Archiv des Autors: Peter Sutter

Fragwürdige Vereinfachung: Als gäbe es zwischen Jungsozialisten und Putinanhängern, zwischen Klimabewegten und Reichsbürgern keinen wesentlichen Unterschied

Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst einer sich anbahnenden Revolution – oder zumindest die Sehnsucht danach. Nebst den Bewegungen gegen den Klimawandel, gegen Rassismus und gegen die Coronamassnahmen melden sich auch Anhänger von Marxismus und Kommunismus zu Wort. So schreibt die Schriftstellerin Sibylle Berg in ihrer “Spiegel”-Kolumne vom “wunderbaren Traum”, dass sich “Proletarier aller Länder” vereinigen. Und die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen fordert in einem Diskussionsbeitrag zur Zukunft des Service public einen Paradigmenwechsel, weg von der “Kapitalverwertungslogik” hin zum Gemeinwohl aller Menschen. Der Denkfehler solcher Forderungen liegt darin, dass die ersehnte Lösung durch Marxismus sich auch nicht so sehr von den Lösungen von Reichsbürgern, Qanon- und Putinanhängern unterscheidet. Mit ihrer Forderung nach totaler Revolution reden sie letztlich einem Totalitarismus das Wort. Auch wenn diese Revolution einen vermeintlich guten Zweck verfolgt, nämlich eine gerechtere Welt zu schaffen.

(Michèle Binswanger, Tages-Anzeiger, 2. September 2020)

So einfach also kann man es sich machen! Man wirft unterschiedlichste gesellschaftliche und politische Strömungen und Bewegungen von den Reichsbürgern über die Klimabewegten bis zu den Marxisten unbesehen in den gleichen Topf und spricht ihnen somit gleich in globo sämtliche Legitimation ab. Wäre es, ganz im Gegenteil, nicht die Aufgabe eines seriösen Journalismus, die unterschiedlichen Stossrichtungen der einzelnen Bewegungen aufzudecken und sie sorgfältig gegenseitig voneinander abzugrenzen? Denn es kann ja wohl nicht sein, dass man zwischen den Sympathisanten des russischen Präsidenten Putin und der Klimajugend oder zwischen rechtsradikalen Anhängern des Nationalsozialismus und den Demonstranten gegen Rassismus und Polizeigewalt keinen erkennbaren Unterschied wahrzunehmen vermag. Wenn sich die Klimajugend dafür einsetzt, dass auch zukünftige Generationen auf dieser Erde eine Überlebenschance haben, wenn die Anhänger der “Black Lives Matter”-Bewegung für eine Welt kämpfen, in der niemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft diskriminiert werden darf, und wenn die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen politische Veränderungen hin zu einem “Gemeinwohl aller Menschen” fordert, dann hat dies alles wohl nicht im Geringsten mit Totalitarismus zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit der Vision einer Zukunft, die von jeglichem Totalitarismus und jeglicher Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen befreit ist. Und damit sind wir beim springenden Punkt. Etwas Zentrales nämlich hat Michèle Binswanger in ihrem Artikel vergessen: Dass nämlich der Kapitalismus selber höchst totalitäre Züge trägt. Man wird nun sogleich einwenden, der Kapitalismus hätte der Menschheit doch nie da gewesenen technischen Fortschritt, Wohlstand und individuelle Freiheit beschert. Das stimmt, aber es stimmt eben nur für eine Minderheit der Weltbevölkerung. Während tatsächlich etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung mehr oder weniger grossen Wohlstand geniesst, lebt ein anderer Fünftel in bitterster Armut und sterben jeden Tag weltweit zehntausend Kinder, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Aber wir müssen nicht einmal so weit gehen. Auch hierzulande, im reichsten Land der Welt, sieht es nicht viel anders aus: Während die reichsten 300 Schweizer und Schweizerinnen über ein Gesamtvermögen von über 700 Milliarden Franken verfügen, können rund 500’000 Menschen von ihrem Lohn, den sie bei voller Erwerbstätigkeit verdienen, nicht einmal anständig leben. Bei allen Errungenschaften, die dank dem Kapitalismus möglich geworden sind, etwas vom Grundlegendsten hat er nicht erreicht: soziale Gerechtigkeit. Zugespitzt formuliert ist der Kapitalismus somit durchaus ein totalitäres System, ein System der institutionalisierten sozialen Ungerechtigkeit, das sich nur deshalb so lange an der Macht halten konnte, weil jene, die davon profitieren, zugleich auch jene sind, welche sämtliche politische Machtpositionen einnehmen und alles daran setzen, dass sich an den herrschenden Machtverhältnissen nur ja nicht grundlegend etwas ändert. So gesehen sind die Forderungen von Sibylle Berg, Ronja Jansen und anderen, die man gerne in die Schublade des Marxismus wirft, alles andere als totalitär: Im Gegenteil, sie stellen alles Totalitäre in Frage und öffnen auf hoffnungsvolle Weise den Blick in eine Zukunft, in der alle Menschen über alle Grenzen hinweg frei, gleichberechtigt und ohne gegenseitige Unterdrückung leben können.

Klimaerwärmung: Eine gut investierte Viertelstunde pro Tag…

“Ewiger Frost” nennen es die Jakuten im östlichen Sibirien, sie haben ihr Leben darauf eingerichtet. Doch wenn der Boden, als Folge der Klimaerwärmung, zu weit in die Tiefe hinein taut, dann gerät hier alles aus dem Gleichgewicht. Es beginnt unter der Oberfläche. Dort zieht sich das Eis durch den Boden, wie Venen. Wo es taut und flüssig wird, sackt die Erde dann metertief ein. Ein Netz aus Gräben, dazwischen bleiben Hügel. Wenn sich dann Wasser in den Gräben sammelt, taut der Boden noch schneller, irgendwann verschwinden selbst die Hügel in einem See. Das geschmolzene Eis hinterlässt riesige Hohlräume. Manchmal fallen hier sogar Kühe in Löcher hinein, ganze Dörfer rutschen weg, Schienen verbiegen sich, Minen werden geflutet, Felder verderben. Dazu kommt, dass infolge immer längerer und trockenerer Sommer auch die Zahl der Waldbrände jährlich zunimmt.

(Tages-Anzeiger, 29. August 2020)

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Artikel im heutigen “Tages-Anzeiger” über die Auswirkungen der Klimaerwärmung im Nordosten Sibiriens. Die Lektüre des ganzen Artikels nimmt eine gute Viertelstunde in Anspruch. Ich würde eine Wette eingehen, dass alle, welche diesen Artikel aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen haben, nicht mehr einfach so sang- und klanglos zur Tagesordnung übergehen könnten, ausser, sie würden es schaffen, das Gelesene sogleich wieder zu verdrängen oder zu vergessen oder sich so schnell wie möglich in eine andere Aktivität zu stürzen. Würde aber dennoch etwas davon an ihnen hängenbleiben und würden sie vielleicht in den folgenden Tagen immer wieder ähnliche Artikel lesen, dann müssten sie, wenn sie nicht gänzlich unempfindlich wären, sich wohl früher oder später über den Termin der nächsten Klimademonstration erkundigen, um sich daran zu beteiligen. Das Problem ist nur: Wer liest heute noch Artikel, deren Lektüre eine Viertelstunde in Anspruch nimmt? Viel lieber zappen wir doch von Meldung zu Meldung am Fernsehen oder im Internet und verscheuchen jeden Anflug eines tiefergehenden Gedankens sofort wieder durch den nächsten. Seltsam, für das Training im Fitnessclub, für die Sauna, für das Joggen oder für die Yogastunde reservieren wir uns gut und gerne noch so viel Zeit, in der dann alles andere keinen Platz mehr hat und wir in unser Innerstes abtauchen. Wie wäre es, wenn wir uns täglich auch die gebührende Zeit nähmen, um solche Berichte wie jenen über die Jakuten im östlichen Sibirien zu lesen? Das mag im Augenblick schmerzvoller und unangenehmer sein, letztlich aber umso heilvoller, weil es zu einer Haltung und zu einem Engagement führen kann, das weit über jenen persönlichen “Seelenfrieden” hinausgeht, den uns das Joggen oder eine Yogastunde bescheren.

Bettelnde Menschen in Basel und anderswo: Sie klopfen an unsere Türen und unser schlechtes Gewissen

Bettelnde Männer, Frauen und Kinder aus Rumänien und Bulgarien mitten in einem der reichsten Länder der Welt. Doch dass die Reichen reich sind und die Armen arm, das ist kein Zufall. Man nennt es Kapitalismus. Aber eigentlich ist es ein immenser Raubbau, ein unermesslicher Diebstahl. Wenn die Schweiz als eines der rohstoffärmsten Länder der Welt dennoch eines der reichsten Länder der Welt ist, dann ist solcher Reichtum nur dadurch möglich, dass an anderen Orten und in anderen Ländern der Welt umso grössere Armut herrscht. Der Kuchen wird nicht einfach grösser, indem sich jeder auf Kosten der anderen zu bereichern versucht. Wer sich ein grösseres Stück abschneidet, als ihm zusteht, ist dafür verantwortlich, dass für die anderen nur noch umso kleinere Stücke übrig bleiben. Und so versuchen sich all die Flüchtlinge und all die Bettler, die an unsere Türen klopfen, nichts anderes, als sich ein kleines Stück von dem, was wir ihnen zuvor gestohlen haben, wieder zurückzuholen. Die Empörung derer, die sich davon bedroht fühlen, ist nur zu leicht erklärbar. Es ist letztlich nichts anderes als ihr schlechtes Gewissen. Weder das “Problem” mit den Flüchtlingen, noch das “Problem” mit den Bettlern werden wir lösen können, indem wir es zu verbieten, zu verdrängen oder unsichtbar zu machen versuchen. Lösen können wir es nur, wenn wir von der Konkurrenzwirtschaft, in der jeder den anderen auszustechen und zu übertrumpfen versucht, wegkommen hin zu einer am Gemeinwohl und an gerechter Teilhabe orientierten Form von Wirtschaft, in welcher der ganze Kuchen gleichmässig auf alle verteilt ist. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Das Coronavirus: die Diskrepanz zwischen gefühlter Angst und tatsächlichem Risiko

“Im Moment sind wir in der Situation, dass die meisten Diagnostizierten keine oder nur geringfügige Symptome haben. Es bringt daher nichts, nur auf die Zahlen der Infizierten zu starren und bei steigenden Zahlen in Panik zu verfallen. Gefährlich ist es nur, wenn man wirklich krank wird. Entscheidend ist nicht die Anzahl Infizierter, sondern die Anzahl der Hospitalisationen und Todesfälle, und diese sind überaus gering. Das Coronavirus ist zwar gefährlich, wir dürfen es aber auch nicht überdramatisieren. Das Wichtigste ist, dass wir jene schützen, die einen schweren Verlauf haben könnten. Da wir damit rechnen müssen, dass im schlimmsten Fall kein Impfstoff gegen das Coronavirus gefunden werden kann, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Virus in unseren Alltag zu integrieren. Die Grundregeln des Abstandhaltens, der Hygiene und, wo sinnvoll, der Masken tragen dazu bei, dass, wenn es trotzdem zu einer Infektion kommt, die Virenlast möglichst tief gehalten werden kann. Und dies ist entscheidend, denn je höher die Virenlast, umso höher die Gefahr einer schweren Erkrankung. Das psychologische Problem dieser Pandemie ist die gefühlte Angst, welche steigende Infektionszahlen bei den Menschen hervorrufen, eine gefühlte Angst, die in keinem Verhältnis steht zum tatsächlichen Risiko einer Erkrankung. Kaum zu glauben, aber wahr: In Deutschland sind zwischen Januar und August 2020 insgesamt weniger Menschen gestorben als im gleichen Zeitraum des Jahres 2019. Wer daher im Zusammenhang mit der Coronapandemie von einer drohenden Apokalypse spricht, ist meilenweit von der Realität entfernt. Wenn wir nur auf die Virologen hören würden, dann dürften wir keine Partys mehr feiern, keinen Sex haben und uns nicht mehr küssen, das würde das Leben ganz schön trist machen.”

(Hendrik Streek, Direktor am Institut für Virologie in Bonn, in der Sendung “Maischberger”, ARD, 26. August 2020)

Streeks auf Deutschland bezogene Ausführungen kann man eins zu eins auf die Schweiz übertragen. Während sich die Anzahl Infektionen über die letzten Wochen nach und nach erhöht und sich von gestern auf heute sogar von 202 auf 383 fast verdoppelt hat. gibt es täglich nur vereinzelte Hospitalisationen und Todesfälle. Gefühlte Angst und tatsächliches Risiko: Statt der Anzahl Infizierter müsste man in den Medien eigentlich besser täglich die Anzahl der jeweils neuen Hospitalisationen und Todesfälle publizieren, das würde uns wohl einiges an Ängsten und an Panik ersparen. Denn, wie Henrik Streek aufzeigt: Gefährlich ist das Coronavirus nur dann, wenn man wirklich krank wird. Eine hohe Anzahl Infizierter, die keine oder nur geringe Symptome aufweisen, hätte sogar eher einen positiven Effekt: Es bedeutet ja, dass diese Personen zumindest für eine gewisse Zeit immun bleiben bzw. im Falle einer weiteren Ansteckung mit einem höchst milden Verlauf der Krankheit rechnen und das Virus nicht mehr weiter verbreiten können. So käme man, früher oder später, zu jener viel und kontrovers diskutierten Herdenimmunität, die, falls im schlimmsten Falle kein Impfstoff gefunden werden kann, wohl der einzige Weg ist, das Coronavirus in den Griff zu bekommen.

Die deutsche Linke und jene, die sie kritisieren: Wer ist denn da rückgewärtsgewandt und wer nicht?

Die deutsche Linkspartei könnte nach der nächsten Bundestagswahl sogar mit Regierungsverantwortung betraut werden. Wer indes hoffte, die Aussicht auf einen Machtzuwachs im Bund würde die Linken geschmeidiger machen, sieht sich nun eines Besseren belehrt: Die Berliner Linken präsentierten sich auf ihrem Landesparteitag in vielerlei Hinsicht als rückwärtsgewandte und antikapitalistische Totalopposition.

(www.nzz.ch)

Wer glaubt denn allen Ernstes immer noch daran, der Kapitalismus habe eine Zukunft? Dieser Kapitalismus, der die Menschen unaufhörlich und immer heftiger in einen gegenseitigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwingt, aus dem wenige als Gewinner und viele als Verlierer hervorgehen. Dieser Kapitalismus, der zwischen Arm und Reich einen Graben aufgerissen hat, wie er tiefer noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit gewesen ist. Dieser Kapitalismus, der darauf beruht, dass ausgerechnet jene, die am härtesten arbeiten, am wenigsten von den Früchten ihrer Arbeit profitieren, während andere durch blossen Besitz von Reichtum, ohne dafür arbeiten zu müssen, immer noch reicher und noch reicher werden. Dieser Kapitalismus, der immer noch, aller Vernunft zum Trotz, am Dogma eines unaufhörlichen Wachstums festhält und damit selbst das Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren in Frage stellt. Wenn man nun politische Kräfte, welche diesen Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen, als “zu wenig geschmeidig” und “rückwärtsgewandt” bezeichnet, dann zeigt dies nur, wie tief sich der Kapitalismus über die Jahrhunderte seiner Herrschaft hinweg in unser Denken und Fühlen hineingefressen hat – so tief, dass wir uns offensichtlich eine grundsätzlich andere Wirtschafts- und Gesellschaftsform schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Doch weshalb sollte der Kapitalismus die letzte Weisheit der Menschheit sein? Ist es nicht vorstellbar und ganz plausibel, dass auf die Epoche des Kapitalismus eine neue Epoche folgt, eine Epoche, in der zwischen den Menschen, zwischen den Ländern, aber auch zwischen den Menschen und der Natur, wieder Gerechtigkeit und Frieden herrschen? Ist das so schwer vorstellbar? Ist es nicht das Nächstliegende, ist es nicht der gemeinsame Traum aller Kinder im Augenblick ihrer Geburt, über alle Grenzen hinweg? Wenn etwas rückwärtsgewandt ist, dann ist es nicht die Linke, sondern all jene politischen Kräfte, die noch immer, aller besseren Einsicht zum Trotz, am Weiterbestehen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems festhalten…

Das Aus für das Wirtschaftsmagazin “Eco”: Schaufelt sich das Schweizer Fernsehen sein eigenes Grab?

Zwischen 2013 und 2019 sank die Zuschauerzahl des Wirtschaftsmagazins “Eco” von durchschnittlich 195’000 auf 124’000 Personen. Nun hat SRF-Direktorin Nathalie Wappler angekündigt, “Eco” aus dem Programmangebot zu kippen und stattdessen eher auf die digitalen Kanäle zu setzen.

(Tages-Anzeiger, 22. August 2020)

Eben noch hat das Schweizer Stimmvolk in der Bilag-Abstimmung ein klares Bekenntnis zur Beibehaltung der bisherigen Radio- und Fernsehgebühren und somit zur Aufrechterhaltung des bestehenden Service public abgegeben. Und nun das: Zuerst wird Kurt Aeschbacher vor die Tür gesetzt, dann Roger Schawinski, kurz darauf “Karpi” Karpiczenko, der Ideengeber von Dominic Deville, und nun auch noch das Wirtschaftsmagazin “Eco”, wohl eines der besten Formate von SRF1. Alles nur noch unter dem Aspekt der Einschaltquoten zu sehen, missachtet die Tatsache, dass Sendungen mit einer geringeren Einschaltquote unter Umständen sogar die weitaus grössere Qualität und vor allem auch die grössere gesellschaftspolitische Bedeutung haben können als Sendungen mit einer höheren Einschaltquote. Wer sich eine Sendung wie “Eco” anschaut, tut dies ganz gezielt, nimmt sich dafür die notwendige Zeit und Aufmerksamkeit und tut das, was man im besten Sinne als persönliche Weiterbildung bezeichnen könnte. Und diese gerade in einer so hektischen und in vielerlei Hinsicht oberflächlichen Zeit wie der unseren so wichtige Aufklärungsarbeit hat einen unentbehrlichen gesellschaftlichen Nutzen, egal ob sich 50’000, 70’000 oder eben 124’000 Personen daran beteiligen. Der verengte Blick ausschliesslich auf die Einschaltquote führt im schlimmsten Falle dazu, dass die besten Sendungen nach und nach verschwinden, denn man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass vermutlich schon sehr bald immer mehr Sendungen mit sinkenden Einschaltquoten zu kämpfen haben werden und sich das Fernsehen auf diese Weise früher oder später sein eigenes Grab zu schaufeln droht. Ich wünsche der Fernsehdirektorin und allen Fernsehmachern und -macherinnen den Mut, allen Schwierigkeiten zum Trotz an der bisherigen Qualität des Fernsehens festzuhalten und sich für das Überleben ihres Mediums mit allen Kräften einzusetzen. Ich bin fast ganz sicher, dass sie dabei der Unterstützung durch eine grosse Mehrheit der Bevölkerung sicher sein dürfen.

Propagandavideo für die Begrenzungsinitiative: So viele Ungereimtheiten innerhalb von zwei Minuten, das schafft wohl nur die SVP

So viele Ungereimtheiten in einem Film von zwei Minuten Länge – das schafft wohl nur die SVP mit ihrem Propagandavideo für die Begrenzungsinitiative. Es beginnt so richtig idyllisch, ein Mädchen streift durch eine Berglandschaft und findet, die Schweiz sei das schönste Land der Welt. Weil dann alles Weitere im Film – zu viele Strassen, zu viele Baustellen, zu viele Häuser, zu viele Ausländer – als negativ dargestellt wird, müsste man daraus den Schluss ziehen, dass das eigentliche Wunschbild der SVP eine Schweiz wäre, die nur aus Bergen, Wäldern, Flüssen und Seen bestünde – das kann die SVP ja wohl nicht im Ernst wollen. Ihr Grosspapa, so das Mädchen, habe hart gearbeitet für die Schweiz von heute. Ehrlicherweise müsste sie an dieser Stelle auch all die Hunderttausenden ausländischer “Gastarbeiter” erwähnen, die über Jahrzehnte die meisten unserer Häuser, Strassen, Brücken und Tunnels gebaut haben. Doch darüber verliert das Mädchen freilich kein Wort. Im Gegenteil: Im Anblick einer Strassenbaustelle, wo vermutlich auch wieder hauptsächlich “ausländische” Arbeiter am Werk sind, sagt das Mädchen, viele Menschen wollten von unserer Arbeit – der Arbeit der Schweizer – profitieren. Noch mehr kann man die Tatsachen nun wirklich nicht mehr in ihr Gegenteil verdrehen! Später beklagt sich das Mädchen über die Menschen, die am Bahnhof herumhocken, und meint damit einmal mehr die ungeliebten Ausländer. Kein einziges Wort der Dankbarkeit für all die auf Baustellen, in Restaurants, in Spitälern und Pflegeheimen, in der Landwirtschaft und in den Fabriken von Ausländerinnen und Ausländern geleistete Arbeit, ohne die unsere schöne Schweiz trotz aller Berge und Seen augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde. Ist die SVP nicht Verfechterin der besten Schweizer Tugenden? Und gehören Dankbarkeit und Ehrlichkeit nicht dazu? Schliesslich, Gipfel der Absurditäten, besteigt das Mädchen ein Auto, um sich sogleich über den wachsenden Verkehr und die ewigen Staus zu beklagen. Hält die SVP ihre Wählerschaft für tatsächlich so dumm, dass sie ihr allen Ernstes eine solche Fülle von Unsinn zuzutrauen wagt?

Globaler Tourismus: Nicht nur ein globales Wirtschaftssystem, sondern auch ein globales Ausbeutungssystem

Vor Corona: 700 Millionen Touristen reisen pro Jahr in der Welt herum, 320 Millionen Arbeitsplätze hängen an der Reiserei. “Der Massentourismus”, so der Ökonom und Währungsexperte Uf Lindahl, “das sind nicht nur Touristen in Hotels, das ist ein ganzes Wirtschaftssystem.” Es beginnt mit den Flugzeugbauern und ihren riesigen Wertschöpfungsketten. Die Flughäfen und ihre Zulieferketten. Die Transportmittel, die Touristen in Hotels bringen. Dazu kommen die Gastronomie und ihre Zulieferketten. Aber auch die Museen und Geschäfte, bis zu den Strassenmusikanten und Bettlern. “Alle sind in einem riesigen Netz miteinander verwoben und alle leben vom gleichen Geldfluss, der von den Touristen kommt”, so Lindahl. Es sei wie bei Moskitos, die vom selben Blut saugten. Mit den Reiseverboten und Restriktionen sei die Blutbahn infiziert worden, so Lindahl. Und deshalb würden die Verluste massiv sein für alle. Die Harvard-Professorin Carmen Reinhart spricht sogar von einem “Ende der Globalisierung” und einem “weltweiten massiven Anstieg der Armut”.

(www.srf.ch)

Der globale Tourismus ist nicht nur ein ganzes Wirtschaftssystem, sondern vor allem auch ein globales Ausbeutungssystem. Während rund zehn Prozent der Weltbevölkerung das Privileg geniesst, praktisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jeden beliebigen Ort auf dem Globus reisen zu können, sind Hunderte von Millionen Menschen, die in Tourismusdestinationen leben, gezwungen, zur Befriedigung der Bedürfnisse der Reichen meist zu Hungerlöhnen härteste Arbeit zu verrichten. Sonnige Badestrände am Meer, Safaris und das Reisen mit einem Kreuzfahrtschiff, das alles ist nur die eine Seite der Medaille, die glänzende und schöne. Die andere, die hässliche, das ist die Arbeit des Kochs bei 40 Grad und unter höllischem Zeitdruck im Bauch das Kreuzfahrtschiffs. Der Schweiss und die Schmerzen im Rücken und in den Beinen des griechischen Zimmermädchens, das im Akkord Zimmer um Zimmer herrichten muss und dabei fast nicht zum Atmen kommt. Die Last auf dem Rücken des Sherpas, der Unmenschliches leistet, damit seine europäischen oder nordamerikanischen Auftraggeber zuletzt leichten Fusses die höchsten Gipfel der Erde ersteigen können. Die brasilianische Tänzerin in einem mexikanischen Nachtclub, die stundenlang und ohne Pause tanzen muss, damit die Männer aus den reichen Ländern des Nordens auf ihre Rechnung kommen und der Barbesitzer genug Geld einkassieren kann, um sich ein noch teureres Auto leisten zu können. Die Prostituierte in Pattaya, die nicht selten schmerzvollste, erniedrigendste und gefährlichste Arbeit verrichten muss für einen Hungerlohn, von dem sie gerade mal knapp überleben kann. Wenn, im Gefolge der Coronakrise, der globale Tourismus zusammenbricht, dann bricht auch ein globales Ausbeutungssystem zusammen. Und wäre das nicht eine Chance, den Tourismus neu zu denken, ihm ein neues Gesicht zu verleihen? Müssten das Reisen und das Ferienmachen und der Tourismus nicht ein Recht für alle statt bloss ein Privileg für einen Zehntel der Weltbevölkerung sein? Hat der indische Reisbauer oder die brasilianische Kakaoarbeiterin nicht genau das gleiche Recht auf eine regelmässige genussvolle Auszeit von ihrer Arbeit, auf das Kennenlernen anderer Regionen ihres Landes oder auf die Begegnung mit anderen Menschen ausserhalb ihres Dorfes? Vielleicht ist ja das, was heute geschieht, nämlich dass immer mehr Menschen ihre Ferien im eigenen Land verbringen, ein erster kleiner Schritt in diese Richtung…

Coronakrise: Haben nur Pflegende und Detailhandelsangestellte eine Lohnerhöhung verdient?

Lieber bestehende Arbeitsplätze erhalten, als höhere Löhne, diese Haltung vertritt der Gewerkschaftsdachverband Travail Suisse und nennt als Beispiel das Gastgewerbe. Allerdings gebe es auch Branchen, in denen höhere Löhne gerechtfertigt seien. So hätten die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen und im Detailhandel stark zur Bewältigung der Coronakrise beigetragen, hier sei eine Lohnerhöhung von einem Prozent angebracht.

(www.srf.ch)

Soll sich das Personal im Gesundheitswesen und im Detailhandel tatsächlich mit einer so lächerlichen Lohnerhöhung von gerade mal einem Prozent zufriedengeben? Bedenklich, dass selbst Gewerkschaften in ihren Forderungen derart bescheiden geworden sind. Noch viel bedenklicher aber erscheint mir die Argumentation, wonach es Branchen gäbe, die stark zur Bewältigung der Coronakrise beigetragen hätten, und andere, bei denen dies offensichtlich nicht der Fall sei. Wie könnte man denn die Coronakrise überwinden, wenn nicht Abertausende von Zimmerleuten, Maurern, Malern und Installateuren all die Spitäler gebaut hätten, in denen die Coronakranken gepflegt werden? Wer hat all die Schutzanzüge und all die Masken genäht, die zum Schutz sowohl der Kranken wie auch der Pflegenden unentbehrlich sind? Wer reinigt Betten, Räume, Toiletten und Geräte in den Spitälern, damit möglichst keine Ansteckungsgefahr besteht? Wer sorgt tagtäglich dafür, dass wir alle, ob Kranke, Gesunde, Schutzbedürftige oder Pflegende, stets ausreichend mit Lebensmitteln versorgt sind? Und wer transportiert all die Güter, die nicht nur im Kampf gegen das Coronavirus, sondern ganz allgemein zur Sicherung der Lebensqualität notwendig sind, über Tausende von Kilometern tagtäglich von Stadt zu Stadt, von Land zu Land? Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Und alle diese Tätigkeiten werden zu Löhnen verrichtet, die nicht selten noch um einiges tiefer sind als jene des Pflegepersonals und der Detailhandelsangestellten. Fairerweise müsste man auch für sie alle eine Lohnerhöhung fordern, Corona hin oder her. Denn so lange hierzulande die höchsten Einkommen rund 300 Mal höher sind als die niedrigsten, so lange es eine halbe Million Menschen gibt, die so wenig verdienen, dass sie davon nicht einmal leben können, und so lange die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ein Privatvermögen von über 700 Milliarden Franken besitzen, so lange ist das Feilschen um winzige Lohnerhöhungen einzelner schlecht gestellter Branchen reine Erbsenzählerei. Von Gerechtigkeit könnten wir erst dann sprechen, wenn all jene, die mehr verdienen und mehr besitzen als der Durchschnitt, zumindest einen Teil davon abgäben zu Gunsten all jener, die weniger verdienen und weniger besitzen als der Durchschnitt. Aber bis dahin ist wohl noch ein weiter Weg…

Eine Welt ohne Waffen und ohne Armeen: Längst fälliger Sprung in ein neues Zeitalter

Angesichts der Sorgen vor einem neuen atomaren Wettrüsten hat die Stadt Hiroshima der Opfer des Atombombenabwurfs vor 75 Jahren gedacht. Zugleich rief der Bürgermeister von Hiroshima, Kazumi Matsui, die Welt auf, “egozentrischen Nationalismus abzulehnen”. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres warnte in einer Videobotschaft vor einem erneuten atomaren Wettrüsten.

(Tages-Anzeiger, 7. August 2020)

Es wäre der längst fällige Sprung in ein neues Zeitalter. Nicht bloss eine Welt ohne Atomwaffen. Sondern eine Welt ohne Waffen jeglicher Art. Noch nie haben Waffen zur Lösung eines Konflikts zwischen Ländern oder Volksgruppen etwas Positives beigetragen. Immer haben sie nur zusätzliches Leiden und zusätzliche Zerstörungen verursacht. Ganz abgesehen von den Unsummen, die für militärische Rüstung verschleudert werden. Es gab, nach dem Zweiten Weltkrieg, weltweit pazifistische Strömungen. Es gab, mit der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, die Forderung nach einer Abschaffung der Schweizer Armee, der immerhin fast zwei Fünftel der Bevölkerung zugestimmt haben. Wo sind diese Visionen verschwunden? Weshalb ist das alles eingeschlafen? Haben wir uns so sehr an das Absurde gewöhnt, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, es könnte alles auch ganz anders sein? Ist nicht immer wieder von “Fortschritten” in der Menschheitsgeschichte die Rede, Fortschritte bei der Digitalisierung, Fortschritte in der Medizin, Fortschritte in der Herstellung von technischen Geräten, Werkzeugen und Präzisionsinstrumenten? Weshalb fällt es uns so schwer, nun endlich auch bei der Lösung internationaler und territorialer Konflikte so grosse Fortschritte zu erzielen, dass Waffen und Armeen eines Tages überflüssig geworden sein werden?