrer Arbeit häufig gestresst, das sind zwei Prozent mehr als vor einem Jahr. 17 Prozent machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz, drei Prozent mehr als vor einem Jahr. Grösser geworden ist auch die Unzufriedenheit bezüglich Gesundheit, sie hat von 38,9 auf 40,7 Prozent zugenommen. Auch bei der Sicherheit (von 32,4 auf 33,4 Prozent) und bei der Motivation (von 30 auf 31,2 Prozent) sind die Unzufriedenheitsraten angestiegen. Dazu der Kommentar von Roland A. Müller, Direktor Schweizer Arbeitgeberverband: «Die Arbeitnehmer empfinden offensichtlich die generellen Rahmenbedingungen, die globalen Arbeitsbedingungen, generell die wirtschaftliche Situation zum Teil als Belastung. Das kann der einzelne Arbeitgeber nicht ändern, weil er eben Teil der Wirtschaft ist.»

(Fernsehen SRF1, Tagesschau, 11. November 2019)

Hoppla. Eine solche Aussage hätte ich vielleicht von einem chinesischen Parteifunktionär erwartet. Von einem mittelalterlichen Bischof könnte sie auch stammen. Oder vom französischen König Louis XIV zur Zeit des Absolutismus. Ist sich Roland A. Müller bewusst, was er da gesagt hat? Da kann der Einzelne nichts machen, das ist die Wirtschaft. Amen. Eine höhere Macht, auf die wir keinen Einfluss haben. Das ist nichts weniger als Totalitarismus, das Gegenteil von Demokratie. Und spricht den Einzelnen von jeglicher Verantwortung und Schuld frei. Wahrscheinlich würde Roland A. Müller in Bezug auf den Klimawandel ähnlich argumentieren: Ja, es ist schlimm, aber da kann der Einzelne nichts machen, weil wir eben alle Teil der Wirtschaft sind…

Modebranche: mehr Emissionen als durch Fliegen und Schiffahrt zusammen

Das weltweite Modegeschäft boomt. Und wie. Seit 2000 hat sich der Absatz an neuer Kleidung mehr als verdoppelt, mehr als hundert Milliarden neue Teile werden jedes Jahr produziert. Fast wöchentlich werfen die grossen Anbieter neue Kollektionen auf den Markt. Sie produzieren immer billiger und immer schneller, mehr als man je tragen kann. Doch der Rausch hat seinen Preis. Für Klima,Wasser, Böden und Näherinnen ist Fast Fashion eine Katastrophe; die Produktion von Klamotten verschlingt Ressourcen, verschleisst Menschen, vergiftet Ökosysteme und damit die Lebensgrundlage von Millionen. Die Billigmentalität hat Folgen: Was heute Trend ist, wird morgen weggeschmissen. Nach einem Jahr sind sechzig Prozent aller Kleidungsstücke bereits im Abfall. Und vierzig Prozent der produzierten Kleidung werden nicht einmal verkauft. 1,2 Milliarden Tonnen CO2 bläst die Textilindustrie jedes Jahr in die Luft. Damit verursacht die Bekleidungs- und Textilindustrie mehr Emissionen als Fliegen und Schifffahrt zusammen.

(NZZ am Sonntag, 10. November 2019)

Das Beispiel der Bekleidungsindustrie zeigt, dass es, um der Klimaerwärmung Einhalt zu gebieten, nicht genügt, Abgaben auf Benzin und Flugtickets einzuführen und Gebäudesanierungen voranzutreiben, so wie das gegenwärtig in den europäischen Ländern diskutiert wird. Es würde auch nicht genügen, höhere Steuern oder Abgaben auf Billigkleidern zu erheben oder Produktionslimiten für die Textilindustrie einzuführen. Das alles wäre reine Symptombekämpfung, wie wenn man einem Monster seine gefährlichsten Zähne ausreissen wollte, worauf sogleich an unzähligen anderen Stellen neue, noch gefährlichere Zähne nachwachsen würden. Was es braucht, ist eine radikale Umgestaltung des bisherigen, auf Ausbeutung, endlose Profitsteigerung und Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftssystems und die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Lebensbedürfnissen der Menschen über alle Grenzen hinweg, den Bedürfnissen der Natur und den Bedürfnissen zukünftiger Generationen.

Berliner Mauerfall: Auch der Kapitalismus baut seine Mauern

9. November 2019. Heute vor genau 30 Jahren ist die Mauer zwischen Ost- und Westberlin gefallen. 30 Jahre seit dem Sieg des kapitalistischen Westeuropa über das sozialistische Osteuropa. 30 Jahre seit dem endgültigen Durchbruch von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie für all jene Menschen, die zuvor während über vier Jahrzehnten im «Reich des Bösen» gelebt hatten. So jedenfalls will es die offizielle Geschichtsschreibung. Aber gehören damit Mauern quer durch Europa tatsächlich endgültig der Vergangenheit an? Sind in diesen 30 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer nicht unzählige neue Mauern entstanden, still und heimlich, Mauern der sozialen Apartheid, mitten im Reich der vermeintlichen Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie? Mauern zwischen den Zonen der Reichen, denen vom Luxushotel und dem Golfplatz über die Segelyacht und dem eigenen Swimmingpool bis zum Kreuzfahrtschiff alle nur erdenklichen Luxusvergnügungen zur Verfügung stehen – und den Zonen der Armen, die sich an lärmigen Strassen in viel zu kleine Wohnungen zwängen und schon dankbar sein müssen, wenn der Lohn gerade mal fürs Essen bis Ende Monat ausreicht. Ebenso unüberwindbar ist diese Mauer zwischen Arm und Reich wie jene frühere zwischen Ost- und Westberlin. Doch während die Menschen im damaligen Ostdeutschland wenigstens die Sympathie und die moralische Unterstützung durch den Westen erfahren durften, sind die Armen Europas sich und ihrem Elend selber überlassen, ohne Aussicht, dass sich daran etwas ändern wird. Doch damit nicht genug. Eine weitere, ebenso unüberbrückbare Mauer ist an der südlichen und östlichen Grenze Europas hochgezogen worden, Jahr um Jahr, höher und höher. Und wieder geht es um Reichtum und Armut. Noch verzweifelter als die Armen Europas sind die Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten, bereit, alle ihre Habseligkeiten und sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ins vermeintliche Paradies des Nordens zu gelangen. Doch auch für die meisten von ihnen endet alle Hoffnung in Resignation, bitterer Enttäuschung oder, schlimmstenfalls, dem Tod. Wann wohl werden wir auf den Fall und die Beseitigung der heutigen Mauern in und um Europa mit soviel Genugtuung und Freude zurückblicken können, wie wir heute auf den Fall der Berliner Mauer zurückblicken?