Archiv des Autors: Peter Sutter

Eine Welt ohne Waffen und ohne Armeen: Längst fälliger Sprung in ein neues Zeitalter

Angesichts der Sorgen vor einem neuen atomaren Wettrüsten hat die Stadt Hiroshima der Opfer des Atombombenabwurfs vor 75 Jahren gedacht. Zugleich rief der Bürgermeister von Hiroshima, Kazumi Matsui, die Welt auf, “egozentrischen Nationalismus abzulehnen”. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres warnte in einer Videobotschaft vor einem erneuten atomaren Wettrüsten.

(Tages-Anzeiger, 7. August 2020)

Es wäre der längst fällige Sprung in ein neues Zeitalter. Nicht bloss eine Welt ohne Atomwaffen. Sondern eine Welt ohne Waffen jeglicher Art. Noch nie haben Waffen zur Lösung eines Konflikts zwischen Ländern oder Volksgruppen etwas Positives beigetragen. Immer haben sie nur zusätzliches Leiden und zusätzliche Zerstörungen verursacht. Ganz abgesehen von den Unsummen, die für militärische Rüstung verschleudert werden. Es gab, nach dem Zweiten Weltkrieg, weltweit pazifistische Strömungen. Es gab, mit der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, die Forderung nach einer Abschaffung der Schweizer Armee, der immerhin fast zwei Fünftel der Bevölkerung zugestimmt haben. Wo sind diese Visionen verschwunden? Weshalb ist das alles eingeschlafen? Haben wir uns so sehr an das Absurde gewöhnt, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, es könnte alles auch ganz anders sein? Ist nicht immer wieder von “Fortschritten” in der Menschheitsgeschichte die Rede, Fortschritte bei der Digitalisierung, Fortschritte in der Medizin, Fortschritte in der Herstellung von technischen Geräten, Werkzeugen und Präzisionsinstrumenten? Weshalb fällt es uns so schwer, nun endlich auch bei der Lösung internationaler und territorialer Konflikte so grosse Fortschritte zu erzielen, dass Waffen und Armeen eines Tages überflüssig geworden sein werden?

Klimaplan der Schweizer Grünen: unrealistisch, wirtschaftsfeindlich und zu teuer?

Den Schweizer Grünen ist das Tempo im Klimaschutz viel zu tief. Die Zielsetzung des Bundesrates, bis 2050 “klimaneutral” zu sein, reicht ihnen nicht. Dieses Ziel soll bis 2030 erreicht sein, indem die Emissionen im Inland um 50 Prozent gesenkt und im Ausland um dieselbe Menge reduziert werden sollen. Und dann soll es in gleichem Tempo weitergehen: Ab 2040 soll das Land sogar “klimapositiv” werden. Dann sollen mit technischer und natürlicher Hilfe der Atmosphäre zusätzlich Treibhausgase entzogen werden, so dass die Schweiz unter dem Strich eine positive CO2-Bilanz ausweisen kann. Die Zwischenetappen, um dieses Ziel zu erreichen, sind ambitioniert. So sollen ab 2030 nur noch neue Fahrzeuge zugelassen werden, die mit Strom oder Wasserstoff fahren. Gebäude dürfen in zehn Jahren kein CO2 durch Heizen mehr emittieren. Die Emissionen, die wir mit dem Import ausländischer Waren verursachen, sollen durch Mindeststandards für importierte Produkte gesenkt werden. So sieht der Klimaplan aus, den die Schweizer Grünen gestern den Medien vorgestellt haben.

(Tages-Anzeiger, 6. August 2020)

Doch kaum sind die Grünen mit ihrem neuen Aktionsplan an die Öffentlichkeit getreten, da erscheinen schon, wen wunderts, bürgerliche Politiker auf dem Plan und verwerfen die Pläne der Grünen in Bausch und Bogen: Sie seien unrealistisch, viel zu teuer und würden der Wirtschaft schaden. Doch wer hindert uns eigentlich, das Heft selber in die Hand zu nehmen? Jeder Einzelne, jede Einzelne kann ab hier und heute, ohne nennenswerte Einbusse an der Lebensqualität, auf das private Autofahren verzichten, ebenso auf das Fliegen zu reinen Vergnügungszwecken, auf den Verzehr von Fleisch, auf das unnötige Heizen sämtlicher Räume der Wohnung oder des Hauses, auf den Konsum von Billigwaren und Konsumgütern, die man nicht wirklich braucht, die unter ökologisch und sozial bedenklichen Bedingungen produziert, über tausende von Kilometern hinweg transportiert werden und oft schon nach kürzester Zeit im Müll landen. Müssen wir wirklich darauf warten, bis Gesetze uns dazu zwingen, unser Verhalten zu ändern? Weshalb genügen die Vernunft und der gesunde Menschenverstand nicht, um aus Eigeninitiative und Selbstverantwortung so zu handeln und zu leben, dass ein langfristiges Überleben der Menschheit auf diesem Planeten möglich ist? Man kann sich über “gefährliche” oder “schädliche” Gesetze und Massnahmen noch so sehr auslassen und sich darüber ärgern. Das beste Mittel dagegen ist, so zu leben und so zu handeln, dass sie gar nicht mehr nötig sind.

Libanon: 30 Milliardäre und 2000 Millionäre, während ihr ganzes Heimatland zusammenbricht

Im Libanon gibt es über 2000 Millionäre und angeblich über 30 Milliardäre. Würden sie nur einen Drittel ihres gewaltigen Reichtums abgeben, könnte das Land saniert werden. Stattdessen hält man am System der systematischen und ausufernden Bereicherung fest und nimmt dafür sogar den Untergang des Heimatlandes billigend in Kauf.

(W&O, 6. August 2020)

Dass es im Libanon so viele Reiche gibt, ist kein Zufall. Das ist auch in Russland nicht anders, auch in Indien, in Brasilien, in der Schweiz, einfach gesagt: in jedem kapitalistischen Land. Denn der Kapitalismus ist jenes politische und wirtschaftliche System, welches eine permanente Umverteilung von unten nach oben legitimiert. Unten all jene, die für ihre Arbeit weniger Geld bekommen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. Oben all jene, die bloss deshalb immer reicher werden, weil sie bereits zu den Reichen gehören und permanent von jenem Mehrwert profitieren, welcher bei den Ärmeren und Armen abgeschöpft wird. Somit ist das Geld der Reichen nichts anderes als gesellschaftlich gestohlenes Geld. Dass dies in guten Zeiten der Fall ist, ist schon Skandal genug. Dass aber sogar in schlechten Zeiten jene, die sich in den guten Zeiten auf Kosten anderer bereichert haben, nicht einmal daran denken, den Bestohlenes etwas von dem Raubgut zurückzugeben, grenzt an unglaublichen Egoismus und unglaubliche Menschenverachtung. Irgendwelche Hilfsaktionen und humanitäre Spenden für das so entsetzlich geplagte libanesische Volk müssen, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, reines Flickwerk bleiben, so lange nicht das kapitalistische System mit all seinen Auswüchsen individueller Bereicherung auf Kosten von Armut und Elend von Grund auf überwunden wird. Nicht nur im Libanon, sondern auch weltweit.

Dringend nötige Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens: Damit niemand mehr am Abend an einem leeren Esstisch sitzen muss..

Nicht nur in Brasilien und Mexiko, sondern auch in Bolivien, Peru, Argentinien und Kolumbien wütet das Coronavirus wie nie zuvor. Viele Länder hatten zwar früh reagiert und entschiedene Vorsichtsmassnahmen getroffen. Aber alte Probleme der Region sind in der Pandemie zur tödlichen Bedrohung geworden. So haben Millionen Menschen in Lateinamerika keinen festen Job oder Arbeitsvertrag. Sie können sich eine Quarantäne nicht leisten, denn bleiben sie zuhause, verdienen sie nichts – und abends bleibt der Esstisch leer.

(Tages-Anzeiger, 4. August 2020)

Sich eine Quarantäne nicht leisten können, heisst nichts anderes als: es sich nicht leisten können zu überleben, sondern gezwungen sein, Lebensbedingungen zu akzeptieren, die möglicherweise zu einer schweren Erkrankung oder gar zum Tod führen können. Vogel friss oder stirb – nach dieser Devise sahen sich schon vor der Coronaepidemie weltweit Milliarden Menschen Tag für Tag vor die Wahl gestellt, entweder einer Arbeit nachzugehen, und sei sie noch anstrengend, gefährlich oder entwürdigend, oder aber keine Arbeit zu haben und am Abend an einem leeren Esstisch zu sitzen. Eigentlich eine direkte Fortsetzung der früheren Sklavenarbeit, denn diese Milliarden von Menschen hätten ja niemals freiwillig diese unmenschliche und entwürdigende Arbeit verrichtet, wenn sie nicht die einzige Alternative zu Armut, Hunger und Elend gewesen wäre. Höchste Zeit, dies zu ändern. Hierfür würde sich wohl nichts besser eignen als die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, um Leben und Arbeit zu entkoppeln und jedem Menschen, unabhängig davon, ob er einer Erwerbsarbeit nachgeht oder nicht, ein Leben in Anstand und Würde zu garantieren, damit niemand mehr, aber wirklich niemand mehr am Abend an einem leeren Esstisch sitzen müsste. Den Gegnern eines solchen Modells bleibt meist, nachdem alle anderen Einwände entkräftet werden konnten, nur noch das Argument, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bewohner und Bewohnerinnen dieses Planeten wäre nicht finanzierbar. Doch dieses Argument ist leicht zu entkräften: Führen wir uns nur mal vor Augen, was für astronomische Geldsummen an den Börsen und Aktienmärkten gehandelt und in Riesenblasen rund um den Globus gejagt werden. Schauen wir uns an, wie viel Geld weltweit für militärische Rüstung ausgegeben wird. Sehen wir uns die Ausgaben für die Raumfahrt an. Vergegenwärtigen wir uns, wie viel Geld in einer unendlichen Zahl von Luxusprodukten steckt, die sich ausschliesslich das reichste Fünftel der Menschheit leisten kann. Rechnen wir aus, wie viele Menschen weltweit um ein Vielfaches mehr verdienen, als für ein gutes Leben notwendig wäre. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnten wir uns locker leisten, und dies weltweit. Was für ein Segen wäre das für die Menschheit! Stellen wir uns vor, jeder Mensch hätte jederzeit die freie Wahl, ob er einer Erwerbsarbeit nachgehen wollte oder nicht. Niemand wäre mehr gezwungen, einer Arbeit unter sklavenähnlichen Bedingungen nachzugehen und sich gegen seinen Willen und alle Menschlichkeit ausbeuten zu lassen. Könnten wir aus der gegenwärtigen Coronakrise mit all ihren verheerenden Auswirkungen etwas Besseres lernen als dies?

Ein Corona-Todesfall – 26 Todesfälle durch übermässigen Zigarettenkonsum

220 neu mit Corona Infizierte in der Schweiz innerhalb von 24 Stunden – was kommt noch alles auf uns zu? Und doch: Von diesen 220 Personen mussten gerade mal acht hospitalisiert werden. Und innerhalb der letzten 24 Stunden ist gerade mal eine einzige Person am Coronavirus verstorben. Im gleichen Zeitraum starben rund 26 Menschen an der Folge übermässigen Zigarettenkonsums. Vielleicht ist sogar eine dieser 26 Personen das mutmassliche Covid-19-Opfer. Keinesfalls darf und soll man das Coronavirus verharmlosen. Und selbstverständlich sollen alle Regeln, die zu einer Eindämmung des Virus beitragen können, unter allen Umständen eingehalten werden. Dennoch sollte man bei alledem nicht jegliches Augenmass und jeglichen gesunden Menschenverstand verlieren.

Zunahme von Stress und Druck: Die Arbeitswelt als Rennbahn sich gegenseitig konkurrenzierender Unternehmen

Trotz weniger Stunden pro Woche und mehr Ferien steigt in der Schweiz die Zahl der Personen, die den Arbeitsplatz als Belastung empfinden. Jeder Fünfte gab 2017 bei der letzten Gesundheitsbefragung an, “immer oder meistens” im Job Stress zu erleben, auf weitere 45 Prozent trifft das “manchmal” zu. Beide Anteile haben gegenüber 2012 zugenommen. Ein Grund für den Anstieg ist der Zeitdruck, dem viele regelmässig ausgesetzt sind. Die Hälfte gibt an, mindestens drei Viertel der Arbeitszeit in hohem Tempo oder unter Termindruck arbeiten zu müssen. Als positiv wird hingegen von einer bedeutenden Mehrheit empfunden, dass sie von der Hilfe und Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit profitieren könnten: 2017 gaben mehr als 71 Prozent an, “meistens” oder “immer” darauf zählen zu können.

(Tages-Anzeiger, 30. Juli 2020)

Als ginge ein tiefer Graben durch die Arbeitswelt: Der Mitarbeiter im eigenen Betrieb ist mein Freund und Helfer, die Mitarbeiter aller anderen Firmen sind meine Feinde. Denn die gesamte Arbeitswelt gleicht einer riesigen Rennbahn, auf der sich jede Firma in einem ständigen Wettlauf mit allen anderen Firmen befindet, in einem permanenten gegenseitigen Überlebenskampf, aus dem nur die Besten und Schnellsten als Sieger hervorgehen und all jene, die das Tempo nicht mitzuhalten vermögen, früher oder später auf der Strecke bleiben. Dabei nehmen, genau gleich wie beim Hochleistungssport, der Druck und das Tempo zwangsläufig immer mehr zu, denn jeder Vorsprung, den sich eine einzelne Firma herausgeholt hat, zwingt alle anderen dazu, ihr eigenes Tempo noch weiter zu verschärfen, um diesen Vorsprung wieder einzuholen und nicht abgehängt zu werden. Dies erklärt die zunehmende Zahl von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die ihren Arbeitsplatz als Belastung erleben und unter häufigem oder permanentem Stress leiden. Ewig kann das nicht so weitergehen, sonst gelangen wir früher oder später an den Punkt, an dem die Menschen physisch oder psychisch schlicht und einfach nicht mehr in der Lage sein werden, die von ihnen geforderte Leistung zu erbringen – etwas, was wir heute im Spitzensport mit seiner zunehmenden Zahl an Verletzungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen bereits überaus drastisch erleben. Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der das Verhältnis zwischen den Firmen nicht von einem gegenseitigen Wett- und Verdrängungskampf bestimmt ist, sondern von gegenseitiger Unterstützung und Kooperation. Damit nicht nur der Arbeitskollege im eigenen Betrieb mein Freund und Helfer ist, sondern auch der Mitarbeiter und die Mitarbeiterin aller anderen Firmen und Unternehmen, und dies nicht nur innerhalb des gleichen Landes, sondern weltweit.

Vom Einfamilienhaus mit Swimmingpool bis zum fensterlosen Bretterverschlag in einem indischen Slum: In was für einer Welt leben wir eigentlich?

“Bleiben Sie zuhause!” – das war die Devise während des Lockdowns und könnte sie schon bald wieder sein, wenn die Fallzahlen weiter so ansteigen wie in den letzten Tagen. Doch was heisst eigentlich “Zuhause”? Für nicht wenige ist das ein grossräumiges Einfamilienhaus mit je einem Zimmer für jedes Kind, mit einem Garten, Spielgeräten, einer Werkstatt und vielleicht sogar einem eigenen Swimmingpool. Für nicht wenige andere ist es bloss eine enge Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, wo sich mehrere Kinder ein Zimmer teilen müssen, wo es keinen Garten gibt, keine Werkstatt und schon gar nicht einen Swimmingpool und vielleicht nicht einmal einen Balkon. Und für wieder Millionen andere in den Slums von Rio oder Mumbai ist es vielleicht bloss ein fensterloser Bretterverschlag, ohne Wasser, ohne Toilette, ohne Elektrizität. Selten sind die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich so drastisch zutage getreten wie in der Coronazeit. Als glitte ein überstarker Scheinwerfer über eine Landschaft voller Gräben, die zuvor auch schon da gewesen waren, deren Tiefe man aber noch nie so deutlich gesehen hatte. Dieses Bild, diese Gräben, diese unsägliche Ungerechtigkeit dürfen wir nie mehr vergessen, auch dann nicht, wenn das Coronavirus eines Tages besiegt werden kann und wir wieder zur “Normalität” zurückkehren werden. Diese “Normalität” ist nämlich alles andere als normal. Normal wäre, wenn alle Güter, die Erfüllung aller Bedürfnisse, die Lebensqualität und damit auch die Art und Weise des Wohnens gerecht auf alle Menschen, egal ob hierzulande oder weltweit, gleichmässig, gleichberechtigt und gerecht verteilt wären. Um dies zu verwirklichen, brauchen wir einen weltweiten Einheitslohn, anders geht das nicht. Und dann würden sich nicht mehr die einen in ihren Swimmingpools vergnügen und die anderen in einem fensterlosen Brettervorschlag dahinvegetieren, sondern jeder Mensch, ob Schwede oder Pakistani, ob Arzt oder Lastenträger, ob Hochschuldozentin oder Krankenpflegerin, lebte mit ihrer Familie in einem kleinen, schmucken Reihenhäuschen mit keinem Luxus, aber mit allem Lebensnotwendigen und vielleicht, vielleicht sogar einem winzigen Garten. Denn so wie Wasser, Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung und Bildung gehört auch das Wohnen zu den Grundrechten des Menschen und es gibt keinen einzigen stichhaltigen Grund dafür, dass die einen mehr davon haben sollen als die anderen.

Wie sich öffentliches Geld in privates Gold verwandelt…

Zur Entwicklung eines Corona-Impfstoffs haben die deutsche Biotech-Firma BioNTech und der US-Pharmariese Pfizer staatliche Subventionen in der Höhe von 1,95 Milliarden Dollar erhalten. Angesichts der Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch sind nicht nur bei BioNTech und Pfizer, sondern auch bei einem weiteren Dutzend Firmen die Aktienpreise derart in die Höhe geschnellt, dass Aktionäre bereits insgesamt eine Milliarde Dollar Gewinn einfahren konnten. So etwa erhielten Management und Belegschaft der Firma Novavax Optionen im Wert von über 100 Millionen Dollar. Ein weiteres Beispiel ist die Firma Vaxart, deren Aktie um bis zu 3600 Prozent kletterte.

(Tages-Anzeiger, 29. Juli 2020)

Und dies alles, während sich weiterhin täglich Abertausende Menschen mit dem Coronavirus infizieren und viele von ihnen daran sterben. Verkehrte Welt. Selbst in den Zeiten grössten Elends gibt es immer noch genug Menschen, die aus dem Unglück anderer Gewinn schlagen. So eben funktioniert der Kapitalismus…

System Change – Plädoyer für ein von Grund auf neues Wirtschaftsmodell

Weite Teile der Klimabewegung haben erkannt, dass wir, um die Klimaerwärmung zu stoppen und die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu sichern, nicht darum herum kommen, unser Wirtschaftssystem von Grund auf zu erneuern. Die Forderung nach einem neuen Wirtschaftssystem gipfelt im Slogan “System Change – Not Climate Change”. Ihm liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Grundprinzipien des kapitalistischen Wirtschaftssystems unvereinbar sind mit der Notwendigkeit eines nachhaltigen Umgangs mit unseren natürlichen Ressourcen, mit der Natur, mit der Erde, mit dem Klima. Diese kapitalistischen Grundprinzipien sind erstens das Dogma eines immerwährenden und endlos steigenden Wirtschaftswachstums, das immer mehr jener Ressourcen verbraucht, die dann zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen. Zweitens die unaufhörliche Vermehrung von Reichtum und Luxus bei einer Minderheit der Weltbevölkerung, die sich dadurch nicht nur schrankenlose Mobilität – mit Flugzeug und Automobil – leisten kann, sondern auch den Konsum einer endlosen Menge an Luxusgütern, was wiederum zu einem stets wachsenden Verbrauch natürlicher Ressourcen führt und zu einer unabsehbaren Belastung der Natur mit Müll und Abfallprodukten aller Art. Drittens das Konkurrenzprinzip, dass jede Firma im Kampf ums eigene Überleben gezwungen ist, möglichst viel, möglichst schnell und möglichst billig zu produzieren – was wiederum dazu führt, dass viel mehr Güter hergestellt werden, als eigentlich notwendig sind, und erst noch zu katastrophalen sozialen und ökologischen Bedingungen. Eigentlich der Gründe genug, um uns so schnell wie möglich vom Kapitalismus zu verabschieden. Doch was im Moment gänzlich fehlt, ist eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus, die Vision eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das sich nicht nur in Nuancen, sondern von Grund auf vom Kapitalismus unterscheidet. Allzu oft wird das Nachdenken und Diskutieren über solche Visionen – ohne die wir früher oder später schlicht und einfach nicht herumkommen werden – schon im Keim erstickt. Wer den Kapitalismus überwinden will, dem wird nur allzu bald der Vorwurf entgegengeschleudert, er wolle den Sozialismus oder gar den Kommunismus wieder einführen oder aber, auch dieser Vorwurf ist immer wieder zu hören, er wolle die Menschheit in die Steinzeit oder in die Zeit der Neandertaler zurück katapultieren. Dabei geht es doch nicht um unsere Vergangenheit und um all die Wirtschaftsmodelle, die gescheitert sind. Es geht um unsere Zukunft. Wenn wir alles auf die Frage Kapitalismus oder Kommunismus bzw. Sozialismus reduzieren, dann versperren wir uns den Blick darauf, dass es jenseits aller Modelle, die bereits gescheitert sind, doch immer noch die Freiheit geben muss, etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu erfinden. Wie man dieses Neue bezeichnen möchte, ist beiläufig. Das Wesentliche liegt darin, dass dieses neue, zu erfindende Wirtschaftssystem ein gutes Leben für alle Menschen möglich machen muss, unabhängig davon, wo sie geboren wurden. Und dieses gute Leben sollen auch alle zukünftigen Generationen in Anspruch nehmen dürfen. Im Gegensatz zum Kapitalismus mit seinen unendlichen Verästelungen von Ausbeutung und Zerstörung wäre dies doch eigentlich ein sehr einfaches Programm. Was hält uns davon ab, es endlich, Schritt für Schritt, in die Tat umzusetzen.

Eigentlich müssten sich die Polizei und die Jugendlichen nicht gegenseitig bekämpfen, sondern sich solidarisieren im Kampf für eine bessere Welt

Dieses Mal waren es noch einmal mehr. Randalierten in Stuttgart Ende Juni noch rund 500 Jugendliche, waren es an diesem Wochenende in Frankfurt bis zu 800 junge Leute, die sich gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Auf dem Opernplatz mitten in der hessischen Finanzmetropole spielten sich in der Nacht zum Sonntag wüste Szenen ab. Zwei Gruppen gerieten aneinander, ein Jugendlicher ging dabei zu Boden. Als die Polizei einschritt und dem blutenden Jugendlichen helfen wollte, richtete sich die Gewalt plötzlich gegen sie. Die jungen Leute attackierten die Beamten, warfen Flaschen und Gegenstände. Der Polizei gelang es erst mit einem Grossaufgebot, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Es sei “sehr schlimm, was sich heute Nacht entladen hat”, sagte Frankfurts Polizeipräsident Gerhard Bereswill. Besonders schmerzlich sei, “dass die gesamte Menschenmenge johlt und Beifall klatscht, wenn unsere Kolleginnen und Kollegen von Flaschen getroffen werden”.

(W&O, 21. Juli 2020)

Die randalierenden Jugendlichen sind nicht zu beneiden. Die meisten von ihnen mussten ihre Heimat aus existenziellen Gründen veranlassen, voller Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa – doch auch diese Hoffnung hat sich für die meisten mittlerweile zerschlagen und zum zweiten Mal lösen sich alle ihre Zukunftsträume in Nichts auf. Doch nun die Polizei anzuprangern, schlecht zu machen oder gar Hass und Gewalt gegen sie auszuüben, ist der falsche Weg. Das Böse ist nicht die Polizei. Das Böse, wenn überhaupt, ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. Ein Wirtschaftssystem, das dazu führt, dass sich in einzelnen Regionen und Ländern des Nordens Reichtum und Luxus in nie dagewesenem Ausmass anhäufen, während ganze Länder und halbe Kontinente in bitterste Armut getrieben werden und die Menschen, wollen sie ein besseres Leben, gar keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Heimat zu verlassen. Eigentlich müssten sich die Polizei und die ausländischen Jugendlichen nicht gegenseitig bekämpfen, sondern sich solidarisieren im Kampf für eine bessere, gerechtere Welt, zusammen mit möglichst vielen anderen Menschen, die ebenfalls auf die eine oder andere Weise unter der Ausbeutung, der Verelendung und den Zerstörungen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem Tag für Tag anrichtet, leiden. Dieser Weg aber muss ein Weg ohne Hass, Gewalt und gegenseitige Zerstörung sein, denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”