Archiv des Autors: Peter Sutter

Gesellschaftliche Ursachen steigender Jugendgewalt und Jugendkriminalität

Seit 2015 nimmt die Jugendkriminalität in der Schweiz von Jahr zu Jahr zu. Vor allem die Zahl der Gewaltstrafen steigt an. “Es setzt sich unter den Jugendlichen zunehmend eine Kultur der Wertschätzung von Gewalt durch”, so Dirk Baier, Professor ZHAW. “Was auffällt”, so Baier: “Unter den Delinquenten befinden sich überdurchschnittlich viele Migranten.”

(www.srf.ch)

Dass die Jugendkriminalität und die Jugendgewalt von Jahr zu Jahr zunehmen, kann nicht Zufall sein, sondern muss gesellschaftliche Ursachen haben. Und das ist relativ einfach zu erklären: Seit Jahren nehmen der Konkurrenzkampf, der Leistungsdruck am Arbeitsplatz und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kontinuierlich zu. Gestresste, erschöpfte, frustrierte Männer und Frauen kommen am Abend von der Arbeit nach Hause, alle sind einem permanenten Aufstiegs- und Abstiegskampf ausgeliefert. Diesen Druck, diese Ängste und Frustrationen nehmen die Kinder und Jugendlichen als empfindlichste Glieder der Gesellschaft am stärksten wahr, gleichsam als Seismographen, als Spiegelbilder jener Gesellschaft, in der sich ihre Eltern Tag für Tag abkämpfen und in denen viele von ihnen Tag für Tag weit über die Grenzen ihrer natürlichen Belastbarkeit hinaus gefordert sind. Die Gewalt des Wirtschaftssystems, dem ihre Eltern ausgeliefert sind, wird zur potenziellen Gewalt, die sich in den Kindern und Jugendlichen aufstaut und bei vielen von ihnen eines Tages dann als manifeste verbale oder körperliche Gewalt zutage tritt. Es ist daher auch kein Zufall, dass Jugendgewalt bei Migranten und Migrantinnen besonders häufig auftritt: Es ist jene gesellschaftliche Gruppe, die dem Arbeitsdruck, aber auch den Zukunftsängsten in ganz besonders hohem Masse ausgesetzt ist. Es genügt daher nicht, in den Schulen Präventionsprogramme gegen Gewalt durchzuführen. Statt bloss die Symptome zu bekämpfen, müssen die Ursachen bekämpft werden: Ziel muss es sein, eine Arbeitswelt und ein Wirtschaftssystem aufzubauen, das nicht von gegenseitigem Konkurrenzkampf geprägt ist, sondern von Kooperation, Sicherheit, fairen Löhnen und einem guten Leben für alle. Verschwindet die Gewalt in der Arbeitswelt, dann wird sie automatisch auch in der Form von Jugendgewalt und Jugendkriminalität verschwinden…

Eine Stunde schneller von Zürich nach München – und dann?

Ab dem kommenden Fahrplanwechsel im Dezember wird die Bahnreise von Zürich nach München nur noch vier statt wie bisher fünf Stunden betragen. Damit sagen SBB und DB ihrer Konkurrenz in der Luft und auf der Strasse den Kampf an. Wählen heute noch 5’000 Reisende pro Woche für diese Strecke den Fernbus, 3’900 die Bahn und 3’700 das Flugzeug, soll die Bahn zukünftig die unbestrittene Nummer eins sein. Doch das hat seinen Preis: 500 Millionen Euro gibt Deutschland aus, um die Strecke zwischen Lindau und München zu elektrifizieren, 50 Millionen steuert die Schweiz bei. Unzählige Signale, Weichen, Stellwerke und Bahnübergänge werden ersetzt, in Lindau entsteht nach zweijähriger Bauzeit ein neuer Durchgangsbahnhof und eine 5300 Tonnen schwere Brücke, die um 13 Meter in ihre Endposition verschoben werden muss, wird gebaut. Allein die zu errichtenden Lärmschutzwände verschlingen ein Fünftel der gesamten Bausumme. Und dies alles, um die Strecke zwischen Zürich und München um eine Stunde schneller zu machen.

(10vor10, Schweizer Fernsehen SRF1, 29. Juni 2020)

Wird das alles genügen, um die Konkurrenten auf der Strasse und in der Luft zu bezwingen?  Werden die Fernbusse und die Luftfahrtgesellschaften nicht alles daran setzen, durch möglichst tiefe Preise so viele Passagiere wieder von der Schiene wegzulocken auf die Strasse und in die Luft? Und was werden sich SBB und DB hernach einfallen lassen, um trotz alledem wieder von neuem die Nummer eins zu sein? Werden sie eine Brücke über den Bodensee bauen oder an all jenen Stellen, wo infolge von Kurven nur langsam gefahren werden kann, Tunnels bauen lassen? Das alles mag absurd klingen, wäre aber nichts anderes als die logische Folge dessen, was vor 50 Jahren auch noch nicht denkbar gewesen wäre, heute aber so normal erscheint, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Doch so kann es nicht endlos weitergehen. Früher oder später werden wir uns von der Vorstellung lösen müssen, das Verkehrssystem sei eine Art Supermarkt, aus dem man stets das billigste und bequemste Produkt frei auswählen könne. Wir brauchen nicht drei oder vier Varianten, um von Zürich nach München reisen zu können, es genügt eine einzige Variante, und diese soll, im Vergleich mit allen anderen, über die beste wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesamtbilanz verfügen, egal, ob diese Reise dann vier, fünf oder sechs Stunden dauert. Das bedrohe aber die individuelle Freiheit des Einzelnen, werden Gegner eines solchen integralen Verkehrssystems einwenden. Nun gut, aber soll die Freiheit des Einzelnen tatsächlich so weit führen, dass wir ganze Landschaften zubetonieren, Rohstoffe masslos ausbeuten, die Klimaerwärmung immer noch mehr und noch mehr anheizen und in letzter Konsequenz die Natur und den ganzen Planeten, auf dem wir leben, zerstören?

Lohndiskriminierung besteht nicht nur in unterschiedlichen Löhnen für Frauen und Männer

Die grössten Unternehmen der Schweiz haben ab 1. Juli ein Jahr Zeit, die Löhne ihrer angestellten Männer und Frauen auf Diskriminierung zu untersuchen. Die Unternehmen müssen ihre Analysen innert Jahresfrist vorlegen. Diese müssen anschliessend alle vier Jahre wiederholt werden, wenn die erste Analyse unerklärliche Ungleichheiten bei den Löhnen ergab.

(Tages-Anzeiger, 29. Juni 2020)

Das sind wichtige und notwendige Massnahmen gegen die nach wie vor vorhandene Ungleichheit zwischen den Löhnen für Frauen und Männer, die schweizweit immer noch bei acht Prozent liegt. Allerdings greifen solche Vergleiche zu kurz. Denn es werden ja nur die Löhne innerhalb des gleichen Berufs und der gleichen Position innerhalb der Firma verglichen. Lohndiskriminierung liegt aber auch vor, wenn eine Coiffeuse vier Mal weniger verdient als der Abteilungsleiter einer Firma. Es wird zwar immer gesagt, vergleichen könne man nur “gleichwertige” berufliche Tätigkeiten. Was aber heisst “gleichwertig”? Ist die Arbeit der Coiffeuse vier Mal weniger wert als die Arbeit des Abteilungsleiters? Ist die Arbeit einer Krankenpflegerin vier Mal weniger wert als die Arbeit eines Universitätsprofessors? Ist die Arbeit eines Gärtners drei Mal weniger wert als die Arbeit einer Rechtsanwältin? Ist die Arbeit einer Verkäuferin 400 Mal weniger wert als die Arbeit des UBS-Chefs Sergio Ermotti, der jährlich über 12 Millionen “verdient”? Es ist gut und recht, über Lohndiskriminierung der Frauen gegenüber den Männern innerhalb des selben Berufs und der selben Position in der Firma zu diskutieren. Aber die Diskussion müsste weitergehen und sich mit Lohnunterschieden ganz generell befassen. Dass zu viele dies verhindern möchten, weil es für sie zu gefährlich wäre und vieles bisher Selbstverständliche in Frage stellen könnte, versteht sich von selber. Denn vielleicht würde man ja dann eines Tages zum Schluss kommen, dass sämtliche berufliche Tätigkeiten gleich wertvoll sind, weil sie nämlich allesamt für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft unerlässlich sind, und deshalb das einzig wirklich Gerechte ein Einheitslohn wäre, was all jenen, die heute noch weniger als den Durchschnittslohn verdienen, nicht nur grössere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und mehr Wohlstand verschaffen würde, sondern vor allem auch jenes Ansehen und jene Wertschätzung für ihre Arbeit, die sie schon längst mehr als verdient haben.

Bündner Baufirmen an den Pranger gestellt: Als wäre es eine neue Art von Religion

Wiederholte Preisabsprachen zwischen Bündner Baufirmen rufen die Verfechter der “reinen” Lehre der freien Marktwirtschaft auf den Plan: Die betroffenen Firmen werden gebrandmarkt und es werden ihnen hohe Bussen aufgebrummt. Der Konsens, dass Preisabsprachen zwischen Firmen des Teufels sind, das Prinzip des freien Wettbewerbs über allem stehen müsse und Verstösse dagegen mit aller Härte zu ahnden seien, ist frappant. Man bekommt fast den Eindruck, als handle es sich dabei um eine neue Art von Religion. Auch in Online-Kommentaren zum Thema findet sich keine einzige Stimme, die den betroffenen Baufirmen Verständnis entgegen bringt. Im Gegenteil: Es werden noch viel härtere Strafen verlangt oder, dass man die betreffenden Firmen öffentlich an den Pranger stellen müsse. Ich frage mich: Haben wir uns mit dem uneingeschränkten Prinzip des freien Wettbewerbs nicht ebenso einem Zwangssystem unterworfen, wie das im früheren Sozialismus der Fall war, nur mit umgekehrten Vorzeichen? Ist es denn wirklich erstrebenswert, dass immer nur der Schnellste und Billigste einen Auftrag bekommt, während alle anderen auf der Strecke bleiben? Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Firmen gegenseitig absprechen, damit die Aufträge auf möglichst viele und nicht auf möglichst wenige verteilt werden und somit alle eine Überlebenschance haben? Das Prinzip des uneingeschränkten freien Wettbewerbs und des Kampf aller gegen alle hat schon so viele Opfer gefordert, dass es höchste Zeit wäre, es grundsätzlich zu hinterfragen. Dann wären die Bündner Baufirmen nicht mehr Sündenböcke oder gar Kriminelle, sondern Vorboten einer neuen, besseren Zeit, in der nicht mehr jeder gegen jeden kämpft, sondern alle miteinander und füreinander Sorge tragen…

Der Kapitalismus belohne jene, die der Geselllschaft nützen: Schön wäre es…

Zürcher Jungunternehmer sind mit Corona-Masken so reich geworden, dass sie sich aus dem Gewinn zwei Bentleys und einen Ferrari für mindestens 2,5 Millionen Franken kaufen konnten. So funktioniert der Kapitalismus: Wer der Gesellschaft nützt, profitiert.

(Edgar Schuler, in: Tages-Anzeiger, 26. Juni 2020)

Man muss schon zwei Mal hinschauen, um es zu glauben. Und es steht ja nicht in irgendeinem Boulevardblatt, sondern im Leitartikel einer der führenden Tageszeitungen unseres Landes: Wer der Gesellschaft nütze, der profitiere – so funktioniere der Kapitalismus. Was müssen sich die hunderttausenden Fabrikarbeiter, Serviceangestellte, Krankenpflegerinnen, Gärtner, Coiffeusen, Bauarbeiter, Köche, Verkäuferinnen, Putzfrauen und  Lastwagenfahrer wohl denken, wenn sie diesen Satz lesen? Sie, die täglich schwerste Arbeit verrichten und dennoch von ihrem Lohn kaum leben können oder sogar so wenig verdienen, dass es nicht einmal für das Allernotwendigste ausreicht. Ist die Arbeit, die sie verrichten, nicht genau so oder vielleicht sogar noch nützlicher als das Geschäft jener Zürcher Unternehmer mit dem Kaufen und Verkaufen von Masken? Und hätten sie dann demzufolge auch Anspruch auf einen Bentley oder einen Ferrari? Dass der Kapitalismus jene belohne, die für die Gesellschaft nützlich sind, diese Behauptung kann nur aufstellen, wer die Augen völlig verschliesst gegenüber der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität. Tatsächlich ist der Kapitalismus jene Gesellschaftsform, in der ausgerechnet jene Menschen, welche die nützlichste und wertvollste Arbeit verrichten und auf deren Schultern das ganze Gebäude lastet, von den Segnungen des Wohlstands, den sie erarbeiten, beinahe gänzlich ausgeschlossen sind. Bis sie alle einen Ferrari oder Bentley besitzen, bis dahin ist noch ein weiter Weg…

Der Fall Tönnies und was wir daraus lernen können

Nach dem massiven Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb Tönnies in Nordrhein-Westfalen, wo 1331 der 6500 Arbeiterinnen und Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet wurden,  ist das Vertrauen zwischen den Behörden und der Branche zerrüttet. Nachdem nun auch die Schulen wieder geschlossen und ganze Strassenzüge unter Quarantäne gestellt wurden, haben Politiker und die zuständigen Behörden den Bereich der diplomatischen Formulierungen verlassen. Nun geht es in dem Landkreis um Schadensbegrenzung. Wie es zu dem Corona-Ausbruch kommen konnte, ist eine Frage, die nun Tönnies und die Behörden gleichermassen beantworten müssen. Schliesslich ist es nicht der erste Corona-Vorfall in einem Schlachtbetrieb seit Beginn der Pandemie, und schliesslich ist seit langem bekannt, welch fragwürdige Zustände in Deutschlands grossen Schlachthöfen herrschen: Die Arbeiter kommen überwiegend aus Rumänien, Polen und Bulgarien, werden von Subunternehmen angestellt, leben in Massenunterkünften, wo sich nicht selten drei Arbeiter ein einziges Bett teilen müssen, und schuften unter widrigen Bedingungen zu Billiglöhnen. Auf Kosten des Tierwohls landet Schweinefleisch zu Billigpreisen in den Supermärkten.

(www.nzz.ch)

Als hätte man es vorher nicht gewusst. Es brauchte die Coronaepidemie, um ans Tageslicht zu bringen, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den deutschen Schlachthöfen gearbeitet wird, Bedingungen, die man ohne Übertreibung als moderne Sklaverei bezeichnen kann, und das mitten im demokratischen, aufgeklärten, zivilisierten Deutschland. Und sogleich schieben sich alle gegenseitig die Schuld in die Schuhe: Politiker der einen Partei fallen über die Politiker der anderen Partei her, Gesundheitsexperten, Behördenmitglieder und Fleischfabrikanten streiten darüber, wer am Ganzen Schuld sei und wer nicht und weshalb. Dabei gibt es doch nur einen einzigen zweifellos Schuldigen: das Prinzip der freien Marktwirtschaft, der kapitalistische Konkurrenzkampf aller gegen alle, der jeden Einzelnen, der am Ganzen beteiligt ist, dazu zwingt, immer noch ein bisschen schneller und ein bisschen billiger zu sein als alle anderen. Eigentlich hätte niemand das Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, es ist ein Spiel, das wir alle mitspielen, solange auch wir als Konsumenten und Konsumentinnen immer dem billigsten Häppchen hinterherrennen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, welches Ausmass an Leiden hinter all den Produkten, die uns angeboten werden, steckt. Denn es ist nicht nur das Fleisch der Firma Tönnes, es sind auch die Kleider aus den Textilfabriken Bangladeshs. Es sind auch die Spielsachen aus China. Es sind auch die Möbel von Ikea, deren Holz aus dem illegalen Raubbau in Wäldern Rumäniens und der Ukraine stamm. Es sind auch die Smartphones, die nur dank jenen seltenen Metallen funktionieren, die afrikanische Minenarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen aus dem Boden schürfen. Jetzt steht die Firma Tönnes im Rampenlicht. Aber eigentlich müsste man den Kapitalismus ins Rampenlicht stellen. Wir brauchen ein nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem, das nicht auf gegenseitiger Ausbeutung beruht, sondern auf Gerechtigkeit, Menschenwürde und Respekt, nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber den Tieren und gegenüber der Natur. Alles andere hat keine Zukunft.

 

Die Initiative “Züri autofrei” – “Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit”?

Die Wirtschafts- und Autoverbände feiern ihren Sieg: Sie haben die Juso-Initiative für eine autofreie Stadt Zürich vor Bundesgericht niedergerungen. Zum Glück hat die oberste juristische Instanz des Landes so entschieden und das unverständliche Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts korrigiert. Sonst hätte der Stadt der Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit gedroht. Bei einem Ja zur mobilitätsfeindlichen, illusorischen Initiative der Jungsozialisten hätte sich Zürich de facto von ihrer Zentrumsfunktion und ihrem Anspruch, Grossstadt zu sein, verabschiedet.

(NZZ, 18. Juni 2020)

Die NZZ, die Wirtschafts- und Autoverbände frohlocken zusammen mit den bürgerlichen Parteien über den Entscheid des Bundesgerichts, die Juso-Initiative “Züri autofrei” abzulehnen und somit der Stimmbevölkerung der Stadt Zürich das demokratische Recht abzusprechen, in eigener Kompetenz über diese Vorlage zu befinden. Ob diejenigen, die nun ihren “Sieg” feiern, nicht zur Kenntnis genommen haben, dass sich unlängst Wien zur autofreien Stadt erklärt hat und auch andere europäische Städte ähnliche Bestrebungen verfolgen? Werden diese Städte alle ihre “Zentrumsfunktion” verlieren und sich von ihrem Anspruch, Grossstadt zu sein, “verabschieden”? Die Frage, wer nun in der Steinzeit lebe und wer nicht, kann man unterschiedlich interpretieren. Wer, als Fussgänger, an einer vielbefahrenen Strasse steht und ein Auto ums andere an sich vorbeiziehen sieht, meist nur mit einer einzigen Person besetzt, sieht das Ganze wahrscheinlich ein bisschen anders als jene, die selber in den Autos sitzen. Und erst recht kommt man ins Grübeln, wenn man sich vorstellt, was für eine Masse an Stahl und Blech mit was für einem riesen Aufwand an Rohstoffen und Energie und mit was für einer Platzverschwendung da in Bewegung gesetzt wird, bloss um ein kleines Menschlein von A nach B zu bringen, das diesen Weg ebenso gut mit einem Tram, auf einem Velo oder zu Fuss hätte zurücklegen können. Käme hier und heute ein Wesen von einem anderen Planeten auf die Erde, empfände es dies alles als hellen Wahnsinn, umso mehr, als diese Vehikel ja an vorderster Front dafür verantwortlich sind, dass sich unser Klima immer mehr erwärmt und die Erde als Folge davon früher oder später im schlimmsten Falle unbewohnbar geworden sein wird. Nur weil wir Autos schon von klein auf gesehen und weil die meisten von uns als Kinder nicht nur mit Puppen, sondern vor allem auch mit kleinen Autos gespielt haben, ist das Auto sozusagen als etwas “Normales” in unser Bewusstsein eingedrungen, von allem Anfang an, schon mit der Muttermilch sozusagen. Ja mehr noch: Viele von uns vergöttern das Auto geradezu, sehen es als Ausdruck von Reichtum und Wohlstand, fühlen sich darin fast so heimisch wie in ihrem Wohnzimmer, wenden Stunden dafür auf, es jeden Sonntag immer wieder auf Hochglanz zu bringen, lassen ihre Motoren aufheulen und gefallen sich darin, auf der Autobahn möglichst viele andere Autos zu überholen. Heute noch frohlocken die Gegner autofreier Städte und bezeichnen ein Fahrverbot in der Stadt als “Rückfall in eine verkehrspolitische Steinzeit”. Doch möglicherweise haben sie zu früh frohlockt, denn wahrscheinlich kommt schon bald eine Zeit, in der sich die Menschen an das private Automobil ebenso ungläubig erinnern werden wie wir heutigen Menschen an die Dinosaurier. Dann, im Rückblick, werden politische Bewegungen wie die Initiative “Züri autofrei” nicht so sehr Zeichen eines historischen Rückfalls gewesen sein, sondern, ganz im Gegenteil, erste Vorboten eines neuen Zeitalters, in dem mit der Erde, den Rohstoffen, dem vorhandenen Boden, der Mobilität und der Energie so umgegangen wird, dass es auch in tausend Jahren noch genug von alledem gibt…

Die Diskussion rund um den Mohrenkopf und wie sie weitergehen müsste…

Die Diskussion, ob der Mohrenkopf weiterhin Mohrenkopf heissen soll, mag ja durchaus ihre Berechtigung haben. Doch der wirkliche Skandal ist ja nicht, dass der Mohrenkopf Mohrenkopf heisst. Der wirkliche Skandal besteht darin, dass auch heute noch die Pflückerinnen und Pflücker der Kakaobohnen, aus denen die Schokolade hergestellt wird, nur einen winzigen Bruchteil dessen verdienen, was die in der Schweiz ansässigen Fabrikanten, Händler und Verkäufer der Schokolade an Gewinn einheimsen. Und das ist nur eines von zahllosen Beispielen, wie sich die Ausbeutung und das Elend des Südens in den Luxus und in das Gold des Nordens verwandeln: die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Münze, welche die einen, obwohl sie immer härter arbeiten, dennoch immer ärmer macht, während sie die anderen, obwohl sie sich gar nicht so sehr anzustrengen brauchen, dennoch immer reicher werden lässt. Es ist gut, wenn man dem Mohrenkopf einen neuen Namen gibt. Und es ist auch gut, wenn man darüber diskutiert, ob die Statuen und Denkmäler früherer Sklavenhändler weiterhin öffentlich ausgestellt bleiben sollen. Aber noch viel wichtiger wäre es, die Geschichte von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung bis in unsere Gegenwart hier und heute aufzuarbeiten. Und noch wichtiger wäre es, eine zukünftige Wirtschaftsordnung aufzubauen, die nicht mehr auf Ausbeutung und der himmelschreienden Ungleichheit zwischen Arm und Reich aufbaut, sondern auf fairen Tausch- und Handelsbeziehungen und dem elementaren Recht auf ein gutes Leben nicht für eine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung, sondern für alle Bewohner und Bewohnerinnen der Erde hier, heute und in Zukunft…

Wer versteht mehr von der Wirtschaft: Mattea Meyer und die bürgerlichen Besserwisser

Anlässlich der ausserordentlichen Session des Schweizer Parlaments im Mai brachte Mattea Meyer (SP) eine Motion ein, welche ein Dividendenverbot für all jene Firmen forderte, die Kurzarbeit beantragt hatten. Während der Nationalrat der Motion überraschenderweise zustimmte, scheiterte sie dann aber im Ständerat. Bürgerliche Männer warfen Mattea Meyer vor, “von Wirtschaft nichts zu verstehen.”

(Tages-Anzeiger, 16. Juni 2020)

Das beliebte Totschlagargument: Wer von der Sache nichts verstehe, dürfe sich dazu auch nicht äussern. Folgerichtig dürften dann also nur noch Ökonomen, Finanzspezialisten und Bankiers mitreden, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, alle anderen hätten gefälligst zu schweigen, da sie ohnehin von der Sache nichts verstünden. Das wäre so ziemlich genau das Gegenteil von Demokratie. Denn Demokratie baut genau darauf auf, dass unterschiedlichste Sichtweisen und Aspekte in politische Prozesse – und damit letztlich auch in Wirtschaftsfragen – einfliessen. Gerade der Blick von aussen, von Menschen, die noch nicht durch und durch Bestandteil des bestehenden Systems sind und sich noch nicht an all dessen Widersprüche und Absurditäten gewöhnt haben, sind unerlässlich für den gesellschaftlichen – und damit letztlich auch wirtschaftlichen – Fortschritt. Es ist wie bei dem immer wieder zitierten Vergleich vom Wald und von den Bäumen: Wer voll und ganz ins bestehende Wirtschaftssystem eingebunden ist und dessen Logik und dessen Denkweisen ganz und gar verinnerlicht hat, sieht zwar die einzelnen Bäume, nicht aber mehr den gesamten Wald. Wer das Ganze hingegen aus einer gewissen Distanz anschaut, erkennt den Wald als Ganzes und kann auch dessen Widersprüche und Ungereimtheiten viel deutlicher erkennen. Und genau diese Sichtweise braucht es, damit sich Bestehendes verändern und Neuem, Besserem Platz machen kann. Denn wo wir hinkommen, wenn wir die Wirtschaft nur denen überlassen, die angeblich etwas davon verstehen, das wissen wir mittlerweile nur zur Genüge, wenn wir uns all die weltweit verheerenden sozialen und ökologischen Folgen eines Wirtschaftssystems vor Augen führen, das immer noch unbeirrt am Dogma eines unbegrenzten Wachstums festhält.

Absurde Argumente gegen die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken

Morgen lanciert eine Allianz aus Gewerkschaften, Grünen, SP, AL und mehreren Hilfswerken eine Volksinitiative für die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken in den Städten Zürich, Winterthur und Kloten. Aus Sicht der Allianz sind 4000 Franken im Monat das absolute Minimum, um in Zürcher Städten finanziell durchzukommen. Vertreter der betroffenen Branchen – Gastronomie, Reinigung und Detailhandel – halten davon wenig. Dank Gesamtarbeitsverträgen würden die meisten bereits heute genug verdienen. Zudem gebe es unkomplizierte Weiterbildungen.

(Tages-Anzeiger, 16. Juni 2020)

Im Klartext: Du kannst dich ja weiterbilden, um mehr zu verdienen. Und wenn du das nicht tust, dann bist du halt selber Schuld, wenn du zu wenig verdienst, um davon zu leben zu können. – Was für eine Botschaft! Erstens kann man sich nur schwer vorstellen, dass eine Detailhandelsangestellte oder eine Servicefachangestellte, bloss weil sie einen Weiterbildungskurs besucht hat, dann von einem Tag auf den anderen so viel mehr verdienen wird als bisher. Zweitens hat nicht jede und jeder, der weniger als 4000 Franken verdient, die Möglichkeit, einen Weiterbildungskurs zu besuchen, sei es, dass es die finanziellen Verhältnisse nicht zulassen, sei es, dass im betreffenden Kurs zu hohe Anforderungen gestellt werden, sei es, dass die zeitliche Belastung durch Familie, Haushalt und Arbeit – insbesondere bei Alleinerziehenden – dies gar nicht erst zulässt. Drittens ist es nachgerade zynisch, einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerinnen den Besuch eines Weiterbildungskurses zu empfehlen, um auf einen existenzsichernden Lohn zu kommen. Das heisst ja, anders gesagt, dass jemand, der “nur” eine ganz gewöhnliche Verkäuferin, “nur” eine ganz gewöhnliche Coiffeuse oder “nur” ein ganz gewöhnlicher Koch ist, kein Anrecht auf einen Lohn haben soll, von dem er oder sie anständig leben können. Unglaublich, mit was für absurden Argumenten Arbeitgeber und Arbeitgeber etwas zu bekämpfen versuchen, was eigentlich die logischste und selbstverständlichste Sache der Welt sein müsste, nämlich, dass jemand, der einer vollen Erwerbsarbeit nachgeht, auch genug verdienen müsste, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wenn man bedenkt, dass der schweizerische Durchschnittslohn gegenwärtig bei rund 6500 Franken liegt, dann ist ja die Forderung nach einem Mindestlohn von 4000 Franken mehr als bescheiden…