Archiv des Autors: Peter Sutter

Zukunftstaugliche Verkehrsplanung: Das Ende des privaten Automobils

 

In nicht allzu weit entfernter Zukunft werden wir uns wohl die Augen reiben und nicht mehr begreifen können, dass so etwas je einmal möglich war: Da steht das mit einem Riesenaufwand an Material, Technik und Geld hergestellte und gekaufte private Motorfahrzeug zwölf oder vierzehn Stunden lang vor der Haustür und wartet darauf, dass ein siebzig oder achtzig Kilo leichtes Menschenwesen darin Platz nimmt, um sodann eine halbe oder nicht selten sogar eine ganze Tonne Stahl und Blech in Bewegung zu setzen, um dieses Menschenwesen in einer vielleicht halbstündigen Fahrt von A nach B zu bringen, auf endlosen Betonpisten im Gerangel mit Abertausenden Artgenossen, um sodann wieder vier oder acht Stunden stillzustehen und dabei erneut wieder eine Fläche zu beanspruchen, die man ebenso gut für eine Wiese, einen Kinderspielplatz oder einen Gemüsegarten hätte brauchen können. Zukünftige Generationen werden sich an das private Automobil in ähnlicher Weise erinnern wie wir heutigen Menschen an die Dinosaurier: zu gross, zu fett, zu unbeweglich, zu gefrässig, nicht zukunftstauglich. Doch noch, aber das ist vielleicht bloss so etwas wie ein letztes Aufbäumen, ist immer noch etwas Heiliges um dieses private Glück auf vier Rädern, das nicht selten aufmerksamer und liebevoller gepflegt und gehätschelt wird als die eigenen Kinder. Noch geht ein Aufschrei durchs Land, wenn einer kommt und den Verzicht auf das eigene Privatauto fordert. Dabei wäre es doch so einfach und würde allen, sowohl denen, die heute noch ein Auto besitzen, wie auch denen, die bereits heute auf eines verzichten, unschätzbar viel mehr Vorteile als Nachteile bringen. Man stelle sich vor: Ein Land, in dem sich die Menschen ausschliesslich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen, in einem Netz, das so stark ausgebaut, fein verästelt und mit einem Taxidienst ergänzt würde, dass man nahezu jederzeit von jedem beliebigen zu jedem anderen beliebigen Ort gelangen könnte. Ein Land, in dem alle nur erdenklichen Anstrengungen unternommen würden, um Wohn- und Arbeitsorte so nahe zusammenzubringen, dass sich die Pendlerströme in Zügen und Bussen auf ein erträgliches Mass reduzieren würden. Ein Land, in dem nur noch Handwerker, Ambulanzen, die Feuerwehr und die Polizei mit Autos unterwegs wären und selbst die grossen Überlandlastwagen immer seltener anzutreffen wären, da die Güter in immer grösserer Zahl mit der Eisenbahn transportiert würden. Ein Land, in dem Abertausende von Quadratkilometern, die heute von Strassen, Brücken und Parkplätzen beansprucht werden, wieder frei wären für Fussgänger und Velofahrerinnen, für spielende Kinder und Vergnügungspärke, für Grünflächen, Bäume und Gemüsegärten. Nicht eine verlockende Vorstellung? Alle würden etwas gewinnen, niemand würde etwas verlieren. Und wäre die Schweiz nicht das ideale Land, um ein solches Experiment zu verwirklichen? Fast schon einmal hätte es geklappt, nämlich im Kanton Graubünden, wo der Regierungsrat im Jahre 1900 ein Verbot aller Automobile auf den Strassen des Kantons erliess, welches erst 1925 durch eine Volksabstimmung wieder rückgängig gemacht wurde. Heute, fast hundert Jahre später und fast hundert Jahre gescheiter, könnten wir doch an diesem Punkt noch einmal neu anfangen. Kaum auszudenken, was dies auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus bewirken würde…

Wissen und Information als Fundament der Demokratie

Eine ganze Seite ist sie lang, die Reportage über den 78jährigen israelischen Arzt Rafi Walden, der jeweils mindestens einmal pro Monat ins Westjordanland reist und dort eine mobile Klinik aufbaut, um kranke und verletzte Palästinenser und Palästinenserinnen kostenlos zu betreuen. Überaus aufschlussreich und informativ ist der Artikel, beleuchtet das schwierige Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern und Palästinenserinnen, geht auf die Auswirkungen der Caronaepidemie ein und zeigt auf eindrückliche Weise, wie viel der Mut und das Engagement eines einzelnen Menschen bewirken kann…

Wo anders als in meiner Tageszeitung wäre ich zu diesen Informationen gelangt? Wohl kaum auf irgendeiner Internettplattform. Auch nicht irgendwo in den Social Media. Und gewiss auch nicht in der Boulevardpresse oder einem der Gratisblätter. Wenn nun allenthalben vom Zeitungssterben die Rede ist, von den massiven Einbrüchen bei den Werbeeinnahmen, den veränderten Lesegewohnheiten, dem “Gesundschrumpfen” von Zeitungsredaktionen und dem Personalabbau bei Auslandkorrespondentinnen und Auslandkorrespondenten, dann wird vielleicht schon bald ein solcher Artikel wie der über den israelischen Arzt Rafi Walden auch in meiner Tageszeitung nicht mehr zu lesen sein.

Eine gefährliche Entwicklung. Denn wenn die Demokratie ein Haus ist, dann sind Wissen und Informationen das Fundament, auf dem dieses Haus steht. Die Beschleunigung, Verflachung und Boulevardisierung der Medienlandschaft ist Gift für die Demokratie. Man kann die Arbeit, die von gut ausgebildeten, seriös arbeitenden und eigenständig denkenden Journalisten und Journalistinnen tatgtäglich geleistet wird, gar nicht genug hoch einschätzen. Journalisten und Journalistinnen gehören, um es mit einem aktuellen Begriff zu bezeichnen, ebenso zu den “systemrelevanten” Berufen wie Ärzte, Krankenpflegerinnen, Lastwagenchauffeure, Landwirte und Kitamitarbeiterinnen. Das, was sie erschaffen, sind nicht Luxusprodukte, sondern, wie Nahrung, Wasser und Luft, Grundnahrungsmittel für die seelische und geistige Gesundheit des Menschen. Ob man dieser Entwicklung durch entsprechende Subventionen entgegenwirken oder gleich die gesamte Medienlandschaft verstaatlichen sollte, darüber muss diskutiert werden. Aber eines steht fest: Alles bloss dem “Freien Markt” zu überlassen, aus dem nur die Stärksten und Erfolgreichsten – was immer dies konkret bedeuten mag – als Sieger hervorgehen und alle anderen auf der Strecke bleiben, dies wäre zu verhängnisvoll und ein nicht mehr gut zu machender Stich mitten ins Herz der Demokratie.

Nähereien in England: Zustände wie in Bangladesh

Mit flinken Händen schieben sie die Stoffe durch die ratternden Nähmaschinen. Ein gebeugter Rücken reiht sich an den andern. Der Notausgang am Ende der stickigen Halle ist verbarrikadiert. Viele der gut hundert Frauen, die hier arbeiten, sehen müde aus. Gerade jetzt in Zeiten von Corona müssen sie Überstunden leisten. Selbst wer krank ist und sich mit Covid-19 infiziert hat, muss weiter schuften. Niemand lehnt sich auf, vielmehr droht jeder Arbeiterin, die sich beklagt, die Kündigung. Da viele von ihnen illegal beschäftigt sind, sind sie ihrem Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert. Zudem gibt es weder Masken noch Abstandsregeln. Solche Szenen spielen sich nicht etwa in einer Nähfabrik in Bangladesh ab, sondern in den Sweatshops in der Stadt Leicester mitten in England. Die Frauen nähen hier für einen Hungerlohn, der nicht einmal der Hälfte des britischen Mindestlohns entspricht. Viele der tausend zum Teil illegalen Nähereien hielten auch während des landesweiten Corona-Lockdown den Betrieb aufrecht, um für Grosskunden wie die britische Textilmarke Boohoo produzieren zu können. Die tiefen Preise, mit denen Boohoo vor allem bei Teenagern Werbung macht, verlangen nach möglichst tiefen Kosten. Die Lieferanten von Boohoo treffen sich wöchentlich am Hauptsitz des Konzerns in Manchester, wo die Aufträge an die Nähfabriken vergeben werden. Den Zuschlag erhält jeweils die Näherei, die etwa einen Minijupe für 4 statt für 5 Pfund (4 Franken 75 statt 5 Franken 95) produzieren kann. Im Jargon heisst dies: die Suche nach der “billigsten Nadel”. Das sei wie auf dem Viehmarkt, hatte ein Händler einer parlamentarischen Untersuchungskommission erklärt, die ihren Bericht zu den Zuständen in der Branche Anfang vergangenen Jahres veröffentlichte.

(NZZ am Sonntag, 12. Juli 2020)

Ob die Schlachthöfe von Tönnies in Deutschland, die Erdbeerplantagen in Spanien oder eben die Textilfabriken in England: Wer sich immer noch eingebildet hat, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gäbe es nur in Billiglohnländern wie Indien, Vietnam oder Brasilien, dem müssten spätestens jetzt die Augen aufgehen: Längst verlaufen die Grenzen zwischen Arm und Reich, zwischen Ausbeutern und Ausbeuteten nicht mehr zwischen Ländern und Kontinenten. Sie gehen mitten durch jedes kapitalistische Land hindurch und teilen in jedem dieser Länder in mehr oder weniger drastischem Ausmass die Menschen in Gewinner und Verlierer – und der Graben zwischen ihnen wird gar von Tag zu Tag noch tiefer. Glücklicherweise – und das ist das Gute daran – wird dieses unvorstellbare, grenzenlose Leiden nicht zuletzt infolge der Coronakrise offensichtlich einer immer breiteren Öffentlichkeit zunehmend bewusst. So hat eine unlängst in Grossbritannien durchgeführte Umfrage ergeben, dass 54 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass es nach der Coronakrise nicht mehr so weitergehen dürfte wie bisher, es bräuchte eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung und mehr Respekt gegenüber der Natur. Umfragen in Deutschland haben ein ähnliches Resultat ergeben. Darf man also, trotz all der Schreckensmeldungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vielleicht doch noch ein klein wenig Hoffnung schöpfen? 

Corona-Zahlen: Ein Monster, dem wir hilflos ausgeliefert sind?

Auf das neue Coronavirus positiv getestet wurden in der Schweiz bisher 32’498 Personen, 129 mehr gegenüber dem Vortag. Verstorben sind 1686 Personen.

(Mitteilung des BAG am 8. Juli 2020)

Zahlen, die Angst machen. Doch müsste man bei den 129 neu Infizierten nicht differenzieren? Wie viele von ihnen müssen tatsächlich hospitalisiert werden, welche haben einen harmlosen Krankheitsverlauf, wie viele zeigen überhaupt keine Symptome? Und vor allem: Wie viele wurden überhaupt getestet? Denn eines ist klar: Je mehr Personen getestet werden, umso mehr Infizierte wird man entdecken. Und was heisst schon “mehr gegenüber dem Vortag”? Bedeutet dies, dass es innerhalb eines einzigen Tages einen Sprung von 129 gegeben hat? Oder ist das bloss die Zahl der effektiv an diesem Tag positiv Getesteten? Schliesslich die Zahl der Verstorbenen: Was wirklich aufschlussreich wäre, das wäre ja nicht die Gesamtzahl der bisher Verstorbenen, sondern die Zahl der am jeweiligen Tag am Coronavirus Verstorbenen – eine Zahl, die in etwa im Messbereich einer gewöhnlichen Grippe liegen dürfte. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir nicht darum, das Ausmass der Coronakrise klein zur reden. Aber es nützt auch niemandem etwas, Zahlen und Fakten in einer Art und Weise zu präsentieren, dass wir das Coronavirus nur noch als riesiges Monster sehen, dem wir hilflos ausgeliefert sind…

 

Ein Klimarat auch für die Schweiz?

Die «Convention Citoyenne pour le Climat» wurde im vergangenen Jahr vom französischen Präsidenten Emanuel Macron einberufen. Das temporäre Gremium besteht aus 150 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Dabei wurde auf eine demografisch möglichst repräsentative Auswahl von Jungen und Alten, Männern und Frauen, urbanen und nicht-urbanen Bürgern sowie Mitgliedern verschiedener Bildungs- und Vermögensstände und Migrationshintergründe geachtet. 

Seit Oktober 2019 haben die Mitglieder des Rats an sieben Wochenenden getagt, sich Fachvorträge angehört und sich mit bestehenden Gesetzen beschäftigt und wurden dabei von Expertinnen und Experten unterstützt – eine Arbeit, wie sie sonst Politikerinnen und Politiker machen. Die erarbeiteten Massnahmen sollen den CO2-Ausstoss Frankreichs bis 2030 um 40 Prozent reduzieren. Das 500 Seiten starke Bürgergutachten enthält dazu überraschend radikale Vorschläge in den Bereichen Konsum, Verkehr, Wohnen, Produktion, Landwirtschaft und Ernährung. Die Ratsmitglieder sind beispielsweise dafür, das Tempo auf den Autobahnen auf 110 Kilometer pro Stunde zu limitieren, eine Kerosinsteuer zu erheben und den Neu- und Ausbau von Flughäfen zu verbieten. Inlandflüge soll es ab 2025 nur noch geben, wenn es auf der betreffenden Strecke keine Alternativen gibt.

Die private Nutzung von Autos soll durch Anreize reduziert werden, alle Gebäude sollen bis 2040 energetisch saniert sein. Werbung für klimaschädlichere Produkte wie SUVs oder Fleisch soll untersagt werden. In Kantinen soll nur noch vegetarisches Essen angeboten werden. Produkte, die in Frankreich verkauft werden, sollen zwingend reparierbar sein und Plastik schon ab 2023 umfassend recycelt werden. Firmen, die hohe Dividenden ausschütten, sollen künftig einen Teil davon zum Klimaschutz abtreten. Die vielleicht grössten Änderungen: Der Schutz der Umwelt soll in der französischen Verfassung verankert werden. Der Rat möchte dazu zusätzlich den Straftatbestand des «Ökozids» einführen. Zu beidem sollen in Frankreich Referenden abgehalten werden. Der Bürgerrat empfiehlt ausserdem das Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA der EU mit Fokus auf Umweltziele neu zu verhandeln. Ähnliche Ansätze für Gremien aus einer demografisch repräsentativen Gruppe zufällig ausgewählter Bürger gibt es in ganz Europa, beispielsweise in Grossbritannien, Deutschland und Österreich. Der erste Bürgerrat, der sehr weitreichende Ideen auf den Weg brachte, war eine «Citizens Assembly» in Irland.

(www.infosperber.ch)

 

Ein ermutigendes Signal, dass ökologische Anliegen in der breiten Bevölkerung offensichtlich doch viel weiter verbreitet sind, als hinlänglich angenommen. Wer greift den Ball auf und führt auch in der Schweiz einen Klimarat ein? Auf dessen Beschlüsse dürfte man mehr als gespannt sein…

Warum keine Openair-Partys?

Die Nachtclubs werden wohl nach und nach schliessen müssen. Doch die Menschen wollen Spass haben, sich vergnügen. Weshalb veranstaltet man nicht auf grossen Plätzen, zum Beispiel in Zürich auf dem Sechseläutenplatz oder in Bern auf dem Bundesplatz, grosse Openair-Partys? Dort könnten die Abstände besser eingehalten werden und die Ansteckungsgefahr wäre, weil es im Freien stattfinden würde, erst noch viel kleiner…

Die Freie Marktwirtschaft als Erfolgsmodell für alle Ewigkeit?

Der Skandal rund um den insolventen Zahlungsdienstleiter Wirecard und all die Betrügereien, die nun nach und nach ans Tageslicht gelangen, kann man nicht der freien Marktwirtschaft in die Schuhe schieben. Nein, die freie Marktwirtschaft hat die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, sie hat technischen Fortschritt ermöglicht und soziale Errungenschaften finanziert, und besonders gut hat sie dort funktioniert, wo die Wirtschaftsordnung einen gesetzlichen Rahmen bekommen hat. Die freie Marktwirtschaft ist, bei allen Fehlern, der kongeniale Begleiter der politischen Freiheit.

(Marc Beise, in: Tages-Anzeiger, 6. Juli 2020)

Marc Beise fällt es wohl nicht schwer, das Loblied auf die freie Marktwirtschaft anzustimmen. Schliesslich lebt er auf der Sonnenseite dieses Systems, das sich dadurch auszeichnet, dass es zwei extrem gegensätzliche Seiten hat: hier Reichtum und Wohlstand, dort Hunger, Armut und Elend. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft habe die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, dann ist das schlicht und einfach falsch. Während etwa eine Milliarde Menschen weltweit in relativ grossem Wohlstand leben und die Zahl der Milliardäre sogar von Jahr zu Jahr ansteigt, müssen sich rund zwei Milliarden Menschen mit einem Tagesverdienst von weniger als einem Dollar zufrieden geben und jeden Tag sterben rund zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich nur für einen kleinen Teil der Menschheit im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte verbessert. Immer noch schuften Milliarden von Menschen unter unwürdigen, sklavenartigen Bedingungen zu Hungerlöhnen, von den chinesischen Wanderarbeitern über die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und die Minenarbeiter im Kongo bis zu den Plantagenarbeitern in Honduras und Brasilien. Und erst recht was die Zukunft betrifft, weist die freie Marktwirtschaft alles andere als eine Erfolgsbilanz aus, ganz im Gegenteil: Mit dem von ihr verursachten Raubbau an Natur und Erde und dem immensen und laufend nach wachsenden Ausstoss von Schadstoffen in den Boden und in die Luft ist die freie Marktwirtschaft auf dem besten Wege, die gesamte Erde für die Menschen früher oder später unbewohnbar zu machen. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft sei die kongeniale Begleiterin der politischen Freiheit, dann unterliegt er auch in diesem Punkt einem gewaltigen Irrtum. Wie Reichtum und Wohlstand, so ist auch die Freiheit bloss ein Privileg jener, die auf der Sonnenseite des Systems leben – auf der anderen Seite sind politische Unterdrückung, Unfreiheit, Knechtschaft und Sklaverei weltweit umso erdrückender. Besonders grotesk ist die Feststellung, die freie Marktwirtschaft habe soziale Errungenschaften finanziert. Denn das Geld, mit dem die freie Marktwirtschaft staatliche Aufgaben finanziert, kommt ja letzten Endes aus der konkreten, produktiven Arbeit von Menschen: Keine Firma kann Gewinne generieren, wenn nicht die in ihr tätigen Arbeiterinnen und Arbeiter weniger verdienen als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. Und ebenfalls kann auch der beste Staat nur so viel Steuern eintreiben, als zuvor den arbeitenden Menschen abgeknöpft worden ist. Mit anderen Worten: Wenn also die freie Marktwirtschaft soziale Errungenschaften leistet, dann nur mit Geld, das sowieso den Menschen und niemand anderem gehört – hierfür braucht es keine Marktwirtschaft, man hätte das Geld von Anfang an in der Hand der Bevölkerung lassen können. Immerhin räumt Beise ein, dass die freie Marktwirtschaft vor allem dort gut funktioniere, wo sie einen gesetzlichen Rahmen bekommen habe. Heisst das nicht, dass die freie Marktwirtschaft von Natur aus eben doch nicht ganz so gut ist und deshalb eben einen gesetzlichen Rahmen brauche, um nicht zu überborden und der freien Gier nach Geld und Profit freien, ungehinderten Lauf zu lassen.

Während sich der Bundesrat auf seine alljährliche “Schulreise” begibt, sind die meisten Schulreisen für die Kinder der Volksschule abgesagt worden

Während sich der Bundesrat auf sein alljährliches “Schuelreisli” begibt, sind die Schulreisen für die Kinder der Volksschule in den meisten Kantonen abgesagt worden, und dies, obwohl sich auf einer Schulreise viel leichter ein genügend grosser Abstand zwischen den Personen einhalten lässt als in einem Schulzimmer und die Ansteckungsgefahr im Freien ohnehin viel geringer ist als im Inneren eines Gebäudes. Selbst die Schulabschlussfeiern sind vielerorts abgeblasen worden. Und auch die meisten Erst-August-Feiern sind gestrichen worden, während sich in den mittlerweile wieder geöffneten Freibädern wohl so viele Menschen dicht aneinandergedrängt tummeln, wie es an keiner noch so gut besuchten Erst-August-Feier der Fall wäre. Gleichzeitig toben sich Hunderte Nachtschwärmer in Bars und Clubs aus, ohne die geringsten Verhaltensregeln aufgrund der Coronakrise auch nur im Entferntesten einzuhalten. Wie wäre es, stattdessen Freiluftdiscos zu veranstalten, zum Beispiel als Grossevent auf dem Berner Bundesplatz? Es ist ja begreiflich, dass die Menschen ihr Vergnügen haben wollen. Nur sollte man dann alles auch mit den gleichen Ellen messen…

Damit der Kapitalismus nicht zum Ende der Geschichte wird

Der amerikanische Wirtschafts-Historiker Brad Delong befasst sich in seinem Blog mit der Frage, weshalb so viele Intellektuelle heute noch dem Marxismus nahe stehen. Er kommt zum Schluss, dass diese Leute ihr Wissen zu stark aus Büchern beziehen und es nicht mehr reflektiert an der Realität messen.

(Alois Krieger in einem Leserkommentar zum NZZ-Leitartikel über Kapitalismus und Sozialismus vom 2. Juli 2020)

 

Und immer wieder diese Unterstellung, mit der man den Kapitalismuskritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht: Sie verstünden eben, heisst es da immer wieder ganz unverblümt, nichts von der tatsächlichen Realität der Wirtschaftswelt und würden sich stattdessen in ihrem Glashaus abgeklärten, lebensfernen Denkens in ihren immer gleichen, unbelehrbaren Theorien suhlen. Dabei ist es doch gerade diese gesunde Distanz von der gegenwärtig herrschenden Wirtschaftsordnung – oder müsste man nicht eher von Wirtschaftsunordnung sprechen -, welche die Chance bietet, grundsätzliche Fragen aufzuwerfen und neue, bessere Wege zu beschreiten. Nicht die Kapitalismuskritiker sind blind gegenüber der Lebensrealität, sondern vielmehr all jene, für die der Kapitalismus trotz aller Zerstörungen, die er schon angerichtet hat und – denken wir an die Folgen des Klimawandels – noch anzurichten droht, noch immer die einzige mögliche Art des Wirtschaftens auf diesem Planeten darstellt. So wie die Befürworter dieses Kapitalismus so sehr in ihm und all seinen Widersprüchen gefangen und verstrickt sind, dass sie vor lauter Bäumen den Wald schon längst nicht mehr sehen, so sehr braucht es all jene kritischen Stimmen, die trotz aller Bäume den Wald, das Ganze, all die Widersprüche zu sehen vermögen. Den Kritikern des Kapitalismus Realitätsferne vorzuwerfen, ist allzu billig und lenkt bloss von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Wer den Blick für das Ganze nicht verlieren will, braucht nicht eine möglichst grosse Nähe, sondern einen möglichst grossen, gesunden Abstand zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Nur so besteht die Chance, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, sondern eine Epoche, die allmählich zu Ende geht, um etwas Besserem, Vernünftigerem Platz zu machen.

Sport als “Milieu des Schmerzens”: Ein Karussell, das sich immer schneller dreht…

Immer mehr ehemalige Gymnastinnen melden sich, um von missbräuchlichen Methoden leitender Trainerinnen in der Rhythmischen Gymnastik zu berichten. Es geht um Psychoterror, Magerwahn und Rücksichtslosigkeit bei Verletzungen.

(www.nzz.ch)

Wundert sich da noch jemand? Es ist ja logisch: Je länger sich die jungen Frauen international gegenseitig zu übertrumpfen suchen, umso mehr müssen sie an die Grenze des gerade noch Aushaltbaren gehen, oder besser noch über diese Grenze hinaus. Das ist das Wesen des Konkurrenzprinzips, das die NZZ in einem anderen Artikel kürzlich auch als “Milieu der Schmerzen” bezeichnete. Und das ist ja beileibe nicht nur in der Rhythmischen Sportgymnastik so. Auch im Tennis, wo jeder Schlag, den der eine Spieler bietet, von seinem Gegenspieler mit einem umso härteren Gegenschlag gekontert werden muss, bis jeder Spieler, der überhaupt noch mit der Spitze mithalten will, am Ende, obwohl er einmal kerngesund gewesen war, körperlich zerbrochen vom Feld humpelt. Und auch im Skirennsport, wo jeder Fahrer, der im Höllentempo zu Tale rast, seine Konkurrenten dazu zwingt, noch ein paar Tausendstel Sekunden höllischer sein Leben zu riskieren, bis dann kein Einziger mehr übrig bleibt, der im Verlaufe seiner Karriere als Spitzensportler nicht mindestens drei Kreuzbandrisse, zwei Schlüsselbeinbrüche und ein Schädelhirntrauma aufzuweisen hätte. Doch das ist noch längst nicht alles. Das Konkurrenzprinzip dominiert nicht nur die Welt des Sports, sondern auch die Welt der Wirtschaft, des Arbeitslebens, der ganzen Gesellschaft: Grösser, schneller, billiger, stärker zu sein als der andere, zu welchen Kosten auch immer, das ist die Devise. Nicht nur in der Schule, wo der Konkurrenzkampf um die guten Noten dazu führt, dass immer mehr, die mit der Spitze nicht mitzuhalten vermögen, auf der Strecke bleiben. Auch in der Arbeitswelt, wo es einer immer grösseren Anstrengung bedarf, um mit den Besten und Tüchtigsten mithalten zu können. Und ebenso in der Konsum- und Warenwelt, wo alle stets nur dem billigsten und schnellsten Produkt hinterherrennen und auf diese Weise dazu beitragen, dass ausgerechnet jene Firmen, welche für  die schlechtesten Produktions- und Arbeitsbedingungen bekannt sind, die höchsten Gewinne einfahren. Höchste Zeit, das Konkurrenzprinzip ganz grundsätzlich zu hinterfragen und einer breiten gesellschaftlichen Debatte Raum zu geben, in deren Mitte die Frage stehen müsste, wie denn eine Welt, die nicht vom Konkurrenzkampf, sondern vom Miteinander und von der Kooperation geprägt wäre, aussehen könnte.