Archiv des Autors: Peter Sutter

Generation Z – eine “Gefahr für den Schweizer Wohlstand”? Die seltsamen Ansichten des “Generationenforschers” Rüdiger Maas…

„Junge gefährden den Schweizer Wohlstand“, lese ich auf der Titelseite des “St. Galler Tagblatts” vom 17. April. Es folgt auf Seite 3 ein ganzseitiges Interview mit dem „Generationenforscher“ Rüdiger Maas. Dieser nennt die Generation Z – die heutigen 15- bis 30Jährigen – „arbeitsunfähig“. Maas beklagt sich darüber, dass die Arbeit für diese Altersgruppe nicht mehr der „Mittelpunkt des Lebens“ sei, dass sie bei Vorstellungsgesprächen „kein bisschen nervös“ seien, dass sie ein „angenehmes Arbeitsumfeld“ einem „starken Leistungsdruck“ vorziehen, dass ihre Eltern nicht mehr „Erziehungspersonen“ seien, sondern die „besten Freunde ihrer Kinder“, dass Eltern und Kinder heute „die selben Werte teilen“ und dass die Unternehmen heute viel zu grosszügig seien, den stellensuchenden Jugendlichen, um sie anzuwerben, „viel zu viele Geschenke machen“ und ihnen sogar „Viertagewochen, Obstkörbe, Tablets und Bildschirme fürs Homeoffice“ zur Verfügung stellen. Maas beklagt sich auch darüber, dass heute zunehmend verhindert werde, den Kindern auch das „Verlieren“ beizubringen.

Offensichtlich trauert Maas den „guten“ alten Zeiten nach, in denen sich Jugendliche gefälligst den drakonischen Erziehungsmassnahmen, Strafen, der Bevormundung und der Rechthaberei und Besserwisserei seitens der Erwachsenen zu unterwerfen hatten und man ihnen bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass sie, bei Unstimmigkeiten zwischen ihnen und ihren Vorgesetzten, gefälligst den Mund zu halten hätten. Dabei müsste ein „Generationenforscher“ doch eigentlich wissen, dass sich jede neue Generation von allen vorangegangenen unterscheidet. Nur so ist eine gesellschaftliche Weiterentwicklung möglich, nur so kann die Welt immer wieder neu und anders gesehen und gedacht werden. Wenn die Jungen heute nicht mehr ihr ganzes Leben in den Dienst der Arbeit stellen, sondern vermehrt ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Lebensgenuss anstreben, so ist das etwas vom Besten, was sie tun können. Denn wer ausgeruht, entspannt, mit Freude und im inneren Gleichgewicht mit sich selber arbeitet, leistet insgesamt mehr, als wenn er wie eine Zitrone bis zum Letzten ausgepresst wird und mit der Zeit nur noch lustlos und widerwillig zur Arbeit geht. Entgegen der Schlagzeile, wonach die Jugend den Wohlstand gefährde, ist es genau umgekehrt: Mit ihrer Lebensfreude, ihrem Humor und ihrer Gelassenheit sichern diese jungen Menschen für uns alle und für unsere Zukunft eine neue, bessere Form von Wohlstand, die weit über blosse Pünktlichkeit, vorschriftsgemässes Einhalten von Regeln und Vorschriften und Verausgabung bis zur Erschöpfung hinausgeht.

Blockierte Zahlungen an das palästinensische Flüchtlingshilfswerk UNRWA

An FDP Schweiz, Neuengasse 20, 3001 Bern
An Generalsekretariat SVP, Postfach, 3001 Bern
An die Partei der Mitte, Seilerstrasse 8a, Postfach, 3001 Bern

Wie die “Rundschau” auf SRF1 am 18. April 2024 berichtet hat, verweigern die SVP, die FDP und die MITTE die Zahlung von 20 Millionen Franken an das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA. Dies allein aufgrund der – bisher noch nicht bewiesenen – Behauptung Israels, am Angriff der Hamas auf israelisches Grenzgebiet vom 7. Oktober 2023 seien zwölf von insgesamt rund 30’000 Mitarbeitenden der UNRWA beteiligt gewesen.

WOLLEN SICH DIE FDP, DIE SVP UND DIE MITTE ALLEN ERNSTES DER BEIHILFE ZUM VÖLKERMORD SCHULDIG MACHEN?

Anja Bezold, Hebamme, berichtet im “Tagesanzeiger” vom 18. April 2024: “Ich arbeitete in Rafah, wo die letzte Geburtsklinik in ganz Gaza betrieben wird. Sehr viele Kinder kommen zu früh zur Welt, weil die Mütter so gestresst und traumatisiert sind. Das Team muss 100 Geburten pro Tag stemmen und ist völlig überfordert. Es fehlt an Medikamenten und Materialien. Es gibt keine Windeln, es fehlt an Nabelklemmern. Es hat kaum künstliche Babynahrung. Es fehlt an sauberem Wasser. Die Mütter können ihre Babys nicht stillen, sie sind selber total ausgelaugt.”

Ebenfalls im “Tagesanzeiger” vom 18. Oktober 2024 berichtet der UNRWA-Nothilfekoordinator Sam Rose: “Was ich hier in Rafah sehe, übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Zehntausende Menschen sitzen in Zelten und Notunterkünften und kämpfen ums tägliche Überleben. Und Israel verwehrt uns den Zugang in den Norden, wo die Bevölkerung noch härter als im Süden von Hungersnot betroffen ist. Unsere Angestellten werden wegen der täglichen Bombenangriffe ständig vertrieben. Das Geld reicht höchstens noch bis Ende Mai, dann müssen wir unsere Arbeit hier einstellen.”

Und Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf, schreibt im Tagesanzeiger-Newsletter vom 17. April 2024: “Das UNRWA ist auf die Mittel angewiesen, um weiterhin der Zivilbevölkerung in Gaza die dringendst benötigte Nothilfe leisten zu können. Die UNRWA ist die einzige Organisation, die logistisch in der Lage ist, die Verteilung der Nahrungsmittel und der Hilfsgüter zu bewältigen. Zwölf UNRWA-Mitarbeitende (von 30’000) werden verdächtigt, an den Angriffen der Hamas beteiligt gewesen zu sein. Rechtfertig dies, die Unterstützung von zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern einzustellen, welche dringend Hilfe benötigen, um zu überleben? Hätte Henri Dunant die Verwundeten von Solferino im Stich gelassen, wenn sich darunter zwölf Vergewaltiger befunden hätten?”

SETZEN SIE SICH DAFÜR EIN, DIE BLOCKIERTEN ZAHLUNGEN AN DIE UNRWA UNVERZÜGLICH FREIZUGEBEN! ALLES ANDERE IST VERSUCHTE BEIHILFE ZU VÖLKERMORD UND WÜRDE EINE NIE DAGEWESENE VERLETZUNG UND MISSACHTUNG DER HUMANITÄREN TRADITION UNSERES LANDES BEDEUTEN.

19. April 2024, Klimastreik in Zürich: Und mittendrin Olivia, 11 Jahre, an der ersten Klimademo ihres Lebens…

Wie viele werden wohl kommen? Olivia, 11 Jahre, kann es kaum erwarten. Es ist die erste Klimademo ihres Lebens. Mindestens vier, scherze ich, du, dein Papa, deine Mama und ich. Nein, lacht sie zurück, mindestens fünf, irgendwer muss das Ganze ja organisiert haben…

Doch glücklicherweise sind es dann nicht nur fünf, sondern etwa 4000, die sich an diesem 19. April 2024 trotz strömendem Regen und Kälte auf dem Helvetiaplatz in Zürich versammeln. Musik dröhnt aus einem Lautsprecherwagen mit vorgespanntem Traktor, da und dort werden Flugblätter verteilt und Transparente aufgerollt. Fünf vor sechs Uhr, wieder ist ein Tram voller Neuankömmlinge eingetroffen, von allen Seiten strömen sie jetzt auf den Platz, junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, Omas und Opas, Kinder und Jugendliche. Olivia kommt mit Zählen nicht mehr nach.

Und dann, wie ein Theaterstück, das man perfekter nicht inszenieren könnte. Nur schon diese sich im Schritttempo vorwärts bewegende Menge, wie ein Fluss wälzt sie sich durch die Strassen, ein Bild des totalen Friedens, niemanden rempelt irgendwen an, alle sind fröhlich und lachen sich gegenseitig zu, geniessen es einfach, mit so vielen anderen Menschen zusammen zu sein, durch eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Vision, eine gemeinsame Leidenschaft miteinander verbunden. Wie ein den ganzen Körper durchdringender Herzschlag: Hier eine Parole und, kaum ist sie verklungen, dort eine andere, immer wieder neue Bewegung entfachend, tanzende, auf und ab wippende, nicht mehr zu Ruhe kommende Körper. Sprecherinnen mit Megafonen, bis ihnen die Stimme ausgeht. Dann wieder die vom Traktor gezogene Tanzbühne, dumpfe Bässe, die alles zum Vibrieren bringen, ein Stück Streetparade mitten in der Klimademo. Eine Gruppe von Trommlerinnen und Trommlern, die alle Kraft, die in ihren Körpern steckt, auf ihre Instrumente hauen, Rundumstehende, die begeistert mitklatschen, immer schneller, immer lauter. Und immer wieder Windstösse, der von allen Seiten heranstürmende Regen, flatternde Schirme, eine Kartonschachtel auf dem Kopf eines jüngeren Mannes, um sich gegen die Nässe zu schützen. Gleichzeitig wird es immer dunkler, die Gebäude am Strassenrand versinken nach und nach im Unsichtbaren, während auf der Tanzbühne jetzt Lichter in allen Farben zucken. Und mittendrin Olivia, 11 Jahre jung, elektrisiert, überwältigt von all den Eindrücken, dieser Lebensfreude, diesen lachenden Gesichtern, den vielen Fahnen und und ganz besonders jener von ihnen, die ihr Papa gebastelt hat und die nun auch sie, Olivia, eine Zeitlang tragen darf, bis sie ihr zu schwer wird. Dieser Tag wird wohl für immer in der Erinnerung ihres Lebens einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen…

Ja, diese gemeinsame, so logische und einfache und doch auf nahezu unbegreifliche Weise in immer noch in so weiter Ferne liegende Vision eines guten Lebens nicht nur für heute, sondern auch für morgen und übermorgen, und nicht nur für einzelne mit besonderem Glück und besonderen Privilegien beschenkte Orte, sondern für alle Menschen über alle Grenzen hinweg. Auf dem Traktor, welcher den grossen Musikwagen zieht, klebt ein Schild mit der Aufschrift “Free Palestine!” und erinnert daran, dass es schon längst nicht mehr bloss um die Reduktion von Treibhausgasemissionen oder die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energieproduktion geht, sondern um etwas viel Grösseres und Umfassenderes. Es geht um weltweiten Frieden und Gerechtigkeit nicht nur zwischen Mensch und Natur, nicht nur zwischen Gegenwart und Zukunft. Es geht auch um die Überwindung sämtlicher Formen von Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen. Es geht um die Überwindung jeglicher Machtverhältnisse, dank denen sich Einzelne auf Kosten anderer bereichern. Es geht um die Überwindung von Krieg und jeglicher Anwendung von Gewalt in Konflikten zwischen Menschen, Völkern oder Ländern. Es geht um die Überwindung eines globalen Wirtschaftssystems, welches nicht auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse einer sich stetig vermehrenden Menge von Geld und Macht in den Händen einer Minderheit auf Kosten der grossen Mehrheit der Menschen – das, was in der kürzest möglichen Form auch bei dieser Kundgebung mit der Parole SYSTEM CHANGE, NOT CLIMATE CHANGE immer und immer wieder skandiert und auf den Punkt gebracht wird. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte lassen sich nicht voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen. Es gibt nur entweder Frieden in und mit allem oder aber Krieg in unendlich vielen mehr oder weniger gewalttätigen und zerstörerischen Formen. Es gibt nur entweder das blinde Festhalten an der Vergangenheit oder aber den radikalen, mutigen Schritt in eine von Grund auf neue und andere Zukunft. Heute noch werden Klimastreiks, Friedenskundgebungen für Palästina oder die Ukraine, Feiern zum Ersten Mai, Frauenstreiks und Kundgebungen gegen Rassismus völlig unabhängig voneinander organisiert und durchgeführt, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Würde man alle diese voneinander getrennten Bewegungen in eine einzige, gemeinsame Bewegung für Frieden und Gerechtigkeit zusammenführen, und dies weltweit – kaum auszudenken, welche Auswirkungen dies haben würde…

Schon auf der Fahrt im Zug nach Zürich wollte Olivia unbedingt wissen, ob es überhaupt noch gelingen könne, den Klimawandel aufzuhalten. Als wir Erwachsene hin und her zu diskutieren begannen, ob es dafür nicht vielleicht schon zu spät sein könnte, liess sie dennoch nicht locker und wollte es nicht für möglich halten, dass wir es gemeinsam nicht schaffen würden. Und ja, hat sie nicht recht? Gibt es in dieser so dunklen Zeit voller Ängste und Zweifel nicht auch immer häufigere Anzeichen von Widerstand, Hoffnung und Rebellion, ein immer stärker wachsendes Bewusstsein dafür, dass Geschichte nicht einfach etwas ist, was schicksalshaft über uns Menschen hereinbricht, sondern etwas, was wir Menschen mit unseren eigenen Händen, unserer eigenen Kraft, unserem eigenen Handeln, unseren eigenen Visionen, unseren eigenen Begabungen und Leidenschaften und unserer eigenen Liebesfähigkeit verändern und gestalten können? Könnte es sein, dass wir dem “Kipppunkt”, an dem die alte in die neue Zeit umschlagen wird, schon viel näher sind, als wir uns dessen bewusst sind? Ist nicht allein schon die Tatsache, dass von uns vieren im Zug nach Zürich die elfjährige Olivia die meiste Zeit geredet hat und wir Erwachsene während der meisten Zeit ihr zugehört haben, genau einer dieser unendlich vielen Meilensteine an allen Ecken und Enden auf dem Weg in eine neue Zeit?

Noch nie habe ich so wild und ausgelassen tanzende Menschen gesehen wie an diesem 19. April 2024 in Zürich. Vielleicht auch wegen des Regens und der Kälte. Vielleicht auch, um so den Widerstand in ganz urtümlicher, aus dem tiefsten Inneren schöpfenden, sprach-loser Weise kundzutun, sozusagen jene Energie anzapfend, die weltweit alle Menschen in ihrem Innersten miteinander verbindet. Und unwillkürlich muss ich an jene legendären Sonnentänze der amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner denken, mit denen sie zum allerletzten Mal die Übermacht der aus Europa eingedrungenen weissen Kolonialherren zu brechen versuchten. Dass die Weissen ihnen militärisch überlegen waren, wussten sie schon lange und hatten jeglichen Widerstand aufgegeben. Kurz vor der letzten vernichtenden Auslöschung ihrer traditionellen Lebensweise beschlossen sie auf einer grossen stammesübergreifenden Versammlung, so lange zu tanzen, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen ihrer und der fremden Kultur hergestellt sein würde. Und so tanzten sie wochenlang, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Aber vielleicht hat ja das, was heute in Zürich geschieht, damit etwas zu tun. Vielleicht ist es ganz einfach so, dass sich die Sehnsucht des Lebens nach sich selber schlicht und einfach nicht auslöschen lässt und sich immer und immer wieder aufbäumt, so lange es Menschen gibt. Bis dann, allem Widerstand zum Trotz, eines Tages das, was sich die Sonnentänzerinnen und Sonnentänzer im fernen Amerika damals erträumt hatten, dennoch Wirklichkeit wird.

Im Zug auf dem Heimweg ist Olivia dann schon nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf gefallen. Kein Wunder, nach zwei Stunden im Regen und in der Kälte und so vielen Eindrücken an der allerersten Klimademo ihres noch so jungen Lebens. Wovon sie jetzt wohl träumt? Es liegt an dir und mir. Es liegt an der Oma, die mit letzter Kraft, auf ihren Rollator gestützt, in dem vieltausendköpfigen Zug mithumpelte. Es liegt an dem jungen bärtigen Mann, der zuerst ungläubig den so ausgelassen tanzenden Frauen zuschaute, bis er, auf einmal, selber zu tanzen begann. Es liegt aber auch an dem elegant und mit Krawatte gekleideten älteren Herrn, der verstohlen hinter dem Vorhang in einem der oberen Stockwerke eines angrenzenden Bankgebäudes hervorlugte und es sich nicht zu verkneifen vermochte, mit seinem Handy den Anblick dieser farbenfrohen, überschäumenden Menschenmenge festzuhalten. Es liegt aber auch an all denen, die an diesem Tag zuhause in der warmen Stube geblieben sind und von diesem Feuer, welches da so hoffnungsvoll entfacht worden war, immer noch nichts wissen wollten, das Kind in ihnen in meterdicke Watte eingehüllt, durch die, immer noch, auch nicht die lautesten Schreie verdursteter Kinder aus dem fernen Afrika hindurchzudringen vermögen, und auch nicht das Wehklagen Abermilliarden von Tieren und Pflanzen in sterbenden Wäldern, Seen, Flüssen und Meeren. Es liegt an dir und mir und uns allen, ob Olivias Traum von einer liebevollen, lebenswerten, lustigen, tanzenden und singenden Welt über alle Grenzen hinweg doch noch eines Tages Wirklichkeit wird oder nicht…

Geschenke am Wegesrand

Eigentlich sollte hier kein Löwenzahn wachsen. Oben ist eine Mauer aus Steinen, unten ein dicker, undurchdringlicher Teerbelag. Und doch ist der Löwenzahn da. Wie ein ungewolltes Kind, das dennoch eines Tages in voller Pracht erblühen wird. Auch wenn alle sagen, es sei der falsche Ort und die falsche Zeit: Manchmal muss man es einfach trotzdem tun. Die unscheinbarsten Dinge erzählen uns oft die bedeutungsvollsten Geschichten.

Baskenland-Radrundfahrt im April 2024: “Das Gefährlichste sind die Fahrer selbst” – Wie das Konkurrenzprinzip unser Denken verdreht…

Wie das schweizerische “Tagblatt” am 6. April 2024 berichtete, hat “eine Sturzserie von Top-Fahrern bei der Baskenland-Rundfahrt den Radsport erschüttert”. Am schlimmsten traf es den Dänen Jonas Vingegaard, der neben mehreren Knochenbrüchen auch eine Lungenquetschung erlitt und nach seinem fürchterlichen Sturz lange regungslos am Streckenrand liegen blieb. Der Belgier Remco Evenepoel brach sich das Schlüsselbein und zog sich eine Fraktur des Schulterblatts zu. Und der Australier Jay Vine zog sich einen Halswirbelbruch und zwei Brüche an der Brustwirbelsäule zu. Die Bilder lösten einen derartigen Schock aus, dass selbst Thierry Gouvenou, Renndirektor von Paris-Roubaix, öffentlich die Forderung erhob: “Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden. Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken.”

Hätte man nun eine Grundsatzdebatte über Sinn oder Unsinn solcher Sportanlässe erwartet, so wurde man sogleich eines Besseren belehrt. “Ich glaube”, so kommentierte der Niederländer Mathieu van der Poel die Vorfälle, “das gefährlichste Moment sind die Fahrer selbst. Denn alle wollen vorn am gleichen Platz sein, und das ist nicht möglich.” Auch der Deutsche Simon Geschke meinte: “Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell. Es ist der Ehrgeiz der Profis, diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Jeder will in die ersten Zehn hinein. Und wenn dann keiner bremst, passiert eben so etwas. Viele Stürze sind allein die Schuld der Fahrer.”

Wie kann man simpelste Tatsachen dermassen ins Gegenteil verdrehen! Sind doch Sportanlässe dieser Art, bei denen es um nichts anderes geht als um Sieg oder Niederlage, von Natur aus auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, dass sich die, welche daran teilnehmen, bis aufs Blut gegenseitig zerfleischen. Man stelle sich einmal vor, ein einzelner Fahrer würde tatsächlich kurz vor einer gefährlichen Situation künstlich bremsen oder sich nicht mit der grösstmöglichen Geschwindigkeit auf den allersteilsten Abfahrten in die allerengsten Kurven legen – die ganze Sportwelt, alle Mitkonkurrenten, die Fernsehkommentatoren, die Sponsoren und das gesamte Publikum würden doch wie Hyänen über solche “Weicheier” herfallen…

Wie auch die Organisatoren mehrerer Skirennen, bei denen es im letzten Winter überdurchschnittlich viele schwere Stürze gab, von “Weicheiern” sprachen, als einzelne Fahrerinnen die Entschärfung besonders gefährlicher Streckenabschnitte forderten. Diese Frauen, so meinte ein auffallend fettleibiger Verbandsfunktionär, den man sich beim besten Willen nicht mit über hundert Stundenkilometern die Pisten hinabrasend vorstellen kann, hätten offensichtlich den falschen Job gewählt. Ebenso wie jene Kunstturnerin wohl den falschen Job gewählt hat, die sich darüber beschwerte, dass ihr Trainer sie gezwungen hätte, trotz gebrochenem Knöchel weiterzuturnen, und ebenso wie auch jene Synchronschwimmerin ganz offensichtlich den falschen Job gewählt hat, die sich weigerte, noch länger unter Wasser zu bleiben, nachdem sie im letzten Training beinahe ohnmächtig geworden war.

Aber nein. Das Gefährliche sind nicht die glitschigen Pflastersteine, über welche die Radrennfahrer gehetzt werden. Auch nicht die immer gefährlicheren Sprünge, welche von Kunstturnerinnen gefordert werden, und auch nicht die immer anstrengenderen Figuren, welche Synchronschwimmerinnen bewältigen müssen. Auch nicht die immer engeren Kurven auf den Skipisten, in denen Becken, Kniegelenke und Wirbelsäule der Fahrerinnen und Fahrern immer höheren tonnenweisen Belastungen ausgesetzt sind. Nein, das Gefährliche sind die Sportlerinnen und Sportler selber. So wie das Gefährliche auch der LKW-Fahrer ist, der während 24 Stunden ohne Schlaf unterwegs war, einen schweren Unfall baute und dafür mit dem Entzug seines Fahrausweises bestraft wurde, während sein Arbeitgeber weiterhin alle anderen verbliebenen Fahrer mit viel zu engen Zeitlimiten und mit viel zu wenig Schlaf über die Strassen jagt, auf denen in immer horrenderem Tempo alle gegenseitig ums Überleben kämpfen. Schuld daran, dass sie ihre Stimme verloren haben und Konzerte absagen mussten, waren auch Shania Twain, Jan Delay, Tim Bendzko, Ed Sheeran, Sam Brown, Rita Ora, Phil Collins, Rod Stewart, Selena Gomez, Rihanna und Christina Aguilera ganz alleine – und nicht etwa ihre Manager und Produzenten, von welchen sie erbarmungslos an 300 Tagen oder mehr pro Jahr von Bühne zu Bühne gehetzt und während der verbliebenen Zeit zu unzähligen Werbe-, Interview- und Fototerminen verpflichtet werden. Und selbst all jene Schülerinnen, welche unlängst in erschreckend hoher Anzahl in einer Befragung aller Vierzehnjährigen im Kanton Zürich zu Protokoll gaben, unter Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken zu leiden, sind offensichtlich ganz alleine selber Schuld – deshalb wurde ihnen vom Kantonalen Schulpsychologen ans Herz gelegt, mehr Sport zu treiben und sich mehr “Resilienz” anzueignen, um weniger stark unter dem Leistungs-, Prüfungs- und Notendruck der Schule zu leiden.

Offensichtlich haben wir das durch alle Lebensbereiche hindurchwirkende Konkurrenzprinzip, welches darauf beruht, die Menschen in einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen, um ein Höchstmass an Leistung aus ihnen herauszupressen, bereits dermassen verinnerlicht, dass uns seine ganze Absurdität und Zerstörungskraft und die Tatsache, dass seine Opfer am Ende noch selber daran Schuld sein sollen, schon gar nicht mehr besonders auffällt. Vermutlich ist da selbst nicht einmal mehr jener Gedanke besonders fern, wonach auch der ukrainische oder der russische Soldat, der im von ferner Hand aufgezwungenen gegenseitigen Vernichtungskampf das Leben verliert oder eine schwere Verletzung mit oft lebenslänglichen Folgen erleidet, an seinem Schicksal selber Schuld ist, hätte er doch härter kämpfen, mehr Mut haben oder sich besser schützen können…

Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik bestand bis ins 19. Jahrhundert eine Lieblingsbeschäftigung von Plantagenbesitzern darin, ihre Sklaven in zwei gleich grosse Gruppen aufzuteilen. Die beiden Gruppen mussten dann innerhalb einer gewissen Zeit möglichst viel Zuckerrohr ernten. Die, welche eine grössere Menge geerntet hatten, bekamen zur Belohnung eine Tasse Tee. Die anderen wurden ausgepeitscht…

Das Konkurrenzprinzip ist bis heute die Peitsche in den Händen der Reichen und Mächtigen, das effizienteste Mittel, um die Menschen gegenseitig zu entsolidarisieren und sie in einen permanenten gegenseitigen Kampf ums Überleben zu zwingen, der – ob in der Arbeitswelt, dem Sport, dem Showbusiness, der Schule oder ganz allgemein der kapitalistischen Klassengesellschaft, in der die Armen der Ärmsten gezwungen sind, immer härter gegenseitig um einen immer kleiner werdenden Kuchen zu streiten – zwangsläufig immer zerstörerische Formen annehmen muss, wie ein Wettrennen, in dem die an der Spitze gezwungen sind, sich immer mehr und bis zur Erschöpfung anzustrengen, um nicht von den anderen eingeholt zu werden, und die, welche hinten sind, ebenfalls gezwungen sind, immer grössere Anstrengungen zu unternehmen, um nicht den Abschluss zu verlieren. Alle anderen werden ausgespuckt und bleiben mit gebrochenen Körpern, zerstörten Träumen und kaputten Seelen am Strassenrand liegen. Und natürlich sind auch sie alle selber Schuld, wer denn sonst…

“Schwere Stürze lösen Debatte aus” – so der Titel des anfänglich zitierten Zeitungsartikels über die Sturzserie an der Baskenland-Rundfahrt vom April 2024. Die Debatte lässt auf sich warten…

Ein B, das Flügel bekam und sich in eine Biene verwandelte: Wie Star lesen und schreiben lernte…

Meine Enkelin Star war viereinhalb Jahre alt, als sie mir eines Tages ganz aufgeregt etwas zeigte. “Schau, Opa”, sagte sie, “das ist ein X!” Es war tatsächlich der Buchstabe X, den sie in einem Wort gefunden hatte, welches ihre sechs Jahre ältere Schwester Leonie auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. “Und das hier kenne ich auch”, sagte sie und zeigte auf die Buchstaben N, O und A. “Aber die hier”, sie zeigte auf die anderen Buchstaben im Wort, “die weiss ich noch nicht.” Und dann bat sie mich, in ihr Zimmer zu kommen. Voller Stolz nahm sie eine kleine, bunte Blechdose von ihrem Nachttischchen und öffnete sie: “Schau, hier sind sie!” In der Blechdose lagen, in verschiedenen Farben auf kleine Zettel geschrieben, tatsächlich die Buchstaben X, N, O und A. Mila, ihre zwei Jahre ältere Schwester, hatte sie auf die Zettelchen geschrieben und ihr versprochen, jeden Tag ein weiteres mit einem neuen Buchstaben hinzuzufügen.

Doch nach sieben Tagen hatte Star genug. “Das reicht”, sagte sie. Auch während der folgenden zwei Wochen zeigte sie kein Interesse mehr an den Buchstaben. Wäre das alles zwei Jahre später geschehen, mitten in der Schule, hätte die klassische Lehrerin wahrscheinlich schon von einer Lernverzögerung oder gar von einer Lernverweigerung gesprochen. Doch Star hatte jetzt ganz einfach ihr Interesse vorübergehend auf anderes ausgerichtet, zum Beispiel auf die Farben des Regenbogens, mit denen sie verschiedene Tiere malte, oder auf eine Kartonschachtel, aus der sie eine Öffnung herausgeschnitten hatte und die sie sich nun über den Kopf stülpte, um einen Hasen zu spielen. Die nächsten Buchstaben konnten noch etwas warten…

Auch auf dem Nachttischchen ihres Zwillingsbruders Bosni lag eine kleine, bunte Blechdose. Aber die war noch leer. Dafür hatte er jetzt noch keine Zeit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, alles Erdenkliche, was sich auseinandernehmen liess, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Oder mithilfe von Google-Street die Häuser der Grosseltern, den Bahnhof oder den Migros-Supermarkt aufzusuchen, so zielsicher und in einem so horrenden Tempo, dass ich mit meinen Augen seiner Fahrt schon gar nicht mehr zu folgen vermochte. Aber die Blechdose hatte er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Und wahrscheinlich wusste er bereits, dass auch er sie eines Tages zu füllen beginnen würde.

Kurz darauf begann Star, in Bilderbüchern jene Buchstaben zu suchen, die sie schon kannte. Dabei fiel ihr auf, dass einige Wörter mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wurden und andere mit kleinen. Mila wusste auch nicht genau weshalb, aber Leonie konnte die Angelegenheit klären. Nun begann Star, zum ersten Mal selber kleine Wörter zu schreiben. Und eines Nachts sah sie im Traum vor sich den Buchstaben B. Der war plötzlich ganz gross angeschwollen und war zur Seite gekippt, so dass unten die gerade Seitenlinie lag und oben die zwei Bögen wie kleine Buckel. Diese begannen sich auf einmal in zwei Flügel zu verwandeln und plötzlich flog der zu einer Biene gewordene Buchstabe B fort, in unsichtbare Ferne. Überhaupt, die Träume. Wären sie sichtbar gewesen, dann hätten sie wahrscheinlich einem grossen See geglichen, in den oben immer wieder neue, kleine, grosse, bunte, glitzernde, bekannte und unbekannte Buchstaben hineinfielen, um sich dann, im Wasser hin und her schaukelnd, langsam auf den Grund des Sees hinab zu senken. Das waren dann wohl jene Augenblicke, in denen Star wieder etwas Neues “gelernt” hatte.

Und so ging das weiter, über Wochen und Monate, mal schneller, mal langsamer, mal gar nicht. Eine Reise voller Abenteuer und Entdeckungen. Die Blechdose füllte sich nach und nach, alles bewegte sich in Richtung Vollkommenheit, denn das ist das Wesen des Lernens: Es gibt nichts Perfektionistischeres als ein Kind. Es will ALLES und es will alles so GUT wie nur irgend möglich. Wir könnten uns untrüglich darauf verlassen: Eines Tages würde Star ebenso perfekt lesen und schreiben können, wie sie auch mündlich ihre Muttersprache so perfekt und in allen nur erdenklichen Variationen beherrschte – vorausgesetzt, es wäre stets alles von guten Gefühlen begleitet, von unbändiger Entdeckungslust, vom Triumph, plötzlich Dinge zu können, die eben noch völlig unbekannt gewesen waren. Ja, es müsste funktionieren, aber nur, wenn sich die Erwachsenen nicht zu früh in dieses wundervolle Geschehen einmischen, nicht leichtfertig die Sache der Kinder zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf einmal das Erlernen von Buchstaben mit schlechten Gefühlen verbinden würden, mit Ängsten, Über- oder Unterforderungen, mit übertriebenen Erwartungen, unnötigem Belehren, langweiligen Übungsblättern ohne jegliche Glücksgefühle und viel zu vielen weiteren künstlichen Eingriffen, die wie Giftpfeile das Lernen der Kinder, dieses heilige Wunder, nur zu schnell und unbedacht zu stören, zu verletzen, zu blockieren und zu zerstören drohen. Denn es ist eben ganz genau so, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget einst so treffend sagte: “Alles, was den Kindern beigebracht wird, können sie selber nicht mehr lernen.”

Nur noch die gleichen Geschichten

Irgendwann ist alles, was sich innerhalb des Kapitalismus sagen lässt, gesagt. Dann dreht sich alles nur noch im Kreis. Und es sind immer wieder die gleichen Geschichten, die sich wiederholen. Ab jetzt finden die wahrhaft neuen, begeisternden Geschichten nur noch ausserhalb und jenseits des Kapitalismus statt.

7. Montagsgespräch vom 8. April 2024: Wie lassen sich Tierwohl und menschliche Ernährungsweise vereinbaren?

Einleitend hielt Renato Werndli, aktiver Tierrechtsaktivist seit vielen Jahren, fest, dass man früher noch davon ausgegangen sei, Tiere hätten keine Empfindungsfähigkeit und könnten Schmerzen nicht wahrnehmen, heute wisse man aber, dass dies nicht der Fall sei. Dennoch sei das Töten von Tieren zur Herstellung von Nahrungsmitteln an der Tagesordnung, pro Sekunde würden schweizweit zwei bis drei Tiere getötet, im Verlaufe dieser Gesprächsrunde also etwa 18‘000. Dazu kämen die meist katastrophalen Bedingungen, unter denen die Tiere aufgezogen würden, weltweit sei Massentierhaltung für rund 90 Prozent aller „Nutztiere“ die Regel. Zudem würden allein in der Schweiz 60 Prozent aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen für die Herstellung von Tiernahrung verwendet – eine masslose Verschwendung hinsichtlich der Welternährungslage. Werndli plädierte daher für eine konsequent vegane Ernährungsweise. Er hoffe, dass die Menschheit eines Tages zur Einsicht gelange, dass das Töten eines Tiers ebenso ein Verbrechen sei wie das Töten eines Menschen.

In der nachfolgenden Diskussion zeigte sich, dass auf diesem Weg noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden sind. Ein häufig gehörter Einwand ist, dass ausschliesslich vegane Ernährung gesundheitsschädlich sei. Dies, so Werndli aus seiner Sicht als Hausarzt, treffe nicht zu, einzig ein Mangel an Vitamin B12 könne auftreten, hierfür aber gäbe es Alternativen. Als weiterer Punkt wurde erwähnt, dass Fleisch, vor allem durch entsprechende Subventionen, viel zu billig sei und deshalb auch so massenhaft konsumiert werde. Eine Diskussionsteilnehmerin verwies auf die komplexen Zusammenhänge innerhalb der gesamten Produktionskette bis hin zum Endkonsum, es sei deshalb wichtig, sämtliche daran Beteiligte ins Boot zu holen, um gemeinsame Lösungen zum Wohle aller zu finden. Kontrovers wurde diskutiert, inwieweit tierfreundlichere Haltungsformen eine Alternative sein könnten, dem wurde aber entgegengehalten, dass auch das Leben dieser Tiere viel zu früh und gewaltsam beendet werde, Tiere mit einer Lebenserwartung von zehn Jahren würden schon im Alter von einem halben Jahr getötet. „Kognitive Dissonanz“ sei ein weiteres Hindernis: Eigentlich wisse man es ja schon längst, aber verhalte sich im Alltag dennoch nicht entsprechend.

Abschliessend erinnerte eine Diskussionsteilnehmerin daran, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht von heute auf morgen zu realisieren seien, als Beispiel erwähnte sie das Frauenstimmrecht, für das jahrzehntelang gekämpft werden musste, heute aber nicht mehr wegzudenken ist. So, meinte sie, würde auch eine vegane Ernährungsweise in Zukunft, im Gegensatz zu heute, selbstverständlich und nicht mehr wegzudenken sein. Hierfür aber brauche es viel Aufklärungsarbeit und Menschen wie Renato Werndli, die sich unermüdlich und unbeirrt für dieses Ziel einsetzen.

Das Märchen von der sich wiederholenden Geschichte: Eine neue Zeit kommt, aber sie kommt nicht von selber

Immer wieder, und in der heutigen Zeit ganz besonders, geistert dieses Märchen durch die Lande, die Geschichte würde sich endlos stetig wiederholen. Dann kommen die Vergleiche mit 1933 oder mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. So als handle es sich um Gesetzmässigkeiten, denen wir machtlos ausgeliefert wären und die wie Naturkatastrophen regelmässig über uns hereinbrächen. Oder, wie mein Vater mich stets, wenn ich an ein mögliches Ende aller Kriege glaubte, belehrte: “Weisst du”, sagte er, “Kriege gab es schon immer und wird es deshalb auch immer wieder geben.”

Als sei alles sozusagen vorprogrammiert. Als sei die Geschichte mächtiger als wir Menschen. Als wären wir bloss das Opfer irgendwelcher höherer Mächte, die das alles schon lange so geplant hätten. Die Folge: Ein verheerender Fatalismus. Das Gefühl so vieler Menschen, etwas ganz Grossem, Schwerem und Schrecklichem hilflos ausgeliefert zu sein, nichts dagegen tun zu können. Als wäre jeglicher Widerstand ohnehin zwecklos. Nur so ist zu erklären, weshalb in diesen Tagen, da ganz unverhohlen und offen mehr denn je wieder die Rede ist von einem drohenden dritten Weltkrieg, nicht Millionen und Abermillionen von Menschen auf der Strasse sind und für Frieden demonstrieren, nicht an allen Häusern quer durch alle Länder Peace-Fahnen hängen und nicht jeden Tag Abertausende Friedensbriefe geschrieben werden an jene, die über Krieg oder Frieden entscheiden. Lieber flüchtet man sich in alle noch so absurden Freizeitvergnügungen, um sich von all dem Bedrohlichen abzulenken. “Ich würde das nicht aushalten”, sagte mir eine jüngere Frau, “ich muss abschalten und mir möglichst viele Momente schaffen, in denen ich das Leben geniessen kann.” Aber wie soll man denn das Leben geniessen können, wenn man doch weiss, dass genau zur gleichen Zeit unzählige Kinder im Gazastreifen unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser um ihr Leben schreien, während ihre Eltern mit blossen Händen nach ihnen graben, und die Kinder immer weiterschreien, bis das Schreien irgendwann ganz leise wird und irgendwann auf einmal verstummt? Und wie soll man das Leben geniessen können, wenn doch ganz tief im Inneren diese Angst trotz aller Ablenkungen nicht auszulöschen ist, diese Angst, dass das, was für die Kinder im Gazastreifen heute “normal” ist, auch für unsere eigenen Kinder und uns selber schon bald ebenso “normal” sein könnte?

Wer kann ein Interesse an diesem Fatalismus, an dieser Schicksalsgläubigkeit, an diesen Ohnmachtsgefühlen, an all diesen Ablenkungen und Selbsttäuschungen haben? Doch nur jene, die aus dem Tod anderer einen Nutzen ziehen, nur jene, die eben kein Interesse daran haben, dass Kriege für immer ein Ende finden, so wie der US-Aussenminister Antony Blinken, der kürzlich in aller Öffentlichkeit sagen konnte, er hoffe, dass der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, könnten dadurch doch zahlreiche Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie erhalten werden – eigentlich hätte er auch sagen können, dass hiermit dieser Rüstungsindustrie weiterhin lukrative und immer noch lukrativere Aufträge gesichert werden können, aber so weit wollte er dann offensichtlich auch wieder nicht gehen.

Interesse an diesem Fatalismus und an all diesen Ablenkungen können nur jene weltweit Reichsten und Mächtigsten haben, die nicht wollen, dass eine weltweite Revolution des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ausbricht, weil dann nämlich all die Privilegien, die sie als Minderheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit friedliebender Menschen über alle Grenzen hinweg geniessen, fundamental bedroht wären. Und so setzen sie alles daran, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, halten unerbittlich an ihrer Machtbesessenheit fest und sind dabei schon so blind geworden, dass sie nicht einmal mehr merken, dass, wenn die ganze Welt untergeht, auch sie selber untergehen.

Doch es ist nicht zu spät. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Sie darf sich nicht wiederholen. Jedes neu geborene Kind ist der lebendige Beweis dafür, dass eine der wertvollsten oder vielleicht sogar die wertvollste aller Gaben, über welche die Menschen verfügen, darin besteht, aus Fehlern lernen zu können. Ohne diese Gabe wäre es nicht möglich, dass sich ein Baby, das wie ein auf dem Rücken liegender Käfer hilflos am Boden zappelt, im Verlaufe von nicht einmal vier Jahren in ein Kind verwandelt, das sich mit traumtänzerischer Sicherheit durch die Welt bewegt, alle seine Sinne voll ausgebildet hat, schon eine unglaubliche Vielzahl an Geheimnissen seiner Umwelt durch eigenes Forschen entschlüsselt hat und auf vielfältigste und subtilste Weise mit seiner Umgebung kommunizieren kann, alles erlernt auf dem Weg von Versuch und Irrtum, Scheitern und Gelingen, Fehler machen und daraus lernen. Die Erwachsenen müssten es bloss gleich machen wie die Kinder, dieses frühe Wunderwerk auch im späteren Leben weiterführen: Aus gemachten Fehlern lernen, alles, was sich nicht bewährt hat, neu erfinden, Gewalt aufgrund viel zu vieler schlechter Erfahrungen in Gewaltlosigkeit verwandeln, Hass in Liebe, Krieg in Frieden. Und dies alles im festen Vertrauen, dass der Mensch im Grunde gut ist, so wie das der bekannte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 200 Jahren wusste: “Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.”

Der Mensch kann und muss stärker sein als die Geschichte. Nicht die Geschichte muss ihn bestimmen, er muss die Geschichte bestimmen. Alle Märchen und Mythen, die im Laufe der Jahrhunderte über die kindliche Seele geschüttet wurden und immer noch geschüttet werden, müssen überwunden und beiseitegeschafft werden. Man muss dem Menschen nichts aufzwingen, ihn nicht belehren, man muss ihn nur befreien zu sich selber. Wir sind nicht klein und machtlos und scheinbar unveränderbaren äusseren Verhältnissen ausgeliefert. Wir sind gross und stark und fähig, diese Verhältnisse zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Geschichte nicht einfach immer nur eine Wiederholung bereits begangener Fehler, Untaten, Versäumnisse und Verbrechen ist, sondern jeden Tag die Chance bietet zu einem radikal neuen Anfang.

Ich würde mich, im traditionellen Sinne, nicht als religiös bezeichnen. Aber ich bin dennoch davon überzeugt, dass dieses wunderbare Geschöpf Mensch einen tieferen Sinn haben muss. All die wunderbare Musik, die im Laufe von Jahrtausenden erschaffen wurde, Millionen trauriger und fröhlicher Lieder, Instrumente himmlischer Klänge quer über alle Kontinente, Tanzen, Singen und Spielen, die Freude und der Stolz auf schöne Kleidung, kunstvollste Frisuren, künstlerische Wunderwerke von Höhlenzeichnungen bis zu filigransten Bauten technischer Höchstleistungen, Gedichte, Romane, Theaterstücke, Filme voller immer wieder neuer, ungeahnter Kreativität, das Lachen, Witze, Humor, die erste Liebe, all die Empfindungen beim gegenseitigen Blick in die Tiefe unserer Augen, Sehnsüchte, Erinnerungen, Inspirationen, Träume, Phantasien, Visionen, die Gaben der Empathie, der Liebe von Eltern für ihre Kinder, die Fähigkeit sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören, sich zu trösten, voneinander zu lernen, füreinander einzustehen, der Idealismus, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Mitleiden, das Mitfühlen, immer weiter sich entwickelnde Künste und Kenntnisse zum Anbau von Nahrungsmitteln und zum Zubereiten von Speisen, die abertausenden technischen, wissenschaftlichen, medizinischen Fortschritte im Laufe von Jahrtausenden, um dem Menschen schwere Lasten abzunehmen und Freiräume für Musse und Genuss zu schaffen, die nahezu unfassbare Tatsache, dass es unter Abermilliarden von Menschen, die jemals diese Erde bewohnt haben, noch nie zwei mit den genau gleichen Empfindungen, dem genau gleichen Aussehen, der genau gleichen Augenfarbe und dem genau gleichen Klang der Stimme gegeben hat, ein unermessliches Füllhorn endloser, sich im Sekundentakt übersprudelnder Phantasie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses wunderbare Geschöpf letztlich zu nichts anderem geschaffen worden wäre, als sich selber auszulöschen. Wer immer dieses Geschöpf erschaffen hat, wo, wann, wie und weshalb auch immer, dies kann nicht die Idee gewesen sein.

Eine neue Zeit kommt, das spüren immer mehr Menschen. Aber sie kommt nicht von selber. Sie braucht unsere Arbeit. Unsere Leidenschaft. Unsere Hände. Unseren Mut. Unsere Unerbittlichkeit. Unseren Glauben an das Gute im Menschen. Unsere Liebe.

Wir haben es in der Hand.

Osterfriedensmarsch am 1. April 2024 in Bern, Rede der Palästinenserin Shirine Dajani: “Tagelang schreien die Kinder unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser, bis sie verstummen.”

Im Folgenden die Rede der Palästinenserin Shirine Dajani anlässlich des Osterfriedensmarschs in Bern am 1. April 2024. Während sie sprach, musste sie immer wieder gegen ihre Tränen ankämpfen, legte oft längere Pausen ein, um tief durchzuatmen, bevor sie weitersprechen konnte. Als sie vom Tod ihrer 12jährigen Patentochter Shireen sprach, musste ich an meine zehnjährige Enkelin denken und wie da eine ganze Welt zusammenbräche, wenn sie sterben müsste. In meinen Tränen und in den Tränen von Shirine floss in einem kurzen Augenblick all dieses Unaussprechliche ineinander…

Mein Name ist Shirine Dajani. Ich bin Palästinenserin. Ich habe unsere palästinensische
Sprache, unsere Kultur, unseren Humor und unsere Leidenschaft überallhin mitgenommen und sie haben mich am Leben erhalten. Es hat mich menschlich gehalten, trotz allem, was ich gesehen und erlebt habe.
Die Familie meiner Mutter stammt aus Haifa. Die Familie meines Vaters aus Yaffa. Meine beiden Familien wurden 1948 aus ihren Häusern und ihrem Land in Palästina deportiert und nach Beirut, Libanon, gebracht, wo sie zu Flüchtlingen wurden. Von einem Tag auf den anderen wurden sie staatenlos, ließen alles zurück und durften nie wieder in ihre Heimat, in ihr Land zurückkehren.
Ich weiß, was die Verwüstungen des Krieges den Menschen antun können. Und vor allem, was er Kindern antun kann. Ich war ein kleines Kind während des libanesischen Bürgerkriegs, eines blutigen und schrecklichen Krieges, in dessen Verlauf die israelische Armee 1982 in den Libanon einmarschierte. Ich wurde nur wenige Wochen geboren, bevor eine libanesische Miliz mit Hilfe der israelischen Armee die Flüchtlingslager Sabra und Shatila in Beirut stürmte und Tausende von unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern abschlachtete. Es hieß, es seien keine Schüsse, sondern nur Schreie zu hören gewesen, weil die palästinensischen Flüchtlinge mit Messern massakriert worden seien.
Meine Familie hatte das Glück, bei dieser Gelegenheit dem Tod zu entgehen, da sie nur 15 Gehminuten außerhalb der Lager eine Bleibe gefunden hatte. Das war im Jahr 1982.
1982 hatte Israel das Westjordanland und den Gazastreifen bereits 15 Jahre lang
unrechtmäßig besetzt und die Bevölkerung täglichen Demütigungen und seelisch
zermürbender Unterdrückung ausgesetzt. Palästinensisches Land zu besetzen und seine Bevölkerung einem brutalen Militärregime zu unterwerfen, ist ein sehr kostspieliges Unterfangen.
Spulen wir 42 Jahre vor. Die israelische Militärmaschinerie hat sich zu einer der mächtigsten und technologisch fortschrittlichsten Streitkräfte der Welt entwickelt.
Israel gibt jedes Jahr Milliarden von Dollar für die Aufrechterhaltung dieses Regimes aus. Im Jahr 2022 gab Israel 23 Milliarden USD für seine Militärausrüstung aus. Sie können sich vorstellen, was Israel in den letzten 6 Monaten für die Vernichtung des Gazastreifens ausgegeben hat. Was bedeutet das, all diese Milliarden von Dollar? Wie sieht das vor Ort aus?
Sie wissen vielleicht, dass die israelische Besetzung des Westjordanlandes und
Ostjerusalems nach internationalem Recht illegal ist. Israel hat 144 israelische Siedlungen im Westjordanland gebaut, die alle nach internationalem Recht illegal sind. Über 700.000 israelische Siedler leben im Westjordanland und in Ostjerusalem auf palästinensischem Land mit vollen Rechten, während über 3 Millionen Palästinenser unter israelischer Militärbesatzung leben, ohne jegliche Rechte. Diese militärische Besetzung der Palästinenser wird durch Hunderte von Checkpoints aufrechterhalten, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einschränken und kontrollieren, die Palästinenser zwingen, andere Straßen zu benutzen als jüdische Israelis, und die Palästinenser erhalten andersfarbige Auto-Nummernschilder.

Eine Mauer viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch

Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise in das Leben eines Palästinensers, der im
Westjordanland lebt. Sie wurden in Bethlehem geboren. Als Palästinenser, der unter israelischer Besatzung lebt, haben Sie keine echte Staatsbürgerschaft, sondern nur einen Personalausweis. Sie können das Westjordanland nicht ohne die Erlaubnis der israelischen Regierung verlassen. Sie haben keinen Reisepass, der von den meisten Ländern anerkannt wird. Sie sitzen in der Falle. Vielleicht sind Sie Vater und haben eine Familie zu ernähren. Sie arbeiten auf dem Bau, einer der wenigen Jobs, die Ihnen zur Verfügung stehen. Sie verbringen Ihre Tage damit, Siedlungen, Häuser und Städte für jüdische Siedler zu bauen, Siedlungen, in denen Sie nicht leben dürfen. Sie wachen mitten in der Nacht auf, um zur Arbeit zu gehen, wie Tausende von Palästinensern aus dem Westjordanland. Um in den Siedlungen zur Arbeit zu gehen, müssen Sie einen oder mehrere Checkpoints passieren, die von bis an die Zähne bewaffneten israelischen Soldaten besetzt sind. Die beste Zeit, um den Checkpoint zu passieren, ist um 2 Uhr morgens, dann haben Sie die besten Chancen, durchzukommen, bevor es zu voll wird. Sie gehören zu den Tausenden von Palästinensern, die in effektive Käfige
gepfercht werden, um auf die andere Seite zu gelangen, wo Sie den Tag damit verbringen werden, für Israelis, die unendlich viel mehr Rechte und Privilegien haben als Sie, Fliesen zu verlegen, vielleicht für ein Schwimmbad. Und dann müssen Sie die zermürbende und quälende Erfahrung einer weiteren Reihe von Straßensperren und Checkpoints machen, um nach Hause zu gelangen, nur um dann wieder von vorne zu beginnen, mitten in der Nacht, tagein, tagaus.
Das Westjordanland ist nicht sehr groß. Bethlehem und Jerusalem sind weniger als 10 km voneinander entfernt. Ohne Einschränkungen würde die Fahrt 15 Minuten dauern. Für Palästinenser dauert es Stunden, weil sie die israelischen Straßen nicht benutzen dürfen und weil die israelischen Checkpoints über ihr Land verstreut sind. Die Checkpoints können von den israelischen Soldaten ohne Vorankündigung geschlossen werden, so dass die Palästinenser keine Ahnung haben, ob sie tatsächlich zur Arbeit, zur Schule, zum Krankenhaus oder zum Haus ihrer Familie gelangen werden.
Eines der imposantesten und bestrafendsten Elemente der Besatzung ist die über 700 km lange und 9 m hohe Trennmauer. Zum Vergleich: Sie ist viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch. Die Mauer trennt palästinensische Dörfer voneinander, trennt palästinensische Bauern von ihren Ernten und isoliert ganze Dörfer, die von der Mauer umgeben sind, wobei einige dieser Dörfer nur einen Ein- und einen Ausgang haben, der wiederum von Soldaten besetzt ist, wie das Dorf Qualquilya.
Der Bau und Unterhalt der israelischen Mauer hat Milliarden von Dollar gekostet. Sie verfügt in einigen Teilen über Roboterwaffen, die Tränengas, Betäubungsgranaten und Kugeln auf Palästinenser abfeuern können. Sie nutzt künstliche Intelligenz, um Ziele zu verfolgen. Einige dieser Maschinen brauchen nicht einmal Menschen, um bemannt zu werden. Sie können aus der Ferne gesteuert werden. Können Sie sich vorstellen, Palästinenser zu sein und im Westjordanland in einer Stadt zu leben, die von dieser Mauer umgeben ist, mit nur einer Ein- und Ausfahrt, die von israelischen Soldaten kontrolliert wird? Können Sie sich vorstellen, ein Kind zu sein, das dort aufwächst und zusieht, wie seine Eltern, sein Vater, seine Mutter, seine Großeltern täglich Demütigungen ausgesetzt sind, nur um nach Hause zu kommen?
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und vergleichen Sie Ihre Freiheit hier, wie Sie sich
bewegen, wie Sie heute hierher gekommen sind. Sie mussten nicht darüber nachdenken, welche Checkpoints Sie passieren müssen, oder sich Sorgen über die Laune des israelischen Soldaten machen, der den Checkpoint besetzt, oder nicht wissen, ob Sie eine Stunde oder neun Stunden brauchen, um hierher zu kommen, oder fast hierher kommen und zurückgeschickt werden, nachdem Sie stundenlang in einer Schlange in einem überfüllten Käfig gewartet haben. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihre Bewegungsfreiheit praktisch vollständig von einer ausländischen Armee kontrolliert würde? Das ist das Westjordanland.

Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu töten?

Von Gaza habe ich noch gar nicht gesprochen. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Israels Bombenangriff auf Gaza in den letzten 6 Monaten zu den tödlichsten und zerstörerischsten in der jüngeren Geschichte gehörte. Israel hat zwischen Oktober und Dezember 2023 über 45.000 Bomben auf Gaza abgeworfen, das sind 65.000 Tonnen Bomben. Aus dem Weltraum betrachtet hat Gaza jetzt eine andere Farbe.
Was bedeutet das für uns? Was bedeutet das für die Menschen? Wir verwenden Worte wie “Opfer” oder “Kollateralschäden”, um über Menschen zu sprechen, die auf die schrecklichste Weise getötet werden. Amnesty International hat Israel vorgeworfen, in den letzten Monaten weiße Phosphorbomben auf dicht besiedelte zivile Gebiete eingesetzt zu haben. Wie funktioniert eine Phosphorbombe? Weißer Phosphor ist für den Menschen auf allen Expositionswegen schädlich. Weißer Phosphor kann tiefe und schwere Verbrennungen verursachen, die sogar Knochen durchdringen. Aus diesem Grund gilt der Einsatz von weißem Phosphor als Brandwaffe in Gebieten mit
Zivilbevölkerung nach internationalem Recht weitgehend als illegal.
Ich habe meine Patentochter in Gaza verloren, sie wurde am 18. Dezember getötet.
Weiße Phosphorbomben fielen auf und um ihr Haus im Norden des Gazastreifens.
Sie war 12 Jahre alt, ihr Name war Shireen, sie wurde nach mir benannt. Weißer Phosphor verbrannte ihre Lunge, ihre Organe, sie litt tagelang, bis sie starb. Ihre Mutter hielt sie noch stundenlang nach ihrem Tod in den Armen. Das ist es, was die Waffenindustrie ist. Das ist es, was sie bedeutet. Sie bedeutet, dass über 13.000 Kinder auf grausamste Weise getötet werden, dass sie tagelang unter den Trümmern eines Gebäudes festsitzen, bis sie sterben, dass sie tagelang schreien, bis sie sterben.
Mindestens 13.000 weitere Kinder wie Shireen wurden seit dem 7. Oktober im Gazastreifen auf brutale Weise getötet, das sind mehr als alle Kinder, die in den letzten vier Jahren in Konflikten auf der ganzen Welt getötet wurden, zusammen. Wie ist das möglich? Haben wir das Töten von Kindern normalisiert?
Die Palästinenser fordern einen Waffenstillstand. Sie fordern, wie menschliche Wesen
behandelt zu werden. Sie fordern das Recht auf Existenz wie jeder andere Mensch hier. Das ist nicht radikal. Was sie fordern, ist so elementar, und doch ist es ein so polarisierendes Thema, gerade hier in der Schweiz.
Wir schreien danach, dass die Welt aufhört, uns zu töten. Wir fordern grundlegende
Menschenrechte, und doch sind unsere Forderungen zu radikal, zu extrem. Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu
töten, sie zu verstümmeln, sie zu Waisen zu machen, indem man ihre Eltern und ihre ganzen Familien ermordet? Haben wir unseren Verstand verloren? Haben wir völlig den Verstand verloren?
Wir haben keine Zeit mehr für Debatten und Überlegungen. Wir haben keine Zeit mehr. Der Schaden, der den Palästinensern, den Überlebenden, zugefügt wurde und wird, wird sich auf alle kommenden Generationen auswirken. Der Schaden für die israelische Gesellschaft, die eines Tages aufwachen wird und mit dem leben muss, was ihre Regierung und ihre Soldaten getan haben, wird über Generationen hinweg nachwirken. Dies ist ein Schandfleck für unsere Menschheit, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dem Einhalt zu gebieten und zu verhindern, dass dies jemals wieder geschieht.
Ein Waffenstillstand ist das absolute Minimum. Wir müssen alle Waffenexporte nach Israel stoppen. Wir müssen das barbarische und unmenschliche Aushungern des palästinensischen Volkes beenden. Wir müssen unsere Stimme erheben, um Nein zum Krieg zu sagen. Wir dürfen das Töten von unschuldigen Menschen und Kindern niemals normalisieren. Wir dürfen uns nicht abwenden, sondern müssen uns einander zuwenden und NEIN zu diesem Wahnsinn sagen.
Die Leute fragen mich, wie sie helfen können. Geben Sie Informationen darüber weiter, was in Gaza passiert. Viele Menschen wissen es nicht, weil unsere Medien hier sehr wenig über die Gräueltaten berichten. Sie alle können helfen, indem Sie Ihre Stimme einsetzen, um für die Stimmlosen einzutreten. Sprechen Sie lauter. Nutzen Sie Ihre Stimmen. Rufen Sie Ihre Politiker an. Schreiben Sie an sie. Boykottieren Sie Waffenhersteller und jedes Unternehmen, das vom Krieg profitiert. Und lassen Sie sich von niemandem einreden, dass dies einfach ein normaler Teil der Welt ist, wie
sie eben funktioniert. Das ist nicht normal, und wir dürfen die brutale Unterdrückung und Tötung von Menschen niemals als normal akzeptieren. Alles, was wir haben, ist unsere Menschlichkeit, und wir müssen Widerstand leisten und uns mit allem, was wir haben, wehren, um sie zu schützen.