Archiv des Autors: Peter Sutter

Der gegenseitige Konkurrenzkampf wird immer verbissener: Doch am Ende sind wir alle Verlierer

 

Das nördliche Kalifornien ist gegenwärtig von extremer Trockenheit und Wassermangel betroffen. Das Absurde daran sei, so der “Tages-Anzeiger” vom 7. Juli 2021, dass Nordkalifornien an sich genug Wasser hätte, dieses aber grösstenteils nach Südkalifornien abfliesse, welches schon vor über 100 Jahren Pipelines und Kanäle gebaut habe, um sich die Wasserzufuhr zu sichern, die dem Norden jetzt fehle. So habe der Süden diesen Sommer genug Wasser, während die Farmer im Norden immer tiefere Löcher bohren müssten, um Wasser zu fördern. “Der Wettbewerb”, so Lou Preston, ein Pionier des biologischen Weinbaus, “wird immer verbissener. Man bohrt immer tiefer und gräbt den Nachbarn das Wasser ab. Am Schluss sind wir alle Verlierer.” Ein besonders krasses Beispiel für das kapitalistische Konkurrenzprinzip, dem wir in Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt auf Schritt und Tritt begegnen und das wir mittlerweile so sehr verinnerlicht haben, dass wir uns etwas grundsätzlich anderes schon gar nicht mehr vorstellen können. Da sind die Velokuriere, die sich in immer höllischeren Tempo durch die Autokolonnen hindurchkämpfen und in mitgenommene Flaschen pinkeln müssen, weil sie nicht einmal genug Zeit haben, um eine Toilette aufzusuchen, und dies alles nur deshalb, weil im gnadenlosen Verdrängungskampf mit der Konkurrenz jede Sekunde darüber entscheidet, ob man überleben kann oder nicht. Da sind die Möbelhersteller, die im Kampf gegen ihre Konkurrenten alles daran setzen müssen, ihre Produkte mit möglichst billigem Holz, in möglichst hohem Tempo und mit dem Einsatz möglichst wenig verdienender Arbeitskräfte herzustellen. Da sind die Spitzensportler und Spitzensportlerinnen, die sich einen immer gnadenloseren gegenseitigen Wettkampf um Sekundenbruchteile liefern müssen, um an der Spitze mitzuhalten, selbst auf Kosten ihres Wohlbefindens und ihrer Gesundheit. Da sind die Schulen weltweit, die sich immer ähnlicher werden und in denen die Kinder von klein auf dazu gezwungen werden, sich gegenseitig einen unerbittlichen Konkurrenzkampf um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zu liefern. Aber es geht noch viel weiter: Auch das Verhältnis der Staaten und Volkswirtschaften untereinander ist von einem permanenten Konkurrenzkampf bestimmt bis hin zur letzten “Schlacht” zwischen den USA und China, die darüber entscheiden soll, wer von den beiden aus dieser Auseinandersetzung als die zukünftige Weltmacht Nummer eins hervorgehen wird. Doch was der kalifornische Weinbauer sagte, das gilt für alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Felder, auf denen sich die Menschen im Kampf um ihr Überleben immer gnadenlosere gegenseitige Konkurrenzkämpfe liefern, gleichermassen: Am Schluss gibt es nur Verlierer. Wollen wir das vermeiden, dann werden wir nicht darum herumkommen, das kapitalistische Konkurrenzprinzip durch eine von Grund auf neue Art und Weise gemeinsamer Arbeit, fürsorglichen Wirtschaftens und auf Kooperation ausgerichteter gesellschaftlicher Beziehungen zu ersetzen, in der das Wohl der einen nicht kleiner, sondern umso grösser ist, wenn auch alle anderen davon profitieren. Denn, wie schon Martin Luther King sagte: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen.” 

Wirtschaftswunder Schweiz: Auf dünnem Eis gebaut

 

Der Schweizer Armee fehlen, so berichtet die “NZZ am Sonntag” vom 4. Juli 2021, derzeit rund 70 Küchenchefs und 150 Truppenköche. Kein Wunder: Zwischen 2010 und 2020 nahm die Anzahl der Kochlehrlinge schweizweit um ein Viertel ab, bei den Metzgerinnen und Metzgern waren es 17 Prozent und bei den Bäckerinnen und Bäckern 9 Prozent. Gleichentags berichtet die “Sonntagszeitung”, dass in chronischen Mangelberufen, bei denen in der Schweiz geborene und geschulte Jugendliche fehlen, zunehmend junge Flüchtlinge in die Lücke springen – “Ein wahrer Segen”, sagt Lehrmeister Marcel Wüest von der Chämi Metzg in Fislisbach AG, “denn wer soll sonst den Job machen?” In der Tat: Seit 2012 hat sich der Flüchtlingsanteil bei den Fleischfachassistenten versechsfacht. Noch höher ist de Quote bei den Bäckerinnen und Bäckern (14mal mehr als 2012). Vervielfacht haben sich auch die Abschlüsse von Flüchtlingen bei den Hauswirtschaftspraktikerinnen und den Schreinerpraktikern. Längstens bekannt ist auch der hohe Anteil an ausländischen Arbeitskräften in der Gastronomie, der Hotellerie, dem Bau, der Industrie, dem Gesundheitswesen und der Landwirtschaft. Während sich immer mehr Schweizerinnen und Schweizer aus all jenen Jobs zurückziehen, bei denen man sich die Hände schmutzig machen, sich den Rücken kaputtarbeiten muss und erst noch weniger verdient als andere, werden die entstehenden Lücken noch so gerne gefüllt mit willigen, arbeitsamen und bescheidenen Ausländerinnen und Ausländern. Das mag auf den ersten Blick als Win-win-Lösung erscheinen, da die betroffenen Menschen in ihren Heimatländern viel weniger verdienen würden oder überhaupt keine Arbeit hätten. Wenn sich aber, was ja global betrachtet wünschbar wäre, die wirtschaftliche Situation in den betroffenen Herkunftsländern verbessern würde und man auf die bislang ausgewanderten Fachkräfte nicht mehr länger verzichten könnte, dann, spätestens dann, müssten wir erkennen, auf was für dünnem Eis wir diese Wirtschaft, auf die wir so stolz sind und die uns zum reichsten Land der Welt gemacht hat, aufgebaut haben. Dünnes Eis, das auf der irrigen Annahme beruht, es gäbe so etwas wie “wichtige” und entsprechend gutbezahlte und “unwichtige”, weniger gut bezahlte Jobs. Dünnes Eis, das einem Rechtsanwalt oder einer Universitätsdozentin ungleich viel höhere gesellschaftliche Wertschätzung entgegenbringt als einem Bauarbeiter oder einer Krankenpflegerin. Dünnes Eis, das spätestens dann einbrechen wird, wenn uns alle die willkommenen ausländischen Arbeitskräfte eines Tages den Rücken kehren und wir erkennen müssen, dass auch das schönste Haus ohne gut gebautes Fundament nicht endlos in den Himmel wachsen kann.

Die deutschen Grünen: Rückfall in das alte Denken des kalten Kriegs oder eine neue Seite im Geschichtsbuch?

 

Mit der Beteiligung Deutschlands am Nato-Krieg um Kosovo in den Jahren 1999 und 2000, wesentlich mitverantwortet durch den damaligen grünen Aussenminister Joschka Fischer, seien die Grünen, so der “Tages-Anzeiger” vom 30. Juni 2021, “aussenpolitisch erwachsen” geworden. Offensichtlich eifert das heutige grüne Führungsduo, bestehend aus Annalena Baerbock und Robert Habeck, erneut solchen geostrategischen Machtzielen nach: Die Welt, so Baerbock und Habeck, befinde sich heute in einem “harten Wettbewerb der Systeme”, es gehe um den Kampf zwischen “liberalen Demokratien” und “autoritären Staaten wie Russland oder China”, zwischen den beiden Lagern finde eine “Schlacht zwischen Gut und Böse” statt. Wie kann man auf dem eigenen Auge so blind sein? Ja, tatsächlich findet gegenwärtig eine “Schlacht zwischen Gut und Böse” statt. Aber doch nicht zwischen “liberalen Demokratien” und “autoritären Staaten wie Russland und China”. Die tatsächliche Schlacht zwischen “Gut” und “Böse”, die heute ausgefochten wird, ist die Schlacht zwischen dem Kapitalismus und all jener politischen Bewegungen, die sich für eine friedliche, gerechte und menschenwürdige neue Weltordnung jenseits von Kapitalismus und Kommunismus einsetzen. Die “Front” dieser Schlacht verläuft nicht entlang von staatlichen Grenzen, sondern geht mitten durch jedes einzelne Land hindurch: Auf der einen Seite die Reichen und Mächtigen, egal ob es sich dabei um Amerikaner, Brasilianer, Deutsche, Russen oder Chinesen handelt – auf der anderen Seite all jene Menschen, die schwerste Arbeit leisten, in bitterster Armut leben und auf elementarste Lebensgrundlagen wie ausreichende Ernährung, sauberes Trinkwasser und dringend notwendige Medikamente verzichten müssen. Annalena Baerbock und Robert Habeck seien daran erinnert: Dass es weder in Russland noch in China ein so grosses Mass an Hunger und Armut gibt wie in jenen zahlreichen afrikanischen Ländern, die alles andere als “kommunistisch” sind, sondern im Gegenteil mit den westlichen “Demokratien” eifrig Handel treiben und diesen unaufhörlich jenen Reichtum verschaffen, den sie mit ihren eigenen Opfern überhaupt erst möglich machen. Dass die grössten Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht in China und Russland, sondern in den westlichen “Demokratien” wie den USA oder der Schweiz bestehen. Dass weder Russland noch China, sondern die USA weltweit pro Kopf der Bevölkerung am meisten Geld ausgeben für die militärische Aufrüstung – mehr als alle anderen Länder zusammen. Und schliesslich dass der Klimawandel, der unser aller Überleben auf diesem Planeten existenziell in Frage zu stellen droht, ausschliesslich die Folge jener kapitalistischen Wirtschaftsweise ist, die auf endloser Profitmaximierung und einem immanenten Zwang zu immerwährendem Wachstum ist. Höchst bedauerlich, dass die Grünen, die in der deutschen Politik wahre Hoffnungsträger sein könnten, nun auf einmal in das alte Denken des Kalten Kriegs zurückfallen, statt endlich eine neue Seite im Geschichtsbuch aufzuschlagen: eine neue Welt aufzubauen jenseits von gegenseitiger Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, eine neue Welt, in der endlich das gute Leben für alle Wirklichkeit werden kann, nicht nur für die, die heute leben, sondern auch für alle zukünftigen Generationen. Gegenseitige Feindbilder zwischen Nationen, Säbelrasseln, Machtspiele, Kampfansagen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, dies alles sollte endlich der Vergangenheit angehören, denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Die neueste Daimlerlimousine und die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung: zwei Welten im gleichen Land

 

“Das Auto”, so Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher an der School of Engineering in Zürich, im “Tages-Anzeiger” vom 22. Juni 2021, “das Auto wird in Zukunft noch viel attraktiver werden. Gerade wird es zu einer riesigen Erlebnismaschine ausgebaut. So zum Beispiel hat Daimler in der neuen Elektro-Luxuslimousine einen Hyperscreen eingebaut, der zieht sich von einer Seite des Autos zur anderen. Dieser Bildschirm soll lernend sein und die Funktionen, die der Nutzer gerne hat, auf die erste Ebene holen. Das Auto wird damit noch persönlicher. Es wird zu einem grossen Smartphone auf Rädern. Es wird die Vorlieben der Nutzenden immer besser kennen und wird passgenaue Angebote machen, beispielsweise einen Rabatt bei der Cafékette, deren Filiale auf dem geplanten Weg liegt.” Verrückt. Während die gesellschaftspolitische Debatte im Hinblick auf den drohenden Klimawandel immer mehr in die Richtung einer verstärkten Förderung des öffentlichen Verkehrs, autofreier Innenstädte und gemeinschaftlicher Nutzung von Mietfahrzeugen geht, weiss die Autoindustrie nichts Gescheiteres, als den uralten und längst zur Groteske verkommenen Traum des Autos als zweitem Zuhause unter Aufbietung sämtlicher technischer Raffinessen wieder neu aufleben zu lassen. Zugegeben, bei den neuesten Serien handelt es sich mehrheitlich um Elektromobile. Aber verschlingt deren Herstellung nicht gleichermassen eine Unmenge an Energie und Rohstoffen? Wie viele seltene Metalle müssen aus der afrikanischen Erde geschürft werden, um diesen Hyperscreen herzustellen, der sich von der einen Seite des Autos zur anderen hinzieht? Liegt nicht eine umweltgerechte Entsorgung der Batterien immer noch in weiter Ferne? Verstopfen Elektroautos nicht genau so wie von Benzin angetriebene Fahrzeuge unsere Städte und erfordern stets immer weitere Strassen und den Verschleiss von wertvollem Kulturland? Ist nicht hinlänglich bekannt, dass die gesamte Ökobilanz eines Elektroautos kein bisschen besser ist als jene eines von Benzin angetriebenen Autos? Wenn ich mir das so vorstelle: Hier eine Automobilindustrie, die alles daran setzt, das Automobil der Zukunft in ein riesiges Smartphone zu verwandeln, das augenblicklich alle noch so ausgefallenen Wünsche seiner Insassen erfüllen wird – und dort die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung, die bei Wasser und Brot wochenlang in Baumhütten ausharren, um den Bau einer Autobahn durch ein Waldgebiet zu verhindern, wenn ich mir das so vorstelle, dann überfällt mich unwillkürlich der Gedanke, ob das noch die eine und dieselbe Welt ist, in der beides gleichzeitig möglich ist. Oder ob hier nicht schon ein Graben aufgerissen worden ist, der sich nicht mehr zuschütten lassen wird. Ja, vielleicht steuern wir da tatsächlich auf einen “Kipppunkt” zu, der den Übergang in ein von Grund auf neues, anderes Gesellschaftssystem mit sich bringen wird. Denn während auf der einen Seite die Auswüchse einer weltweiten Luxusgesellschaft immer groteskere Formen annehmen, werden gleichzeitig das Unverständnis, die Ungeduld und die Wut all jener jungen Menschen, die ihren Traum von einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt noch nicht verloren haben, immer stärker. Welche Seite obsiegen wird – das ist nicht mehr und nicht weniger als die Frage des Überlebens der Menschheit. Oder wollen wir allen Ernstes so lange warten, bis die Daimlerlimousine dereinst durch menschenleere Dörfer segeln wird und alle längst ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten nur noch auf dem Hyperscreen zu bewundern sind, der sich von der einen Seite des Autos auf die andere hinzieht?   

 

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Die Abstimmungen vom 13. Juni 2021: Plädoyer für eine Demokratie, die den gesellschaftlichen Fortschritt beflügelt

 

Ja, wir Schweizerinnen und Schweizer verfügen glücklicherweise über das demokratische Recht, über Dinge abstimmen zu können, die in anderen Ländern ausschliesslich von Parlamenten oder Regierungen bestimmt werden. Doch die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 über ein neues CO2-Gesetz für mehr Klimaschutz, über eine Trinkwasser- und eine Pestizidinitiative für eine umweltschonendere Landwirtschaft sowie über ein neues Antiterrorgesetz haben gezeigt, dass demokratisches Mitbestimmungsrecht nicht gleichbedeutend sein muss mit gesellschaftlichem Fortschritt: Die drei Umweltvorlagen wurden abgelehnt, das Antiterrorgesetz, das selbst gegen unbescholtene Bürgerinnen und Bürger bei Verdacht auf politisch unliebsame Äusserungen Anwendung finden kann und das damit hinter Saudiarabien zum weltweit zweitschärfsten Gesetz dieser Art zählen wird, wurde angenommen. Nun kann man sagen: Das sind nun mal die demokratischen Spielregeln. Die Mehrheit entscheidet. Und die unterlegene Minderheit muss dies diskussionslos akzeptieren. Doch so einfach ist das nicht. Ein Blick in die Geschichte zeigt nämlich, dass sich die Mehrheit auch irren kann. So etwa wurden sowohl die Einführung einer Altersvorsorge wie auch das Frauenstimmrecht mehrmals abgelehnt, bis sie endlich die notwendige Mehrheit fanden. Was “richtig” und was “falsch” ist, lässt sich erst über längere Zeiträume hinweg erkennen. Ich wage zu behaupten, dass die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 zu jenen Abstimmungen zählen werden, deren Ergebnis schon in wenigen Jahren als “falsch” angesehen werden könnte, spätestens dann nämlich, wenn gutes Ackerland durch unverminderten Einsatz von Pestiziden seine natürliche Fruchtbarkeit verloren haben wird, wenn die Klimaerhitzung jenen Kipppunkt erreicht haben wird, an dem sie sich nicht mehr rückgängig machen lässt, und wenn die ersten Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen im Gefängnis landen, weil sie zu einem radikalen Sturz der kapitalistischen Staats- und Wirtschaftsordnung aufgerufen haben. Keine Frage: Demokratie ist gut und wichtig und soll auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Aber sie kann nicht funktionieren in einem luftleeren Raum, in dem eine Benzinpreiserhöhung um ein paar wenige Rappen oder die Erhöhung von Flugticketpreisen um zwanzig oder dreissig Franken mehr politisches Gewicht bekommt als die Frage unseres gemeinsamen Überlebens auf diesem Planeten. Wenn die Demokratie nicht zum Spielball unterschiedlicher Machtgruppen verkommen, sondern weitblickend den gesellschaftlichen und ökologischen Fortschritt beflügeln soll, dann braucht sie so etwas wie eine ethische Grundlage. Nebst den Wahlen und Abstimmungen, die meist stark von den finanziellen Mitteln der verschiedenen Parteien und Verbänden beeinflusst sind und in denen nicht selten die billigsten Schlagwörter und Argumente mehr Gewicht erhalten als fundierte Tatsachen, müssten so etwas wie lokale Gesprächsgruppen gebildet werden, in denen Gegnerinnen und Befürworter aktueller politischer Vorlagen am gleichen Tisch sitzen und gegenseitig ihre Argumente austauschen. Heute ist das Gegenteil der Fall: Jede Gruppe schliesst sich in ihre “Blase” ein und will von den “gegnerischen” Gruppen möglichst nichts wissen. Paradebeispiel für diese gegenseitige Polarisierung ist die “Arena” des Schweizer Fernsehens: “Freund” und “Feind”, “Gut” und “Böse” sitzen sich gegenüber, niemand versucht den anderen zu verstehen, es geht bloss darum, die eigene Position zu verteidigen und hierfür möglichst viele Argumente ins Feld zu führen. So wird das Ganze zum gegenseitigen Schlachtfeld und es geht am Ende nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um “Sieg” oder “Niederlage”. In lokalen, gemischt zusammengesetzten Gesprächsgruppen ginge es hingegen vielmehr darum, Argumente und Gegenargumente gegenseitig ernst zu nehmen, zu lernen und, wenn nötig, auch die eigenen Positionen zu überdenken. Eine Demokratie, die nicht ist, sondern die wächst. Eine Demokratie, die nicht den Schlagabtausch zwischen verschiedenen Interessengruppen fördert, sondern den gemeinsamen gesellschaftlichen Fortschritt. Ganz im Sinne des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, der sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”    

Wahlen in Sachsen-Anhalt: Weshalb den Linksparteien die Wählerinnen und Wähler davon laufen

 

Landtagswahlen im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt. Die CDU erreicht einen Wähleranteil von 36 Prozent, die AfD 22,5 Prozent, die Linke 11 Prozent, die SPD 8,5 Prozent, die Grünen 6,5 Prozent und die FDP ebenfalls 6,5 Prozent. Auch wenn sich viele über den deutlichen Vorsprung der CDU gegenüber der AfD freuen, kann das Ergebnis nicht darüber hinweg täuschen, dass die politische Linke bei diesen Wahlen eine vernichtende Niederlage hinnehmen musste. Nicht einmal bei jenem Bevölkerungssegment, dessen Interessen sie traditionellerweise vertritt, hat die Linke gepunktet: Von den in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Wählerinnen und Wählern haben sich 38 (!) Prozent für die AfD entschieden, 20 Prozent für die CDU und nur 12 Prozent für die Linke und gerade mal 9 Prozent für die SPD, die frühere Hochburg der Arbeiterschaft und Vorkämpferin sozialer Gerechtigkeit. Doch nicht nur im deutschen Sachsen-Anhalt laufen die “kleinen” Leute den traditionellen Linksparteien scharenweise davon und landen schliesslich bei populistischen und rechten bis rechtsextremen politischen Kräften und Parteien. Auch Donald Trump wurde vornehmlich von den “kleinen” Leuten in abgehängten und von Arbeitslosigkeit stark betroffenen Gebieten zum US-Präsidenten gewählt. Auch Marine Le Pen, die reelle Chancen als Nachfolgerin des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat, gewinnt ihr Wählerpotenzial vornehmlich aus den “unteren” Bevölkerungsschichten. Und selbst die schweizerische SVP wird heute zu einem grossen Teil von Bürgerinnen und Bürgern gewählt, welche noch vor zehn oder zwanzig Jahren ihre Stimme der Sozialdemokratie gegeben hätten. Was läuft da schief? Weshalb gelingt es den Linksparteien immer weniger, ihr traditionelles Wählerpotenzial abzurufen? Und welches ist das Geheimrezept der Rechtsparteien, mit dem sie ihre wachsenden Wahlerfolge erzielen? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach und lässt sich auf ein einziges Wort reduzieren. Dieses Wort ist der Kapitalismus. Denn all die Sorgen und Nöte, schwere Arbeit bei schlechtem Lohn, geringe gesellschaftliche Wertschätzung, wachsender Leistungsdruck und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Abbau öffentlicher Einrichtungen, all das, worunter die Menschen leiden und was sie in immer grösserer Zahl in die Hände der Populisten und Heilsversprecher vom rechten politischen Rand treibt, das sind die ganz logischen und zwangsläufigen Folgen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf der Ausbeutung von Menschen und Natur zwecks endlosem Wachstum und unaufhörlicher Profitmaximierung beruht. Die traditionellen “Linksparteien” können sich noch so anstrengen, noch so viele gute Ideen haben – gefangen im kapitalistischen System, wird es für jeden Millimeter, den sie an sozialem Fortschritt erkämpfen, immer gleich wieder zwei Millimeter geben, welche sie wieder zurückschlagen. Diese systembedingte Machtlosigkeit ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen von den traditionellen “Linksparteien” abwenden und eine neue politische Heimat suchen, so widersprüchlich, konzeptlos und nicht selten sogar verlogen diese auch sein mag. Grundlegend ändern würde sich das erst in dem Augenblick, da all jene Bewegungen, Parteien und politischen Kräfte, die sich der sozialen Gerechtigkeit und dem guten Leben für alle verschrieben haben, aus dem Schatten des Kapitalismus heraustreten würden und das in die Tat umzusetzen begännen, was unter anderem sogar im Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratie festgeschrieben steht: die Überwindung des Kapitalismus. So könnte die politische Linke jene Glaubwürdigkeit und Faszination wiedererlangen, die ihr heute fehlen. Und sie würde den populistischen und nationalistischen Kräften und Parteien den Boden unter den Füssen wegziehen. Dass die Zeit für einen so grundlegenden Wandel längst schon reif wäre, zeigt eine unlängst vom Edelman-Kommunikationsbüro durchgeführte Umfrage, wonach 55 der Deutschen finden, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Und da sich die kapitalistische Wachstumsspirale naturgemäss immer schneller dreht, wird auch das Leiden unter dem Kapitalismus naturgemäss immer schneller zunehmen – bis hin zum Klimawandel, der ebenso eine ganz logische und direkte Folge der kapitalistischen Wachstums- und Ausbeutungslogik ist. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht von heute auf morgen überwunden werden. Aber hier und heute kann, als erster Schritt, eine grosse, breite Debatte darüber beginnen, so dass am Ende eines Wahltags wie heute in Sachsen-Anhalt, nicht bloss darüber diskutiert wird, welche Partei wie viele Wählerprozente gegenüber vor vier Jahren gewonnen oder verloren hat, sondern vor allem darüber, in was für einer Welt wir in zehn oder zwanzig Jahren leben möchten, in der das gute Leben nicht bloss ein schöner Traum, sondern Wirklichkeit geworden wäre für alle.  

2050: Im Museum des Kapitalismus

 

In Berlin gibt es das Museum der DDR, wo die Besucherinnen und Besucher einen umfassenden Einblick bekommen, wie man im ehemaligen Ostdeutschland lebte und wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft damals organisiert waren. Stirnerunzeln, Verwunderung, ungläubiges Staunen und nicht selten auch Erleichterung darüber, dass die damalige sozialistische Staatsmacht mit ihrer Einheitsdoktrin und einem umfassenden Spitzelsystem endgültig der Vergangenheit angehört. Rund 60 Jahre später, im Jahre 2050 oder so, wird es in New York, London oder Singapur das Museum des Kapitalismus geben und auch dort werden die Besucherinnen und Besucher aus dem Staunen nicht herauskommen, dass so etwas jemals möglich war. Dass ein Hundertstel der Weltbevölkerung fast die Hälfte des gesamten Weltvermögens besass und die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung gerade mal einen Hundertstel davon. Dass es sich die Menschen in den reichen Ländern des Nordens leisten konnten, mehr als einen Drittel der eingekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen, während weltweit jeden Tag zehntausend Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Dass nicht wenige Menschen in den reichen Ländern, selbst ohne zu arbeiten und bloss aus dem Anteil an Erbschaften oder Aktien, an jedem einzelnen Tag um ein Vielfaches mehr verdienten als ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Textilarbeiterin in Bangladesch trotz härtester Arbeit während ihres ganzen Lebens. Dass die Menschen aus den reichen Ländern in alle Länder der Welt reisen konnten und überall mit wärmster Gastfreundschaft willkommen geheissen und verwöhnt und ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde, während umgekehrt die Menschen aus den armen Ländern, wenn sie in den reichen Ländern Schutz vor Armut oder Krieg zu finden hofften, bloss mit Stacheldrahtzäunen, meterhohen, unüberwindbaren Mauern, Hass und Ablehnung empfangen wurden. Dass nicht nur die armen Menschen den reichen Menschen wie Sklaven und Sklavinnen ausgeliefert waren und damit der Reichtum der Reichen in immer schwindelerregendere Höhen hinaufgetrieben wurde, sondern dass in diesem Plan unaufhörlichen Wachstums auch die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Natur dem Zweck endloser Profitmaximierung unterworfen waren: masslose Abholzung von Regenwäldern im Sekundentakt, Gifte und immer aggressivere Anbau- und Erntemethoden zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, Tropenfrüchte aus Hungergebieten auf den Tellern der Reichen, Abertausende Hühner zusammengepfercht in viel zu engen Ställen, die sich gegenseitig zu Tode bissen. Und dass zu allem Überdruss, wie wenn das nicht alles schon genug wäre, Unmengen von Geld weltweit in die militärische Aufrüstung gesteckt wurden und so viele Waffen aufgetürmt worden waren, dass man die ganze Erde damit gleich mehrfach hätte vernichten können. Und wenn jetzt in diesem Museum des Kapitalismus ein Kind seine Mutter oder seinen Vater fragt, wie denn das alles möglich gewesen sei und wie die Menschen das alles ausgehalten hätten, reich zu sein, während andere hungerten, und so viele andere seltsame Dinge zu tun, obwohl sie ja wussten, dass sie damit ihren eigenen Untergang herbeiführen würden, wenn ein Kind alle diese Fragen stellt, dann wird sich seine Mutter oder sein Vater wohl lange überlegen müssen, was für Antworten sie darauf geben könnten. Und dann, nach langem Überlegen, wird der Vater oder die Mutter vielleicht sagen: Weisst du, das ist zwar schwer zu erklären, aber ich glaube, es war die Macht der Gewohnheit. Wenn man genug lange etwas tut und alle anderen es auch tun und auch früher schon alle es getan haben, dann meint man, es sei normal, obwohl es eigentlich verrückt ist. Schon den Kindern hatte man mit der Muttermilch den Kapitalismus eingeträufelt und in der Schule ging dann das nahtlos weiter und die Kinder lernten, gegeneinander um Macht, Ansehen und Erfolg zu kämpfen, egal, ob andere darunter litten oder nicht. Auch die Ökonomen, die am ehesten noch etwas hätten ändern können, waren von der kapitalistischen Muttermilch durchdrungen und predigten die Lehre des Kapitalismus in allerhöchstens sich unerheblich voneinander unterscheidenden Varianten. Und auch die Politiker und Politikerinnen verhielten sich nicht anders. Man redete zwar von Demokratie und von Freiheit, aber im Grunde waren auch die verschiedenen Parteien nichts anderes als einzelne Flügel einer grossen kapitalistischen Einheitspartei und unterschieden sich nur durch unerhebliche Differenzen. Die Menschen meinten zwar, sie hätten die alten Religionen überwunden und lebten in völliger Freiheit. Im Grunde aber war diese Freiheit nichts anderes als ein unsichtbares Gefängnis, in dem sich eine ganz neue Religion etabliert hatte, die Religion des Geldes. Für Geld taten sie alles, es anzuhäufen, es anderen abzutrotzen, aus ihm Häuser zu bauen, die bis in den Himmel wuchsen, ja selbst um damit ihren eigenen Untergang vorzubereiten. Erstaunt und ein bisschen durcheinander von so viel Unbegreiflichem will das Kind nun wissen, wie denn das Zeitalter des Kapitalismus zu Ende gegangen sei. Das, sagt seine Mutter, sei keine einfache Frage. Vieles sei zur gleichen Zeit an vielen Orten anders geworden. Schlüsselfiguren seien Kinder und Jugendliche gewesen, an vorderster Front eine sechzehnjährige schwedische Schülerin namens Greta, die im Jahre 2017 eine millionenfache weltweite Bewegung ausgelöst hätte, zunächst gegen den drohenden Klimawandel und seine zerstörerischen Folgen für die Zukunft der Menschheit, dann aber immer mehr auch für die Vision einer von Grund auf neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Basis sozialer Gerechtigkeit und eines guten Lebens für alle. Irgendwann, berichtet die Mutter, sei die Bewegung nicht mehr aufzuhalten gewesen, umso mehr, als immer mehr Menschen erkannt hätten, dass sowohl der Klimawandel, wie auch die haarsträubenden Gegensätze zwischen Arm und Reich, die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur im Dienste schrankenloser Profitmaximierung und letztlich auch all die Kriege um Macht, Rohstoffe und Profite alle den gleichen Ursprung gehabt hätten, eben das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wahrscheinlich sei es vor allem den Kindern und Jugendlichen, die einen so wesentlichen Anteil an diesem Wandel getragen hätten, aber auch den Frauen, die ebenfalls führende Rollen übernommen hätten, zu verdanken, dass der Übergang von der kapitalistischen in die nachkapitalistische Zeit so gewaltlos und sanft verlaufen sei – eine Revolution ohne Blutvergiessen, etwas, was die Menschheit in dieser Form noch nicht gekannt hätte…

CO2-Gesetz, Trinkwasser- und Pestizidinitiative: Ökologische Reformen auf dem Buckel der sozial Schwächsten?

 

Die Gegnerinnen und Gegner des CO2-Gesetzes argumentieren, dass sich wegen der Erhöhung der Flugpreise eine Familie mit kleinem Einkommen künftig keine Ferien auf Teneriffa mehr leisten könne. Und auch den Schreiner auf dem Land, der täglich auf sein Auto angewiesen sei, werde eine Erhöhung des Benzinpreises empfindlich treffen. Auch die Gegnerinnen und Gegner der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative führen ins Feld, dass eine Erhöhung der Lebensmittelpreise insbesondere Familien mit geringem Einkommen hart treffen würde. Mit dieser Argumentation kann man zukünftig alle sozialen und ökologischen Reformen abschmettern, denn jede Erhöhung von Preisen oder Abgaben trifft stets die Schlechtverdienenden ungleich viel stärker als die Gutverdienenden. Das zeigten auch die monatelangen Protestaktionen der “Gelbwesten” gegen die von der französischen Regierung verhängte Benzinpreiserhöhung. Doch wer daran etwas ändern will, muss nicht hinten anfangen, sondern vorne, nämlich bei den Löhnen und Einkommen. Der wahre Skandal sind nicht die höheren Preise für Flugtickets, Benzin und Lebensmittel – alle diese Konsumgüter sind heute sowieso schon viel zu billig. Der wahre Skandal besteht vielmehr darin, dass schweizweit rund 700’000 Menschen unter oder an der Armutsgrenze leben und jeden Franken zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben können. Der wahre Skandal besteht darin, dass es immer noch keinen landesweit verbindlichen Mindestlohn gibt und sich viele Menschen mit Hungerlöhnen von 3000 oder 3500 Franken zufrieden geben müssen. Der wahre Skandal besteht darin, dass die am besten verdienenden Schweizerinnen und Schweizer bis zu 300 Mal mehr verdienen als die am schlechtesten bezahlten. Der wahre Skandal besteht darin, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer 709 Milliarden Franken besitzen – mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz und mehr als das jährliche Militärbudget der USA! Es ist nur zu bezeichnend, dass ausgerechnet jene politischen Kreise wie die SVP, welche soziale und ökologische Reformen aus angeblicher Rücksicht auf Minderbemittelte an vorderster Front bekämpfen, sich ebenso vehement gegen jegliche Bemühungen um mehr soziale Gerechtigkeit, höhere Löhne und stärkere Besteuerung von Gutverdienenden und Unternehmen wehren. Doch wir werden nicht daran vorbeikommen, unsere Zukunft nicht nur “grüner”, sondern vor allem auch sozialer zu gestalten. Denn mehr soziale Gerechtigkeit und ein weniger grosses Gefälle zwischen Gut- und Schlechtverdienenden sind unentbehrliche Voraussetzungen dafür, dass auch weitergehende ökologische Reformen eine Zukunft haben – ökologische Reformen, die dann nicht nur auf den Schultern ausgerechnet jener liegen, die sowieso schon auf vieles verzichten müssen, sondern von der ganzen Gesellschaft solidarisch mitgetragen werden.

CO2-Gesetz: Eine Avocado im Supermarkt oder ein Apfel im Quartierladen?

 

Im “Club” des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 25. Mai 2021 geht es um das CO2-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird. Während die befürwortende Seite Lenkungsabgaben auf Benzin, Heizöl und Flugtickets sowie die Errichtung eines Klimafonds zur Förderung alternativer Energien als unerlässlich erachtet, streitet die gegnerische Seite den Nutzen sämtlicher solcher Massnahmen rundweg ab und behauptet, dass technologische Innovationen zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen auch ohne solche Massnahmen möglich seien. Während ich das Gespräch verfolge, verspüre ich in mir eine immer stärker werdende Ungeduld. Wann endlich stellt jemand in der Runde die Frage, was für einen Wohlstand wir uns denn, um den Klimawandel aufzuhalten, in Zukunft überhaupt noch leisten können? Denn mit höheren Benzinpreisen und Abgaben auf Flugtickets ist das Problem des viel zu hohen CO2-Ausstosses ja überhaupt nicht gelöst, so lange munter weiter geflogen wird und die Anzahl der Autos auf unseren Strassen weiterhin kontinuierlich zunimmt. Und wann endlich stellt jemand die Frage, welche von all den Gütern, die wir täglich kaufen und konsumieren, wirklich notwendig sind und auf welche wir allenfalls, um den Klimawandel aufzuhalten, auch verzichten könnten? Doch ich warte vergebens. Die Runde scheint sich, wenn auch geteilt in Pro und Contra zum CO2-Gesetz, mindestens in dem Punkte einig zu sein, dass wir unseren bisherigen Wohlstand ungehindert weiterführen können und sämtliche Ursachen des Klimawandels einzig und allein mit finanziellen und technischen Massnahmen in den Griff zu bekommen sind. Und dies, obwohl wir Schweizerinnen und Schweizer jedes Jahr drei Mal so viel Ressourcen und Rohstoffe verbrauchen, als von der Erde auf natürliche Weise wieder geschaffen werden. Und in diesem Moment wird mir erst bewusst, dass die wichtigste Person in dieser Runde, die wohl genau diese Fragen gestellt hätte, fehlt, nämlich ein Vertreter oder einer Vertreterin der Klimajugend. Unbegreiflich, dass das Schweizer Fernsehens darauf verzichtet hat, hat die Klimajugend doch genau dieses Thema, über das hier eineinhalb Stunden diskutiert wurde, überhaupt erst ins Rollen und in jenes öffentliche Bewusstsein gebracht, das es heute hat. Aber Halt. Ganz am Schluss der Sendung, in der allerletzten Wortmeldung, meint ausgerechnet die Vertreterin der SVP, man müsste halt auch mal darüber diskutieren, ob es sinnvoll sei, mit dem Auto zum Supermarkt zu fahren, um dort eine Avocado zu kaufen, oder ob es nicht gescheiter wäre, zu Fuss in den Quartierladen zu gehen, um dort einen Apfel zu kaufen. Schade, dass die Sendung an dieser Stelle zu Ende war, eigentlich hätte sie hier erst so richtig anfangen müssen… 

 

 

Neues schweizerisches Antiterrorgesetz: Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig, aber wenn, dann richtig

 

Das neue schweizerische Anti-Terror-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, soll mehr Möglichkeiten für die Polizei schaffen, gegen potenzielle Gefährder vorzugehen, bei denen konkrete und aktuelle Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass sie in Zukunft eine terroristische Aktivität ausüben könnten. Dabei geht es vor allem um “Linksextreme”, “Rechtsextreme” und “Islamisten”, wobei Letztere in der öffentlichen Diskussion im Zentrum stehen. Namentlich könnten gegen solche Gefährder Kontakteverbote, elektronische Überwachung mit Fussfesseln, Standortverfolgung über Mobiltelefone, Meldepflicht, Hausarrest sowie ein Verbot, das Land zu verlassen, verhängt werden, und dies bereits ab dem Alter von zwölf Jahren. Kein anderes Land weltweit ausser Saudi-Arabien kennt ein so strenges Anti-Terror-Gesetz. Zahlreiche Strafrechtler und Strafrechtlerinnen geben zu bedenken, dass so weitreichende Massnahmen gegen Menschen, die ja noch keine Straftaten begangen haben, höchst bedenklich und auch nicht vereinbar seien mit den internationalen Menschenrechten. Dass Prävention gegen Terrorismus auch ganz anders angegangen werden könnte, skizzierte Olivier Roy, französischer Politikwissenschaftler und profunder Kenner muslimischer Gesellschaften und Gemeinschaften, in einem Artikel der NZZ vom 5. Januar 2021. Am Beispiel von Frankreich zeigt Roy auf, dass man, um den islamistischen Terror zu bekämpfen, dem Islam mehr Raum in der Gesellschaft geben müsste, statt ihn in Nischen abzudrängen, wo es an jeglicher sozialer Kontrolle fehle. Auch sei es wichtig, dass die islamischen Gemeinschaften gut ausgebildete, einheimische Geistliche hätten, welche die soziale Realität der Gläubigen kennen und teilen, an Stelle von schlecht bezahlten Imamen, die aus den Ursprungsländern geholt werden und kaum die Landesspreche sprechen. Diese Geistlichen wiederum sollten, so Roy, nicht in Industriearealen oder Hinterhöfen predigen, sondern in hellen, schönen Moscheen. Vorbildlich sei in diesem Zusammenhang Österreich, wo der Staat muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkennt. Roys Ausführungen werfen in der Tat ein schiefes Licht auf die Art und Weise, wie die Schweiz mit ihrer muslimischen Minderheit umgeht. Statt den “hellen, schönen Moscheen”, müssen sich die islamischen Glaubensgemeinschaften meist nach wie vor mit Industriearealen und Hinterhöfen zufrieden geben. Und die Diskussionen und Abstimmungen über Minarette, Burkas und Kopftücher zeigen, dass Vorurteile und Ressentiments gegenüber einer Minderheit, die immerhin fast sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, immer noch weit verbreitet sind. Einverstanden, man muss dem Terrorismus den Nährboden entziehen. Aber nicht, indem man das weltweit schärfste Antiterrorgesetz etabliert und schon Zwölfjährige mit Fussfesseln herumlaufen lässt oder unter Hausarrest stellt. Viel besser wäre es, Formen des Zusammenlebens und des gegenseitigen Respekts aufzubauen, die ein Aufkommen extremistischer Tendenzen schon gar nicht erst aufkommen lassen. Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig. Aber wenn, dann richtig.