Archiv des Autors: Peter Sutter

Besetzung des Bundesplatzes durch die Klimabewegung: Wo liegt das eigentliche Problem?

 

In der Nacht von Sonntag auf Montag errichteten mehrere hundert Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen auf dem Bundesplatz in Bern ein Zeltlager. Sie wollen sich in zivilem Ungehorsam üben, weil die Politiker den Klimaschutz zu wenig entschlossen vorantrieben. Die Reaktion der Parlamentarier und Parlamentarierinnen, die diese Woche ihre Herbstsession abhalten, lässt nicht lange auf sich warten: Insbesondere bürgerliche Parlamentarier reagierten erzürnt auf die Aktion und eine Mehrheit von National- und Ständerat fordert von der Stadt Bern die unverzügliche Räumung des Platzes.

(Tages-Anzeiger, 22. September 2020)

 

“Wir haben ein Problem”, sagt der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried. Damit hat er zweifellos recht. Nun liegt dieses Problem aber weit weniger bei der friedlichen Besetzung des Bundesplatzes durch ein paar hundert Aktivisten und Aktivistinnen als bei der Tatsache, dass eine gigantische Klimaerwärmung mit unabsehbaren Folgen für das Überleben der gesamten Menschheit auf uns zukommen wird, wenn wir nicht unverzüglich drastische Massnahmen dagegen ergreifen. Das eigentliche Hauptproblem befindet sich nicht auf dem Bundesplatz. Es befindet sich im Bundeshaus selber, wo sich die Mehrheit der Politiker und Politikerinnen nach wie vor weigern, endlich mutig und unvoreingenommen jene Gesetze zu erlassen, die das Problem der Klimaerwärmung nicht bloss wie eine heisse Kartoffel vor sich herschieben, sondern tatsächlich einer Lösung in absehbarer Zeit näherbringen. Das führt uns auch zur Frage der “Illegalität” und der “Legalität”. In einer bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Wahrnehmung empfindet offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung ein Zeltlager auf dem Bundesplatz als “illegal”, während zweifellos das Abhalten einer National- und Ständeratssession etwas völlig “Legales” ist. Der Tages-Anzeiger spricht sogar im Zusammenhang mit den Aktionen der Klimajugend von einem “Angriff auf das Zentrum der Macht”. Doch ist nicht die fehlende Entschlossenheit der Politiker und Politikern und das damit verbundene Inkaufnehmen einer tödlichen Bedrohung von Milliarden nach uns geborenen Menschen das eigentliche Illegale und der eigentliche Angriff auf das überhaupt allerhöchste Gut, nämlich das Leben? Radikal und extrem ist nicht die Klimajugend. Radikal und extrem sind all jene Wirtschaftsleute, Politiker und Politikerinnen und Machtträger des Systems, die sich immer noch weigern, die Stimmen der Jugend wahrzunehmen und von ihnen zu lernen. Schade, dass ihnen nichts Gescheiteres in den Sinn kommt, als die jungen Menschen aus ihrem Blickfeld zu verbannen und sich auf diese Weise ihres schlechten Gewissens zu entledigen. Schade, denn es wäre eine einzigartige Chance, wenn sich die Parlamentarier und Parlamentarierinnen vor und nach ihren Sitzungen auf dem Bundesplatz unter die jungen Menschen mischen und sich auf sie einlassen würden, um von ihnen zu lernen, sie hätten es bitter nötig…

Acht Herren aus Boston und das Schweizer Fernsehen: So wird die Demokratie ausgehebelt…

 

Bain & Company ist spezialisiert auf Unternehmensberatung, hat den Hauptsitz in Boston und betreibt auch ein Büro in Zürich. Bis zu acht Berater gingen während Wochen am Leutschenbach ein und aus und analysierten die Arbeitsprozesse beim Schweizer Fernsehen. Nun warten alle gespannt auf die Massnahmen, die SRF-Chefin Nathalie Wappler am kommenden 8. Oktober bekannt geben wird. Unter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von Schweizer Radio und Fernsehen ist der Unmut beträchtlich. Einige befürchten, dass der eigene Unternehmensbereich weggespart werden könnte. Andere kritisieren, dass mit der Verlagerung von Sendungen und Beiträgen auf digitale Kanäle immer nur über Strukturen und kaum über Inhalte geredet werde. Dessen ungeachtet treibt Wappler das Projekt “2024” unbeirrt voran. Ziel ist es, ein junges Publikum zu erreichen, das sich abends nicht mehr vor der Flimmerkiste niederlässt. Wappler gab im August bereits die Absetzung der Sendungen “Eco”, “Einstein Spezial”, “Sportaktuell” und “Viva Volksmusik” bekannt. Gleichzeitig kündigte sie an, SRF werde vermehrt mit Angeboten auf Youtube und Instagram präsent sein, mit Comedy-Beiträgen in den sozialen Medien, mit einer digitalen Wissensplattform, Podcasts, Livestreams von Sportveranstaltungen und anderem mehr. Es ist davon auszugehen, das Wappler das traditionelle Fernsehprogramm weiter ausdünnen wird. Ein Fernsehjournalist spottet, im Oktober werde Wappler die “Tagesschau” und “10 vor 10” liquidieren. SRF verbreite seine Informationen künftig in einminütigen Filmchen auf Tiktok.(www.msn.ch)

Weshalb haben die TV- und Radiokonsumenten und -konsumentinnen am 4. März 2018 überhaupt über die No-Billag-Initiative abgestimmt? Über 71 Prozent der Stimmenden verwarfen diese Initiative und bekannten sich damit zur geltenden Gebührenordnung, um weiterhin ein qualitativ hochstehendes TV- und Radioprogramm sicherzustellen. Und nun gehen acht Berater eines US-amerikanischen Instituts ein paar Wochen lang durch die Studios des Schweizer Fernsehens ein und aus und stellen alles auf den Kopf. So wird Demokratie ausgehebelt. Wann gelangen wir endlich an den Punkt, nicht alles bloss an den Einschaltquoten zu messen? Eine Demokratie lebt nicht nur von der Mehrheit, sondern ganz besonders auch von den Minderheiten. Auch eine Sendung mit “nur” 150’000 Zusehenden hat – vorausgesetzt, sie ist qualitativ gut – ihre Berechtigung. 150’000 Menschen, die sich ein Wirtschaftsmagazin wie “Eco” oder die naturwissenschaftliche Sendung “Einstein Spezial” anschauen, können eine ungleich viel grössere gesellschaftliche Wirkung entfalten als eine halbe Million Menschen, die sich eine Schlagersendung oder einen Quiz zu Gemüte führen, bei dem der Sieger oder die Siegerin 100’000 Franken gewinnen kann. Gesellschaftliche und soziale Veränderungen sind noch nie von Mehrheiten ausgegangen, sondern stets nur von Minderheiten. Sie zu schützen, ihnen die notwendigen Räume und Plattformen zu bieten sowie die hierfür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen: das wäre das höchste Gut der Demokratie. Hoffentlich vermag sich diese Einsicht noch rechtzeitig durchzusetzen, bevor die Herren aus Boston alles plattgewalzt haben…

 

                                   

Arbeit als Selbstverwirklichung und Arbeit als gesellschaftliche Notwendigkeit: Alles auf alle gerecht verteilen

 

“Die Hoffnung besteht darin, dass wir durch eine sehr starke Veränderung des Bildungssystems die Heranwachsenden dazu befähigen, so viel wie möglich aus ihrem Leben zu machen, und zwar nicht einzig unter der Frage, ob das Ganze für Geld entlohnt wird. Das heisst, dass wir aufgrund des Strukturumbruchs allmählich von einer Gesellschaft, in der der grösste Teil der erwachsenen Bevölkerung einer Lohnarbeit nachgeht, in eine Gesellschaft kommen, in der sehr viele Menschen keiner Lohnarbeit nachgehen.”

(Richard David Precht, Philosoph, in: NZZ am Sonntag, 20. September 2020)

 

Was für eine schöne Idee: Alle Menschen machen das Beste aus ihrem Leben, verwirklichen ihre Zukunftsträume, verrichten nur noch Arbeiten, die ihnen Freude und Spass machen. Doch das Ganze hat einen grossen Haken: Wer krümmt dann noch seinen Rücken über dem Feld, um das Gemüse für unseren täglichen Nahrungsbedarf zu decken? Wer steht dann noch an den Fliessbändern in den Fabriken? Wer putzt im Zug, in den Restaurants, in den Schulen und den öffentlichen Anlagen die Toiletten? Wer kümmert sich um die Entsorgung des täglich anfallenden Abfalls? Die einfachste und gerechteste Lösung würde darin bestehen, dass jeder Mensch während der Hälfte seiner Arbeitszeit jener beruflichen Tätigkeit nachgehen könnte, in der er seine Talente und Begabungen am besten entfalten kann und welche die Voraussetzung bildet für ein reiches, erfülltes Leben. Während der anderen Hälfte seiner Arbeitszeit aber übernimmt er eine gesellschaftlich relevante Aufgabe, die man normalerweise freiwillig nicht wählen würde, die aber unabdingbare Voraussetzung ist für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft. Das wäre dann so etwas wie ein lebenslanger Zivildienst. Heute noch haben nur ein Bruchteil der Menschen das Privileg, einen Beruf ausüben zu können, in dem sie ihre Interessen und Talente voll ausleben können. Der andere Teil ist dazu verknurrt, all jene Tätigkeiten auszuüben, die übrig bleiben und die häufig unangenehm, besonders anstrengend und dennoch schlecht entlöhnt sind und erst noch kaum etwas zu tun haben mit der Verwirklichung von persönlichen Begabungen und Interessen. “Wenn man mit seiner Arbeit nicht verbunden ist”, sagt auch der bekannte Bildhauer und Architekt Ernö Rubik, der Erfinder des legendären Zauberwürfels, “ist das eine schlechte Sache.” Ein Modell, in dem Arbeit zur persönlichen Selbstverwirklichung und Arbeit als gesellschaftliche Notwendigkeit je zur Hälfte von allen Menschen getragen würden, wäre daher nicht nur viel gerechter als die heutige Situation, sie würde auch zu einer wertvollen sozialen Durchmischung führen und zur gegenseitigen Wertschätzung zwischen den einzelnen beruflichen Tätigkeiten. Nun, das skizzierte Modell mag auf den ersten Blick völlig utopisch oder gar absurd erscheinen. Doch wie sagte schon wieder Albert Einstein? “Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd erscheint, gibt es keine Hoffnung für sie.”

Von der Lohnpyramide zum Einheitslohn: ein längst fälliger Schritt zur Gleichberechtigung in der Berufswelt

 

Unsere Gesellschaft gleicht einer Pyramide. Zuunterst sind die vielen Unentbehrlichen, die das System tragen, dann von Stufe zu Stufe wird die Last leichter. Die Entlöhnung folgt aber gerade einem umgekehrten Schema. Je weniger systemrelevant, desto besser bezahlt. Hedge-Funds-Manager, Anwälte, Werbefachleute sind nicht systemrelevant, aber oft Spitzenverdiener…

(Paul Widmer, Publizist, in: NZZ am Sonntag, 13. September 2020)

 

Eine geradezu revolutionäre Aussage, und dies mitten in der NZZ am Sonntag! Konkret würde das bedeuten, dass ein Bauarbeiter oder eine Krankenpflegerin eigentlich mehr verdienen müssten als der CEO eines multinationalen Konzerns oder eine Rechtsanwältin. Man könnte aber auch ein bisschen weniger weit gehen und den Blick auf die gesamte Gesellschaft und die gesamte Arbeitswelt werfen: Damit eine Gesellschaft als Ganzes funktionieren kann, braucht es eben alle, die Verkäuferin ebenso wie den Erntehelfer, die Köchin und den Stadtpräsidenten, die Lehrerin ebenso wie den Zahnarzt, die Physiotherapeutin und den Unternehmer, die Putzfrau ebenso wie den Fahrradmechaniker, den Psychotherapeuten und die Coiffeuse. Man kann nun tausend Gründe ins Feld führen, weshalb der eine mehr oder weniger viel verdienen sollte als die andere. Das versperrt nur den Blick auf die Tatsache, dass für das Funktionieren des Ganzen eben sämtliche Berufe unentbehrlich sind und das ganze Gebäude augenblicklich in sich zusammenbrechen würde, wollte man auch nur einen von ihnen weglassen. Deshalb besteht das einzige wirklich hieb- und stichfeste Postulat darin, dass sämtliche Berufstätige genau gleich viel verdienen müssten, denn jeder und jede gibt ja auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet das in ihren Kräften Stehende Beste zum Gelingen des Ganzen. Ein Einheitslohn also. Dieser würde in der Schweiz gegenwärtig bei rund 6500 Franken liegen. Man stelle sich das einmal vor: Für all jene, die sich heute mit Löhnen von 4000 Franken oder noch weniger zufriedengeben müssen, wäre es das Paradies. Und für all jene, die heute mehr als 6500 Franken verdienen, wäre es zwar eine mehr oder weniger staatliche Lohneinbusse, mit der sie aber dennoch gut leben könnten, auch wenn sie auf das eine oder andere verzichten müssten. Der gleiche Lohn würde zugleich bedeuten, dass auch das gesellschaftliche Ansehen sämtlicher Berufe den gleichen Stellenwert hätte, niemand mehr auf andere hinunter- oder hinaufschauen müsste und so etwas wie Berufskarrieren bloss um des Geldes willen der Vergangenheit angehören würden: Nicht mehr das Geld, sondern die Freude, die Begeisterung und die Leidenschaft für eine bestimmte Tätigkeit wären die Schlüssel dazu, genau diesen und nicht einen anderen Beruf auszuüben. Und vor allem: Nicht nur das Geld auf dem Lohnkonto würde stimmen, sondern vor allem auch die persönliche Zufriedenheit, das allgemeine Wohlbefinden und die gegenseitige Wertschätzung.

 

Coronakrise: Gewinner und Verlierer…

“Auch in der Coronakrise geht es längst nicht ­allen Firmen schlecht. Es gibt Firmen, die in der Krise so viel verdient haben wie nie zuvor, zum Beispiel gewisse Lebensmittel­händler, Onlineshops und Pharmaunternehmen. Wir könnten darüber nach­denken, die Gewinne der Krisengewinner höher zu besteuern – und mit dem Geld die Verlierer der Krise zu unterstützen.”

(Jan-Egbert Sturm, Wirtschaftschef der nationalen Covid-19-Task-Force, www.blick.ch)

Kaum verwunderlich, dass Sturms Idee bei Exponenten der Wirtschaftsverbände und der Arbeitgeberorganisationen auf wenig Gegenliebe stösst. Das Hauptargument: Man könne doch die Tüchtigen, die trotz der Krise ausgezeichnet gewirtschaftet haben, nicht zu Gunsten der anderen bestrafen. Als wären jene, denen es wirtschaftlich schlechter gehe, selber Schuld. Als sei alles nur eine Frage von Tüchtigkeit bzw. Faulheit. Was für eine arrogante Haltung gegenüber Abertausenden von Köchen, Serviceangestellten, Putzfrauen, Näherinnen in Textilfabriken oder Balletttämzerinnen, die sich Tag für Tag mit grösstem Einsatz abmühen und es doch nie auf einen grünen Zweig bringen. Ob man zu den Krisengewinnern gehört oder zu den Krisenverlierern, ist wohl weit weniger eine Frage der Tüchtigkeit als vielmehr eine Frage von Glück oder Pech. Und deshalb ist Sturms Idee von einem Ausgleich zwischen den Glückspilzen und den Pechvögeln nur allzu berechtigt. Nur schade, dass solche innovativen Ideen, die für so manches krisengeschüttelte Unternehmen ein wahrer Segen wären, in der heutigen Realpolitik und dem Selbstverständnis einem auf rein betriebswirtschaftliches Renditedenken ausgerichteten Unternehmertum aller Voraussicht nach nicht die geringste Chance haben werden. Ich würde mich nicht wundern, wenn Sturms Idee ebenso rasch, wie sie publik wurde, wieder in der Versenkung verschwunden sein wird.

Wie Apple-CEO Tim Cook einen historischen Beitrag für die Menschheit leisten will…

“Wenn wir in die Zukunft schauen, von dort zurückblicken und uns die Frage stellen, was der grösste Beitrag von Apple für die Menschheit war, wird es um Gesundheit gehen.” So kündigte Apple-CEO Tim Cook Anfang 2019 in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNBC seine ganz grossen Visionen an. Und tatsächlich: Bereits kann die Apple Watch ein EGK an der Fingerkuppe erstellen und Stürze erkennen. Die neuste, soeben auf den Markt gekommene Version misst mit speziellen optischen Sensoren den Sauerstoffgehalt im Blut und soll frühzeitig Panikattacken oder erhöhten Stress feststellen. Den Userinnen und Usern dienen jede Menge kleiner Stupser, die sie zu einem gesunden Lebensstil ermuntern sollen: Erinnerungen für kurze Atemübungen, Vibrationen bei zu langem Sitzen oder “personalisiertes Ziel” täglich verbrauchter Kalorien. Und die für Smartwatches von Fitbit entwickelte App “JalapeNO!” soll Userinnen und User mithilfe einer kurzen Vibration am Handgelenk davon abhalten, sich ständig ins Gesicht zu fassen…

(Wochenzeitung, 10. September 2020)

Und dabei ist das noch längst nicht alles. Vitaminpräparate, Schlankheitskuren, Yoga, Säuglingsturnen, Wellnessferien, Ayurvedamassagen, Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungsberatung, Fitnessclub, Pilates, Altersturnen, Schönheitsoperationen – wohl zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort haben sich die Menschen so intensiv um ihre persönliche Gesundheit und ihr persönliches Wohlergehen gekümmert wie in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren in den wohlhabenden Ländern des Nordens bzw. in jenen Gesellschaftsschichten, die sich alle diese Angebote überhaupt finanziell leisten können. Doch was für ein Gegensatz zwischen solcher persönlicher Gesundheitsvorsorge und dem, was man als “globale” Gesundheit bezeichnen könnte. Fast scheint es, je extremer sich viele Menschen um ihre persönliche Gesundheit kümmern, umso beharrlicher verschliessen sie die Augen vor jener anderen, viel umfassenderen Gesundheit, welche das Wohlergehen aller Menschen weltweit, das Wohlergehen der Natur, der Tiere, der Erde und der zukünftigen Generationen betrifft. Es ist nachgerade zynisch: Zum Fitnessclub, wo man seinen Körper stählt, fährt man mit dem Auto, verpestet die Umwelt und leistet seinen ganz persönlichen Beitrag zum Untergang der Menschheit. Mit technischen und elektronischen Apparaturen, welche die persönliche Gesundheit rund um die Uhr kontrollieren, beteiligt man sich, wissentlich oder unwissentlich, am Raubbau an seltener Erde und immer mehr zur Neige gehender Rohstoffe. Und selbst einen Flug um die halbe Erde mit all seinen katastrophalen ökologischen Auswirkungen nimmt man in Kauf, um sich an der Südküste von Sri Lanka in den Schatten eines Baumes zu legen, eine Ayurvedamassage zu geniessen und sich dazu köstliche Fruchtsäfte zur Reinigung und Stärkung des Verdauungsapparates servieren zu lassen. Wie wäre es, wenn Apple-CEO Tim Cook sein Versprechen, einen historischen Beitrag zur Gesundheit der Menschheit zu leisten, wirklich ernst nähme? Dann aber müsste er eine von Grund auf andere Apple Watch schaffen. Eine, die mit schrillem Ton jede Erwärmung der Erdatmosphäre um ein Tausendstel Grad signalisiert. Eine, die auf jede unnötige Autofahrt oder jeden unnötigen Flug mit dem Hinweis reagiert, dies alles sei tödlich. Eine, die auf ihrem Display pausenlos Bilder von Waldbränden, von schmelzendem Packeis und von ausgetrockneter, unfruchtbarer Erde zeigt und uns damit ohne Unterlass in Erinnerung ruft, dass Gesundheit nicht nur etwas Persönliches und Individuelles ist, sondern ein Allgemeingut in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt…

Sandro Brotz zur Diskussion über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge: “Es sind schon interessante Zeiten.”

In der Arena-Diskussion des Schweizer Fernsehens vom 4. September 2020 ging es um die kommende Abstimmung zur Beschaffung neuer Kampfflugzeuge. Erwin Lempert von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) machte sich dafür stark, dass man dem Bundesrat keinen Blankocheck ausstellen dürfe, sondern das Stimmvolk wissen müsste, wofür seine Steuergelder ausgegeben würden. Ginge es nach Lempert, so würde die Wahl auf einen leichten Kampfjet fallen, einen Leonardo zum Beispiel, oder einen südkoreanischen KAI FA-50. Der fliege Überschall und könne ein Passagierflugzeug problemlos aufholen. Aber bestimmt nicht 30 bis 40 Stück, sondern 8 bis 12. Brotz hörte indessen fasziniert zu und fand dann: «Es sind schon interessante Zeiten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Moment mal erlebe, wo ein GSoA-Mitglied sagt, was für einen Kampfjet man kaufen müsse.»

(www.watson.ch)

 

Sandro Brotz ist nicht der Einzige, der sich wundert. Ich wundere mich auch. 1989 scheint in weiter, unerreichbarer Ferne zu liegen. Damals stimmten 35,6 Prozent der Bevölkerung einer GSoA-Initiative zur Abschaffung der Armee zu – ein Schock ging durchs ganze Land, mit einer so hohen Zustimmung, die weit über das traditionelle linke Politlager hinausging, hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Initianten selber. Was ist seither geschehen? Weshalb nimmt sich die GSoA nicht die Frauenbewegung zum Vorbild, die ebenfalls über Jahre mehrere Anläufe nehmen musste, bis 1971 das Frauenstimmrecht endlich eine Mehrheit fand? Doch das funktioniert eben nur, wenn das ursprüngliche Ziel nicht aufgegeben und verwässert wird, sondern unverrückbar daran festgehalten wird, ganz so, wie es eben die Frauenbewegung tat. Und genau so, wie man das bei der Frauenbewegung sagen könnte, so könnte man es eben auch mit der Abschaffung der Schweizer Armee sagen: Wenn die Zeit dafür schon 1989 ein bisschen reif gewesen war, so müsste sie es im Jahre 2020 eigentlich erst recht sein…

Todesfälle bei Influenza und bei Covid19: zweierlei Mass…

Bei jeder Grippewelle fallen in Deutschland auch Kinder den Folgen einer Influenza zum Opfer. Obwohl solche Todesfälle bei jungen Menschen im Vergleich zu alten Menschen sehr selten sind, dürfen Ausbrüche in Krippen, Kindergärten oder Schulen auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden. Besonders bedroht sind natürlich Heranwachsende mit chronischen Krankheiten. Ein Fall aus dem vergangenen Winter in Baden-Württemberg zeigt jedoch, dass auch bisher gesunde und normal entwickelte Kinder in kürzester Zeit an Influenza-Komplikationen sterben können.

Insgesamt waren in Baden-Württemberg im vergangenen Winter zwei laborbestätigte Grippetodesfälle bei Kindern registriert worden. Dies ist aber wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Belastbare Zahlen zu Todesfällen bei Kindern mit Grippe in Deutschland gibt es nicht. Anders in den USA: Dort wurden in den Wintern von 2010/11 bis 2015/16 pro Jahr im Schnitt 113 an Influenza gestorbene Kinder und Jugendliche im Alter unter 18 Jahren gemeldet, dies entspricht einer Rate von 0,15 Todesfällen pro 100’000 Kinder und Jugendliche. Jedes dritte der an Grippe gestorbenen Kinder in den USA war höchstens sechs Monate alt, berichten Forscher um Mei Chang von den Centers for Disease Control and Prevention. Insgesamt 65 Prozent der Betroffenen starben binnen sieben Tagen nach Einsetzen der Symptome, 13 Prozent sogar am ersten Tag. Ursache waren Pneumonie, Sepsis oder akutes Atemnotsyndrom (ARDS).

Die Erkrankungen verliefen völlig unberechenbar: Die Hälfte der Kinder hatte vor der tödlichen Krankheit keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen gehabt. Die andere Hälfte hatte vor allem neurologische Krankheiten wie Entwicklungsstörungen, Krampfleiden, Chromosomen-Verteilungsstörungen oder Zerebralparesen.

Außerdem häufig waren Lungenleiden wie Asthma und Herzerkrankungen.

(ÄrzteZeitung, 8. Juni 2018)

Geblendet vom Coronavirus, ist uns offensichtlich blitzschnell vergessen gegangen, wie gefährlich auch die ganz “normale” saisonale Grippe sein kann. Und dies eben nicht nur für ältere Menschen, sondern auch für Kinder und Jugendliche. Allein in den USA gab es also, laut obigem Artikel in der deutschen ÄrzteZeitung, zwischen 2011 und 2016 im Schnitt jährlich 113 an Influenza gestorbene Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, auch in den folgenden Jahren und in anderen Ländern werden es, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, wohl ebenso viele gewesen sein und weiterhin sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur bei einem einzigen dieser Kinder und Jugendlichen die Medien so prominent, so breit und so ausführlich darüber berichtet hätten, wie sie dies bei Kindern und Jugendlichen tun, die dem Coronavirus zum Opfer fallen. Das eine sind die Fakten. Das andere ist das, was die Medien daraus machen. Man tut gut daran, das eine vom andern sorgfältig zu unterscheiden…

Wachsender Güterverkehr quer durch Europa: Kann der Ceneritunnel Abhilfe schaffen?

Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels erhält die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene neuen Schub. Doch um das Ziel, das in der Verfassung steht – nämlich, dass jährlich maximal 650’000 Lastwagen durch die Alpen fahren dürfen – zu erreichen, wird auch der Ceneri-Basistunnel allein nicht genügen. Letztes Jahr betrug die Zahl der alpenquerenden Lastwagen 900’000. Und es werden immer mehr…

(www.srf.ch)

Mit anderen Worten: Wir können noch so viele Strassen und Eisenbahnlinien und Tunnels bauen, bei alledem ändert sich nichts daran, dass die Menge quer durch Europa transportierter Güter unaufhörlich wächst und wächst. Ein Beispiel: Holz aus Finnland, das nach Italien transportiert und dort zu Möbeln verarbeitet wird, die dann wiederum nach Deutschland gebracht und dort verkauft werden – unzählige weitere Beispiele liessen sich anführen, welche die zunehmende Menge an europaweit hin- und hergekarrten Gütern erklären, denn der gegenseitige Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen zwingt diese zu einer immer knapperen Kostenoptimierung, sodass dann eben schon der geringste Lohnunterschied oder der kleinste Unterschied bei Energiepreisen oder Steuersätzen von Land zu Land den Ausschlag geben kann, um eine grössere – und letztlich viel zu billige – Strecke zwischen Herkunfts-, Verarbeitungs- und Verkaufsorten in Kauf zu nehmen. Es wäre durch eine internationale Angleichung von Löhnen, Arbeitsbedingungen, Steuern und weiteren Kostenfaktoren eigentlich ein Leichtes, die immer weiter wachsende Menge an Gütern nicht nur von der Strasse auf die Schiene zu bringen, sondern vor allem auch zu reduzieren. Ganz abgesehen davon, dass sehr viele Güter viel zu billig sind und auch dann gekauft werden, wenn man sie gar nicht wirklich braucht, Waren, die nicht selten über kurz oder lang wieder im Müll landen. Doch offensichtlich investiert man Energie und finanzielle Mittel, statt sich mit den eigentlichen Ursachen des Problems zu beschäftigen, lieber in Technik und Infrastrukturen und baut für 23 Milliarden Franken einen 15,4 Kilometer langen Tunnel, obwohl man gleichzeitig weiss, dass das eigentliche Problem damit ganz und gar nicht gelöst werden kann, sondern von Jahr zu Jahr immer nur noch grösser und grösser wird.

Mattea Meyer und Cédric Wermuth auf dem Weg zum SP-Parteipräsidium: Blumen anstelle von Kapitalismuskritik

Mattea Meyer und Cédric Wermuth, die sich für die Co-Leitung der SP Schweiz bewerben, haben sich in Lausanne einem Hearing von rund 20 Genossinnen und Genossen gestellt. Nachdem im Vorfeld seitens 24 Parteimitglieder Kritik an der linken Ausrichtung von Wermuth und Meyer geäussert worden war, machten die beiden anlässlich dieses Hearings klar, dass die parteiinternen Differenzen längst aus der Welt diskutiert worden seien, wenn sie denn überhaupt je existiert hätten. Die Erinnerung an die von den ehemaligen Jusos vor Jahren ausgerufene Doktrin, der Kapitalismus müsse überwunden werden, mochte anlässlich des Hearings niemand auffrischen. Der Umgang war handzahm. Bevor Cédric Wermuth am Ende selbst eine Rose bekam, verteilte er Blumen ins Publikum.

(Tages-Anzeiger, 4. September 2020)

Schade. Dabei wäre das doch der ideale Zeitpunkt für einen wahrhaft historischen Moment gewesen: Statt es totzuschweigen, hätten Mattea Meyer und Cédric Wermuth ganz im Gegenteil das Postulat einer Überwindung des Kapitalismus ihren Genossinnen und Genossen unverblümt in Erinnerung rufen können. Schliesslich steht diese Forderung ganz offiziell im Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, demokratisch von einer Mehrheit der Parteimitglieder auf Antrag der Jusos beschlossen, am SP-Parteitag vom Oktober 2010. Mattea Meyer und Cédric Wermuth hätten an diesem Hearing, kurz vor ihrer Wahl ins Parteipräsidium, darlegen können, dass alle noch so gut gemeinten politischen Bemühungen und Vorstösse, sei es im Bereich des Sozialen, der Umwelt oder der Wirtschaft, so lange Flickwerk bleiben müssen, als nicht parallel dazu auch an die tieferen Ursachen sämtlicher Missstände und Fehlentwicklungen herangegangen wird, nämlich an die Grundmechanismen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, an die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, an das Dogma des unbegrenzten Wachstums in einer begrenzten Welt und an die rücksichtslose Plünderung der Natur und der Rohstoffe, so dass nichts weniger als das Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren in Frage gestellt ist. Haben Mattea Meyer und Cédric Wermuth so schnell vergessen, wofür sie ein paar Jahre zuvor noch so vehement gekämpft haben? Was hat sie dazu gebracht, vor jenen Genossinnen und Genossen, die ihnen eine zu “linke Gesinnung” vorwarfen, so schnell zu kuschen? Werden die Visionen, welche die Bewegung der Jungsozialisten und Jungsozialistinnen eben noch so hoffnungsvoll beseelt haben, so schnell auf dem Altar der “Realpolitik” geopfert? Mattea Meyer und Cédric Wermuth werden zweifellos ein hervorragendes Parteileitungsduo bilden. Zu hoffen bleibt nur, dass ihre ursprünglichen Ideale und Visionen nicht auf der Strecke bleiben. Denn, wie schon der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer sagte: “Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.”