Archiv des Autors: Peter Sutter

Friedenskundgebung für Palästina in Bern: In Trümmern liegt nicht nur der Gazastreifen, sondern auch die internationale Solidarität…

Bern, 6. April 2024, Bundeshausplatz. Ein sonniger Frühlingstag in der Hauptstadt der Schweiz. Allmählich eintrudelnde kleinere und grössere Menschengruppen. Peace-Fahnen. Auf einem grossen Plakat sind die Forderungen der heutigen Kundgebung zu lesen: Sofortiger Stopp des Aushungerns der Menschen in Gaza. Sofortiger Waffenstillstand. Sofortige Freilassung der israelischen Geiseln und von willkürlich inhaftierten palästinensischen Gefangenen. Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Weiterführung der Finanzierung des UNO-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA). Kurz nach 16 Uhr die Begrüssung durch ein Mitglied der GSoA, die diesen Anlass zusammen mit Amnesty International Schweiz, der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina und der Palästina-Solidarität Schweiz organisiert hat. Dann mehrere Ansprachen, von denen jede mehr unter die Haut geht als die andern, von der jungen jüdischen Friedensaktivistin bis zum palästinensischen Kinderarzt. Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit darüber, dass alle Friedensbemühungen seit Monaten im Sand stecken, während das unfassbare Leiden der Menschen im Gazastreifen mit bisher über 30’000 Toten, davon rund 13’000 Kindern, der Zerstörung von rund 70 Prozent sämtlicher Häuser und einer immer bedrohlicher sich abzeichnenden Hungersnot unvermindert Tag für Tag weitergeht, auch in bitterkalten Nächten pausenlos, wenn die Schreie der noch lebenden, unter den Trümmern verschütteten Kinder, nach denen ihre Eltern mit blossen Händen graben, besonders laut und anklagend zu hören sind – bis sie dann, wieder und wieder, auf einmal für immer verstummen…

Mein Blick schweift über den Platz. Gerade mal ein paar hundert Menschen sind gekommen, einzelne Medien werden von 500 Personen sprechen, andere von allerhöchstens 1000, mehr nicht. Unter ihnen Pia Hollenstein, ehemalige Nationalrätin der Grünen, und Ruth Dreifuss, frühere SP-Bundesrätin. Zwei Einzelfiguren, wie Relikte aus einer anderen Zeit, als der Einsatz für eine friedlichere Welt noch das Normale war und Abseitsstehen die Ausnahme, während es heute offensichtlich genau das Gegenteil ist. Ruth Dreifuss braucht Hilfe, um die Rednertribüne zu erklimmen, eine ganz grosse Kämpferin der alten Schule, anklagend, kein Blatt vor den Mund nehmend, und doch gleichzeitig liegt eine Heiterkeit auf ihrem Gesicht, inmitten aller tiefsten Betroffenheit die Zuversicht verbreitend, dass alles doch noch eines Tages zu einem guten Ende kommen wird.

Rückblende: März 2003, kurz vor dem Ausbruch des Kriegs der USA gegen den Irak. Ich erinnere mich noch gut. Schon in der Unterführung des Berner Hauptbahnhofs eine Menschenmasse, die sich wie ein unaufhaltsamer Strom so weit dahin wälzte, wie das Auge kaum hinzureichen vermochte. Rund 40’000 waren gekommen, aus allen Ecken und Enden das Landes. Ein Meer von Fahnen und von winzigen bis ganz grossen Schildern und Plakaten voller origineller Parolen und Zeichnungen, viele von ihnen von Kindern gemalt. Und heute? Fahnen – ausser die Peace-Fahnen – sind verboten, Pappschilder, Transparente und Parolen jeglicher Art ebenfalls. Das einzige Plakat, das trotz des Verbots mitgeführt wird und auf dem “Stoppt den Völkermord in Gaza!” zu lesen ist, erregt sogleich die Aufmerksamkeit von zwei Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsdienstes, welche die Plakatträgerin ansprechen, sie dann aber nach einem kurzen Disput “grosszügerweise” gewähren lassen.

Was ist im Verlaufe dieser 21 Jahre passiert? Weshalb konnte sich die Welt so dramatisch verändern? Wo sind die Herzen geblieben, die damals für die Menschen im Irak schlugen, und denen das heutige Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser so gänzlich gleichgültig zu sein scheint? Wer, wo, wann und mit welchen Mitteln wurden all jene Fäden zerrissen, die es, über alle Grenzen hinweg, damals noch gab und von denen heute kaum mehr etwas zu sehen ist? Haben wir unsere Herzen verloren? Wo ist die Parteikollegin, fünf Tramminuten vom Bundeshausplatz entfernt wohnend, mit der ich in jüngeren Jahren noch stundenlang über die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren ursprünglichen Lebensgebieten diskutierte, voller Mitgefühl für dieses geplagte Volk, hätte sie nicht wenigstens heute nur für ein einziges Mal ihren samstäglichen Saunatermin absagen können, und wäre es bloss gewesen, um der von ihr einst so bewunderten und geliebten Bundesrätin Ruth Dreifuss die Ehre zu erweisen?

Irgendetwas ganz Fürchterliches muss geschehen sein. Denn heute liegt nicht nur der Gazastreifen in Trümmern. Nein, auch die internationale Solidarität scheint in Trümmern zu liegen. Es ist wohl so ganz schleichend gekommen, wie oft bei grossen Katastrophen. Man nimmt es nicht so deutlich wahr wie ein Erdbeben oder einen Wirbelsturm. Aber es kann, in ganz kleinen, winzigen Portionen am Ende zum gleichen Ergebnis führen und genauso verheerend sein. Denn dass heute auf dem Bundesplatz in Bern nur etwa 500 bis 1000 Leute stehen und nicht 40’000 oder 100’000, hat buchstäblich tödliche Folgen. Denn es kann denen, die an einem Ende dieses unsäglichen Blutvergiessens kein Interesse haben und schon gar nicht an einem Ende aller Kriege und aller Aufrüstung, als bester Vorwand dafür dienen, den herrschenden Wahnsinn als das “Normale” ohne Widerstand unvermindert weiterzuführen, sind es doch nicht einmal 1000 von 9 Millionen Menschen in diesem Lande, die das nicht gut finden. Es ist sogar so, dass sie es nicht einmal zur Kenntnis nehmen müssen und es buchstäblich totschweigen können. In der Tat. Nicht einmal eine Sekunde ist es ihnen wert, die Öffentlichkeit darüber zu informieren: Als ich mir am Abend nach der Kundgebung die Tagesschau am Schweizer Fernsehen anschaue, muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass mit keinem einzigen Wort und keinem einzigen Bild über diese Kundgebung berichtet wird. Stattdessen ein ausführlicher Bericht, wie “die Schweiz” diesen wunderbaren Frühlingstag genossen hätte: Leute im Badekostüm in der Sonne brutzelnd, Würste auf dem Grill, fröhliche Gesichter allenthalben. Aber wenigstens, denke ich, wird doch wohl in der Spätausgabe etwas zu sehen sein. Fehlanzeige! Wieder nichts, einfach nichts. Dafür noch einmal die Menschen im Badekostüm, Menschen, die ins Wasser springen, Würste auf dem Grill. Alles scheint wichtiger zu sein als der Auftritt einer ehemaligen, von der ganzen Schweiz so tief verehrten Bundesrätin und ihrer so unglaublich wichtigen und buchstäblich lebensnotwendigen Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Badeplausch, Menschen mit Sonnenbrille und Würste auf dem Grill: Wichtiger als die Tränen einer jungen Jüdin, die offensichtlich so sehr leidet, dass im Namen ihres Landes und ihrer Religion so unglaubliche Verbrechen begangen werden, mit denen sie am liebsten nicht das Geringste zu tun haben möchte. Badefreuden und Grillwürste wichtiger als die gebrochene Stimme eines palästinensischen Kinderarztes, der über den Tod seines besten Freundes erzählt, der die schwerverletzten Kinder in dem Spital, wo er gearbeitet hatte, um nichts in der Welt verlassen wollte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, dieser so liebenswürdige, bescheidene und zutiefst menschliche palästinensische Kinderarzt, der das erzählt und dabei die Tränen kaum zurückhalten kann und so ein zutiefst anderes Bild eines palästinensischen Mannes vermitteln würde als jenes, das in Form eines schwerbewaffneten Hamaskämpfers in den Köpfen wohl der meisten Menschen hierzulande festsitzt, die in jedem Palästinenser einen potenziellen Terroristen vermuten und deshalb auch so unglaublich grosses Verständnis aufbringen für die Politik der derzeitigen israelischen Regierung, all dieses “Böse” so schnell wie möglich auszulöschen, selbst unter Hinnahme des Todes zehntausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

Auch im “Tagesanzeiger” suche ich vergeblich einen Bericht über die Kundgebung in Bern…

Doch die Frage nach den zerrissenen Fäden früherer Solidarität ist noch nicht beantwortet. Ein Schlüssel hierzu könnte jene inzwischen schon fast legendäre Aussage der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher sein, die im Jahre 1987 Folgendes zum Besten gab: “So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.” Seither ist der Geist des “Neoliberalismus” – der im Grunde nichts anderes ist als der noch weiter als je zuvor auf die Spitze getriebene Kapitalismus – wie ein Tsunami in winzigen Portionen ins Land gezogen und ist auf dem besten Wege, alles, was die Menschen mitfühlend und mitleidend miteinander verbindet, nach und nach auszulöschen. Es ist die Lehre, dass jeder nur für sich selber verantwortlich sei, seines eigenen Glückes Schmied sei und sich daher auch nicht um das Leiden und das Schicksal anderer zu kümmern brauche, da diese ja in aller Regel an ihrem Elend selber schuld seien und deshalb auch nichts anderes verdient hätten. Es ist die Lehre, dass es den “Kapitalismus” und alle seine Mechanismen von Ausbeutung, Unterdrückung und Bereicherung der einen auf Kosten der anderen gar nicht wirklich gäbe, sondern wir alle sozusagen in einer völlig wertefreien und der glücklichsten aller möglicher Welten leben würden, in der es den Menschen besser gehe als je zuvor. Alles andere, selbst der tägliche Tod Abertausender von Kindern durch Armut, Hunger und Kriege, seien bloss “Kollateralschäden” und hätten nicht das Geringste mit der Art und Weise zu tun, wie die Glücklichen dieser Welt mit Badeplausch, Sauna und Grillwürsten weiterhin ohne schlechtes Gewissen ihr Glück geniessen könnten…

Gegen Ende der Kundgebung zieht eine Gruppe von japanischen Touristinnen und Touristen hinter dem Rednerpult vorbei, wo gerade der palästinensische Kinderarzt unter Tränen vom Tod seines besten Freundes erzählt. Skurriler könnte das Bild nicht sein. Die Japanerinnen und Japaner bleiben erstaunt stehen, kichern und zücken ihre Handys. Das Bild von der Kundgebung mit den Peace-Fahnen wird für sie neben dem Matterhorn und der Kappelbrücke in Luzern eines von vielen Erinnerungsbildern an Europa sein, eine Touristenattraktion wie so viele andere. Ja, die Globalisierung hat buchstäblich alle Grenzen gesprengt, Informationen sausten noch nie so schnell und in solcher Fülle um den ganzen Erdball. Auch im Strassencafé, wo ich anschliessend ein Bier trinke, gucken alle wie gebannt in ihre Handys. Was sehen sie? Was suchen sie? Werden wir unser Herz, unsere Fähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen, mitzufühlen, das Bewusstsein, dass alles miteinander zusammenhängt und jeder Einzelne und jede Einzelne für alles mitverantwortlich ist, was in jeder Sekunde hier auf dieser Erde irgendwo geschieht, werden wir das alles je in unseren Herzen wieder finden?

(Nachtrag am 8. April 2024. Meine Anfrage an SRF, weshalb über diesen Anlass in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens nicht berichtet worden sei, wurde wie folgt beantwortet: “In der Schweiz und auf der Welt passieren täglich unzählig viele Sachen. Leider ist es uns nicht möglich, über jedes Ereignis zu berichten. In den News-Sendungen, die zeitlich beschränkt sind und meist über Tagesaktualitäten berichten, ringen wir tagtäglich um die richtigen Prioritäten und das richtige Mass – es ist verständlich, dass diese Aufgabe eine schwierige ist und man immer darüber diskutieren könnte, ob dieses oder jenes in unserer Berichterstattung noch hätte Platz finden sollen. Bei der Themenauswahl orientieren wir uns stets an den publizistischen Leitlinien von SRF. Bei SRF wird die Themenwahl von den Kriterien Relevanz und Publikumsinteresse bestimmt. In jeder Publikation muss sich diese Gewichtung spiegeln.”– Interessant, Grillwürste in der Schweiz haben also eine höhere Priorität als der drohende Hungertod von Abertausenden palästinensischer Kinder. Bisher war ich strikt gegen eine Senkung der SRG-Gebühren. Jetzt muss ich mir das noch einmal gut überlegen.)

(Nachtrag am 15. April 2024: Auch an die Redaktion des “Tagesanzeigers” habe ich geschrieben, bis heute, mehr als eine Woche später, noch keine Antwort bekommen. So also geht demokratische Berichterstattung in einem demokratischen Land in dieser Zeit.)

Heimlich verliebt

Ein Kasperletheater für Kinder ab 4 Jahren. Figuren: Kasperle, Krokodil, Äffchen, Gretel, Rabe, Fritzli. Fritzli ist Kasperles Freund, Gretel eine Freundin von Kasperle und Fritzli. Anstelle des Krokodils und des Äffchens können auch andere Tiere oder Menschen verwendet werden, anstelle des Raben ein anderer Vogel. Gegenstände: Ein Handy und eine kleine Blechdose, darin eine kleine Figur, die ein Mädchen darstellt (falls nicht vorhanden, kann es auch eine Zeichnung sein, die ein Mädchen darstellt).

Erstes Bild: Der Kasperle erzählt den Kindern, sein Freund Fritzli sei verschwunden. Er habe ihn gestern besuchen wollen, ihn aber nicht zuhause angetroffen. Er hätte ihm dann eine SMS geschrieben, doch keine Antwort bekommen. Heute Morgen wäre er noch einmal zu ihm nachhause gegangen, hätte ihn aber erneut nicht angetroffen. Dann sei er zur Bäckerei gegangen, wo Fritzli jeden Tag sein Brot einkaufe, dort habe er erfahren, dass Fritzli schon seit drei Tagen nicht mehr aufgetaucht sei. Auch auf eine weitere SMS habe er keine Antwort bekommen. Sodann hätte er Fritzlis Mutter angerufen, aber auch die hätte nicht gewusst, wo Fritzli sein und was mit ihm passiert sein könnte. Der Kasperle sei ratlos und mache sich Sorgen um seinen Freund. Er bittet die Kinder, alle Menschen oder Tiere, denen sie begegnen, zu fragen, ob sie etwas wüssten. Und jetzt würde er zu dem Kiosk gehen, wo Fritzli immer seine Gummibärchen kaufe, vielleicht wüssten die etwas.

Zweites Bild: Nacheinander erscheinen das Krokodil, das Äffchen und Gretel. Doch niemand weiss etwas über Fritzlis Verbleiben.

Drittes Bild: Der Rabe erscheint. Er verspricht den Kindern, die ganze Umgebung abzufliegen und zu schauen, ob er Fritzli irgendwo sehen würde.

Viertes Bild: Der Kasperle kommt vom Kiosk zurück, wo auch niemand etwas gewusst hätte. Von den Kindern im Publikum erfährt er das inzwischen Geschehene. In der Zwischenzeit sei ihm noch in den Sinn gekommen, dass Fritzli oft spazieren gehe und dann meistens eine Weile auf einem Bänklein in der Nähe eines kleinen Teichs Pause mache. Fritzli hätte ihm erzählt, dass er dort so gerne den vielen Vogelstimmen lausche. Kasperle werde nun mal diesen Ort aufsuchen, möglicherweise würde er dort Fritzli vorfinden.

Fünftes Bild: Der Rabe, der jetzt eine kleine Blechdose im Schnabel trägt, habe Fritzli nirgends gesehen, jedoch an einem kleinen Teich in der Nähe eines Himbeerstrauchs diese Blechdose gefunden. Er gibt die Dose den Kindern, sie sollen sie öffnen und schauen, ob sich darin vielleicht ein wichtiger Hinweis befinde. In der Blechdose ist eine Figur, die ein kleines Mädchen darstellt. Der Rabe rätselt. Hat sich vielleicht Fritzli heimlich verliebt? Doch weshalb hat er die Blechdose verloren? Und was hat das mit dem Himbeerstrauch zu tun? Und wo ist Fritzli jetzt? Der Rabe bittet die Kinder, gut auf die Blechdose aufzupassen und er werde nun den Kasperle holen, der könne vielleicht das Rätsel lösen…

Sechstes Bild: Kasperle, der jetzt ein Handy dabei hat (er habe noch einmal erfolglos Fritzli zu erreichen versucht) wird durch die Kinder auf den neuesten Stand gebracht. Fritzli verliebt? Das wäre ihm neu. Aber vielleicht hat es ja doch etwas mit dem Himbeerstrauch zu tun. Kasperle googelt und findet folgende Information: DIE HIMBEERE IST EINE SEHR FEINE FRUCHT. ABER WENN MAN ZUVIEL DAVON ISST, KANN ES PASSIEREN, DASS MAN PLÖTZLICH IN EINE ANDERE WELT DAVON FLIEGT. UND NUR EIN 4JÄHRIGES (..oder andere Altersangabe..) KIND, DAS EIN SCHÖNES LIED SINGT, KANN DIESEN MENSCHEN WIEDER AUF DIE ERDE ZURÜCKHOLEN. Nun fordert der Kasperle das betreffende Kind im Publikum auf, ein Lied zu singen. Ob Fritzli nun wohl wieder beim Himbeerstrauch am kleinen Teich aufgetaucht ist? Der Kasperle wird nun rasch den Raben holen, damit er die Sache aufklären kann…

Siebtes Bild: Die Kinder informieren den Raben, dieser fliegt zum Teich, kommt aber schnell wieder zurück und berichtet, nichts gesehen zu haben. Ob Fritzli vielleicht inzwischen schon zuhause ist?

Achtes Bild: Tatsächlich ist Fritzli inzwischen wieder zuhause. Er erinnert sich nur schwach daran, was passiert sein könnte. Die Kinder klären ihn auf. Plötzlich kommt ihm die Blechdose in den Sinn. Ob die Kinder etwas wissen? Er ist erleichtert, als ihm die Kinder erzählen, dass sie im Besitz der Dose seien. Fritzli befürchtet nun aber, dass die Kinder die Dose geöffnet und das Mädchen gefunden haben. Haben sie tatsächlich? Au weia, er wollte doch dieses Geheimnis nicht preisgeben. Doch die Kinder beruhigen ihn, das sei doch nicht so schlimm, es sei doch im Gegenteil schön, wenn die ganze Welt darüber Bescheid wisse. Nun gut, eigentlich haben die Kinder ja Recht. Fritzli werde nun sofort den Kasperle anrufen und ihm alles erzählen…

Neuntes Bild: Kasperle zuhause, Fritzli hat soeben angerufen und ihm alles erzählt. Kasperle ist überglücklich, dankt dem Kind, das so schön gesungen hat und Fritzli damit wieder in unsere Welt zurückgeholt hat. Der Kasperle werde nun mit Fritzli und seiner Freundin gleich in ein Restaurant gehen und eine feine Pizza geniessen und vielleicht ein paar (aber nicht zu viele) Himbeeren zur Nachspeise…

Kinderlärm

Kinderlärm kann nerven oder glücklich machen, ebenso wie der Klang einer fremden Sprache, ein zu langsam fahrender Zug oder ein unerwarteter Regenguss – es kommt nur darauf an, ob ich in allem das Positive sehen will oder das Negative. Das Leben ist so viel schöner, wenn ich es mit den Augen der Liebe sehe.

Gummibärli

Gummibärli, Sauernudeln, Smarties: Multinationale Konzerne erzeugen bei den Kindern Gelüste, die dann von genervten Eltern mit grossem Aufwand, unter Tränen und Geschrei bis hin zum veritablen Familienstreit wieder bekämpft werden müssen. Wo immer sich die einen masslos bereichern, müssen andere in irgendeiner Form darunter leiden. Nur ist das nicht immer so offensichtlich.

Jesus und Ostern: Die von den Mächtigen tausendfach umgeschriebene Geschichte des ersten grossen Revolutionärs…

Jesus, so wird gepredigt, sei am Kreuz gestorben, um uns Menschen von unseren Sünden zu befreien. Ohne diesen Opfertod wären wir zu ewiger Verdammnis verurteilt. Und daher könnten wir vom Bösen nur erlöst werden, wenn wir die Gnade Gottes bedingungslos annehmen. Jesus sei in die Welt gekommen, um alle, die an ihn glauben, mit Gott zu versöhnen. Sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung dienten dazu, den Riss zwischen Gott und seinen Geschöpfen zu heilen.

Schon als Kind empfand ich, wenn ich solche Worte hörte, einen tiefen inneren Widerstand. Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Weshalb soll dieses grausame Martyrium und der Tod dieses wunderbaren Menschen notwendig gewesen sein, bloss um uns Menschen mit Gott “auszusöhnen”? Und was ist das für ein Gott, der seinen eigenen, angeblich so geliebten Sohn opfert, um die Welt zu “retten”? Und weshalb soll der Mensch von Natur aus sündig sein, wenn doch ausgerechnet Jesus selber die Erwachsenen stets ermahnte, so zu werden wie die Kinder, ansonsten sie nicht ins “Himmelreich” kämen? Und was ist mit all den andern, den Moslems, den Buddhisten, den Hindus, den Angehörigen anderer Religionen und all den sogenannt “Nichtgläubigen”, welche nicht das Glück haben, von Jesus erlöst worden zu seien, schmoren die nun für immer in der Hölle? Und wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet unzählige Anhänger und Verfechter dieser christlichen Religion, deren wichtigstes Fundament angeblich das Gebot der der von Jesus gepredigten Nächstenliebe ist, mit der Bibel in der Hand fast die ganze Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht und bei der Versklavung von rund 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner an vorderster Front eifrig mitgemacht haben?

Und so wuchsen in mir im Laufe der Zeit immer grössere Zweifel, ob uns mit der offiziellen Geschichte von Ostern, von Jesus und von der “Erlösung” der Menschheit nicht über Jahrtausende ein gigantisches Märchen aufgetischt worden ist, das mit der eigentlichen Realität von Jesus, seinem Leben, seinem Wirken, seiner Botschaft und seinem unerschütterlichen Einstehen für eine friedlichere und gerechtere nur sehr wenig zu tun hat, dafür umso mehr mit den Macht- und Profitinteressen all jener, welche die christliche “Lehre” dafür missbrauchten, um ihre Macht immer noch weiter und weiter auszudehnen und dabei auch von den schlimmsten jemals in der Geschichte der Menschheit begangenen Verbrechen nicht zurückzuschrecken.

Heute bin ich überzeugt: Jesus wurde nicht getötet, damit die Welt “gerettet” werden konnte. Jesus wurde schlicht und einfach nur deshalb getötet, weil er den Mächtigen seiner Zeit viel zu gefährlich geworden war. Denn es war ja kein anderer als der Statthalter Pontius Pilatus, der auf Druck der römischen Machthaber Jesus verhaften und zum Tode verurteilen liess, weil, wie es in der Überlieferung heisst, diese sich über die zunehmende “Beliebtheit” und die “neuen Ansichten” von Jesus geärgert hätten. Seltsamerweise wird diese Geschichte – die machtpolitische – viel weniger häufig erzählt als die “theologische”, eben jene von der Erlösung der Menschen durch den Opfertod von Jesus. Stellen wir hingegen die machtpolitische Begründung seines Todes in den Vordergrund, dann ist die Tötung von Jesus im Grunde gar nichts anderes als das, was über viele weitere Jahrhunderte hinweg zahllosen anderen Menschen aus dem genau gleichen Grunde ebenfalls widerfuhr, von Abraham Lincoln, John F. Kennedy, Martin Luther King über Mahatma Gandhi, Patrice Lumumba, Bischof Romero, Salvador Allende bis zu Sophie Scholl, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Olaf Palme, Jitzchak Rabin und vielen, vielen anderen, deren Namen längst vergessen sind, oder deren Geschichte ebenso wie jene von Jesus von den Mächtigen tausendfach umgeschrieben wurde: Tausende zu Tode gefolterte und verbrannte “Hexen” zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Europa, drei Millionen tatsächliche oder vermeintliche “Kommunisten” 1965 in Indonesien, Hunderttausende Regimekritikerinnen und Regimekritiker in Südamerika in den 1970er und 1980er Jahren…

Es scheint ganz so, als sei die Geschichte von Jesus und seinen unbequemen “neuen Ansichten” nach seinem Tod so schnell wie möglich umgedeutet und umgeschrieben worden, wiederum von anderen, neuen Machthabern, für welche die Ideen von Jesus genau so gefährlich hätten werden können wie für die damaligen Machthaber des römischen Reiches. Endgültig umgeschrieben wurde die Geschichte von Jesu im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Fortan marschierten christliche Machthaber und Würdenträger Seite an Seite mit staatlichen Machthabern und Würdenträgern, eroberten Seite an Seite neue Länder, plünderten sie Seite an Seite miteinander aus und begingen Seite an Seite die grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit – mit den ursprünglichen Ideen von Jesus hatte dies alles nichts mehr, aber auch nicht das Geringste mehr zu tun. Und das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben. Und auch heute noch haben die Reichen und Mächtigen nicht das Geringste Interesse daran, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die im Laufe von Jahrhunderten aufgetürmten Lügen aufzudecken und all das Wirklichkeit werden zu lassen, wovon dieser Jesus vor über 2000 Jahren geträumt, von dem er erzählt und was er sich erhofft hatte, nämlich nichts Geringeres, als die Welt auf den Kopf zu stellen. Nähme man seine Visionen ernst, würde man sie in Taten umsetzen, ja, es würde tatsächlich die Welt auf den Kopf stellen…

Eine einzige Aussage von Jesus würde schon genügen, um alles umzudrehen: “Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Reichtum.” Auf den ersten Blick mag an dieser Stelle das Wort “Gott” zwar abschreckend wirken, veraltet, aus der Zeit gefallen, nicht mehr aktuell. Wenn man aber bedenkt, dass Jesus das “Göttliche” stets mit dem Begriff der “Liebe” verband und auch sagte “Gott ist die Liebe”, dann würde es schon ganz anders klingen: Man kann nicht gleichzeitig der Liebe und dem Reichtum bzw. dem Geld dienen – ein radikaler Gegenentwurf zur heutigen kapitalistischen Welt, in der Reichtum als das höchste aller Ziele geht, selbst auf Kosten von Armut und Ausbeutung jener, die von diesem Reichtum ausgeschlossen sind. Da ist Jesus durch und durch konsequent: “Geben ist seliger als nehmen”, sagt er, immer wieder plädiert er für “Besitzlosigkeit”, für das “Teilen” und sagt unmissverständlich: “Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt”, anders gesagt: Wer Reichtum auf Kosten anderer anhäuft, versündigt sich, lebt nicht so, wie es eigentlich von Gott bzw. einem “Schöpfungsplan” der Liebe und der Gerechtigkeit “gedacht” war. Und Jesus geht noch weiter: “Selig sind die, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit”, es ist die konkrete Aufforderung zum politischen Widerstand gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, und weiter: “Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.” Jesus ist auf der Seite all jener, die so leidenschaftlich wie er für die Gerechtigkeit kämpfen, dass sie sogar ihren Tod dafür in Kauf nehmen, so wie jene Abertausenden von kommunistischen Widerstandskämpfern, die in den 70er Jahren in den unterirdischen Gefängnissen der südamerikanischen Militärdiktaturen von Argentinien bis Honduras zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes über dem Meer aus Flugzeugen abgeworfen wurden.

Auch seine Botschaft einer radikalen Nächstenliebe, ja sogar Feindesliebe, würde alles Bisherige aus den Angeln reissen. Hätte man zu seinen Lebzeiten, statt ihn zu töten, dieses Gebot verstanden und ernst genommen, dann hätten schon damals alle Kriege bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zu all den fürchterlichen Kriegen, die selbst heute noch, und erst noch in wachsender Zahl, weltweit wüten, verhindert werden können und es hätten Abermillionen von Menschenleben gerettet werden können. Doch statt die Idee einer konsequenten Feindesliebe überhaupt erst einmal auszuprobieren, wird sie aller Vernunft und allem gesunden Menschenverstand zum Trotz selbst heute noch und mehr denn je in ihr pures Gegenteil verdreht und es wird den Menschen mit allen Mitteln der Verführung und der Propaganda in den Kopf gehämmert, so etwas wie Pazifismus sei es “aus der Zeit gefallen” und der US-Aussenminister muss es nicht einmal verheimlichen, sondern kann es öffentlich in die Welt hinausposaunen, dass es doch auch seine guten Seiten hätte, wenn der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, weil dadurch die Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie gesichert werden könnten. Alles, woran Jesus glaubte, wurde ins Gegenteil verdreht. Denn so, wie man nicht gleichzeitig der Liebe und dem Geld dienen kann, so kann man auch nicht gleichzeitig dem Krieg und dem Frieden dienen. Es gibt nur den radikalen Gegenentwurf, nicht nur im Grossen, sondern auch im Allerkleinsten: “Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.” Eine solche Haltung ist nicht Schwäche, es ist die grösstmögliche Stärke, ganz simpel: Eine Faust, die auf eine andere Faust trifft, wird dadurch nur stärker, eine Faust, die ins Leere saust, ist sinnlos und verliert all ihre Kraft.

Als Jesus am Brunnen eine Frau aus dem Volk der Samariter trifft, diesem Volk, das von den Juden verachtet wurde, sodass kein Jude, der etwas von sich hielt, jemals mit einer solchen Frau gesprochen geschweige ihr in die Augen geblickt hätte, als Jesus diese Frau trifft, erkundigt er sich nach ihrem Wohlergehen, ist es doch aussergewöhnlich, dass eine Frau ganz alleine, und erst noch um die Mittagszeit, an einem Brunnen Wasser holt. So erfährt er, dass sie wegen Ehebruch aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Jesus geht zu den Menschen, zu denen sonst niemand hingeht, zu den Aussätzigen, den Ehebrechern, den Betrügern, den verhassten Zöllnern, spricht mit ihnen, grenzt niemanden aus und ist auch in diesem Sinne ein Vorbild für alle kommenden Generationen, ist doch das gegenseitige Ausgrenzen, gegenseitige Verachtung, Herabwürdigung, Diskriminierung, Rassismus das Grundübel fast aller Formen von Gewalt bis hin zum Krieg. “Alle Menschen”, sagt Jesus, “sind meine Mütter und meine Brüder”. Wo die Menschen sich voneinander verabschieden, versöhnt und verbindet er sie mit dem Band der Liebe. Daher auch seine grosse Bewunderung für die Kinder, welche alle diese Formen von Ausgrenzung, die ihnen immer erst im Verlaufe des Älterwerdens anerzogen werden, noch nicht kennen: “Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen”. Was für revolutionäre Worte in einer so patriarchalen Zeit. Und immer wieder verbringt Jesus auch Zeit mit Frauen, spricht, wie seine Jünger übereinstimmend berichten, einfühlsam und auf Augenhöhe mit ihnen. Er reist mit ihnen. Und während gewöhnliche Rabbiner nur junge Männer unterrichten, unterrichtet Jesus auch Frauen. Es trifft zwar zu – und wird von patriarchal eingestellten Christen auch heute noch gerne betont -, dass Jesus auch zahlreiche gegenteilige Äusserungen machte wie etwa jene, dass die Frau dem Manne untertänig sein und ihm dienen solle, doch darf man die Zeitumstände nicht ausser Acht lassen. Auch Jesus – und das zeigt eben, dass er auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war – konnte sich nicht gänzlich von allen damaligen Wertvorstellungen lösen, war vielleicht sogar selber oft hin- und hergerissen. Seine Einstellung gegenüber Frauen war aber für die damalige Zeit zweifellos durchaus revolutionär.

Ganz und gar nicht gut zu sprechen ist Jesus auf Scheinheiligkeit und Vortäuschung von Werten, die nicht echt sind und nicht gelebt werden: “Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.” Die “Geldwechsler” möchte er am liebten “aus dem Tempel jagen”: “Haut ihre Tische um. Schafft das alles fort. Macht aus dem Haus meines Vaters keinen Marktplatz!” Hatte Jesus 2000 Jahre in die Zukunft blicken können? Sah er schon die globalen Börsenmärkte, die Aktienkurse, die auf purer Ausbeutung beruhende globale Marktwirtschaft, die Broker und die “Geldwechsler” des modernen Kapitalismus? Schon klar, dass die alle keine Freude hätten, würde man das, was Jesus sagte, nur richtig so verstehen, wie er es gemeint hatte.

Die offizielle christliche Lehre beruht ja auf der Annahme, dass der “Himmel” bzw. das “Paradies” auf der Erde nicht zu verwirklichen sei, sondern erst im “Jenseits” jenen Menschen eröffnet werde, die sich in ihrem irdischen Leben wohl verhalten hätten. Mit dieser “Lehre” wurden die Menschen über Jahrhunderte geknechtet und ihnen sogar gesagt, je mehr sie in ihrem irdischen Leben leiden müssten, umso besser würde es ihnen dann nach ihrem Tode gehen – zynischerweise wendeten jene, die das propagierten, genau dies aber bei sich selber meistens ganz und gar nicht an, sondern lebten in aller Regel in Saus und Braus und erst noch auf Kosten jener, denen das Leiden als Heilmittel für ihr späteres Glück verschrieben worden war.

Alles sähe ganz anders aus, wenn man davon ausginge, dass das Paradies nicht erst in irgendeinem erfundenen Jenseits verwirklicht werden kann, sondern hier und heute mitten auf dieser Erde. Wenn Jesus vom “Himmel” spricht, so könnte man das ja auch durchaus als so etwas verstehen wie eine zweite, spirituelle Ebene, die stets auch das irdische Leben durchdringt. Es würde ja auch Sinn machen. Weshalb sonst hätte Jesus die Menschen aufgefordert, die Feinde zu lieben, dem Krieg abzuschwören, so zu werden wie die Kinder, Reichtum nicht zu raffen, sondern zu teilen. Damit wäre ja, wenn die Menschen dem allem nachgelebt hätten, das Paradies auf Erden verwirklicht worden. Es wäre ja nicht logisch gewesen, dies alles von den Menschen zu fordern, wenn Jesus nicht zugleich daran geglaubt hätte, dass sie das auch tatsächlich schaffen könnten und sich dann die Idee irgendeines jenseitigen Paradieses ohne Gewissheit, ob es das überhaupt gibt, ganz und gar erübrigen würde.

Diese Blumen in meinem Garten, jede einzelne mit einer Blüte so unbeschreiblicher Vollkommenheit. Der Nebel über den Bergen. Ein tanzendes, singendes und lachendes Kind. Der Gesang der Vögel. Die Musik, die aus den Bäumen klingt, wenn der Wind durch sie hindurchweht. Wir sind doch mitten im Paradies. Was suchen wir denn noch, wenn es doch so nahe ist? Wäre es nicht viel gescheiter, dafür zu sorgen, dass das Paradies auf Erden, wo es noch vorhanden ist, für immer erhalten bleibt, und wir alle Phantasie, Liebe und Leidenschaft dafür aufbringen, es dort, wo es inzwischen verloren gegangen ist, wieder aufzubauen? Ein Blick in die vorchristliche Zeit zeigt uns, dass die Idee eines Paradieses auf Erden durchaus nichts Aussergewöhnliches ist. Der Garten Eden, der Inbegriff des Paradieses, war nicht erfunden, sondern real. Es war das sagenhafte Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, Mesopotamien, dieses Stück Erde, das 2000 Jahre später ausgerechnet von einem US-Präsidenten in Schutt und Asche gelegt wurde, der sich als bekennenden Christen bezeichnet und vermutlich, bevor er den Befehl zum ersten Bombenschlag gab, noch sein Morgengebet aufgesagt und sich gewiss heftig bekreuzigt hatte…

Die letzten Tage wurde wieder einmal Ostern gefeiert. Aber nur mit den “Lippen”, nicht mit dem “Herzen”. Gefeiert haben wir nämlich nicht wirklich die “Auferstehung” von Jesu und die Botschaft, die uns dieser erste ganz grosse Revolutionär der Geschichte hinterlassen hat. Gefeiert haben wir tatsächlich etwas ganz anderes: Nämlich, dass diese Geschichte im Verlaufe von fast 2000 Jahren in ihr pures Gegenteil umgeschrieben worden ist. Sonst hätten wir nämlich diese Ostertage nicht vor allem damit verbracht, wieder einmal länger und weiter in alle Welt zu verreisen, mehr Fleisch aus Tierfabriken, mehr Eier und mehr aus kolonialer Ausbeutung gewonnene Schokolade zu verzehren und fast noch systematischer als ohnehin schon die Augen vor Hunger, Armut, sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Krieg und der Zerstörung unserer zukünftigen Lebensgrundlagen zu verschliessen.

Am Friedensostermarsch in Bern haben gerade mal ein paar hundert Menschen teilgenommen. Ein paar hundert von neun Millionen. Als eine palästinensische Menschenrechtsaktivistin in eindringlichen Worten die heutige Lage in Westjordanien und im Gazastreifen beschrieb, wo man oft tagelang noch das Schreien der Kinder aus den Trümmern der zerbombten Häuser hört, bis es irgendwann verstummt, stand auch für mich einen Augenblick die Welt still. Eine unendliche Traurigkeit. Und zugleich eine unendliche Hoffnung. Dass wir doch noch eines Tages verstehen werden, was uns Jesus vor über 2000 Jahren sagen wollte. Und dass diese Geschichte, die so systematisch umgeschrieben und in ihr Gegenteil verkehrt wurde, doch auch wieder in die andere Richtung zurückgeschrieben werden kann. Wenn nur genug Menschen dies wollen.

Asylsuchende aus Afrika in Europa: Welches sind die Täter, welches die Opfer?

Wie das “Tagblatt” am 21. März 2024 berichtete, hat der neue schweizerische Justizminister Beat Jans das Bundesasylzentrum Boudry im Kanton Neuenburg besucht. Dieses schweizweit grösste Asylzentrum mit Verfahrensfunktion hatte in letzter Zeit in der öffentlichen Debatte und in den Medien viel zu reden gegeben, weil es, wie es der Neuenburger Sicherheitsdirektor Alain Ribaux ausdrückte, mit einem “Tsunami der Kriminalität” konfrontiert sei. Landesweit hatten Polizeikorps seit Wochen von einer Zunahme von Diebstählen und Einbrüchen durch junge Männer aus den Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko berichtet. Auch bei den “renitenten” Asylsuchenden in Boudry handelt es sich laut Polizeiangaben mehrheitlich um dieses “Täterprofil”. “Die Akzeptanz des Asylsystems”, so Karin Kayser-Frutschi, Co-Präsidentin der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, “droht in der Bevölkerung zu erodieren. Wir stehen kurz vor dem Kipppunkt.” Bereits hat die Neuenburger Regierung Ende Februar die Weiterführung des Asylzentrums in Boudry grundsätzlich in Frage gestellt.

Nun also hat Bundesrat Beat Jans das Asylzentrum in Boudry besucht. Er konnte gar nicht anders, so gross war der Druck in der Öffentlichkeit. Vor den Medien erklärte Jans, die Situation für die Bevölkerung sei “herausfordernd”, auch die Vorfälle in anderen Asylzentren hätten ihn “geschockt” und die Bevölkerung hätte das “Recht, in Sicherheit zu leben”. Deshalb solle bis Ende April 2024 schweizweit ein neues “24-Stunden-Verfahren” eingeführt werden, und zwar für sämtliche Asylsuchende aus Ländern mit einer Asylgewährungsquote von weniger als einem Prozent. Dies betrifft vor allem Asylsuchende aus Marokko, Tunesien und Algerien.

Die asylpolitischen Hardliner sind begeistert. Jans, so Patrik Müller im “Tagblatt” vom 21. März, zeige sich “resistent gegen den linken Reflex, Missstände kleinzureden”. Er benenne die Probleme, insbesondere die “Kriminalität von Asylsuchenden aus Nordafrika, die für einen Grossteil der Einbrüche verantwortlich sind”. Er “fackelt nicht lange und ergreift Massnahmen”. Und er lasse sich “nicht durch einen drohenden Liebesentzug durch die SP beirren”, auch nicht durch den “Protest von Flüchtlingsorganisationen gegen die neuen Massnahmen”. Jans halte “Kurs”. Auch wenn sein Herz bisweilen “rebellieren” möge, aber schliesslich regiere man nicht mit dem Herzen, sondern “mit dem Kopf”. Jans’ Politik sei die helvetische Antwort auf die Aussage des US-Politologen Bret Stephens, wonach Politiker wie Trump, Le Pen oder die AfD davon profitierten, dass “etablierte Parteien das Migrationsproblem ignorieren.”

Starker Tubak. Aber bitte schön alles der Reihe nach. Ein “Tsunami der Kriminalität” in Boudry? Tatsache ist, dass gerade mal zwei Prozent sämtlicher Asylsuchender in der Schweiz Straftaten begehen, zumeist erst noch ziemlich harmlose wie etwa Diebstähle oder Einbrüche mit meist ziemlich bescheidenem Diebesgut. Wenn das ein “Tsunami” ist, was sind denn da die von Schweizern begangenen Straftaten, im Bereich von einem Prozent der Bevölkerung, wobei da auch massivste Verbrechen mit tödlichen Folgen in nicht geringer Anzahl dabei sind und etwa die Steuerhinterziehung im Bereich von jährlich 15 Milliarden Franken, die man ja wohl kaum anders nennen kann als Diebstahl in grossem Ausmass, noch nicht einmal mitgerechnet ist. Wenn also die Vorkommnisse in Boudry und anderen Asylzentren ein “Tsunami der Kriminalität” sein sollen, was sind dann die von Schweizern begangenen Straftaten? Nur ein Orkan? Oder vielleicht doch etwas zwischen einem Tsunami und einem Orkan? Und ist nicht, ganz abgesehen davon, nur schon die Verwendung des Begriffs “Tsunami” eine jegliches Augenmass sprengende Verzerrung der Realität? Wenn wir uns die Bilder des Tsunami in Erinnerung rufen, der im Dezember 2004 die Meeresküsten von Sri Lanka, Thailand, Indien, Indonesien, Malaysia, Somalia und der Malediven verwüstete, die haushohen Fluten, die wie Streichholschachteln zersplitternden Häuser, ganze bis auf den Erdboden ausradierte Dörfer, über 230’000 Todesopfer, und das mit den Einbrüchen rund um schweizerische Asylzentren vergleichen, wo bisher unter der betroffenen Schweizer Bevölkerung noch kein einziges Todesopfer zu beklagen war – was hat das eine mit dem anderen auch nur im Entferntesten zu tun? Sind die von Asylsuchenden begangenen Delikte etwa so banal, dass man sie mit dermassen weit hergeholten und jeglicher Verhältnismässigkeit spottenden Begriffen aufladen muss, um damit auch garantiert die gewünschte politische Wirkung zu erzielen?

Selbst die Statistik, wonach zwei Prozent der Asylsuchenden “straffällig” seien, muss kritisch hinterfragt werden, denn es handelt sich dabei nur um die Anzahl der Anzeigen, nicht um jene der tatsächlich begangenen und verurteilten Straftaten. Untersuchungen haben gezeigt, dass Ausländerinnen und Ausländer pro Kopf gut dreimal häufiger für Straftaten beschuldigt werden als Schweizerinnen und Schweizer. Dies gilt für die gesamte ausländische Wohnbevölkerung, insbesondere aber für Asylsuchende, die offensichtlich geradezu unter dem Generalverdacht stehen, potenziell kriminell zu sein. Dies zeigt sich auch im Begriff der sogenannten “Ausländerkriminalität”, die auf völlig unzulässige und menschenverachtende Weise zwei Begriffe miteinander verbindet, die nichts miteinander zu tun haben. Denn wenn Ausländerinnen und Ausländer “kriminell” werden, dann nicht deshalb, weil sie “Ausländerinnen” und “Ausländer” sind, sondern weil sie, wie Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, zu bedenken gibt, “soziale und persönliche Umstände” erfahren haben oder diesen ausgesetzt sind, welche “Kriminalität verursachen”. Unter vergleichbaren Umständen – Armut, Verfolgung, Diskriminierung, Folter, Krieg, Verlust von Familienangehörigen, usw. – würden Schweizerinnen und Schweizer in genau gleichem Ausmass straffällig, ohne dass jemand auch nur im Entferntesten auf die Idee käme, von einer “Inländerkriminalität” zu sprechen.

Und damit kommen wir zur eigentlichen Kernfrage, nämlich zur Frage, wer denn – unabhängig von allen diesen einseitigen und künstlich aufgebauschten Schuldzuweisungen und Vorurteilen – die eigentlichen Täter und die eigentlichen Opfer sind. Um diese Frage zu beantworten, genügt schon ein kurzer Blick in die Geschichte…

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Afrika noch einer der reichsten Kontinente, gesegnet mit fruchtbarster Erde und einem Klima, in dem sozusagen alles nur Erdenkliche, was das Herz begehrte, gedieh. Die Menschen lebten einfach, aber niemand musste hungern, alle hatten reichlich Arbeit. Zur gleichen Zeit war Europa einer der ärmsten Kontinente, so arm, dass Abertausende, um nur einigermassen überleben zu können, in fremde Länder auszuwandern begannen, nach Amerika, nach Australien und anderswohin. Dann begann der grosse Raubzug. Wie Heuschrecken überfielen die europäischen Kolonialmächte von Spanien bis England, von Italien bis Belgien, von Holland bis Deutschland den afrikanischen Kontinent, rafften alles zusammen, was zusammenzuraffen war. Auf den fruchtbaren Böden, die zuvor der Eigenversorgung der einheimischen Bevölkerung gedient hatten, liessen die Eindringlinge aus dem Norden Kakao, Kaffee, Bananen, Ananas, Mango, Palmöl, Baumwolle, Datteln, Erdnüsse und vieles mehr produzieren, in die Länder des Nordens verschiffen und dort möglichst gewinnbringend verkaufen. Die Brutalität, mit der die afrikanischen Menschen gezwungen wurden, sich bis zum Tode für die Luxus- und Profitinteressen des Nordens abzurackern, kannte keine Grenzen. Im Gebiet der heutigen Republik Kongo liess der belgische König Leopold II allen Arbeiterinnen und Arbeitern, die bei der Gewinnung von Kautschuk das jeweilige Tagessoll nicht zu erfüllen vermochten, die Hände abhacken. Schon kleinste Kinder wurden gezwungen, unter Lebensgefahr in glühendheisse Schächte hinabzusteigen, um dort nach Diamanten und anderen Kostbarkeiten zu schürfen. Auf endlosen Plantagen mussten Männer und Frauen, die kaum genug zu essen hatten, unter glühender Hitze von frühmorgens bis spät in der Nacht arbeiten, nachdem schon 15 Millionen ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren im Verlaufe von 300 Jahren unter grausamsten Bedingungen als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika verfrachtet worden waren, um dort das gleiche Schicksal zu erleiden und infolge der unmenschlichen Arbeitsbedingungen meist schon nach wenigen Jahren zu sterben. Und so verwandelte sich innert kürzester Zeit einer der ärmsten in einen der reichsten und einer der reichsten in einen der ärmsten Kontinente. Wenn man etwas als Tsunami bezeichnen könnte, dann dies. Es war nicht nur einer, es waren Tausende von Tsunamis.

Und das war ja noch längst nicht das Ende. Die Ausbeutung Afrikas durch die industrialisierten Länder des Nordens geht bis zum heutigen Tag gnadenlos weiter. Und die Schweiz ist da nicht irgendeine Trittbrettfahrerin, nein, sie ist an vorderster Front mit dabei. Obwohl auf schweizerischem Boden noch nie eine Kaffee- oder Kakaobohne wuchs und in schweizerischer Erde noch nie auch nur ein einziger Tropfen Öl gefunden wurde, kein Staubkorn Gold und kein einziger Diamant, gibt es dennoch kein anderes Land, wo mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte so viel Geld verdient wird wie in der Schweiz. Die Schweiz rühmt sich zwar, in Sachen “Entwicklungshilfe” besonders grosszügig zu sein, aber die Profite, welche sie im Handel mit den Ländern des Südens erwirtschaftet, übertreffen diese sogenannte “Entwicklungshilfe” um nicht weniger als das Fünfzigfache!

Seit Jahrhunderten gilt die eiserne Regel, erfunden und bis zum heutigen Tag weiterbetrieben durch die reichen und mächtigen Länder des Nordens, dass der echte Wert einer Ware erst dann entsteht, wenn sie industriell verarbeitet wird. So gilt noch immer als selbstverständlich, dass der Lohn einer Landarbeiterin, die auf einer afrikanischen Kaffeeplantage schuftet, nur einen winzigen Bruchteil jenes Profits ausmacht, mit dem dann der aus den Kaffeebohnen gewonnene Cappuccino in einem Starbucks-Café irgendwo in Zürich, Genf oder Chur verkauft wird. Dabei müsste es doch genau umgekehrt sein, bilden die Kaffeebohne und die Leistung der Kaffeearbeiterin doch die eigentliche, unverzichtbare und durch nichts zu ersetzende Basis dafür, dass überhaupt irgendwer irgendwo damit zusätzliches Geld verdienen kann. Die – bei vielen Produkten sogar oft noch weiter wachsende – Kluft zwischen den Rohstoffpreisen und den mit den Fertigprodukten erzielten Milliardengewinnen hat zudem zur Folge, dass sich die rohstoffreichen, aber wenig industrialisierten Länder laufend mehr verschulden müssen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gewähren ihnen dann zwar “grosszügige” Kredite, aber nur unter knallharten Auflagen, indem etwa sogenannte “Wirtschaftsreformen” umgesetzt werden müssen, bei denen zuallererst meist Nahrungsmittelsubventionen sowie Sozial- und Bildungsprogramme zusammengestrichen werden. Auch sind die gewährten Kredite stets mit der Verpflichtung verbunden, dass sie, zusammen mit horrender Zinsbelastung, wieder zurückzuzahlen sind. Wie Daumenschrauben, die jedes Mal, wenn der Finger ein wenig dünner ist, um eine weitere Drehung angezogen werden.

Und damit sind wir wieder bei den sogenannten Maghrebstaaten Tunesien, Marokko und Algerien, aus denen die besonders “gefährlichen”, “renitenten” und “kriminellen” Asylsuchenden stammen, von denen sich die schweizerische Bevölkerung zurzeit so bedroht fühlt. Auch Marokko, Tunesien und Algerien sind gezwungen, landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe wie Zitrusfrüchte, Obst, Getreide, Gemüse, Meeresfrüchte, Fisch, Rohöl, Phosphate und andere Chemikalien zu Billigstpreisen zu verschachern, um vergleichsweise viel teurere Geräte, Maschinen und andere industrielle Produkte kaufen zu können. Auch sie leiden unter der Daumenschraube des IWF und der Weltbank. Auch in ihren Ländern mussten Nahrungsmittelsubventionen und dringend nötige Sozialprogramme gestrichen werden. Die mit dem “Arabischen Frühling” zwischen 2010 und 2012 verbundenen Hoffnungen auf bessere Zeiten liegen schon in weiter Vergangenheit, seither ist alles noch schlimmer geworden und die Menschen sind mittlerweile so erschöpft, verzweifelt und ohne jede Hoffnung, dass sie schon gar nicht mehr die Kraft aufzubringen vermöchten, einen zweiten “Arabischen Frühling” ins Leben zu rufen.

Welches sind die Täter, welches sind die Opfer? Ein kurzer Blick in die Vergangenheit genügt, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass all die “unliebsamen” Asylsuchenden aus diesen Ländern, die uns Schweizerinnen und Schweizern angeblich das Leben so schwer machen, eigentlich nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen, kaum nennenswerten Teil jenes Raubgutes zurückzuholen, das wir ihnen so gnadenlos und systematisch im Verlaufe weniger hundert Jahre entrissen haben. Wenn sich nun Schweizerinnen und Schweizer über das Verhalten dieser Menschen aufregen und sie so schnell wie möglich wieder loshaben möchten, so ist dies nur möglich, wenn wir vor jeglicher Realität die Augen verschliessen. Denn in Tat und Wahrheit sind all jene Menschen, die auch in den reichen Ländern des Nordens und auch in der Schweiz zunehmend unter Armut leiden, die Opfer des genau gleichen weltweiten kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems, unter dem auch die Menschen in Afrika und letztlich allen anderen Ländern mehr oder weniger stark leiden. Würde sich diese Erkenntnis weltweit durchsetzen, dann würden nicht mehr Menschen gegen andere Menschen ankämpfen und sie zum Verschwinden bringen wollen, sondern sie würden sich, ganz im Gegenteil, mit diesen Menschen verbünden und gemeinsam mit ihnen für eine Zukunft kämpfen, in der die Profitmaximierung und die Bereicherung einer Minderheit auf Kosten einer Mehrheit für immer der Vergangenheit angehören sollten. Dass die Reichen und Mächtigen, die vom heutigen kapitalistischen Weltwirtschaftssystem so unverschämt und immer noch unverschämter profitieren, dies nicht wollen, ist klar. Und so werden sie alles daran setzen, dass die Wahrheit darüber, welches die Täter sind und welches die Opfer, nur ja nie ans Licht kommt. Am besten im Bunde mit Politikern wie Bundesrat Beat Jans und vielen anderen, die sich, statt endlich alle diese verheerenden Lügen aufzudecken, mehr oder weniger nahtlos dem allgemeinen Zeitgeist anschliessen.

Doch wir können die Mauern zwischen der Armut und dem Reichtum, zwischen den Opfern und den Tätern, zwischen der Ausbeutung und dem Luxus noch so weit in die Höhe bauen und noch so sehr alles Unangenehme, Störende und Bedrohliche unsichtbar machen wollen – in den Herzen all jener Menschen, die schon bald, abgefertigt in den 24-Stunden-Schnellverfahren, wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen, wird die Wahrheit dennoch nicht erlöschen, auch nicht die Erinnerungen, auch nicht die Sehnsucht. Und eines Tages, früher oder später, wird die Wahrheit ans Licht gelangen.

Ein genialer Schachzug: Wie meine dreieinhalbjährige Enkelin bewiesen hat, dass die künstliche Intelligenz niemals die natürliche Intelligenz wird ersetzen können…

„Wie KI zur Kränkung der Menschheit wird“, lese ich in der „NZZ am Sonntag“ vom 24. März 2024. Und: „Jetzt ist diese Technologie dabei, unser Selbstverständnis zu zerstören.“

Ich hätte da möglicherweise eine Gegenthese. Und zwar kam das so: Unlängst wollten meine dreieinhalbjährigen Zwillingsenkelkinder, ein Bub und ein Mädchen, Schach spielen. Sie hatten es bei der älteren Schwester gesehen und wollten es nun unbedingt auch ausprobieren. Sie kannten natürlich die genauen Regeln noch nicht, wussten aber, dass man die Figuren in zwei gegnerischen Linien aufstellt und diese sich nun gegenseitig „fressen“ müssen. So führten sie die Figuren nun kreuz und quer übers Feld und warfen sich gegenseitig vom Spielfeld. Bis das Mädchen auf einmal sagte, das sei doch langweilig, sie hätte eine bessere Idee: Statt sich gegenseitig zu „fressen“, sollten sich die Figuren, sobald sie aufeinander trafen, ineinander verlieben. Der Bub war einverstanden. Und so änderte sich alles schlagartig. Die Figuren, die sich ineinander verliebt hatten, standen am Ende des Spiels friedlich paarweise am Rande des Spielfelds. Und die beiden Kinder waren überglücklich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass KI das geschafft hätte, was die dreieinhalbjährigen Zwillinge geschafft haben, nämlich, eine seit etwa 2000 Jahren geltende Regel einfach so über Bord zu werfen. Damit, hoffe ich, ist die Frage für immer beantwortet.

Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich auf der zweiten Oberstufe im November 2023: In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Nach den Schuljahren 2007/08, 2012/13 und 2017/18 fand im Schuljahr 2022/23 in der Stadt Zürich zum vierten Mal eine vom Gesundheitsdienst durchgeführte Befragung der rund 2000 Schülerinnen und Schülern der zweiten Oberstufe statt. Die Resultate können zweifellos, allenfalls mit gewissen Abweichungen, auf die gesamte schweizerische Schulsituation übertragen werden.

Auffallend sind die Unterschiede zwischen den Rückmeldungen von Mädchen und Knaben. Mädchen äussern sich in Bezug auf ihre schulische Situation weitaus negativer. 52% der Mädchen – 14% mehr als vor fünf Jahren – fühlen sich durch Prüfungen, Druck in der Schule und Noten stark belastet, bei den Knaben sind es deutlich weniger. Nur 23% der Mädchen sind mit ihrer Schulsituation sehr zufrieden, der tiefste Wert seit Beginn der Befragungen. 57% Prozent der Mädchen und 42% der Knaben äussern Traurigkeit und Zweifel an sich selbst. 55% der Mädchen und 47% der Knaben geben an, sich in schwierigen Situationen nicht auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können. Nur die Hälfte der Mädchen haben Vertrauen in die eigenen Lehrkräfte, vor fünf Jahren waren es noch 67%, bei den Knaben ging der entsprechende Anteil von 71% auf 67% zurück. Das Gefühl, zur Schule zu gehören, hat innerhalb der vergangenen fünf Jahre bei den Mädchen von 82% auf 72% abgenommen, bei den Knaben von 84% auf 78%. 21% der Mädchen und 13% der Knaben fügen sich Selbstverletzungen zu. Zugenommen haben – um insgesamt 5 bis 9 Prozent – sowohl bei den Mädchen wie bei den Knaben Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen sowie Angststörungen und Depressionen. 51% der Mädchen und 37% der Knaben nehmen regelmässig Medikamente gegen Schmerzen. 23% der Mädchen und 10% der Knaben haben schon ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Von diesen 23% sämtlicher Mädchen haben wiederum 29% schon mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, bei den Knaben sind es 24%. Gemessen am Total aller Befragten, inklusive derjenigen, welche auf diese Frage keine Antwort gaben, sind es 4,5%, die schon einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen.

Fehlende positive Gefühle, mangelnde Erfolgserlebnisse und der steigende Leistungsdruck sind wohl Ursachen dafür, dass sich viele Jugendliche irgendwelche «Ersatzbefriedigungen» suchen, so etwa, indem sie sich in ferne Phantasie- und Traumwelten flüchten, welche ihnen in den sozialen Medien vorgegaukelt werden. Nur zu oft unterliegen sie dabei der Gier, sich eine möglichst grosse Zahl von «Freundinnen» und «Freunden» im Internet zu ergattern, so etwa durch gegenseitiges Wetteifern um Schönheit und gutes Aussehen – um meist früher oder später gänzlich desillusioniert festzustellen, dass auch in diesen auf den ersten Blick so verheissungsvollen Welten am Ende genau das gleiche Prinzip gilt, nämlich, dass nur wenige wirklich erfolgreich sein können auf Kosten vieler anderer.

Wieder andere werden aggressiv, gegen Eltern oder Lehrkräfte, oder sie geben den Druck in Form von «Mobbing» an Mitschülerinnen und Mitschüler weiter. Wie die «Sonntagszeitung» vom 12. Februar 2023 berichtete, ist gemäss einer Auswertung im Rahmen der Pisa-Studie jedes zehnte Kind in der Schweiz im Laufe seiner Schulzeit ein Opfer von Mobbing, was einen europäischen Spitzenwert bedeutet. Und obwohl viele Schulen versuchen, das Problem mit Sozialarbeit oder präventiven Workshops zu bekämpfen, steigen die Zahlen weiter an. Die «Sonntagszeitung» vom 21. Mai 2023 spricht sogar von einem «alltäglichen Hass im Klassenzimmer»: In einer Umfrage bei über 1000 Zürcher Lehrpersonen berichtete jede zweite von körperlichen Angriffen unter Schülerinnen und Schülern, noch häufiger seien Demütigungen und Bedrohungen.

Auch der steigende Konsum von Suchtmitteln durch Kinder und Jugendliche könnte sich, zumindest teilweise, mit Lebenssituationen erklären lassen, die entweder als besonders belastend empfunden werden oder aber dem Urbedürfnis nach Wohlbefinden, geselligem und fröhlichem Zusammensein und lustvollen Erlebnissen zu wenig Rechnung tragen. «Wenn es einer Person nicht gut geht», so Markus Meury von der unabhängigen Stiftung «Sucht Schweiz» im «Tagesanzeiger» vom 21. März 2024, «ist das Risiko grösser, dass sie nach Substanzen greift, von denen sie sich eine Besserung verspricht». Entsprechend alarmierend sind die Zahlen: Gemäss einem Ende 2023 veröffentlichten Bericht von «Sucht Schweiz» rauchen von den 15Jährigen fast 28 Prozent der Jungen und fast 29 Prozent der Mädchen Zigaretten, entweder konventionelle oder E-Zigaretten oder beides. Der häufige Konsum von E-Zigaretten – an mindestens zehn Tagen pro Monat – nahm bei den 15jährigen Mädchen von 1,2 Prozent im Jahre 2018 auf 8 Prozent im Jahre 2022 zu. Besonders beliebt ist auch der sogenannte «Lutschtabak», etwa in Form von «Snus», wo sich bei den 15Jährigen der Konsum im Vergleich zu 2018 auf 13 Prozent geradezu verdoppelt hat. Auch der Alkoholkonsum weist steigende Zahlen auf: So gaben 43 Prozent der 15Jährigen bei der erwähnten Befragung an, im Verlauf der vorangegangenen 30 Tage mindestens einmal Alkohol getrunken zu haben. Rauschtrinken, also der gleichzeitige Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken, kommt bei einem Viertel der 15Jährigen regelmässig vor.

Auch «Jugendgewalt», «Jugendkriminalität» oder die Instrumentalisierung durch extremistische Gruppierungen politischer oder religiöser Ausrichtung könnten – zusätzlich zu ungünstigen familiären oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – eine wesentliche Ursache in einem Schulsystem haben, dem es offensichtlich nicht gelingt, Menschen genug gross und stark werden zu lassen, damit sie es nicht nötig haben, sich ihre Erfolgserlebnisse, ihre Selbstbestätigung und die Anerkennung durch Gleichaltrige oder Erwachsene auf anderen, gefährlicheren oder wenn nötig auch «illegalen» Wegen zu suchen. Denn nichts ist für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen so wichtig, als sich anerkannt und geliebt zu fühlen und mit seinen Stärken wahrgenommen zu werden. Wenn ihm der tägliche Schulunterricht diese Nahrung nicht bietet, sucht er sie dann halt möglicherweise ganz anderswo.

Gleichwohl würde man wohl zu weit gehen, wenn man alle diese Probleme allein der Schule in die Schuhe schieben wollte. Dennoch kann es wohl kaum ein Zufall sein, dass sämtliche der beschriebenen Symptome und «Fehlentwicklungen» parallel miteinander in Zunahme begriffen sind. Der allgemeine Leistungsdruck in Gesellschaft und Arbeitswelt wie auch in den Schulen scheint sich gegenseitig zu verstärken und die meisten Schulen sind alles andere als ein Ort, wo die Kinder und Jugendlichen eine so dringend nötige, angenehme, Wohlbefinden, Selbstvertrauen und gegenseitige Wertschätzung fördernde «Gegenwelt» vorfinden.

Zusätzlich manifestiert sich der steigende Leistungsdruck in einer immer höheren Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich schlicht und einfach verweigern, zur Schule zu gehen. Gemäss der bereits zitierten Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 kamen innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate 57% der Mädchen und 61% der Knaben mindestens einmal zu spät zur Schule, eine deutliche Zunahme gegenüber 2017/18, bei den Mädchen gar eine Verdoppelung. Mindestens einen ganzen Tag lang fehlten ohne Begründung 15% der Mädchen und 12% der Knaben. Mehrere Tage fehlten 7% der Mädchen und 5% der Knaben.

Als Hauptgrund für das «Schuleschwänzen» wurde in der Befragung die «Unlust, zur Schule zu gehen» angegeben, dann weiter auch «Unter- oder Überforderung», «Kritik an der Unterrichtsgestaltung», «Desinteresse an einem bestimmten Fach», «Langeweile im Unterricht» und «Angst vor einer Prüfung». Ernüchtert kommt der Gesundheitsbericht in diesem Zusammenhang unter anderem zum Schluss, dass von der vielbeschworenen Figur des «Klassenlehrers» und der «Klassenlehrerin» mit ihrem ganz besonderen, persönlichen Vertrauensverhältnis zu den Schülerinnen und Schülern ganz offensichtlich nicht allzu viel übrig geblieben ist: «Auffallend ist, wie selten Lehrpersonen aufgesucht werden, wenn Betroffene nach Unterstützung suchen. Da sie nicht nur eine Förder-, sondern auch eine Bewertungsfunktion einnehmen, zum Beispiel in den Prüfungen, und damit Autoritätspersonen sind, lässt sich leicht nachvollziehen, dass sie für diese Schülerinnen und Schüler nicht Anlaufstelle der ersten Wahl sind.»

«Schuleschwänzen» bzw. Schulabsentismus ist vielleicht die «gesündeste» Art und Weise, wie ein Kind auf eine Situation, die es in Bezug auf seine Lebensqualität dermassen tief beschneidet, reagieren kann. Allerdings steht das Kind, welches diesen Weg gewählt hat, ganz alleine da – ganz alleine gegen Lehrkräfte, Erziehungsinstitutionen, Behörden und meist auch gegen die eigenen Eltern. Zunehmend aber, so ein weiterer Befund der Zürcher Gesundheitsbefragung, reagieren Eltern, Lehrkräfte und Behörden nur noch zurückhaltend auf dieses Phänomen, man überlässt es den Kindern, man nimmt ihre Verweigerung in Kauf – statt sie als das wahrzunehmen, was sie tatsächlich ist, nämlich ein gewaltiger Notschrei darüber, was alles in unseren Schulen schiefläuft, waren doch alle diese «Schulverweigerinnen» und «Schulverweigerer», die ohne jeglichen Zweifel in der Zukunft immer zahlreicher sein werden, vor noch nicht allzu langer Zeit fünf- oder sechsjährige Kinder, die sich mit leuchtenden Augen auf nichts sehnlicher gefreut hatten als auf ihren allerersten Schultag.

Wie man auch ganz allgemein gegenüber all diesen Notschreien der Kinder und Jugendlichen taub zu sein scheint. Nähme man die Resultate der Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 wirklich ernst, so müsste man augenblicklich eine Riesendiskussion lostreten über den Sinn und Unsinn von Noten, Lehrplänen, Jahrgangsklassen und Prüfungen, die keinen Sinn für das Leben haben, sondern nur dazu dienen, Kinder und Jugendliche in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen. Man müsste wieder einmal die Schriften Johann Heinrich Pestalozzis hervorklauben und dort lesen, dass kein Kind mit dem andern verglichen werden dürfe, sondern nur jedes mit sich selber, und dass Lernen ohne Freude keinen Heller wert sei. Und man müsste endlich all die wunderbaren Erfahrungen jener Schulen ernstnehmen, die schon längst ohne Noten und mit individuellen Lernplänen arbeiten und gerade dadurch den Lernerfolg und die Lernfreude ihrer Schülerinnen und Schüler so unglaublich wieder zum Blühen gebracht haben.

Doch nichts dergleichen geschieht. Lesen wir die «Schlussfolgerungen» dieses Gesundheitsberichts, so finden wir nur dies: «Es ist deshalb wichtig, dass in der schulischen Doppellektion des Präventionsprogramms HEB SORG weiterhin gezielt gearbeitet wird und mit praktischen Übungen sozial herausfordernde Situationen nachgestellt und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Wichtig ist auch, dass anlässlich der Elternabende im Rahmen dieses Projekts weiterhin nicht nur theoretische, sondern auch praktische Hilfeleistungen angeboten werden. Was Depressionen betrifft, drängt sich in Anbetracht der Tatsache, dass davon betroffene Schülerinnen und Schüler in deutlich höherem Masse über erfolgte Suizidversuche berichten, eine Ausweitung des Projekts HEB SORG auf. Hierzu bedarf es der sorgfältigen Planung und Vorbereitung und der vertieften Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten. Der Schulpsychologische Dienst bietet schon heute in verschiedenen Schulkreisen Beratungsstunden für Jugendliche an. Dort können individuelle Probleme angesprochen werden und es können erste konkrete Hilfeleistungen erfolgen. Wichtig ist vor allem eine gute Triage, damit Schülerinnen und Schüler, welche einen grösseren Unterstützungsbedarf haben, nicht zu lange alleine gelassen werden. Wichtig für eine gute Abstimmung und Zusammenarbeit ist die Schulsozialarbeit. Die Tatsache, dass mehr als vier Prozent der Schülerinnen und Schüler mindestens einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen, und diese anschliessend mit niemandem darüber reden konnten, weist auf einen Nachholbedarf in der öffentlichen Thematisierung hin.»

Hätte eine Bäckerei bei ihrer Kundschaft so katastrophale Umfragewerte, wie sie die Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich vom November 2023 auf der zweiten Oberstufe aufgezeigt hat, dann würde man vermutlich auf der Stelle das ganze Personal entlassen oder gleich die ganze Bäckerei dicht machen. Doch bei dieser Befragung ging es eben nicht um Brot, sondern nur um junge Menschen in einer der wichtigsten Phasen ihres Lebens. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Medien als Propagandainstrumente: Was ist erfunden, was ist echt? Was wird aufgebauscht, was wird verschwiegen? Was bleibt in den Köpfen, was nicht? Wer hat welche Interessen?

“Unter Putins Knute regiert die Gewalt” – so der Titel eines Artikels über einen soeben veröffentlichten UNO-Bericht zur Lage in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten, veröffentlicht im schweizerischen “Tagblatt” vom 21. März 2024. Ermittler der Vereinten Nationen hätten in diesem neuen Bericht ein “düsteres Bild” gezeichnet. Die russischen Truppen hätten von Anfang an “schwere Vorstösse gegen das humanitäre Völkerrecht verübt”, unter anderem “aussergerichtliche Tötungen, Folter, gewaltsames Verschwinden und willkürliche Inhaftierungen”. Verschiedene Arten von Gewalt würden gegen Inhaftierte angewendet: “Schwere Schläge, Tritte, Schnitte, das Anbringen scharfer Gegenstände unter den Fingernägeln, Waterboarding, Scheinhinrichtungen und Elektroschocks”. Einige der befragten Gefangenen seien “konfliktbedingter sexueller Gewalt” ausgesetzt gewesen, darunter “Vergewaltigung oder Androhung davon, Schläge und auch Elektroschocks auf Genitalien, Brüste, Verstümmelung, erzwungene Nacktheit, ungerechtfertigte Leibesvisitationen, sexuelle Berührungen oder Androhung von Kastration.” Der Tod von neun gefangenen Männern durch Folter sei durch Inspektoren bestätigt. Der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell zufolge handle es sich dabei nicht um “zufällige oder beiläufige Taten”, sondern diese seien “Bestandteil der Politik der Russischen Föderation, um Angst einzuflössen, einzuschüchtern, zu bestrafen oder Informationen und Geständnisse zu erpressen.”

Bereits am 15. März hatte auch der deutsche “Spiegel” über die Resultate dieses neuen UNO-Berichts informiert. Ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft seien “monatelang gefoltert worden”, die Misshandlungen seien “entsetzlich, systematisch und weitverbreitet” gewesen. Die UNO-Kommission hätte unter anderem den Fall eines Mannes geschildert, dem in der Gefangenschaft “Steissbein, Schlüsselbein und Zähne gebrochen worden” seien und der so stark geschlagen worden sei, dass er “aus dem Anus blutete”. In seiner Verzweiflung hätte der Mann versucht, Suizid zu verüben. Seit seiner Entlassung sei er 36 Mal operiert worden. “Die Schilderungen der Opfer zeigen”, so der “Spiegel”, “dass gefangenen Ukrainern brutal und unablässig schwere Schmerzen und schweres Leid während nahezu der gesamten Haftzeit zugefügt werden”, Gefangene würden auch an Hunger leiden und deshalb in ihrer Not Würmer, Seife, Papier und Hundefutter essen. Laut der Kommission handle es sich bei der Folter durch russische Armeeangehörige und Gefängnisbeamte um Kriegsverbrechen. Der Bericht schildere auch Folter und sexuelle Verbrechen an ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten. In einem Fall sei eine 42jährige schwangere Frau und die 17jährige Freundin ihres Sohnes von zwei russischen Soldaten vergewaltigt worden.

Tatsächlich enthält der in diesen Artikeln zitierte UNO-Menschenrechtsbericht über die Situation in der Ukraine auch im originalen Wortlaut die erwähnten Aussagen. Allerdings, und das ist doch bemerkenswert, findet man im Bericht auch den Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die von ukrainischer Seite begangen worden seien. Diese fehlen in den beiden von mir untersuchten Zeitungsartikeln zur Gänze. Auch ob beispielsweise die Schilderung jenes Mannes, der 36 Mal operiert worden sei, durch mehrere voneinander unabhängige Quellen verifiziert werden konnte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Besonders tendenziös aber erscheint mir die Aussage der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell, wonach es sich bei den geschilderten Verbrechen nicht um Einzeltaten gehandelt habe, sondern diese “Bestandteil der Politik der Russischen Föderation” bilden würden. Genau umgekehrt nämlich wurde im Falle des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Irakkriegs argumentiert: Die in den berüchtigten US-Militärgefängnissen gegen irakische Gefangene angewendeten Foltermethoden glichen nämlich wie ein Ei dem andern den in diesem UNO-Bericht geschilderten Praktiken, allerdings mit dem grossen Unterschied, dass für jene Verbrechen stets nur Einzeltäter verantwortlich gemacht wurden, nie behauptet wurde, diese bildeten einen “Bestandteil der US-Politik zu Einschüchterung, Bestrafung und dem Erpressen von Geständnissen” und meines Wissens damals auch nie ein Artikel mit dem Titel “Unter US-Präsident Bushs Knute regiert die Gewalt” in der westlichen Presse gelesen werden konnte. Im Gegenteil: Julian Assange, der diese von den USA begangenen Kriegsverbrechen ans Licht der Weltöffentlichkeit brachte, wurde von den USA wegen Spionage angeklagt und es drohen ihm bei einer allfälligen Auslieferung an die USA 175 Jahre Haft.

Keine Frage: Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sollen jederzeit und überall in aller Schonungslosigkeit aufgedeckt werden. Wenn dabei aber sozusagen zwischen “guten” und “bösen” Mächten unterschieden wird, auf der einen Seite von “Einzeltätern” gesprochen wird, auf der anderen die genau gleichen Missetaten aber als Ausdruck eines verbrecherischen “Gesamtsystems” dargestellt werden und ungeliebte Machthaber wie Putin als Inbegriff des Bösen oder gar als Teufel bezeichnet werden, während Kriegsverbrecher wie der frühere US-Präsident George W. Bush, der eine weit grössere Anzahl von Menschenleben auf dem Gewissen hat, immer noch frei herumläuft und in seiner Heimat immer noch grösstes Ansehen geniesst, dann befindet sich die öffentliche Meinung in diesem angeblich so “wertebasierten” und “demokratischen” Westen ganz gehörig in Schieflage. In einer Schieflage, die nicht dazu verhilft, ganz grundsätzlich den Wahnsinn jeglicher Macht- und Kriegslogik zu überwinden, sondern sich bloss immer wieder auf die traditionellen Feindbilder fixiert und die Verbrechen, welche von der einen Seite begangen werden, in ebenso grossem Ausmass verurteilt, wie sie die gleichen, aber von der anderen Seite begangenen Verbrechen verharmlost oder gar noch glorifiziert.

Der Aufrechterhaltung dieser einseitigen Optik und der festgefahrenen, auf der Blindheit gegenüber den eigenen Verbrechen beruhenden Feindbilder dient eine völlig einseitige und verzerrte Berichterstattung, wie es die beiden oben zitierten Zeitungsberichte exemplarisch aufzeigen. Ohne jeden Zweifel ist die Vergewaltigung einer 42jährigen schwangeren Ukrainerin und der 17jährigen Freundin ihres Sohnes durch russische Soldaten ohne jede Einschränkung, Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verurteilen. Aber tagtäglich werden Frauen nicht nur im Krieg, sondern auch mitten im Frieden weltweit auf bestialische Weise vergewaltigt, ohne dass jemals darüber in irgendeiner Zeitung berichtet oder gar irgendein übergeordnetes “Machtsystem” dafür verantwortlich gemacht wird. Keine einzige der westlichen Zeitungen berichtet über die Qualen, unter denen jene rund 10’000 Kinder leiden, die weltweit jeden Tag schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel jener Lebensmittel, die zu einem grossen Teil aus den Hungergebieten des Südens importiert wurden, im Müll landen. Mediale Berichterstattung ist fast ausschliesslich zum Instrument der Reichen und Mächtigen verkommen, mit dem sie ihre ureigenen Profit- und Herrschaftsinteressen auf geradezu skrupellose Weise vorantreiben und rechtfertigen, statt ein Mittel dafür zu sein, möglichst umfassend, unvoreingenommen und objektiv zu informieren. Bestes Beispiel dafür ist die von der israelischen Regierung kurz nach dem 7. Oktober 2023 verbreitete Behauptung, die Hamaskämpfer hätten bei ihrer Terrorattacke gegen jüdische Siedlungen Babys geköpft, was sich später als reine Lüge entpuppte. Gleichwohl gibt es wohl heute noch Menschen, die das immer noch glauben, haben doch solche grausame, alle Vorstellungskraft übersteigende Bilder in unseren Köpfen, sind sie erst einmal etabliert, eine ungleich viel stärkere Wirkung als jede noch so eifrige Entschuldigung oder Relativierung, die ihnen später nachgeschoben wird. Ein anderes Beispiel ist die ebenfalls rund um den Globus gegangene Nachricht, wonach auf einem bei den russischen Präsidentschaftswahlen von Mitte März eingeworfenen Wahlzettel “Putin = Mörder” zu lesen gewesen sei. Wie wenn nicht ohne allen Zweifel bei jeder Präsidentschaftswahl in Frankreich, Deutschland oder den USA zahllose ähnliche Vergleiche oder Beleidigungen zu lesen sein könnten, ohne dass jemals irgendeine Zeitung auf die Idee käme, dies zu publizieren. Diese in höchstem Masse einseitige und manipulative, stets im Augenblick auf Tränendrüsen oder Angstreflexe zielende Meinungsmache führt nicht im Entferntesten dazu, dass die Menschen zu denken anfangen, sondern im Gegenteil dazu, dass sie mit dem Denken aufhören und immer mehr zum Spielball jener Machtinteressen werden, die sich aller dieser Propagandainstrumente bedienen.

Welche Geschichten werden weitererzählt, welche nicht? Was macht Schlagzeilen, was nicht? Wer hat welches Interesse, diese oder jene Meldung weiterzuverbreiten oder zu unterdrücken? Was ist erfunden, was ist echt, was wird verschwiegen, was wird verharmlost und was wird bis zum Gehtnichtmehr aufgebauscht? Welche Wörter üben welche Wirkung aus, was bleibt in den Köpfen hängen und was nicht? Wollen wir die grossen Fragen der Zukunft anpacken und konstruktiven Lösungen entgegenführen, dann wird nicht zuletzt entscheidend sein, was für Antworten wir auf diese Fragen finden werden…

1991 bis 2024: Wie es dem Westen gelang, Russland in den Krieg zu treiben…

Immer häufiger wird von westlichen Politikern und Medien die drohende Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschworen. Schuld daran wäre dann, wie könnte es anders sein, einzig und allein der russische Präsident Wladimir Putin, der soeben Alexej Nawalny, seinen schärfsten Widersacher, “umgebracht” habe und sich kurz darauf durch manipulierte “Scheinwahlen” unter Missachtung sämtlicher demokratischer Spielregel sowohl innerhalb Russlands wie auch international die nötige Legitimation seiner “verbrecherischen” Politik geholt hätte. Da braucht es doch immer wieder mal einen kurzen, nüchternen Blick in die Vergangenheit, um die Dinge einigermassen ins richtige Licht zu rücken…

1991. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versichern führende westliche Politiker vom amerikanischen Aussenminister Jim Baker bis zum deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher Russland, die NATO “um keinen Inch” nach Osten auszudehnen.

1997. George F. Kennan, US-Historiker: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns eines Tages entschieden missfallen wird.”

1997. Joe Biden, US-Senator und derzeitiger US-Präsident: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.”

1999. NATO-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.

2000. Der neu gewählte russische Präsident Wladimir Putin schlägt dem Westen ein endgültiges Ende des Kalten Kriegs und die Errichtung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsstruktur vor. Die Idee wird vom Westen zurückgewiesen.

2004. NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

2008. Der Westen stellt der Ukraine einen NATO-Beitritt in Aussicht. Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin: “Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann wird dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung bedeuten.”

2009. NATO-Beitritt von Albanien und Kroatien.

2015. Henry Kissinger, ehemaliger US-Aussenminister: “Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.”

2017. NATO-Beitritt von Montenegro.

2019. Gemäss dem neu erlassenen ukrainischen Sprachengesetz gilt das Ukrainische zukünftig als einzige offizielle Amtssprache, trotz einem russischsprachigen Bevölkerungsanteil von rund 40 Prozent. Werke russischer Autorinnen und Autoren werden aus den Bibliotheken entfernt, die Aufführung musikalischer Werke russischer Komponistinnen und Komponisten verboten, ebenso mehrere russischsprachige TV-Sender und Zeitungen. Vlad Omelyan, ukrainischer Minister für Infrastruktur: “Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.”

2020. NATO-Beitritt von Nordmazedonien.

Dezember 2021. Putin schlägt der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts auf der Basis des von Henry Kissinger postulierten neutralen Status der Ukraine vor. Der Vorschlag wird kommentarlos zurückgewiesen.

2022. Nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine beschliessen die meisten NATO-Staaten eine massive Aufstockung ihrer Militärbudgets. Das Militärbudget der NATO übersteigt nun jenes von Russland um mehr als das Zehnfache. Diese finanziellen Mittel dienen unter anderem auch dem Unterhalt der weltweit rund 2000 US-amerikanischen Militärbasen, denen etwa 20 russische Militärstützpunkte entgegenstehen. Robert F. Kennedy Junior: “Wir haben Russland mit Raketen und Militärbasen umzingelt, was wir niemals tolerieren würden, wenn sie es mit uns genauso machen würden.”

2022. Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin: “Die westlichen Sanktionen werden Russland ruinieren.”

2023. Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau: “Statt sich der NATO anzunähern, hätte die Ukraine eine neutrale Rolle finden sollen: als Brücke zwischen Osten und Westen, was sie auch in der Vergangenheit war.”

2023. Die “Budapester Zeitung” am 7. April 2023: “Aus moralischer und völkerrechtlicher Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs auf sich geladen. Russland ist der Täter, der Westen aber ist der Verursacher.”

2023. Tausende russischsprachige Lettinnen und Letten werden ausgebürgert, weil sie sich weigern, die lettische Sprache zu erlernen. Auch in den anderen baltischen Staaten wächst der Druck auf die russischsprachige Bevölkerung.

2024. NATO-Beitritt von Schweden und Finnland. Während vier Monaten wird mit 90’000 Soldatinnen und Soldaten in Nordeuropa das mit Abstand grösste NATO-Manöver aller Zeiten durchgeführt.

2024. Boris Pistorius, deutscher Verteidigungsminister: “Wir müssen uns insgesamt als der Westen wieder darauf einstellen, dass Abschreckung und Verteidigung Voraussetzungen dafür sind, dass man Frieden sichern kann, solange es Aggressoren wie Putin gibt.”