Archiv des Autors: Peter Sutter

Coronazahlen: Unnötige Panikmache

 

Wann hören gewisse Medien endlich mit einer Berichterstattung über die Coronakrise auf, die reine Panikmache ist und sich höchstens in höheren Verkaufszahlen niederschlägt, ganz und gar aber nicht im Interesse der Bevölkerung liegt, die ein Anrecht auf sachliche, objektive Berichterstattung hat. So berichtet “20 Minuten” heute, dass sich während der vergangenen drei Tage 1548 Personen mit dem Coronavirus angesteckt hätten. Dazu ein Bild, auf dem zwei Pfleger in weissen Schutzanzügen einen ebenfalls in einen weissen Schutzanzug gekleideten Patienten in eine Intensivstation schieben, so dass es einem richtig kalt den Rücken hinunterläuft. Schaut man sich dann aber beim BAG nach den konkreten Zahlen um, so erfährt man, dass es während der vergangenen sieben Tage gerade mal zu 8 Spitaleintritten kam, was zehn Prozent weniger sind als in der Vorwoche. Und mit drei Todesfällen im Verlaufe der vergangenen drei Tage ist auch diese Zahl überaus niedrig, wenn man bedenkt, dass beispielsweise die Zahl der Todesfälle infolge Rauchens rund 30 Mal höher ist, ohne dass darüber je in einer Zeitung, im Internet oder am Fernsehen berichtet wird. Das Leben zu Coronazeiten ist schon genug schwer. Dann sollten es einem die Medien nicht noch schwerer machen, als es schon ist.  

Klimabewegung: So ändern sich die Zeiten…

 

“Solange wir Güter konsumieren, die an einem anderen Ort auf der Welt mit sehr viel CO2-Ausstoss produziert wurden, kriegen wir den Klimawandel nicht in den Griff.” Das sagte nicht etwa ein jugendlicher Aktivist der Klimabewegung, sondern Severin Pflüger, FDP-Präsident der Stadt Zürich. Das Beispiel zeigt, dass die Klimabewegung sehr wohl eine nicht zu unterschätzende Wirkung hat selbst auf Menschen, die ihr gegenüber ablehnend sind oder den Klimawandel gar immer noch in Frage stellen. Wie wenn die jugendlichen Aktivisten und Aktivistinnen sich in einen Dschungel hineinkämpfen würden, um einen Weg zu bahnen, der dann selbst von ihren Gegnern und Gegnerinnen nach und nach begangen wird. Selbst SVP-Nationalrat Roger Köppel hat es in der Arena-Sendung vom 25. September 2020 zum Thema Klimabewegung tunlichst vermieden, die menschlichen Ursachen des Klimawandels explizit in Frage zu stellen. Ähnlich ist es mit der Frauenbewegung: Was über Jahrzehnte hart erkämpft wurden musste, ist heute Allgemeingut und es würde sich wohl und breit niemand mehr finden lassen, der die politischen Rechte von Frauen und ihre Vertretung in Regierungen und Parlamenten in Frage stellen würde. Auch die Verwendung weiblicher Endungen in Ansprachen, öffentlichen Stellungnahmen und Zeitungsartikeln, die anfänglich von nicht wenigen Exponenten des politisch bürgerlichen Lagers geradezu ins Lächerliche gezogen wurde, ist heute selbst in den Voten von SVP-Politikern und SVP-Politikerinnen so selbstverständlich, als hätte es nie etwas anderes gegeben. So ändern sich die Zeiten. Dadurch, dass sich Menschen exponieren, die eine Idee vertreten, die noch lange nicht mehrheitsfähig ist, aber eines Tages mehrheitsfähig sein wird. Man kann all jenen, die auf diese Weise neue Ideen in die Welt bringen, gar nicht genug viel Mut machen und gar nicht genug dankbar sein. Denn, wie schon Arthur Schopenhauer sagte: “Jede grosse Idee wird zuerst belächelt, dann bekämpft und zuletzt dann doch als Standard akzeptiert.”

US-Präsidentschaftswahlen: Traurige Zeiten…

 

Peinlich, peinlich. Statt sachlich ihre jeweiligen unterschiedlichen Regierungsprogramme darzulegen, beleidigen sich Donald Trump und Joe Biden gegenseitig in ihrem ersten grossen Fernsehduell und beschimpfen sich als “Lügner”, “Clown” und “Versager”. Unwillkürlich fragt man sich: Ist das alles, was die USA an möglichen Kandidaten und Kandidatinnen für das oberste politische Amt ihres Landes hervorzubringen vermochten? Gäbe es nicht Millionen von Amerikanern und Amerikanerinnen, die sich weit besser für dieses Amt eignen würden, weil sie viel charismatischer, viel leidenschaftlicher, viel engagierter und viel kreativer wären und erst noch über viel umfassendere Sachkenntnisse zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökonomischen Themen verfügten? Doch offensichtlich sind das nicht die Fähigkeiten, die zählen, um Präsident oder Präsidentin dieses Landes zu werden. Es scheint vielmehr alles nur eine Frage von Macht, Geld und Prestige zu sein, dieser kapitalistischen Konstrukte, die sich gegenseitig verstärken und zur Folge haben, dass am Ende nicht die Fähigsten auf dem obersten Podest stehen, sondern jene, welche sich auf der Stufenleiter persönlichen Machtstrebens am erfolgreichsten nach oben gekämpft haben. Das alles ist nicht nur höchst bedenklich, sondern vor allem auch höchst gefährlich. Denn die USA sind nicht irgendein Land. Die USA gelten nach wie vor, sowohl wirtschaftlich wie vor allem auch militärisch, als Weltmacht Nummer eins. Dieses Land bräuchte an seiner Spitze eine Persönlichkeit mit den allerhöchsten Qualifikationen, die man sich nur vorstellen kann. Doch selbst ein grosser Teil der Medien, selber gefangen im kapitalistischen Kosten-Nutzen-Denken, wissen nichts Gescheiteres, als immer und immer wieder die gegenseitigen Ausfälligkeiten von Trump und Biden aufzuwärmen, statt auf die grossen Herausforderungen einzugehen, denen sich nicht nur die USA, sondern die ganze Welt gegenübersteht, von der Coronapandemie über die Klimaerwärmung bis hin zu einem möglichen dritten Weltkrieg. Traurige Zeiten… 

Sklavenhandel: eine historisch überwundene Epoche?

 

Nun ist die weltweite Bewegung gegen Symbole und Statuen früherer Rassisten und Sklavenhändler auch in der Schweiz angekommen. Allein in Zürich, so Stadtpräsidentin Corine Mauch, sollen 80 Denkmäler von Personen, die möglicherweise in den Sklavenhandel verstrickt waren, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Das ist ja alles gut und recht, wird aber kein einziges der begangenen Verbrechen wieder gut machen können. Viel wichtiger, als Statuen früherer Sklavenhändler aus der Öffentlichkeit zu verbannen, wäre es, uns zu vergegenwärtigen, dass ein grosser Teil des historischen Geschäfts mit Sklavenarbeit bis in die heutige Zeit fortgedauert hat. Man nennt sie zwar nicht mehr Sklaven oder Leibeigene, aber wo liegt der Unterschied zwischen einem “richtigen” Sklaven des 18. Jahrhunderts und der Arbeiterin in einer Textilfabrik irgendwo in Bangladesh, die gezwungen ist, 12 bis 16 Stunden pro Tag zu arbeiten, fast ohne Pausen, unter permanentem Zeitdruck, stets unter den Blicken eines gnadenlosen Aufsehers, der auch schon mal zu physischer Gewalt greift, wenn die Arbeiterin, die er gerade im Auge hat, nicht genug schnell und sorgfältig arbeitet, diese Arbeiterin, die trotz dieser unmenschlichen Anstrengungen, die sie Tag für Tag vollbringen muss, trotzdem so wenig verdient, dass sie davon fast nicht leben kann. Wir könnten jetzt auch von all jenen Kindern in afrikanischen Minen und Bergwerken sprechen, die schon im frühesten Alter so schwer arbeiten müssen, dass viele von ihnen keine dreissig Jahre alt werden. Wir könnten von den Arbeiterinnen und Arbeitern auf Baumwollplantagen, auf Gemüsefeldern und in Fleischfabriken sprechen, von philippinischen Hausmädchen, die jeden Abend, bevor sie todmüde ins Bett fallen, von ihrer Hausherrin zum Dank für all die geleistete Arbeit blutig geschlagen werden, von rumänischen Prostituierten in europäischen Bordellen, die Nacht für Nacht unsäglicher Gewalt ausgeliefert sind, bloss um sich und ihren Kindern das nackte Überleben zu sichern. Noch einmal: Wo liegt der Unterschied zwischen einem Sklaven, einer Sklavin früherer Zeiten und jener unermesslichen Zahl heute lebender Arbeiterinnen und Arbeiter, die Tag für Tag unmenschliche Leistungen vollbringen und dennoch kaum davon leben können? Eigentlich ist ja nur das Wort selber der Unterschied. Aber weil wir uns in der Illusion wiegen wollen, der Sklavenhandel sei eine historisch überwundene Epoche, sträuben wir uns dagegen, heutige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen als Sklavinnen und Sklaven zu bezeichnen. Und es ist ja nicht nur das. Den früheren Sklavenhandel und seine Verstrickungen mit historischen nordamerikanischen und europäischen Politikern und Geschäftsleuten – auch daran hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Unzählige multinationale Konzerne erzielen auch heute noch ihre Profite aus nichts anderem als aus der Differenz zwischen den Hungerlöhnen auf den Plantagen, in den Bergwerken und Fabriken und den Preisen, welche gutbetuchte Konsumenten und Konsumenten für die dargebotenen Produkte dann bezahlen. Und abertausende Aktionäre und Aktionärinnen beteiligen sich an diesem Weltgeschäft, an dessen oberstem Ende der US-amerikanische Unternehmer und Investor Jeff Bezos mit einem Vermögen von 179 Milliarden Dollar steht und an dessen unterstem Ende das Zimmermädchen in einem griechischen Luxushotel, das soeben vor Erschöpfung gestorben ist. Nein, die Zeit des Sklavenhandels ist nicht vorbei. Nicht die Verhältnisse haben sich geändert, nur die Worte und die Art und Weise, mit der wir versuchen, alles schönzureden. Es ist gut, in der Stadt Zürich 80 Denkmäler früherer Rassisten und Sklavenhalter kritisch zu überprüfen. Noch viel wichtiger aber wäre es, ein Wirtschaftssystem zu überprüfen, das immer noch, wie eh und je, auf gnadenloser Ausbeutung und der Anhäufung exorbitanter Gewinne auf Kosten des Lebens und der Gesundheit von Milliarden von Menschen beruht. 

Weltuntergang oder Geburtswehen einer neuen Zeit?

 

Man nennt sie Doomer. Es handelt sich dabei um eine wachsende Zahl junger Menschen, die davon ausgehen, dass der Weltuntergang nicht mehr aufzuhalten sei und die Menschheit sich selber auslöschen werde. Sie stellen traurige Musik, dunkle Kurzfilme und schattenhafte Bilder ins Netz. Ihre bevorzugten Themen sind der Kollaps, die Überbevölkerung, die urbane Hölle, die Dystopie, die Depression und der Suizid. Dies alles ist angesichts der gewaltigen Bedrohungen, mit denen die heutige Menschheit konfrontiert ist – von der Coronapandemie über die Klimaerwärmung bis zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs -, nur zu gut zu verstehen. Und es sind nicht nur die Doomer. Unzählige weitere junge Menschen weltweit haben das Vertrauen in die Zukunft verloren, verspüren eine immense innere Leere, stürzen sich, um sich abzulenken, in Vergnügungen und Aktivitäten aller Art, bloss um darnach noch tiefer abzustürzen. Doch noch ist nichts verloren. Die Klimajugend macht es vor: Wer sich dem Kampf für eine bessere Welt hingibt, schöpft augenblicklich eine Riesenkraft, die jegliche Resignation und Hoffnungslosigkeit zu verscheuchen vermag. Und weshalb sollen den Tausenden, die bis jetzt auf die Strassen gegangen sind, nicht schon bald Millionen folgen? Alles liegt an uns selber. Ob wir es tun oder nicht. Ob wir es wollen oder nicht. Ob wir die heutige Zeit als das Ende der Menschheit betrachten oder als Anfang von etwas Neuem. Ja, es ist eine verrückte Zeit. Aber hat jemals irgendwer geglaubt, ein Zeitalter könnte zu Ende gehen und ein neues könnte beginnen, ohne dass zunächst mal alles ganz gründlich auf den Kopf gestellt würde? Sind das, was wir heute erleben, nicht die zwar äusserst schmerzvollen, zugleich aber auch äusserst hoffnungsvollen Geburtswehen einer neuen Zeit? Doch diese neue Zeit wird uns nicht einfach geschenkt. Sie muss erstritten, erkämpft, es muss um sie gerungen werden, Millimeter um Millimeter, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Bis diese grosse Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit, die jedes Kind schon bei seiner Geburt in sich trägt, für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mindestlohn von 23 Franken im Kanton Genf: erst ein kleiner Schritt in die richtige Richtung

 

Es ist ja schön, gilt nun auch im Kanton Genf seit der Abstimmung vom 27. September 2020 ein Mindestlohn von 23 Franken. Und doch geht das noch viel zu wenig weit. Wenn Herr B., seines Zeichens Vermögensverwalter, am Morgen aufsteht, haben bereits Tausende von Menschen für ihn gearbeitet: der Bäcker, der das Brot gebacken hat, das Herr B. zum Frühstück isst, der Kehrichtmann, der schon frühmorgens den Abfall des Hauses abtransportiert hat, die Maurer, Malerinnen, Zimmermänner und Elektrikerinnen, die das Haus gebaut haben, in dem er wohnt, die Minenarbeiter, welche die seltenen Metalle zu Tage befördert haben, ohne die weder sein Laptop noch sein Smartphone funktionieren würden, die Fabrikarbeiter, die sein Auto zusammengebaut haben, die Textilarbeiterinnen in Bangladesh, die sein Hemd, seine Krawatte und seinen Anzug genäht haben, mit denen er heute zur Arbeit gehen wird. Und dies alles ist erst eine winzige Auswahl jener Arbeiten, die weltweit verrichtet werden müssen, damit Herr B. hier und heute seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen kann, die ihm Monat für Monat ein stattliches Einkommen beschert und ihm jenen luxuriösen Lebensstil ermöglicht, den er und seine Familie so schätzen. Doch obwohl der Bäcker, die Textilarbeiterin, die Minenarbeiter und die Bauarbeiter das schöne Leben von Herrn B. überhaupt erst möglich machen, verdienen sie allesamt doch um ein Vielfaches weniger als er. Eigentlich müsste Herr B. fairerweise seinen Lohn mit all jenen teilen, die dazu beigetragen haben, dass er ihn verdienen konnte. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass alle gleich viel verdienen würden. Ein weltweiter Einheitslohn also. Eine Idee, die auf den ersten Blick als zu utopisch oder geradezu verrückt erscheinen mag, doch wie sagte schon wieder Albert Einstein? “Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd erscheint, gibt es keine Hoffnung für sie.”

Klimabewegung: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie

 

 

Lässt sich der Klimawandel mit den gängigen Instrumenten unserer parlamentarischen Demokratie rechtzeitig stoppen oder nicht? So sehr man sich das wünschen mag: Die Realität zeigt, dass dies aller Voraussicht nach nicht der Fall zu sein scheint. Zu langsam mahlen die Mühlen der politischen Entscheidungsfindung, zu wenig Gewicht haben jene politischen Kräfte, welche die Interessen der Umwelt und unseres gemeinsamen Überlebens vertreten. Die Ungeduld der Klimajugend ist daher nur allzu gut verständlich und selbst wenn diese jungen Menschen an die Grenzen der Legalität gehen, so ist dies bloss ein winziger Tropfen auf jenen riesigen, immer grösser werdenden Stein, der in Form der zunehmenden Klimaerwärmung immer weitere Teile unseres Planeten nach und nach in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Doch was ist die Alternative zu dieser parlamentarischen Demokratie, die offensichtlich zu träge, zu langsam und zu schwerfällig ist, um das drohende Unheil rechtzeitig abzuwenden? Wäre diese Alternative eine Art “Ökodiktatur”, wie manche Gegner der Klimabewegung befürchten? Nein, ganz im Gegenteil. Wir brauchen keine Diktatur. Was wir brauchen, ist im Gegenteil noch viel mehr Demokratie als bisher. Vor allem müsste das heutige Ungleichgewicht zwischen der Politik und der Wirtschaft aufgehoben werden. Entscheide, die unseren Alltag und damit unsere Zukunft bestimmen, werden noch immer und sogar immer mehr nicht in den demokratisch gewählten Parlamenten gefällt, sondern auf den Chefetagen multinationaler Konzerne. Was und wie viel produziert wird, wie und wo die Warenströme laufen, woher die hierfür nötige Energie gewonnen wird – all das liegt in der Macht von Firmen, Unternehmungen und Interessenverbänden, die allesamt noch immer einer kapitalistischen Wachstumslogik verhaftet sind, welche die Hauptursache für die Gefahren der Klimaerwärmung bilden, die uns alle bedrohen. Zusätzlich zu einer solchen Gewichtsverlagerung zwischen Politik und Wirtschaft müsste sich die politische Arbeit über alle Grenzen hinweg öffnen. So wie die Wirtschaft, die Waren- und die Finanzströme global vernetzt sind, so müsste sich auch die Politik global vernetzen, bis hin zu einer weltweiten Demokratisierung, in der sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten die gleichen Rechte haben und in letzter Konsequenz auch die Tiere und Pflanzen, ja selbst das Wasser, die Erde und die Luft eine Stimme haben müssten. Denn anders als zu früheren Zeiten, in denen unsere heutigen demokratischen Strukturen entstanden sind und sich noch voll und ganz auf die Interessen des jeweiligen Nationalstaats beschränkten, leben wir heute in einer Welt, wo wir nur noch alle miteinander untergehen oder aber alle miteinander überleben werden.

Klimastreiks: Auf dem Weg in eine neue Zukunft

 

Nach und nach füllt sich an diesem Freitagnachmittag, den 25. September 2020, der Helvetiaplatz in Bern. Bis zuletzt werden es über 2000 Menschen sein, die sich hier versammelt haben, um sich anschliessend quer durch die Innenstadt bis zum Waisenhausplatz zu bewegen, wo die heutige Demonstration enden wird. Gleichzeitig finden in Deutschland an rund 450 Orten Klimastreiks mit einer Beteiligung von insgesamt über 200’000 Menschen statt. Ich bin beeindruckt. Von der Professionalität, mit der die Berner Demonstration innerhalb von nur zwei Tagen organisiert worden ist. Von der Leidenschaft und der rhetorischen Brillanz sämtlicher Rednerinnen und Redner, viele von ihnen keine zwanzig Jahre alt. Von der Sachlichkeit und Wissenschaftsorientiertheit, an der, allen Anfeindungen und Spekulationen zum Trotz, unerschütterlich festgehalten wird. Von der Ernsthaftigkeit, mit der die Sorge um das Überleben der Menschheit sämtlichen anderen Themen übergeordnet wird. Von der Betroffenheit der Zuhörerinnen und Zuhörer, die den zahllosen Reden und Statements so gebannt und aufmerksam lauschen, dass man auf dem grossen, weiten Platz tatsächlich eine Stecknadel zu Boden fallen hören müsste. Und unwillkürlich sehe ich jene Bilder vor mir, die man jeweils im Fernsehen bei den Übertragungen aus dem Bundeshaus zu sehen bekommt. Dort, wo gerade ein CO2-Gesetz verabschiedet worden ist, das zuvor wohl an die zwei Jahre geradezu lustlos zwischen den Parlamentskammern, den Kommissionen und den verschiedenen Interessenverbänden hin- und hergeschoben wurde und nun keinen Teil jener Massnahmen erfüllt, die ergriffen werden müssten, um die Klimaerwärmung tatsächlich wirksam zu stoppen. Dort, wo, zumindest bei der Mehrheit der Parlamentarier und Parlamentarierinnen, nur wenig Leidenschaft für das gemeinsame Überleben der Menschheit wahrzunehmen ist, sondern man sich lieber im gegenseitigen Hickhack zwischen den Parteien die Köpfe einschlägt. Dort, wo man einander in der Regel nicht zuhört, sondern, während die einen sprechen, die anderen in der Zeitung blättern, auf ihrem Smartphone herumtippen oder mit der Sitznachbarin schwatzen. Als wären es zwei Welten. Die Welt drinnen, im Parlamentsgebäude. Und die Welt draussen, auf der Strasse und auf den Plätzen. Drinnen, da ist man immer noch den alten, fast 200 Jahre alten Gepflogenheiten des Politisierens und der Machtspiele verhaftet, den ewig gleichen Mustern endlosen Schmiedens von Kompromissen, bis auch die letzten Visionen und Träume zu Sand zerrieben sind. Draussen, da hat sich eine neue Generation auf den Weg gemacht, voller Ungeduld und voller Mut, und nicht mehr bereit, sich ihre Träume und Visionen kaputt machen zu lassen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Die drinnen leben immer noch in der Vergangenheit, als wäre die Welt in den letzten 200 Jahren stillgestanden. Die draussen leben in der Zukunft und es gibt nichts dazwischen. Was hätten jene, die noch in der Vergangenheit leben, von denen lernen können, die schon in der Zukunft angekommen sind! Hätte es einen idealeren Ort geben können als den Bundesplatz, wo Jung und Alt, wie dereinst auf dem Forum des antiken Athen, miteinander hätten ins Gespräch kommen können? Aber offensichtlich war die Zeit dafür noch nicht reif. Diejenigen, die noch in der Vergangenheit leben, wurden auf dem falschen Fuss erwischt. Und sie haben die “Störefriede” fortgejagt, statt die riesige Chance zu nutzen, von ihnen zu lernen und die riesige Herausforderung des gemeinsamen Überlebens gemeinsam anzupacken. Und doch: Der vermeintliche “Misserfolg” der Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen wird früher oder später zum Erfolg. Weil sie es sich zugetraut haben. Weil ihr Mut und ihre gleichzeitige Gelassenheit und Gewaltlosigkeit vorbildhaft sind. Weil sie sich gewagt haben, in der Gegenwart schon etwas zu verwirklichen, was in der Zukunft ganz selbstverständlich sind wird…

EU-Flüchtlingspolitik: kein Beitrag zu einer dauerhaften Lösung

 

Nun hat die EU-Kommission ihre lange angekündigten Reformpläne für das europäische Asylwesen präsentiert. Auch die Schweiz begrüsst die Stossrichtung des Massnahmenpakets, vor allem das “schnelle Screening an den Aussengrenzen”, einen “wirksamen Aussengrenzenschutz” sowie eine “effiziente und konsequente Rückkehrpolitik”. Menschenrechtsorganisationen bemängeln, dass die geplante Flüchtlingspolitik zu sehr auf Abschreckung und Abschiebung fokussiert sei und sich die EU-Staaten nach wie vor weigerten, innerhalb der europäischen Länder einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge zu vereinbaren.

(Tages-Anzeiger, 24. September 2020)

 

Weder die Aufnahme einer immer grösseren Zahl von Flüchtlingen, noch das möglichst “effiziente” Abschieben von Flüchtlingen an den EU-Aussengrenzen ist eine dauerhafte Lösung des Flüchtlingsproblems, sondern bloss eine Bekämpfung von Symptomen. Längerfristig lässt sich das Flüchtlingsproblem nur lösen, wenn an die eigentlichen Ursachen herangegangen wird. Und diese liegen im exorbitanten Ungleichgewicht zwischen wohlhabenden Ländern auf der einen Seite sowie Ländern auf der anderen Seite, die von permanenter Armut, von Hunger, von politischer Instabilität, von Kriegen und von Naturkatastrophen betroffen sind. Dieses Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Ländern, welches die Hauptursache sämtlicher Flüchtlingsströme bildet, ist indessen weder ein Zufall, noch hat es etwas mit Glück oder Pech zu tun, nein, die Armut der Armen ist eine unmittelbare und logische Folge des Reichtums der Reichen. Nicht nur, dass die industrialisierten Länder des Nordens seit Jahrhunderten unermessliche Gewinne erzielen durch den Import billiger Rohstoffe und den Export teurer Fertigprodukte. Auch, dass die Profite aus dem Handel mit Bodenschätzen und Rohstoffen nicht dort anfallen, wo diese Stoffe gewonnen werden, sondern in den europäischen und nordamerikanischen Konzernen, welche diese Stoffe gewinnbringend von Kontinent zu Kontinent hin- und herschieben. Auch, dass immer grössere Flächen Kulturlandes in den Ländern des Südens dazu gebraucht werden, Nahrungsmittel für die Bevölkerung der reichen Länder des Nordens zu gewinnen. Auch, dass Rüstungskonzerne, die wiederum fast ausschliesslich in den Ländern des Nordens angesiedelt sind, jene Waffen produzieren, mit denen dann in den Ländern des Südens Kriege geführt, ganze Dörfer und Städte ausradiert und die Menschen all ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Und schliesslich auch, dass die reichen Länder infolge ihres Wohlstands, des Verkehrsaufkommens  und ihrer Konsumgewohnheiten ungleich viel mehr als die armen Länder zum CO2-Ausstoss und damit zur Klimaerwärmung beitragen, von der aber die armen Länder in Form von Dürren, Überschwemmungen und dem Ansteigen der Meeresspiegel ungleich viel unmittelbarer betroffen sind. Wenn wir also das “Flüchtlingsproblem” dauerhaft und nachhaltig lösen wollen, dann kann uns dies nur gelingen, wenn wir diese immense Kluft zwischen den armen und den reichen Ländern verringern, faire Handelsbeziehungen aufbauen an Stelle ausbeuterischer Profitgeschäfte, auf die Produktion von Waffen und Kriegsmaterial verzichten und das dadurch gesparte Geld in zivile Aufbauprojekte und Entwicklungsprogramme investieren, nichtnachhaltige Ess- und Konsumgewohnheiten hinterfragen, die Verkehrsströme drastisch reduzieren und alle möglichen weiteren Massnahmen ergreifen, um den CO2-Ausstoss zu senken und eine weitere Erwärmung des Klimas zu stoppen. Würden wir dies alles und noch viel mehr in aller Konsequenz umsetzen, dann gäbe es schon bald keinen einzigen Menschen mehr, der versuchen würde, in einem Schlauchboot von Afrika nach Europa zu gelangen oder sich den Körper blutig zu reissen beim Versuch, an irgendeiner osteuropäischen Grenze unter einem Stacheldraht hindurchzukriechen. Denn kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, wenn er dort anständig und menschenwürdig leben kann. Und es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass ein Kind, das in Ghana oder in Syrien geboren wurde, nicht genau das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Lebens haben sollte wie ein Kind, das in Dänemark oder in der Schweiz geboren wurde…

Antigone, Wilhelm Tell, Rosa Parks und die Klimabewegung auf dem Bundesplatz in Bern

 

Die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen, die am 21. und 22. September 2020 den Berner Bundesplatz friedlich besetzten, beriefen sich bei ihrer Aktion auf das Recht auf zivilen Ungehorsam. Dieser zivile Ungehorsam sei angesichts der weltweit drohenden Klimakatastrophe höher zu gewichten als jenes Gesetz aus dem Jahre 1925, wonach politische Manifestationen auf dem Bundesplatz zur Zeit von Sessionen des National- und Bundesrates verboten sind. Die Frage des Rechts auf zivilen Ungehorsam beschäftigt die Menschen seit Jahrhunderten. Antigone, so eine uralte griechische Legende, liebte ihre beiden Brüder Polyneikes und Eteokles gleichermassen. Doch die beiden gerieten in Streit und töteten sich gegenseitig. König Kreon aber wollte nur Eteokles standesgemäss bestatten lassen. Polyneikes hingegen, der gemäss Kreon das Vaterland verraten hätte, sollte den wilden Tieren zum Frass vorgeworfen werden. Wer versuche, Polyneikes zu bestatten, der werde mit dem Tode bestraft. Doch Antigone stellte ihr eigenes Gewissen über das Gesetz und glaubte, den Göttern mehr gehorchen zu müssen als den Menschen. Sie leitete die von den Göttern vorgeschriebenen Bestattungsrituale ein, wurde aber von einem Wächter entdeckt und von Kreon ins Gefängnis geworfen. Noch heute gilt Antigone als Urbild des passiven Widerstands und zivilen Ungehorsams, unzählige Bücher und Theaterstücke wurden über ihre Geschichte verfasst. Und in der kollektiven Menschheitserinnerung ist nicht der tyrannische Kreon der Held, sondern die mutige Antigone, die es wagte, sich aufgrund ihres Gewissens den Gesetzen Kreons zu widersetzen. Auch Wilhelm Tell ist ein solches Urbild eines Menschen, der es wagte, sich gegen bestehende Gesetze aufzulehnen, indem er sich weigerte, dem auf einem Pfahl aufgesteckten Hut des Landvogts Gessler die Ehre zu erweisen. Und wie Antigone, so ist auch Wilhelm Tell als Freiheitsheld dank seiner Unerschrockenheit und seines Mutes in die Geschichte eingegangen – ganz im Gegensatz zum “Bösewicht” Gessler. Und schliesslich wäre da noch Rosa Parks, eine 42jährige Schwarze, die sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weissen Fahrgast zu überlassen, der sich auf das Gesetz berief, wonach Schwarze ihre Plätze für Weisse freigeben müssten, wenn es nicht genug Sitzplätze für alle hätte. Der Busfahrer rief daraufhin die Polizei und bestand auf ihrer Verhaftung. So wurde Parks wegen Störung der öffentlichen Ruhe festgenommen, angeklagt und zu einer Strafe von 14 Dollar verurteilt. Dieses Ereignis war der Auslöser für jene gigantische Bürgerrechtsbewegung, welche unter der Führung von Martin Luther King schliesslich die Gleichberechtigung der schwarzen mit der weissen Bevölkerung entscheidend voranbrachte. Und auch hier: In die Geschichte eingegangen ist weder jener Busfahrer noch jener weisse Fahrgast, der Rosa Parks zum Aufstehen aufrief. In die Geschichte eingegangen ist Rosa Parks, wegen ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit, sich über Gesetze hinwegzusetzen, welche die Ungleichbehandlung von Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe legalisiert hatten. Was haben die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen auf dem Berner Bundesplatz anderes getan als Antigone, Wilhelm Tell und Rosa Parks? Auch sie haben sich gegen ein Gesetz aufgelehnt, das völlig willkürlich und ohne stichhaltige Begründung erlassen wurde und dies ausgerechnet für jenen Zeitraum, da ein Dialog zwischen gewählten Volksvertretern, Volksvertreterinnen und ausserparlamentarischen Gruppen besonders wertvoll, wichtig und fruchtbar wäre. Und so wie Antigone den Göttern mehr gehorchte als den Menschen, so folgten die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen ihrem Gewissen mehr als einem Machtwort, das im Jahre 1925 erlassen wurde. Antigone, Wilhelm Tell und Rosa Parks zeigen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht durch Anpassung und Bravheit entsteht, sondern durch Auflehnung und Widerstand gegen Regeln und Gesetze, die nicht den universellen Menschenrechten entsprechen. So viel jedenfalls können sich die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen des Berner Bundesplatzes auf ihre Fahnen schreiben: In die Geschichte eingehen werden weder jene Politiker, die sich in gröbster Manier über das  “Treiben” auf dem Bundesplatz ereiferten, noch die Berner Stadtregierung und all jene Bürgerinnen und Bürger, die ihrem Unmut über das “Gesindel” vor dem Bundeshaus freien Lauf liessen. In die Geschichte eingehen werden jene paar hundert mutigen und kämpferischen Menschen, die nichts kennen ausser ihrer Stimme des Gewissens und der Sorge um eine Zukunft, die nicht nur für sie selber, sondern auch für all jene, welche die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt haben, lebenswert bleiben soll.