Archiv des Autors: Peter Sutter

Frauenstreik: Noch ein weiter Weg bis zum Ende aller Ungerechtigkeit

In wenigen Wochen schwärmen die Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker wieder aus: Auf den fruchtbaren Böden im Norden von São Paulo beginnt im Juli die Ernte. Rund 200’000 Familien leben vom Pflücken der saftig-süssen Früchte, die später zu Orangensaft verarbeitet werden. Sie holen sie von Hand von den Bäumen. Es ist eine harte Arbeit, bei grosser Hitze und hohem Druck. Denn ein Arbeiter oder eine Arbeiterin muss rund 3000 Kilogramm pro Tag ernten – das entspricht mehr als 70 Kisten. Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye hat zusammen mit der brasilianischen Organisation Reporter Brasil die Arbeitsbedingungen untersucht. Gestossen sind sie auf zahlreiche teils schwerwiegende Männer. So wurden in den letzten zehn Jahren rund 200 Verstösse gegen das Arbeitsgesetz aufgedeckt. Die Hälfte davon betreffe die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Laut Public Eye wurde dem Unternehmen einmal eine Strafe von 120’000 Franken aufgebrummt, weil 34 Arbeiter in einem einstigen Hühnerstall untergebracht worden waren.

(Tages-Anzeiger, 15. Juni 2020)

Auch beim gestrigen Frauenstreik in Zürich und anderen Städten ging es um Gerechtigkeit und um den Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Dabei geht aber nur zu oft vergessen, dass Ungerechtigkeit und Ausbeutung nicht nur Frauen betrifft. Auch Männer können Ausgebeutete sein und Frauen Ausbeuterinnen. Oder ist, um beim Beispiel der brasilianischen Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker zu bleiben, die schweizerische oder deutsche Konsumentin, welche sich im Supermarkt zu günstigem Preis einen Orangensaft kauft, nicht auch, in der langen Produktionskette von der gepflückten Frucht bis zum fertigen Süssgetränk, eine Ausbeuterin jener Arbeiterinnen und Arbeiter, welche unter unmenschlichen Bedingungen die Früchte ernten? Und ist Frau Schweizer, die es sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffs wohl ergehen lässt, nicht auch eine Ausbeuterin der Köche, die im Bauch des Schiffs in höllischer Hitze und unter gnadenlosem Zeitdruck jene Speisen zubereiten, welche sie und ihr Mann dann lustvoll geniessen? Und sind all die Frauen, die ein Smartphone besitzen, letztlich nicht auch Ausbeuterinnen all jener Abertausender namenloser Minenarbeiter, die unter Lebensgefahr die für die Herstellung der Smartphones notwendigen Rohstoffe aus dem Boden Kongos oder Senegals schürfen? Und sind all die Frauen, welche sich Schuhe, Kleider, Sportgeräte oder andere Luxusartikel kaufen, nicht auch Ausbeuterinnen all jener Lastwagenfahrer, die unter permanentem Zeitdruck zu geringem Lohn all die Waren von den Fabriken zu den Orten transportieren, wo sie dann verkauft werden? Das Geschlecht ist nur einer von vielen Faktoren für Benachteiligung, Diskriminierung und Ausbeutung. Ein anderer, mindestens so wichtiger Faktor ist die Stellung innerhalb der weltweiten kapitalistischen Machtpyramide. “Gegen den Kapitalismus” stand an der gestrigen Frauendemo in Zürich auf einem der Plakate. Das trifft ins Schwarze. Gerechtigkeit wird noch nicht erreicht sein, wenn die Frauen alle ihre gegenwärtigen Benachteiligungen gegenüber den Männern überwunden haben werden. Gerechtigkeit wird erst dann erreicht sein, wenn der Kapitalismus überwunden sein wird und damit auch jegliche Form von Ausbeutung und Diskriminierung, ganz egal ob Männer oder Frauen, Schwarze oder Weisse, Kinder oder Erwachsene davon betroffen sind.

Rassismus von Weissen gegen Schwarze: Nur eine von unzähligen Formen von Gewalt

In Südafrika gehört es zur bitteren Wahrheit, dass Polizei und Armee ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Apartheid zum grössten Teil aus Schwarzen und Coloureds bestehen, sich aber am brutalen Vorgehen oft wenig geändert hat. Zwar wurde der South African Police das Wort Service hinzugefügt, für viele vor allem ärmere Südafrikaner ist die Polizei aber weiterhin eher Feind als Freund und Helfer.

(Tages-Anzeiger, 13. Juni 2020)

Das Beispiel südafrikanischer schwarzer Polizisten, die sich ebenso brutal verhalten wie ihre weissen Berufskollegen in den USA oder anderswo, zeigt, dass der weisse Rassismus und die weisse Polizeigewalt, die von der Bewegung “Black Lives Matter” angeprangert werden, bloss die Spitze eines Eisbergs bilden, der sich weltweit in unzähligen mehr oder weniger drastischen Formen manifestiert. Gewalt und Machtmissbrauch findet nicht nur zwischen weissen Polizisten und ihren schwarzen Opfern statt. Gewalt übt auch der Aufseher in einer Textilfabrik Bangladeshs aus, der seine Arbeiterinnen prügelt, ihnen keine Pausen gönnt oder sich sogar an ihnen sexuell vergreift. Gewalt übt auch der multinationale Konzern aus, der aus seinen Fabriken so viele giftige Gase in die Umwelt auslässt, dass die meisten Menschen, die dort leben, von frühzeitigem Tod betroffen sind. Gewalt üben auch staatliche Behörden aus, die einem Flüchtlingsschiff im Mittelmeer die Einreise verweigern und namenlose Männer, Frauen und sogar Kinder skrupellos ihrer unbeschreiblichen Verzweiflung überlassen. Gewalt üben auch jene spanischen Plantagenbesitzer aus, auf deren Feldern sich Männer und Frauen aus Afrika für einen Hungerlohn zu Tode arbeiten müssen. Gewalt üben auch unzählige Männer aus, die Prostituierte oder sogar ihre eigenen Frauen schikanieren oder sogar zu Tode quälen. Gewalt üben auch all jene Firmen aus, welche den dort arbeitenden Frauen immer noch geringere Löhne auszahlen als den Männern. Gewalt üben auch all jene Politiker aus, die immer noch so tun, als wäre der Klimawandel eine Erfindung einiger hysterischer Jugendlicher, Politiker, die mit ihrer Gleichgültigkeit oder sogar aktivem Widerstand das Leben ganzer zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen. Die “Black Lives Matter”-Bewegung ist gut und wichtig und hat schon sehr viel in Bewegung gebracht. Aber eigentlich müsste sie ausgeweitet werden zu einer Bewegung gegen jegliche Gewalt und jeglichen Machtmissbrauch weltweit in allen Formen. Denn es nützt nichts, wenn bloss zukünftig weisse Polizisten in den USA schwarze Menschen respektvoll und anständig behandeln, so lange alle übrigen Formen von Gewalt weltweit unvermindert weitergehen. Und dann wäre es nur noch logisch, dass sich die Frauenbewegung und die Klimabewegung und die Bewegung für die Rechte Homosexueller und die “Black Lives Matter”-Bewegung und all die gewerkschaftlichen Bewegungen für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen nach und nach miteinander verbinden würden zu einer grossen gemeinsamen Bewegung gegen weltweite Gewalt und weltweiten Machtmissbrauch in allen Formen. Was für eine Vision!

Der Sturm auf die Statuen von Rassisten und Sklavenhaltern: Doch so einfach können wir uns nicht aus der Geschichte davonstehlen

Von den USA über Grossbritannien bis Belgien ist ein nie da gewesener Bildersturm im Gange: Ausgelöst durch die brutale Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weissen Polizisten, werden allerorten Statuen berühmter Persönlichkeiten, die durch Sklavenhandel und Rassismus reich wurden, besprayt, eingehüllt, geschleift, geköpft oder ins Meer geworfen. Auch in der Schweiz gibt es Bemühungen, Statuen uns Porträts von Profiteuren des rassistischen Kolonialismus aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Diese Aufarbeitung müsste aber noch viel weiter gehen. Denn die Verbrechen, welche vom britischen Sklavenhändler Edward Colston, vom belgischen König Leopold II, vom Schweizer Bankier David De Pury und ihren zahllosen Gesinnungsgenossen begangen wurden, sind nicht bloss das böse Werk einzelner Übeltäter. Nein, sie bildeten nichts anderes als die Grundlage und die Wurzeln jenes über die Jahrhunderte immer weiter in die Höhe geschossenen kapitalistischen “Baumes”, von deren Früchten wir, die reichen Länder des Nordens, bis heute mit profitieren. Sonst wäre nicht zu erklären, weshalb die Schweiz als Land ohne Rohstoffe und mit einer so kargen Erde, dass sie sich nicht einmal zur Hälfte aus eigener Kraft ernähren kann, heute das reichste Land der Welt ist, während ausgerechnet jene Länder, die über die reichsten Bodenschätze und die fruchtbarste Erde verfügen, zu den ärmsten Ländern der Welt gehören. Wenn man David de Pury köpfen wollte, dann müsste man eigentlich auch das schweizerische Bankensystem und die multinationalen Konzerne köpfen, ja letztlich uns alle, die wir auch heute noch von all jenen längst vergangenen Verbrechen profitieren. Denn, wie es der Journalist Andreas Tobler so treffend formulierte: “Indem wir Statuen damaliger Sklavenhalter köpfen, können wir uns nicht aus der Geschichte davonstehlen.” Was vorbei ist, können wir allerdings nicht mehr ändern. Was wir aber können, ist, dafür zu sorgen, dass der kapitalistische Baum nicht noch immer weiter in die Höhe schiesst und immer noch wildere Blüten treibt. Hierzu bedürfte es aber einer tiefgreifenden Umgestaltung unseres bisherigen, von der Macht des Geldes und von der gegenseitigen Ausbeutung bestimmten Wirtschaftssystems. Einer Umgestaltung, die weit radikaler wäre als das Köpfen und ins Meer Werfen längst verstorbener Bösewichte.

Die Schweiz als sicherstes Land in der Coronakrise – und was ist mit dem Rest der Welt?

In keinem Land ist man derzeit sicherer vor Corona als in der Schweiz. Knapp dahinter landet Deutschland auf dem zweiten Platz. Die USA müssen sich mit dem 58. Rang begnügen. Das ist das Ergebnis einer weltweiten Studie der Deep Knowledge Group, einem Konsortium von Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen, wie die Zeitschrift «Forbes» berichtet. Die Analyse umfasst 200 Länder. Dafür wurden öffentlich zugängliche Daten verwendet und 130 Kriterien verglichen, die für das Resultat ausschlaggebend waren. Besonderes Augenmerk galt natürlich dem Gesundheitssystem. Analysiert wurde, wie die Überwachung und Erkennung der Corona-Infizierten funktioniert. Aber nicht nur. Ebenso unter die Lupe wurden die Massnahmen der Regierung genommen. Und das Ergebnis ist eindeutig: Switzerland First!

(www.blick.ch)

Es ist ja schön, im sichersten Land der Welt zu leben. Aber heisst es nicht immer wieder, die Bedrohung durch das Coronavirus führe dazu, dass mehr Solidarität entstehe und die Menschen näher zusammenrückten? Gilt das nur für die Nachbarschaftshilfe im eigenen Wohnquartier, nicht aber für die Beziehungen der Menschen von Land zu Land? Kann es uns wirklich gleichgültig sein, was die Coronakrise für die Menschen in Indien, in Peru oder in Südafrika bedeutet? Können wir uns guten Gewissens damit zufrieden geben, im “sichersten Land” der Welt zu leben und den Rest der Welt sich selber überlassen? Nein, denn echte Solidarität ist nicht an Grenzen gebunden. Dies umso mehr, als die Schweiz ihren einzigartigen Reichtum – und damit auch ihre gute Gesundheitsversorgung – nicht zuletzt ihren internationalen Wirtschaftsbeziehungen verdankt – man denke nur an die Handelsüberschüsse zwischen billig importierten Rohstoffen und teuer exportierten Fertigprodukten sowie an die Gewinne aus dem Finanzplatz und aus dem Handel mit Erdöl und anderen Rohstoffen. So gesehen sind der Reichtum hierzulande und die Armut in zahlreichen Ländern des Südens die Kehrseiten der gleichen Münze. Umso mehr hätten wir die moralische Pflicht, gerade in diesen Zeiten existenzieller Bedrohungen auch an all jene zu denken, die schon lange und jetzt erst recht auf der Schattenseite der Geschichte stehen. Nehmen wir uns ein Beispiel an Kuba, das Ärzte und Pflegepersonal zur Bekämpfung des Coronavirus in rund 60 arme Länder geschickt hat. Oder China, das vielen Ländern Schutzmaterial geliefert und Ärzteequipen nach Norditalien entsandt hat. Gut, die Schweiz hat ein paar Betten auf den Intensivstationen für Coronapatienten aus dem grenznahen Elsass freigehalten, aber damit war auch schon genug. Und während Kuba sein medizinisches Personal in 60 Länder schickte, schickte die Schweiz ihr unbeschäftigtes Spitalpersonal in die Kurzarbeit! Dabei könnte schon mit einem vergleichsweise geringen Aufwand überaus wertvolle Arbeit geleistet werden. So etwa würde zum Beispiel nur schon weniger als ein Zehntel (!) jener 702 Milliarden Franken, die sich im Besitz der reichsten 300 Schweizerinnen und Schweizer befinden, genügen, um über eine Million Beatmungsgeräte für die ärmsten Länder der Welt zur Verfügung zu stellen…     

 

Von der Krankenpflegerin bis zum Rechtsanwalt: Was ist ein gerechter Lohn?

Pflegepersonal, Verkäuferinnen und Verkäufer, Landarbeiter und Landarbeiterinnen, Lastwagenfahrer, Reinigungspersonal, Kehrichtmänner, Kitaangestellte: Es brauchte offensichtlich die Coronakrise, um einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen, wie wichtig und “systemrelevant” ausgerechnet all jene Berufe sind, welche in aller Regel nur geringes gesellschaftliches Ansehen geniessen und sich trotz zumeist harter Arbeitsbedingungen mit einem vergleichsweise geringen Lohn zufrieden geben müssen. Dabei gewinnt die Frage, was denn ein “gerechter” Lohn sei, neue Aktualität: Wie viel mehr oder weniger als eine Krankenpflegerin soll ein Bankangestellter verdienen? Wie viel mehr oder weniger als ein Rechtsanwalt soll ein Landschaftsgärtner verdienen? Und wie viel mehr oder weniger als eine Gymnasiallehrerin soll ein Buschauffeur verdienen? Für sämtliche Lohnunterschiede können beliebig viele und beliebig mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogene Argumente ins Feld geführt werden. Das einzig wirklich Gerechte wäre ein Einheitslohn, tragen doch alle Werktätigen gleichermassen zum Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft bei und könnte man weder auf die einen noch die anderen verzichten, ohne dass das Ganze zusammenbrechen würde. Sämtliche Argumente, mit denen heute höhere Löhne gegenüber niedrigen gerechtfertigt werden, sind nichts anderes als wenig überzeugende Versuche, Privilegien Einzelner auf Kosten anderer zu rechtfertigen. Wer von den Gutverdienenden auch immer nur einen einzigen Tag lang in die Rolle eines Schlechtverdienenden schlüpfen würde, der würde seine Meinung wohl ziemlich schnell ändern. Denn, wie schon Karl Marx sagte: “Die tiefen Löhne beruhen einzig und allein auf der fehlenden gesellschaftlichen Macht der davon Betroffenen, den echten Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.” Ein Einheitslohn läge gegenwärtig in der Schweiz bei rund 6500 Franken. Alle, die jetzt weniger verdienen, würden jubeln. Und die anderen, die jetzt mehr verdienen, könnten mit ein bisschen mehr Bescheidenheit auch ganz gut damit leben. Und wie man einen Einheitslohn konkret realisieren könnte? Ganz einfach: Alle, die mehr als den Durchschnittslohn verdienen, würden monatlich die Differenz in eine gesamtschweizerische Ausgleichskasse einzahlen, alle anderen bekämen den ihnen zustehenden Fehlbetrag aus eben dieser Kasse wiederum ausbezahlt. Dann wären wir wieder dort, wo die afrikanischen Ureinwohner schon vor tausend Jahren waren: Alle Männer des Dorfes gingen auf die Jagd. Einige erledigten mehrere Tiere, andere weniger, wieder andere gar keine. Aber am Abend, wenn alle wieder in ihr Dorf zurückkehrten, wurde alles gleichmässig unter alle verteilt…

Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann beginnt die Arbeit erst ganz von vorne…

Der neunköpfige Klimarat, in welchem nebst der Alt-Nationalrätin Kathy Riklin (CVP) acht Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Schweizer Hochschulen sitzen, wurde eigens ins Leben gerufen, um den Bundesrat in Sachen Klima und Klimaschutzmassnahmen zu beraten und zu unterstützen. In seiner neuesten Stellungnahme fordert der Klimarat den Bundesrat zu einem “umfassenden Diskurs” auf, der die Gesellschaft sensibilisieren solle, “die notwendige Neuausrichtung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems als Chance zu erkennen.”

(www.infosperber.ch)

Was der Klimarat fordert, ist nichts anderes als das, was auch von weiten Teilen der Klimabewegung gefordert wird: System Change, not Climate Change! Dabei geht es, im Klartext, um nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung der kapitalistischen Wachstums- und Profitideologie und die Schaffung eines neuen Wirtschaftssystems auf der Grundlage von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das Bemerkenswerte ist, dass ein solches grundlegendes, die gesamte bestehende Ordnung in Frage stellendes Postulat für einmal nicht von ein paar jugendlichen “Träumerinnen” und “Phantasten” erhoben wird, sondern von einer ehemaligen bürgerlichen Nationalrätin sowie einer Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlern, die durch ihre berufliche Tätigkeit mit beiden Beinen mitten im bestehenden System verankert sind. Wäre das nicht eine ganz fette Schlagzeile wert? Müsste da nicht ein gewaltiger Ruck durch die gesamte Schweizer Politlandschaft gehen? Weit gefehlt. Viel lieber beschäftigt man sich mit der Frage, wie das bestehende Wirtschaftssystem nach der Coronakrise so schnell wie möglich wieder auf Touren gebracht werden kann. Das ist verständlich. Aber es sollte uns nicht davon abhalten, den Blick noch ein bisschen weiter in die Zukunft zu werfen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann ist nämlich noch längst nicht alles wieder in Ordnung. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden weiterhin weltweit jeden Tag rund zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger oder Durst sterben. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden immer noch weltweit ein paar Tausende Multimilliardäre mehr besitzen als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden immer noch Abertausende von Atomwaffen, in den Händen sich gegenseitig gefährlich rivalisierender Grossmächte, die Zukunft der Menschheit bedrohen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden veränderte klimatische Bedingungen auf diesem Planeten dazu führen, dass die Heimat von Millionen von Menschen nach und nach unbewohnbar geworden sein wird. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann ist noch längst nicht Zeit zum Ausruhen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann beginnt die Arbeit erst ganz von vorne…

Faktisches Demonstrationsverbot: Ist das die “neue Normalität”?

Die Kantone sollen keine Demonstrationen bewilligen, wenn das öffentliche Interesse am Thema gross ist, empfiehlt die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Da es sehr schwierig sei, abzuschätzen, ob an einer Demonstration höchstens 300 Personen teilnehmen, sollen im Zweifelsfalle keine Bewilligungen für Kundgebungen erteilt werden.

(www.srf.ch)

Während man wieder schön gediegen auswärts essen, sich in die Diskothek oder den Nachtclub stürzen, ins Kino gehen und bald auch schon wieder nach Italien oder Kroatien in die Ferien fahren darf, werden grössere politische Kundgebungen schon gleich mal prophylaktisch verboten, und dies mit der geradezu zynischen Begründung, das öffentliche Interesse könnte zu gross sein und die Teilnehmerzahl könnte daher jene 300 Personen, die zurzeit als oberste Limite gelten, übersteigen. Ist das die “neue Normalität”? Politische Kundgebungen also sollen einzig und allein aus dem Grunde verboten werden, weil es zu viele Menschen gibt, welche sich für das betreffende Thema interessieren könnten. So ist bei allen anderen Aktivitäten, die nun wieder erlaubt sind, nie argumentiert worden. Im Gegenteil: Wo Bedürfnisse angemeldet werden, werden keine Mühen gescheut, alle nur erdenklichen Massnahmen vorzunehmen, um diese zu ermöglichen. In den Restaurants werden die Tische auseinandergerückt oder es werden Plexiglaswände dazwischen aufgebaut. In den Nachtclubs und Diskotheken werden Gästelisten geführt. Kinos werden so umorganisiert, dass sich die ein- und austretenden Besucherinnen und Besucher nicht in die Nähe kommen. Schulen stellen ihre ganzen Stundenpläne und Pausenordnungen auf den Kopf, damit es zwischen den Schülerinnen und Schülern zu möglichst wenigen Begegnungen kommt. Freilichttheaterbühnen werden mit riesigem Aufwand umgebaut, damit die Abstände zwischen den einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern eingehalten werden können. Weshalb wird für politische Kundgebungen nicht ein ebenso grosser Aufwand betrieben, statt sie einfach zu verbieten? Dabei wäre es so einfach und nicht einmal besonders teuer. Man könnte zum Beispiel die Bewilligung für eine Kundgebung mit einer Maskenpflicht verknüpfen. Oder man könnte dafür sorgen, dass eine grössere Kundgebung in Untergruppen von maximal 300 Personen aufgelöst würde und dies nicht etwa durch Polizeigewalt, sondern durch einvernehmliche Kooperation mit den Organisatoren und Organisatorinnen, die dafür sorgen würden, dass zwischen den einzelnen Gruppen zu je 300 Personen ein stets genug grosser Abstand zur nächstfolgenden Gruppe eingehalten würde. Ganz abgesehen davon, dass die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus erwiesenermassen in geschlossenen Räumen unvergleichlich grösser ist als im Freien. Wenn so viel Aufwand betrieben wird, dass die “neue Normalität” in Restaurants, Nachtclubs, Kinos und auf Ferienreisen möglichst schnell wieder Einzug hält, dann müsste auch alles getan werden, um jene urdemokratische Normalität, welche am 28. September 2019 auf dem Bundesplatz in Bern mit 100’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimabewegung ihren Höhepunkt fand, wieder voll aufleben zu lassen, wie auch der aktuellen weltweiten Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt auch hierzulande den nötigen Raum zu gewähren… 

Coronakrise: Belgien und Schweden, da stimmt doch etwas nicht

Schwedens relativ lockerer Umgang mit der Coronapandemie sowie der Verzicht auf einen Lockdown und auf die Schliessung der Schulen stösst in der internationalen Fachwelt auf teils heftige Kritik. Dabei wird stets auf die relativ hohe Zahl der Todesfälle – insbesondere im Vergleich mit Schwedens Nachbarländern – hingewiesen. Doch ein Urteil kann man sich nur bilden, wenn man nicht bloss die absoluten Zahlen anschaut, sondern die Anzahl Todesfälle pro Einwohner und Einwohnerin: Pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner sind in Belgien bisher 83 Personen am Coronavirus verstorben, in Spanien 59, in Grossbritannien 58, in Italien 56. Erst an fünfter Stelle folgt Schweden zusammen mit Frankreich, je 44 Todesfälle. Weshalb ist das Land mit den meisten Todesfällen pro Kopf der Bevölkerung, nämlich Belgien, noch nie ins Fadenkreuz internationaler Kritik gelangt? Schiesst man sich lieber auf das lebenslustige Schweden ein, mit dem mahnenden Drohfinger auf die vermeintliche schwedische “Katastrophe” hinweisend, um der jeweils eigenen Bevölkerung drakonischere Massnahmen wie Lockdowns, Ausgangssperren und dergleichen schmackhaft zu machen? Höchst interessant ist ja auch, dass man zwar das Öffnen von Schulen, Läden und Restaurants jeweils höchst kontrovers diskutiert, während auf der anderen Seite Ausgangssperren nie auch nur ansatzweise kritisch hinterfragt werden, und dies, obwohl mit Belgien, Spanien, Grossbritannien und Italien ausgerechnet vier Länder die Spitzenplätze bei der Anzahl der Coronatodesfälle einnehmen, welche allesamt über kürzere oder längere Zeit Ausgangssperren verhängt haben. Dass Ausgangssperren so selten hinterfragt werden, ist umso erstaunlicher, als schon längst erwiesen ist, dass die Gefahr einer Ansteckung durch das Coronavirus im Inneren von Räumen ungleich viel grösser ist als im Freien. Wenn also weiterhin munter gegen das freimütige Schweden gewettert wird, während kein Mensch vom eigentlichen “Spitzenreiter” Belgien spricht und gleichzeitig Ausgangssperren von den betroffenen Bevölkerungen hingenommen werden, als handle es sich dabei um etwas Gottgegebenes, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich der eine oder andere Bürger, die eine oder andere Bürgerin allzu einseitig informiert, um nicht zu sagen hintergangen und verschaukelt fühlt…

Fadenscheinige Argumente zur Verschiebung der Weltklimakonferenz: Es lebe die Klimabewegung!

Die wegen der Coronaviruspandemie verschobene UNO-Klimakonferenz in Glasgow soll Anfang November 2021 stattfinden. Dies teilte die britische Regierung mit. Eigentlich war die Konferenz für diesen November geplant.

(www.srf.ch)

Die Verschiebung der Weltklimakonferenz um ein Jahr ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der globalen Klimabewegung. Sie ist vor allem ein Schlag ins Gesicht aller zukünftiger Generationen, die von den Folgen des Klimawandels noch weit dramatischer betroffen sein werden als wir heutigen Menschen von der Coronapandemie. Das Argument, dass ein grosser Teil der Fluglinien, welche von den rund 20’000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Konferenz benützt würden, höchstwahrscheinlich auch im November noch nicht in Betrieb sein würden, ist mehr als lächerlich. Noch nie etwas von Videokonferenzen gehört? Was man schon den kleinen Kindern mit Homeschooling und Lernen mit Internet zugemutet hat, mutet man den ach so gebildeten Politikern und Umweltspezialisten nicht zu? Es wäre ja geradezu die Chance, den Tatbeweis zu erbringen, dass internationale Konferenzen auch ohne das Fliegen über Tausende von Kilometern möglich wären. Was wir daraus lernen können? Dass wir nicht mehr länger auf die hohen Herren und Damen der Politik mit all ihren Ausflüchten, all ihrer Hinhaltetaktik und all ihren beschönigenden Versprechen warten dürfen, sondern das Heft hier und jetzt, von der Basis her, in die eigene Hand nehmen müssen. Das Zeitalter der kapitalistischen Dinosaurier ist vorbei. Es lebe die Klimabewegung!

Nicht der Stillstand ist die Alternative zum immerwährenden Wachstum, sondern das Gleichgewicht

Unter Klimaaktivisten gilt es als ausgemacht, dass wir das Wirtschaftswachstum stoppen müssen, um den Planeten zu retten. Greta Thunberg sagte es in ihrer Rede vor der UNO so: “Alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und das Märchen eines ewig anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums.” Auch Schweizer Klimaaktivisten fordern: “Systemwechsel statt Klimawandel”. Doch Corona bietet jetzt eine Vorahnung davon, was ein Stillstand der Wirtschaft für Arbeit, soziale Sicherheit und Wohlbefinden heisst, weltweit und in der Schweiz. Wir erleben gerade, wie viel Stress, Arbeitslosigkeit, Leid und verpasste Lebenschancen schon zwei Monate wirtschaftlicher Stillstand verursachen. Über die drohende Verelendung freut sich niemand, auch kein Klimaaktivist.

(Tages-Anzeiger, 23. Mai 2020)

Gibt es also nur die Alternative zwischen einem ewigen Wachstum, das Sicherheit und Wohlstand verspricht, und einem Stillstand, der in unermessliches Elend und Chaos führt? Wer so argumentiert, der verkennt, dass dieser goldene Wohlstand, von dem wir bisher profitiert haben, ein Wohlstand auf tönernen Füssen war. Ein Wohlstand nämlich, von dem nur eine Minderheit der Weltbevölkerung profitiert hat und der für Milliarden von Menschen schon bisher nichts anderes bedeutet hat als namenloses Elend und Chaos: für jene Milliarde Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, für jene zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres sterben, weil sie nicht genug zu essen oder kein sauberes Trinkwasser haben, für jene Abermillionen von Menschen, die unter sklavenartigen Zuständen auf Erdbeer- und Kakaoplantagen, in Bergwerken oder in Spielzeug- und Textilfabriken Schwerstarbeit zu geringster Entlohnung leisten müssen. Die Alternative lautet nicht: Wachstum oder Stillstand. Die Alternative lautet: Wachstum oder Gleichgewicht. Die unbeirrbaren Befürworter eines ewigen Wirtschaftswachstums machen es sich zu einfach, wenn sie jetzt auf die Folgen der Coronakrise zeigen und den Teufel einer nicht an Wachstum orientierten Wirtschaft an die Wand malen. Kein Klimaaktivist und auch nicht Greta Thunberg fordern einen Stillstand der Wirtschaft. Was sie aber fordern, ist eine Wirtschaft, die sich im Gleichgewicht befindet sowohl mit den Bedürfnissen der Menschen, wie auch mit den Bedürfnissen der Natur und der Lebensqualität und dem Wohlbefinden zukünftiger Generationen. Eine Wirtschaft, die sich nicht an Wachstumszielen, Dividenden und Börsenkursen orientiert, sondern an der Bereitstellung all jener Güter, welche die Menschen weltweit tatsächlich zur Erfüllung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse benötigen. Eine Wirtschaft, die von der Natur immer nur gerade so viel nimmt, wie sie ihr dann auch wieder zurückgibt. Eine Wirtschaft, in der Einkommen und Arbeit gerecht auf alle verteilt sind und nicht mehr die einen sich zu Hungerlöhnen zu Tode schuften müssen, während andere, praktisch ohne etwas dafür leisten zu müssen, in sagenhaftem Wohlstand prassen. Und genau deshalb, dass es nicht beim immerwährenden Wachstum bleibt und auch nicht zum tödliche Stillstand kommt, sondern sich allen in Richtung eines Gleichgewichts bewegt, genau deshalb braucht es die Klimabewegung heute und in Zukunft dringender denn je.