Archiv des Autors: Peter Sutter

“Linke” und “rechte” Politik und die Sehnsucht nach einer besseren Welt

 

Das weltweit aktuelle Aufkommen autoritärer und rechtsgerichteter Parteien und Regierungen erklärt sich die US-Historikerin Anne Applebaum in der “NZZ am Sonntag” vom 7. März 2021 wie folgt: “Man hat viel zu lange nicht anerkannt, dass viele Menschen mit der rapiden Modernisierung und den wirtschaftlichen Veränderungen nicht zurande kommen. Man hat nicht anerkannt, dass diese Leute etwas verloren haben, was ihnen wichtig war. Und es gab dieses Gefühl der Unvermeidlichkeit, dass die Globalisierung in dieser Form nicht aufzuhalten sei. Die Leute hatten dadurch das Gefühl, sie könnten nichts mehr bestimmen, sie könnten nicht mehr teilnehmen an der Politik. Und man hat den Menschen diese Handlungsfähigkeit nicht zurückgegeben. Diesen Menschen bieten die rechten Vordenker eine radikale Alternative: Stürzt das System! Wir geben euch eine andere Vision der Welt.” Applebaum hat Recht: Dass die Globalisierung – und das ihr zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem – sich immer mehr in einer Sackgasse verfangen haben, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, tritt immer offensichtlicher zutage. Nicht nur die Menschen, die immer mehr der früheren Sicherheiten und Gewissheiten verloren haben, leiden in zunehmendem Masse darunter. Auch die Natur ächzt und stöhnt unter der Globalisierung und ihrem unersättlichen Drang, auch noch den letzten Winkel der Erde dem Zwecke der Gewinnsucht und der Profitmaximierung zu unterwerfen. Das Tragische daran: Nur “rechte” Parteien und Bewegungen scheinen einen Ausweg aus dieser Irrfahrt aufzuzeigen. Die meisten sogenannt “linken” Parteien und Bewegungen klammern sich nach wie vor an den kapitalistischen Weg, versprechen zukünftige Lösungen bloss innerhalb der “Freien Marktwirtschaft”, die aber doch bloss ein anderes Wort ist für Globalisierung und Kapitalismus. Weiterhin streuen die meisten “linken” Parteien und Bewegungen den Menschen Sand in die Augen, indem sie vorgeben, der Kapitalismus lasse sich reformieren und zu einem menschenfreundlichen System umbauen. Sie haben nicht den Mut, sich endlich vom Kapitalismus und seinen unzähligen Irrfahrten loszusagen und eine gänzlich neue Seite im Geschichtsbuch aufzuschlagen. Damit aber überlassen sie das Feld der Zukunftsgestaltung ausgerechnet jenen “rechten” Bewegungen und Parteien, die zwar von “Visionen” einer neuen Welt fabulieren, selber aber mit beiden Beinen tief in der Logik der kapitalistischen Denk- und Wirtschaftsweise verharren und diese oft sogar noch ins Extrem treiben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es erst, wenn die Linke ihrerseits den Mut aufbringt, die Vision einer neuen Welt ins Leben zu rufen, eine Vision, welche diesen Namen tatsächlich verdient und nicht bloss eine mehr oder weniger schlechte Kopie des Bisherigen ist. Keine Frage, immer mehr Menschen sehnen sich darnach: Eine vom der US-Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 in 28 Ländern bei 34’000 Menschen durchgeführte Umfrage ergab, dass 56 Prozent der Befragten finden, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. “Die Menschen bezweifeln, dass die Welt, in der wir heute leben, optimal für eine gute Zukunft ist”, so Studienleiter David Bersoff. Zu den genannten Sorgen zählten das Tempo des technischen Fortschritts, die Arbeitsplatzunsicherheit, das Misstrauen in die Medien und das Gefühl, dass die nationalen Regierungen den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen seien. Das Ergebnis dieser Studie zeigt, dass Parteien, die einen klar antikapitalistischen Kurs führen würden, in vielen Ländern auf einen Schlag die absolute Mehrheit erringen müssten. Worauf warten wir denn noch? Was hält uns davon ab, das unerlässliche Ziel einer Überwindung des Kapitalismus endlich umzusetzen, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten? Die Menschen brauchen – neben der täglichen Arbeit und den täglichen Beschäftigungen – Visionen und Nahrung für ihre Sehnsüchte, leidenschaftliche Debatten, Ausblicke in eine bessere, lebenswertere Zukunft, Hoffnung auf eine neue Zeit, an deren Grundlagen wir hier und heute schon arbeiten können, den Mut, Bisheriges radikal in Frage zu stellen und Neues, noch nie Gedachtes zu erdenken. Auf diesem Weg sind uns die Jugendlichen, welche sich in der Klimabewegung engagieren, schon ein grosses Stück vorausgegangen. Höchste Zeit, dass auch wir Erwachsene uns zu bewegen beginnen und den ersten Schritten unzählige weitere folgen lassen… 

“Freier Markt” bedeutet in Tat und Wahrheit nichts anderes als “Freie Ausbeutung”

 

“Es dominiert der Mythos”, so die Philosophieprofessorin Lisa Herzog in ihrem “Samstagsgespräch” mit dem “Tages-Anzeiger” vom 6. März 2021, “dass der Markt den Wert der Arbeit Einzelner gerecht widerspiegele und daraus faire Löhne resultieren.” Lisa Herzog hat Recht: Der Mythos Markt dominiert unsere Köpfe und hält sich hartnäckiger denn je. Nicht nur in der Arbeitswelt, auch ganz allgemein in Wirtschaft und Gesellschaft. “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” sind Begriffe, die kaum je in Frage gestellt werden. Dabei wäre genau dies dringendst nötig. Denn “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” sind zwar wohltönende Begriffe. Wer in ihnen aber Synonyme zu Fairness, Gerechtigkeit oder gar Wohlergehen sieht, müsste sich bei näherem Hinschauen rasch eines Besseren belehren lassen. Weder haben “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” verhindern können, dass weltweit eine Minderheit Reicher und Superreicher Jahr für Jahr reicher und reicher wird, noch haben sie verhindern können, dass Abermillionen von Menschen weltweit nicht einmal genug zu essen haben. Der “Freie Markt” und die “Freie Marktwirtschaft” haben ebenfalls nicht verhindern können, dass in einem Land wie der Schweiz gewisse Konzernchefs dreihundert Mal mehr verdienen als Abertausende von Menschen in zahlreichen Tiefstlohnsegmenten. Und ebenfalls haben der “Freie Markt” und die “Freie Marktwirtschaft” bis heute nicht verhindern können, dass die Klimaerwärmung ungehindert voranschreitet und das Überleben des Menschen auf diesem Planeten im schlimmsten Falle sogar früher oder später in Frage stellt. Die Idee eines “Freien Marktes” mag zwar auf den ersten Blick einzuleuchten. Aber funktionieren würde das nur, wenn alle an diesem Markt Beteiligten die gleich langen Spiesse hätten. Doch in einer Welt, in der Macht und Reichtum zwischen Menschen, Wirtschaftsmächten und Ländern so ungleich verteilt sind wie in der unseren, muss die Idee des “Freien Marktes” reine Illusion bleiben. Wenn nämlich der “Freie Markt” die Grundversorgung der Menschen gewährleisten würde, dann würden die Güter zu jenen Menschen fliessen, welche sie brauchen. Tatsächlich aber fliessen in der heutigen global verbreiteten “Freien Marktwirtschaft” die Güter nicht dorthin, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo es genügend Menschen gibt, die das nötige Geld haben, um diese Güter auch tatsächlich erwerben zu können. Dies erklärt, weshalb in Europa nicht nur tonnenweise Lebensmittel, sondern auch tonnenweise Medikamente im Müll landen, während es in zahlreichen Ländern des Südens an beidem mangelt – mit tödlichen Folgen. Es erklärt auch, weshalb in zahlreichen Ländern des Südens von multinationalen Konzernen Wasser aus Quellen angezapft oder aus dem Boden gepumpt und in Form von Mineralwasser in die reichen Länder des Nordens transportiert wird – während die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Gebiete immer weitere Fusswege zurücklegen müssen, um sich wenigstens ein Minimum an täglicher Wasserversorgung zu sichern. Zahllose weitere Beispiele von den Rohstoffen aus afrikanischer Erde bis zu den Textilien aus Bangladesh und den Spielsachen aus China liessen sich aufzählen. So lange die Verhältnisse so sind, wie sie sind, haben “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” nichts, aber auch nicht das Geringste mit Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen von Mensch und Natur zu tun. Ganz im Gegenteil. Wenn man ehrlich wäre, würde man nicht von “Freiem Markt” sprechen, sondern von “Freier Ausbeutung”. Nur jene, die auf der Sonnenseite sind, können den Begriffen des “Freien Marktes” und der “Freien Marktwirtschaft etwas Positives abgewinnen – für jene auf der Schattenseite ist es schlicht und einfach die Hölle. Höchste Zeit, Reichtum und Macht weltweit so gerecht zu verteilen, dass ein wahrhaft freier Markt tatsächlich zum Wohlergehen aller funktionieren würde, als gegenseitiger gleichberechtigter Austausch von Gütern, von Arbeit und von Begabungen von Mensch zu Mensch und in alles übergreifendem Respekt gegenüber Pflanzen, Tieren und den natürlichen Lebensgrundlagen.    

Der “Wettkampf” der Spitäler: Als ginge es um Löwen und Hyänen

 

“Absicht ist, dass sich die Spitäler einen gegenseitigen Wettkampf liefern, in dem die erfolgreichen überleben und die erfolglosen auf der Strecke bleiben. Das funktioniert nicht von Anfang an, sondern braucht eine gewisse Zeit. Zuerst rüsten alle auf und dann, nach und nach, beginnen die positiven Seiten des Wettbewerbs zu spielen.” Das ist kein Witz, sondern die Aussage von Philipp Sommer, Gesundheitsökonom, in der Dokumentationssendung “Wettkampf der Spitäler” des Fernsehens SRF1 am 4. März 2021. In dieser Logik ist ein Spital nicht viel anderes als ein Schuhgeschäft oder ein Shoppingcenter: Auch diese werden auf die freie Wildbahn gegenseitigen Konkurrenzkampfs geworfen und auch von diesen können, wie Löwen oder Hyänen, nur die stärksten und schnellsten überleben, während die langsameren und schwächeren auf der Strecke bleiben. Dabei sprächen zahlreiche sachliche Gründe dagegen, Spitäler einem gegenseitigen Vernichtungskampf auszusetzen, was vor allem dazu führt, dass die kleinen Spitäler auf dem Lande verschwinden und die grossen Spitäler in den Städten immer grössere Dimensionen annehmen: Kleinere Spitäler auf dem Lande zeichnen sich durch eine persönliche Atmosphäre aus, Patienten und Patientinnen fühlen sich fast wie zuhause, verweilen in ihrem näheren Lebensumfeld. Auch bieten die kleineren Spitäler auf dem Lande attraktive Arbeitsplätze in lebenswerter Umgebung und sind willkommene Kunden lokaler Geschäfte und Zulieferer. Wie beliebt und verwurzelt in ihrer Umgebung kleinere Spitäler auf dem Lande von der jeweiligen Bevölkerung getragen sind, zeigte sich besonders eindrücklich im Kanton St. Gallen, wo sich 2014 in einer Volksabstimmung 90 Prozent der Bevölkerung für die Weiterführung sämtlicher neun Regionalspitäler aussprachen und einem hierzu notwendigen Kredit von 930 Millionen Franken zustimmten. Nun, sieben Jahre später, sollen, als hätte es diese Volksabstimmung nie gegeben, vier bis fünf der neun Spitäler des Kantons St. Gallen geschlossen werden. Geradezu absurd ist das Beispiel des Spitals Wattwil, das soeben neu gebaut wurde: Am Tag der feierlichen Eröffnung wusste man bereits, dass das Spital wahrscheinlich schon geschlossen würde, bevor noch der erste Patient oder die erste Patientin aufgenommen würde. Bereits träumen die Spitalplaner der Zukunft, dass von insgesamt 200 Schweizer Spitälern dereinst nur noch 50 übrigbleiben würden. Was zuletzt nicht auch einen gewaltigen ökologischen Unsinn zur Folge hätte: Bestehende und oftmals erst kürzlich renovierte Spitalgebäude mit intakter Infrastruktur müssen abgebrochen werden, während in der Stadt auf knappem Baugrund eine immer grössere Anzahl von Spitaltürmen in die Höhe wachsen. Seltsamerweise scheinen hier dann die Kosten keine Rolle zu spielen, während man auf der anderen Seite argumentiert, die Landspitäler müssten vor allem deshalb geschlossen werden, weil sie nicht rentierten. Nein, der sogenannte “Freie Markt”, der Wettkampf zwischen den Hyänen und den Löwen, die bis ins Äusserste getriebene Ökonomisierung, das knallharte Kosten-Nutzen-Denken – dies alles hat mit einem Gesundheitswesen, das diesen Namen auch tatsächlich verdient, nichts zu tun. Nicht alles, was sich ändert, ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Änderungen können auch einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten. Und beim Gesundheitswesen ist genau dies der Fall. Eine Rückbesinnung auf das Wesentliche tut dringend Not: Nicht das Wohl des materiellen Profits darf im Vordergrund stehen, sondern das Wohl der Patienten und Patientinnen wie auch des Personals. Nicht Ranglisten sollen medizinische Angebote vergleichen und bewerten, sondern einzig und allein die Zufriedenheit der Menschen. Wenn die Schweiz das weltweit dichteste Netz an Spitälern aufweist, dann soll sie darauf stolz sein, statt zu einem Kahlschlag auszuholen, der jahrhundertealte Strukturen zerschlägt. Wenn die einen Spitäler mehr rentieren als die anderen, dann soll mit Quersubventionierung ein Ausgleich geschaffen werden. Und wenn man behauptet, es gäbe, um so viele Spitäler aufrechtzuerhalten, zu wenig Personal, dann müsste man eben, was auch ohne Spitalschliessungen dringend notwendig ist, mehr Personal ausbilden und die Arbeitsbedingungen und die Löhne so gestalten, dass nicht so viele Mitarbeitende schon nach wenigen Jahren ihren Job wieder aufgeben. Um solche Wege zu beschreiten, müssen wir uns unverzüglich aus dem selber gebauten Käfig jenes ominösen “Freien Marktes” befreien, der uns pausenlos einzuhämmern versucht, es gäbe zu der ganzen Entwicklung, von der wir gegenwärtig mitgerissen werden, “keine Alternative”. Das wäre, wenn wir tatsächlich ernsthaft daran glaubten, nichts weniger als das Ende der Demokratie. 

Reinigungsfachmann P.: Wie eine Zitrone, die man bis zum Letzten auspresst und dann einfach fortwirft

 

P., so berichtet der “Tages-Anzeiger” am 1. März 2021, steckt in einem Teufelskreis. Der 63jährige Spanier arbeitete während mehreren Jahren als Reinigungsfachmann. Im Januar 2020 wechselte er seine Stelle, doch als kurz darauf die Coronapandemie ausbrach, wurde ihm noch in der Probezeit gekündigt. Er meldete sich beim RAV und erhält nun monatlich 2300 Franken. Auf alle Bewerbungen erhielt er bisher nur Absagen. Bereits beginnt sich ein Schuldenturm anzuhäufen. Doch den Gang aufs Sozialamt möchte P. vermeiden, ist ihm doch aus seinem Umfeld davon abgeraten worden: Ausländerinnen und Ausländer könnten, wie man immer wieder höre, auf einer schwarzen Liste landen, den Aufenthaltsstatus verlieren oder gar des Landes verwiesen werden. – Da kommt mir unweigerlich die Zitrone in den Sinn, die bis zum Letzten ausgepresst wird und die man dann, wenn sie leer ist, einfach fortwirft. Zwar wird immer wieder gesagt, wie dankbar Ausländerinnen und Ausländer sein müssten, wenn sie hier in der Schweiz eine Arbeitsstelle fänden, gutes Geld verdienen und von guten Sozialleistungen profitieren könnten. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht nämlich darin, dass diese “grosszügige” Schweiz mindestens so dankbar sein muss, wenn es Ausländer wie P. gibt, die meist zu bescheidenen Löhnen all jene Arbeiten verrichten, für welche man Schweizerinnen und Schweizer schon gar nicht mehr finden würde. Die gleiche einseitige Sicht der Dinge – dass Menschen “froh” und “dankbar” sein müssen, arbeiten zu “dürfen” – zeigt sich auch in den Begriffen “Arbeitgeber” und “Arbeitnehmer”. Als handle es sich bei den “Arbeitgebern” um besonders grosszügige Menschen und Firmen, welche etwas verschenken, von dem andere, eben die Beschäftigten, profitieren würden. Aber ist es nicht gerade umgekehrt? Sind es nicht vor allem die “Arbeitgeber”,  die von den bestehenden Arbeitsverhältnissen den grössten Nutzen ziehen? All ihre Macht und all ihr Geld würden in nichts zerfliessen, wenn es nicht genügend Menschen gäbe, deren zu bescheidenem Lohn geleistete Arbeit sich unaufhörlich in das wachsende Geld und die Profite der Unternehmen verwandelt. Müsste man nicht sogar diese Begriffe ins Gegenteil verkehren? Wer ist es denn, der die Arbeit “gibt”, und wer ist es, der sie “nimmt”? Tatsächlich sind es doch die “Arbeitnehmer”, die etwas “verschenken” – ihre Kraft, ihr Wissen, ihre Begabungen, ihre Leidenschaft, ihre Zeit, ihre Geduld, oft auch ihre Gesundheit -, und sind es nicht die “Arbeitgeber”, die von alledem “beschenkt” werden und erst noch mit einer grösseren Menge Geld dafür belohnt werden, sich auf Kosten anderer zu bereichern? Dass überhaupt jemand auf die Idee kommt, Menschen, die uns jahrelang ihre Arbeitskraft “geschenkt” und satte Gewinne ihrer Firmen erwirtschaftet haben, nun von einem Tag zum anderen des Landes zu verweisen, lässt sich wohl nur damit erklären, dass wir offensichtlich noch meilenweit davon entfernt sind, zur kapitalistischen Logik von Ausbeutung und Profitmaximierung einen radikalen Gegenentwurf  der Menschlichkeit, Solidarität und sozialen Gerechtigkeit zu erdenken und aufzubauen.  

Nicht die Armen müssen sich ihrer Armut schämen, sondern die Reichen ihres Reichtums…

 

Der heutigen “Sonntagszeitung” vom 28. Februar 2021 liegt das grossformatige Hochglanzmagazin “encore” bei. Auf 41 Seiten wird die ganze Welt der Schönen und Reichen ausgebreitet: die zehn schönsten Golfplätze Europas in paradiesischen Landschaften, eine Anti-Aging-Crème für 115 Franken, ein modulares Sofasystem, aufgebaut in einer marmornen, tempelartigen Wandelhalle, ein Buch über den Luxusdesigner Aldo Cipullo für 200 Franken, ein Fernsehschirm für 80’000 Franken, der sich auf Knopfdruck in ein Wandbild verwandelt, das neueste Modell der Mercedes-S-Klasse, vorgeführt von zwei eleganten Ladys, Luxushotels in Bolivien, perlenförmig aneinandergereiht, gleich einem Mondcamp in eine Lagune hinausgebaut und mit hölzernen Stegen miteinander verbunden, eine nautische Uhr für 35’000 Franken, neueste Trendmode im Pilotenlook mit allem dazugehörenden Accessoire… Versetzen wir uns für einen Moment in eine alleinerziehende Verkäuferin, die mit ihrem kargen Lohn Monat für Monat kaum über die Runden kommt. Stellen wir uns vor, sie hat sich heute ausnahmsweise mal die “Sonntagszeitung” gekauft und dann auch das Magazin “encore” durchgeblättert. Was wird sie sich bei diesem Blick in eine ferne, für sie wohl für immer unerreichbare Welt wohl gedacht haben? Hat sie sich vielleicht sogar ein klein wenig schuldig gefühlt? Schuldig, dass sie eben “nur” Verkäuferin ist und für ihr Kind und für sich selber auf so vieles verzichten muss, was sich andere problemlos leisten können, von einem Fernsehgerät für 80’000 Franken, einer Uhr für 35’000 Franken und von Hotelferien in einer bolivianischen Lagune gar nicht erst zu reden. Ja. Arm sein ist an sich schon schwer genug. Aber arm sein in einer Welt, in der viele andere in unsäglichem Luxus schwelgen, ist noch ungleich viel schwerer. Vergessen wir nicht: Wer sich ein Fernsehgerät für 80’000 Franken leisten kann, hat in aller Regel sein Geld nicht wirklich aus eigener Kraft verdient. Seinen übertriebenen Reichtum hat er grösstenteils vielleicht geerbt oder er besitzt Immobilien, die er möglichst gewinnbringend vermietet, oder er ist Aktionär eines florierenden Unternehmens, so wie die 16 Familienmitglieder der Roch-Erben Hoffmann und Oeri, die 2020 729 Millionen Franken an Dividenden “verdient” haben. Es gibt viele Wege, um reich zu werden. Aber übertriebener Reichtum ist immer, früher oder später, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, eine Form von Diebstahl an öffentlichem Gut. Während die meisten, die ein Leben lang “nur” arbeiten und keine Gelegenheit haben, auf anderen Wegen zu Reichtum zu gelangen, meist bis an ihr Lebensende arm bleiben. Es ist in der Tat eine verkehrte Welt: Eigentlich müssten sich die Reichen ihres Reichtums schämen – weil sie nämlich anderen etwas weggenommen oder vorenthalten haben. In der Logik des Kapitalismus aber ist es genau umgekehrt. Nicht die Reichen schämen sich ihres Reichtums, sondern die Armen schämen sich ihrer Armut und machen sich nicht selten noch Selbstvorwürfe. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass viele Bedürftige auf Sozialhilfegelder, auf die sie Anspruch hätten, freiwillig verzichten, weil sie eben nicht offiziell als “arm” gelten möchten. Während die Reichen in aller Regel ihren Reichtum stolz zur Schau tragen – ihr neues Auto blitzblank poliert durch die Stadt spazieren fahren, in allen Tönen vom Besuch im Opernhaus schwärmen und Bilder von der Südseeinsel an die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft verschicken. Übertriebener Reichtum und übertriebene Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Gesellschaft. Nicht nur das Postulat der sozialen Gerechtigkeit erfordert eine Umkehr des Bisherigen, sondern auch die Bedrohungen durch den Klimawandel: Übertriebener Luxus auf Kosten anderer – seien es Menschen, sei es die Natur – hat schlicht und einfach keine Zukunft. Zukunft hat einzig und allein eine Gesellschaft, in der Reichtum und Wohlstand gleichmässig auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilt sind und Hochglanzmagazine wie “encore” mit Uhren für 35’000 Franken und Fernsehgeräten für 80’000 Franken hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören.

 

 

 

 

 

 

Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen: Die fragwürdige Unterscheidung zwischen”erklärbaren” und “unerklärbaren” Gründen

 

Frauen verdienen durchschnittlich immer noch rund 20 Prozent weniger als Männer. Gewerkschaften und Frauenorganisationen fordern seit Langem gleichen Lohn für gleiche Arbeit – bis anhin offensichtlich ohne Erfolg. Dabei wird in der Argumentation selbst von jenen Kreisen, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit fordern, stets zwischen “erklärbaren” und “unerklärbaren” Lohndifferenzen unterschieden. “Erklärbare” Gründe seien zum Beispiel die berufliche Stellung, die Ausbildung und die Branche. Diese “erklärbaren” Grunde würden 54,5 Prozent sämtlicher vorhandener Lohndifferenzen sozusagen rechtfertigen, womit dann die eigentliche Diskriminierung “nur” noch bei rund zehn Prozent liege. 

Diese Unterscheidung zwischen “erklärbaren” und “unerklärbaren” Gründen erscheint mir äusserst fragwürdig und beschönigend. Denn für ein objektives Bild müsste man nicht nur Männer- und Frauenlöhne innerhalb der gleichen Branche miteinander vergleichen, sondern man müsste auch die Löhne in typischen Männerberufen mit jenen in typischen Frauenberufen miteinander vergleichen. Logisch, hat eine Serviceangestellte nicht die gleiche berufliche Stellung wie ein Informatiker. Auch war ihre Ausbildungszeit weit kürzer als jene des Informatikers. Und ja, sie arbeiten in total verschiedenen Branchen. Aber ist das alles genug Rechtfertigung dafür, dass der Informatiker zwei bis drei Mal so viel verdient wie die Serviceangestellte? Das gleiche Bild ergibt sich, wenn wir eine Krankenpflegerin mit einem Chirurgen vergleichen, eine Detailhandelsangestellte mit dem Abteilungschef eines Supermarkts oder eine Kitaangestellte mit einem Universitätsdozenten. Und erst recht krass wird es, wenn wir an einen der typischsten Frauenberufe denken, nämlich den Beruf der Hausfrau, in dem zwar überdurchschnittlich viel gearbeitet, aber rein gar nichts verdient wird… 

Dass in typischen Frauenberufen so viel weniger verdient wird als in typischen Männerberufen, ist Ausdruck einer gewaltigen systembedingten Diskriminierung der Frauen und dürfte auf keinen Fall unter dem Vorwand “erklärbarer” Lohnunterschiede weggesteckt werden. In Tat und Wahrheit beträgt die tatsächliche Diskriminierung der Frauen nicht weniger, sondern viel, viel mehr als jene 20 Prozent, die wir der Statistik entnehmen. Gerechtigkeit wird nicht schon an jenem Tage erreicht sein, an dem eine Informatikerin gleich viel verdient wie ein Informatiker. Gerechtigkeit wird erst an jenem Tage erreicht sein, an dem eine Coiffeuse gleich viel verdient wie ein Versicherungsbeamter, eine Krankenpflegerin gleich viel wie ein Chefarzt, eine Kitaangestellte gleich viel wie ein Hochschuldozent und eine Verkäuferin gleich viel wie der CEO eines multinationalen Konzerns. Denn es werden zwar alle möglichen und unmöglichen Argumente für bestehende Lohnungleichheiten zwischen den verschiedenen beruflichen Tätigkeiten ins Feld geführt, Tatsache aber ist, dass es, damit Gesellschaft und Wirtschaft funktionieren können, sämtliche Berufe braucht und alle aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind und es daher nicht einzuleuchten vermag, weshalb nicht auch alle, die an allen Ecken und Enden ihren Beitrag zum Gelingen des Ganzen leisten, den gleichen Anteil am Kuchen bekommen sollten, den alle miteinander gebacken haben.

Postangestellte im Dauerstress: Als wären es Hochleistungssportler

 

23,3 Prozent mehr Pakete, so meldet der “Tages-Anzeiger” am 22. Februar 2021, hat die Post 2020 im Vergleich zum Vorjahr ausgeteilt. Und da sind die Pakete, welche von privaten Zustellern wie UPS, DPD und DHL transportiert werden, noch nicht einmal mitgezählt. Doch nicht nur die Zahl der Pakete hat zugenommen, sondern auch die Grösse und das Gewicht. Zunehmend werden Elektrogeräte und Möbelstücke bestellt, ganze Batterien von Weinflaschen, Sportgeräte wie Hanteln und vieles mehr. Das bleibt nicht ohne körperliche Auswirkungen auf die Paketzusteller: Immer mehr von ihnen leiden insbesondere unter Rücken- und Kreuzschmerzen. “Ich habe mich kürzlich an einem Hantelpaket verhoben und hätte wohl eigentlich eine Pause einlegen sollen”, berichtet einer von ihnen, “doch ich war dermassen unter Zeitdruck, dass das einfach nicht drin lag.” Ein anderer berichtet, er schleppe regelmässig Pakete, die über der Suva-Grenze von 25 Kilogramm lägen, so hätte er zum Beispiel einmal ein Paket von 43 Kilogramm zustellen müssen. Es gibt zwar gewisse Hilfsmittel wie zum Beispiel Handwagen, doch der Zeitdruck, dem nicht nur die Mitarbeitenden der Post, sondern vor allem auch jene der privaten Anbieter ausgesetzt sind, ist so gross, dass diese Hilfsmittel nicht immer zum Einsatz kommen. Es stellt sich dann die Frage: “Mache ich heute lieber nur zwei Stunden Überzeit, die oft sowieso nicht bezahlt wird, und mache mir so den Rücken kaputt, oder arbeite ich drei Stunden mehr und schone dafür meinen Körper?” Während die Post wenigstens einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt ist, herrscht bei den privaten Anbietern der reinste Wildwuchs: Unbezahlte Überstunden sind hier die Regel. Am schlimmsten geht es jenen Angestellten, die über Subunternehmen bei der DPD angestellt sind. Die Liste der Klagen von Betroffenen ist lang und reicht von Unregelmässigkeiten bei Löhnen, Spesen, Arbeitszeiten, Nachtarbeit bis zu Überwachung, Gesundheitsschutz, Fahrzeugsicherheit und Verletzung von Gewerkschaftsrechten. – Welcher Teufel hat eigentlich die politisch Verantwortlichen angetrieben, welche am 1. Januar 1998 den damaligen Staatsbetrieb der PTT zerschlagen haben und dem liberalisierten Wildwuchs, der sich seither entwickelt hat, Tür und Tor geöffnet haben? Vorher bildeten die Mitarbeitenden der Postbetriebe eine Gemeinschaft, zusammengehalten von gleichen Rechten und Sicherheiten für alle. Heute finden sie sich wieder auf dem Schlachtfeld eines gegenseitigen Konkurrenzkampfs, und sind unerbittlichem Zeitdruck um Tausendstelsekunden unterworfen, als handle es sich um Hochleistungssportler. Da mutet das aktuelle Angebot der Post, Mitarbeitenden die Gelegenheit zu Massagen, zu Physiotherapie und zum Zugang zu Krafträumen zu ermöglichen, geradezu lächerlich an. Besser würden sie sich darum kümmern, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die körperlichen Probleme schon gar nicht erst auftreten. Aber eben, das geht ja nicht, denn wenn der eine Anbieter gegenüber seinen Angestellten nur ein bisschen grosszügiger ist als die anderen, verliert er sogleich einen Teil seiner Kundschaft an diese – ein Teufelskreis, in dem immer jener die Oberhand hat, der aus seinen Angestellten am meisten herauspresst und ihnen die wenigsten Rechte und Sicherheiten zubilligt. Es wird zwar oft gesagt, man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Doch was spricht dagegen, aus gemachten Fehlern zu lernen und noch einmal an den Punkt zurückzukehren, an dem das ganze Unheil begonnen hat? Schliesslich hat es die britische Regierung auch geschafft, die Privatisierung der Eisenbahn rückgängig zu machen, als sich erwiesen hatte, dass es an allen Ecken und Enden nicht funktionierte. Kaum vorzustellen, was für ein Segen das wäre: Post, UPS, DPD und DHL würden sich zu einem staatlichen Monopolbetrieb zusammenschliessen mit gleichen Rechten, Schutz, Sicherheit und Arbeitsbedingungen für alle. Im Gleichschritt mit der wachsenden Zahl von Paketen würde auch die Zahl der Angestellten schrittweise erhöht, was in Anbetracht der grossen Zahl Stellenloser kein Problem sein dürfte. Kein einziger Mitarbeiter müsste alleine und ohne Hilfe Pakete mit einem Gewicht von 30 oder 40 Kilogramm aus seinem Fahrzeug stemmen und möglicherweise noch mehrere Stockwerke hochtragen – immer sässe auf dem Fahrzeug ein weiterer Mitarbeiter und jeder von den beiden trüge nur die halbe Last. Überstunden gäbe es auch keine mehr, denn der Personalbestand würde eben laufend den Anforderungen der Kundschaft angepasst und wenn ein Paket halt mal statt heute erst morgen ausgeliefert würde, bräche ja deswegen auch nicht die Welt zusammen. Das ist die Grundfrage: Lassen wir es weiterhin zu, dass bloss Firmenleitungen, Konzernchefs und Aktionäre jene Entscheide fällen, die dann in letzter Konsequenz die an der Basis tagtäglich arbeitenden Menschen betreffen, oder müssten wir nicht Verhältnisse schaffen, in denen jene, die an der Basis arbeiten, auch selber darüber entscheiden, welches die Bedingungen dieser von ihnen verrichteten Arbeit sein sollen. Hierzu braucht es noch viel mehr als Gewerkschaften, die immer nur punktuelle einzelne kleine Verbesserungen erstreiten können. Es braucht ein neues Denken. Eine neue Philosophie. Eine neue Kultur, um aus gemachten Fehlern zu lernen und damit die Chance zu eröffnen, es in Zukunft besser zu machen. 

Mosaiksteine einer neuen Welt

 

Drei Mosaiksteine einer neuen Welt habe ich in der heutigen “NZZ am Sonntag” vom 21. Februar 2021 entdeckt. Der erste Mosaikstein ist eine Änderung der Bau- und Zonenordnung der Stadt Hamburg, welche zukünftig den Bau von neuen Eigenheimen verhindern soll, dies vorab aus ökologischen und aus Platzgründen. Mindestens so interessant wie diese vor wenigen Jahren noch undenkbare Bauzonenänderung ist der von der “NZZ am Sonntag” gesetzte Titel dieses Artikels: Dieser Titel lautet nicht etwa “Weltfremde Utopisten” oder “Grüne Fundis setzen Hauseigentümern das Messer an den Hals”, sondern, man staune: “Das Einfamilienhaus – heiss geliebtes Auslaufmodell.” Der zweite Mosaikstein ist das soeben erschienene Buch “Wie wir die Klimakatastrophe verhindern” von Bill Gates. In diesem Buch vergleicht Bill Gates den Klimawandel mit einer Badewanne, die sich langsam, aber stetig durch einen lediglich tropfenden Hahn füllt, irgendwann überschwappt und alles überflutet. Ein drastisches Bild, dementsprechend drastisch dann auch die Massnahmen, die Bill Gates zur Verhinderung des Klimawandels vorschlägt. Und der dritte Mosaikstein sind die unlängst von der schweizerischen Landesregierung herausgegebenen “Ernährungsempfehlungen”, wonach man noch höchstens zweimal bis dreimal pro Woche Fleisch essen solle, jeweils maximal 100 bis 120 Gramm. Dies wäre zwar, unter dem Aspekt eines konsequenten Klimaschutzes, immer noch viel zu viel, aber doch wenigstens zweieinhalb Mal weniger als die Menge Fleisch, die im Jahre 2020 konsumiert wurde. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Empfehlung durch den Bundesrat undenkbar gewesen. Drei Mosaiksteine, die aufhorchen lassen, die Anlass zu Hoffnung geben, die zeigen, dass an vielen Orten, oft im Kleinen und oft nur zaghaft, aber dennoch spürbar die Dinge in Bewegung gekommen sind. Noch sind zwar die Widerstände enorm. “Die Leute sollen essen, wozu sie Lust haben”, sagt etwa SVP-Nationalrat Mike Egger. Er will sich doch sein hart erarbeitetes Stück Fleisch nicht verbieten lassen. Und erst recht wenn es ans Auto geht, ans Einfamilienhaus, an die Ferienreise in die Südsee, an die Reise mit dem Kreuzfahrtschiff: Wer will sich denn schon all das, wofür er ein halbes Jahr lang hart gearbeitet hat, klauen lassen. Doch was klauen wir, die so tun, als gehörte die Erde uns ganz allein, was klauen wir all jenen Milliarden von Menschen, die noch nicht einmal geboren sind? Aktivisten und Aktivistinnen der Klimabewegung wird oft vorgeworfen, sie würden sich “antidemokratisch” verhalten. Doch tatsächlich trifft das Gegenteil zu: Es geht ganz und gar nicht darum, die Demokratie einzuengen oder gar abzuschaffen. Im Gegenteil: Es geht darum, die Demokratie auszuweiten – auszuweiten auf all jene Generationen, die nach uns kommen werden und die auch in 20, 50 oder 100 Jahren auf einer Erde leben möchten, die allen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, Menschen, Tieren und Pflanzen, ein gutes Leben ermöglichen wird. Sie alle, hätten sie schon heute als Ungeborene ein politisches Stimmrecht, sie alle würden noch die radikalsten Forderungen der Klimabewegung befürworten und sich mit allzu zaghaften, halbherzigen Massnahmen und Kompromissen ganz und gar nicht zufrieden geben. Mosaiksteine einer neuen Welt sind gut und wichtig. Aber es muss der Tag kommen, an dem solche Mosaiksteine nicht mehr seltene Ausnahmen sind, sondern mit vielen, vielen anderen Mosaiksteinen zusammen ein von Grund auf anderes Bild ergeben, das Bild einer neuen Welt.

Schweizerische Ausländer- und Flüchtlingspolitik: Nein, die Erde ist keine Kugel, sie ist eine Pyramide…

 

Gemäss Artikel 30 des schweizerischen Ausländergesetzes kann ein Kanton einer ausländischen Person die Aufenthaltsbewilligung erteilen, wenn es um “erhebliche fiskalische Interessen” geht – sprich, wenn die betreffende Person so reich ist, dass ihr Aufenthalt in der Schweiz mit genug erheblichen Steuereinnahmen verbunden ist. Das lassen sich gutbetuchte Ausländerinnen und Ausländer nicht zwei Mal sagen: Total 34 chinesische Staatsangehörige, so berichtet der “Tages-Anzeiger” am 16. Februar 2021, kamen in den vergangenen vier Jahren in die Schweiz. Insgesamt leben zurzeit 352 Ausländerinnen und Ausländer mit einer solchen Sondererlaubnis in der Schweiz. Sie stammen aus China, Russland, Saudi-Arabien, den USA und Brasilien. Um wen es sich dabei handelt, bleibt geheim. Angaben zu den Personen, die von diesem Sonderstatus profitieren, werden von den zuständigen Behörden mit dem Hinweis auf das Steuergeheimnis und den Datenschutz zurückgehalten. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zum Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo rund 8000 Menschen in notdürftigen Behausungen leben. Das neue Lager, so berichtet die Entwicklungsorganisation Oxfam, sei noch schlimmer, als das abgebrannte Lager von Moria gewesen sei. Manche der Zelte seien nur 20 Meter vom Meer entfernt und böten keinen Schutz vor starkem Wind und Regen. Es fehle an Heizungen. Essen gebe es meist nur einmal am Tag und sei zudem von schlechter Qualität. Auch gäbe es kaum sanitäre Anlagen mit fliessendem Wasser, so dass viele Lagerbewohner sich im Meer waschen müssten. Ausserdem fehle es an einem Abwassersystem. Aufgerüttelt von diesen unmenschlichen Verhältnissen, haben sich inzwischen mehrere Schweizer Städte bereiterklärt, eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen von der Insel Lesbos aufzunehmen. Doch sie erhielten von der Justizministerin Karin Keller-Sutter die Antwort, dass es hierfür “keine rechtliche Grundlage” gäbe und das Asylwesen Sache des Bundes sei. Dass die Erde keine Scheibe ist, auf der sich die Menschen aller Länder auf Augenhöhe begegnen, wissen wir schon längst. Sie ist aber auch keine Kugel. Sie ist eine Pyramide, an deren oberstem Ende die Reichen und Reichsten sitzen, und auf deren Stufen gegen unten die Menschen immer ärmer und ärmer werden. Während den Reichen und Reichsten aller Länder weltweit alle Türen offenstehen und sie sich völlig “legal” von Land zu Land, von Luxushotel zu Luxushotel, von Kreuzfahrtschiff zu Kreuzfahrtschiff bewegen können, endet die Reise der Armen und Ärmsten auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung an Stacheldrahtzäunen, meterhohen Betonmauern und an einem schweizerischen Gesetzbuch. Einem Gesetzbuch, das gleichzeitig Reichen und Reichsten aus aller Welt Unterschlupf gewährt, ganz unabhängig davon, auf was für “legalen” oder “illegalen” Wegen sie ihren Reichtum erworben haben. In solchen Momenten fehlen einem dann plötzlich einfach die Worte…

 

Erst wenn der Kapitalismus verschwunden ist, wird auch die Kinderarbeit verschwinden

 

Fast alle Staaten der Welt, so das “Tagblatt vom 13. Februar 2021, hätten sich mit der Agenda 2030 der UNO auf das Ziel geeinigt, jegliche Form der Kinderarbeit bis 2015 abzuschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse allerdings noch viel geschehen: Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO seien weltweit immer noch 218 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren von Kinderarbeit betroffen. – Erstaunlich ist, dass zwar zahlreiche internationale Organisationen, Politiker und Politikerinnen und sogar die Mehrheit der multinationalen Konzerne übereinstimmend die Abschaffung der Kinderarbeit fordern, dass aber niemand ernsthaft die Frage stellt, welches denn die eigentlichen Ursachen der Kinderarbeit sind. Dabei liegen diese doch auf der Hand: Kinder müssen überall dort arbeiten, wo ihre Eltern nicht genug Geld verdienen, um eine Familie ernähren zu können. Kein Vater und keine Mutter lässt ihr Kind arbeiten mit dem Ziel, ihm Schaden zuzufügen. Sie tun es nur deshalb, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse sie dazu zwingen und sie ohne den Lohn des Kindes nicht überleben könnten. Somit wäre das einfachste Mittel zur Abschaffung der Kinderarbeit, weltweit allen Menschen existenzsichernde Löhne auszurichten. Doch damit sind wir schon beim nächsten Knackpunkt. Würde die Firma A auf der Plantage B oder in der Mine C ihren Arbeiterinnen und Arbeitern existenzsichernde Löhne zahlen, so würden die Produkte, die Nahrungssmittel oder die Rohstoffe, die sie herstellen oder zutage befördern, so teuer, dass sie sie nicht mehr verkaufen könnten, Firma A würde Pleite machen und alle ihre Arbeiterinnen und Arbeiter wären arbeitslos. Wir befinden uns eben nicht in einer heilen, gerechten, menschenfreundlichen Welt. Wir befinden uns im globalen Kapitalismus, der aufs engste mit einem permanenten, sich laufend noch verschlimmernden, buchstäblich mörderischen Preiskampf verbunden ist. In diesem globalen System der Ausbeutung von Mensch und Natur, des ungebrochenen Glaubens an ein immerwährendes Wachstum und des gegenseitigen Konkurrenzkampfs über alle Grenzen hinweg bilden die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Plantagen und in den Minen des Südens die schwächsten, verletzlichsten Glieder. Dabei müsste es doch, wenn schon, genau umgekehrt sein. Ob Schokolade, Kaffee, tropische Früchte, Kobalt oder Palmöl: Die eigentliche Schwerarbeit ganz unten, ohne die sämtliche Lieferketten über den Transport, die Vermarktung bis hin zum Verkauf in den Supermärkten des Nordens und die unsäglichen Gewinne der Aktionäre multinationaler Konzerne augenblicklich in sich zusammenbrechen würden, diese Schwerarbeit müsste eigentlich, als Basis von allem, nicht am schlechtesten, sondern, im Gegenteil, am besten bezahlt sein. Anzuklagen sind daher nicht nur all jene multinationalen Konzerne, welche aus der Ausbeutung von Mensch und Natur ihre Gewinne erzielen. Anzuklagen ist vor allem das kapitalistische System weltweiter Ausbeutung, in der sich das Elend, der Schweiss und die Tränen der Menschen des Südens unaufhörlich in das Gold des Nordens verwandeln. Ohne Überwindung des Kapitalismus bleiben all die schönen Worte für eine bessere und gerechtere Welt reine Illusion. Nicht nur Ausbeutung, Hunger und Armut, sondern auch die Kinderarbeit wird erst dann verschwinden, wenn auch der Kapitalismus verschwunden ist.