Archiv des Autors: Peter Sutter

8. Montagsgespräch vom 6. Mai 2024: Kann mit mehr Waffen mehr Sicherheit geschaffen werden?

Den aktuellen Anlass zum 8. Buchser Montagsgespräch vom 6. Mai bildete der Piranha-Panzer, der am „Buchser Samstig“ vom 8. Juni in der autofreien Buchser Bahnhofstrasse präsentiert werden soll. Darüber hinaus aber wurde auch über die aktuelle europäische Sicherheitslage, das Verhältnis der Schweiz zur NATO sowie über die Frage diskutiert, ob Pazifismus in der heutigen Zeit kein Thema mehr sei.

Was das Verhältnis zwischen Russland und der NATO betrifft, so zeigte sich im Verlaufe der Diskussion, dass die Realität weitaus komplexer sei, als dies durch die Medien im Allgemeinen vermittelt werde. So etwa höre man nur selten davon, dass die USA über weltweit hundert Mal mehr Militärstützpunkte verfügt als Russland und fast alle dieser rund 2000 Basen ringförmig rund um Russland aufgestellt sind, was Bedrohungsängste seitens Russlands durchaus verständlich erscheinen lasse. Auch sei die Ukraine ganz und gar nicht jenes demokratische Musterland, als welches es im Westen dargestellt wird.

Übereinstimmung herrschte darin, dass der beste Schutz des Lebens zweifellos eine Welt ohne Waffen und Kriege wäre, während umgekehrt eine immer grössere Zahl von Waffen auch ein immer grösseres Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen in sich berge, und sei es nur durch einen unbeabsichtigten technischen Zwischenfall. Eifrig wurde darüber diskutiert, ob der Krieg in der Natur des Menschen liege oder vielmehr eine Folge nationalistischer Machtansprüche und wirtschaftlicher Interessen sei. Einig war man sich darin, dass jene Menschen, die von Kriegen profitieren, meist nicht die gleichen sind, welche unter ihnen leiden oder ihnen zum Opfer fallen, wie es kürzlich auch in einer öffentlichen Äusserung des amerikanischen Aussenministers Blinken deutlich wurde, der sagte, die Weiterführung des Ukrainekriegs wäre eine gute Sache, weil sie dazu diene, Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie zu erhalten.

Eine Annäherung der Schweiz an die NATO wurde skeptisch beurteilt. Mehr könnte erreicht werden, wenn sich die Schweiz auf ihre Rolle als Konfliktvermittlerin und Friedensstifterin zurückbesinnen würde und auf ihr grosses Potenzial an hervorragenden Diplomatinnen und Diplomaten, die schon in vielen Konflikten wertvollste Arbeit geleistet hätten.

Zur Frage, ob die Präsentation eines Panzers im Rahmen des „Buchser Samstig“ eine gute Idee sei, waren, wie zu erwarten, die Meinungen geteilt. Wie man erfahren konnte, war dies ursprünglich gar nicht die Idee des OK gewesen, sondern aus Militärkreisen vorgeschlagen worden. Nach intensiven und durchaus kontroversen Diskussionen sei das OK aber zum Schluss gelangt, dieses Angebot in Anbetracht der Bedeutung der Schweizer Armee nicht ausschlagen zu können. Krieg sei nun einmal eine Realität, das dürfe auch an einem solchen Anlass sichtbar werden. Dem wurde entgegnet, der „Buchser Samstig“ sei hierfür nicht der geeignete Anlass. Wenn sich die Armee der Öffentlichkeit präsentieren wolle, gäbe es hierfür genügend andere Möglichkeiten.

Auf Wunsch stelle ich interessierten Leserinnen und Lesern gerne eine Sammlung von themenbezogenen Zitaten, die man nicht jeden Tag in den Mainstreammedien findet, zu: info@petersutter.ch.

Liebe

Um andere Menschen lieben zu können, um Tiere und Pflanzen lieben zu können, um die Erde und den Himmel lieben zu können, um das alles lieben zu können, musst du zuallererst dich selber lieben. Und dann ergibt sich alles andere wie eine unaufhaltsame Flut.

Markus Somm und die “Linken”: Wer hat sich da wohl selber am meisten im Jahrhundert verirrt?

Wieder einmal zeichnet sich der “Historiker” Markus Somm in seiner Kolumne der “Sonntagszeitung” vom 5. Mai 2024 durch besondere Originalität aus. Unter dem Titel “Wie der 1. Mai zu einem Nazi-Tag verkam”, beglückt er die Leserschaft mit seinen Beobachtungen der diesjährigen 1. Mai-Feier in Wien.

Für Markus Somm sind „alte Linke“, die an der Wiener 1. Mai-Feier teilnahmen, „ahnungslos“, „mitleiderregend“, „die letzten Mohikaner“ und „Strukturkonservative, die sich im Jahrhundert verirrt haben“. Damit nicht genug: „Fünf Männer“, so Somm, „sind für etwa 100 Millionen Tote verantwortlich“. Mit diesen fünf Männern meint Somm Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Grösseren historischen Blödsinn habe ich noch selten gelesen. Wollte man Marx und Engels, welche nichts anderes waren als überaus kluge und scharfsinnige Wirtschaftsanalytiker ihrer Zeit, für den Tod von 100 Millionen Menschen verantwortlich machen, dann müsste man konsequenterweise auch Jesus, auf den sich Hernando Cortez und Francisco Pizarro bei der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung beriefen und mit dem sich Adolf Hitler in seiner Autobiografie verglich, für den Tod vieler Millionen Menschen verantwortlich machen.

Statt einer dermassen stossenden Geschichtsverfälschung hätte Markus Somm seine Kolumne gescheiter dafür verwendet, darauf hinzuweisen, wie aktuell die Gesellschaftsanalysen von Marx und Engels gerade in Anbetracht der heutigen globalen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse immer noch sind. Wenn sich jemand im Jahrhundert verirrt hat, dann wohl Markus Somm selber am meisten. Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob man einem “Historiker”, der regelmässig solchen Unsinn verbreitet, statt über historische Zusammenhänge sachlich und umfassend aufzuklären, nicht früher oder später den Titel als “Historiker” aberkennen müsste.

Sprunghaft zunehmender Schulabsentismus: Die Schule muss nicht allzu weit gehen, um die Ursache zu finden…

Für den in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Schulabsentismus – unentschuldigtes Fernbleiben von der Schule – sieht René Donzé in der “NZZ am Sonntag” vom 5. Mai 2024 vor allem zwei Ursachen: Ängste und Mobbing. Weiter werden erwähnt: Sozialphobie, Kriegsangst, Spätfolgen von Corona, Schnelllebigkeit der Gesellschaft, soziale Medien, häufiger Wohnortswechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Verweichlichung. Nur am Rande ist die Rede davon, dass auch die Schule selber eine Ursache sein könnte.

Befragt man aber Kinder und Jugendliche, wird schnell deutlich, dass sie selber in erster Linie unter dem wachsenden schulischen Prüfungs- und Leistungsdruck leiden. Dazu kommt die Fremdbestimmung schulischen Lernens: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nicht selber entscheiden, was und wie sie lernen möchten, die Lerninhalte werden ihnen weitgehend vorgeschrieben. Zudem werden sie durch das Prüfungs- und Notensystem permanent in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf gezwungen, aus dem die einen immer wieder als vermeintliche „Gewinner“ und die anderen als „Verlierer“ hervorgehen, was bei diesen zu einer endlosen Kette von Misserfolgserlebnissen bis hin zum Verlust jeglichen Selbstvertrauens führen kann, der eigentlichen Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen schwierig sein, oft auch die Familienverhältnisse, die soziale Situation, der Einfluss der sozialen Medien, möglicherweise auch die Folgen der Coronakrise. Wäre die Schule aber ein Ort des Wohlbefindens und der Lebensfreude, wo alle Kinder ausnahmslos erfahren dürften, wie wertvoll sie sind und über was für wunderbare Begabungen ein jedes von ihnen verfügt, dann würden wohl kaum so viele Kinder so ungern zur Schule gehen. Vermutlich wäre wohl eher das Gegenteil der Fall.

“Keine Schonhaltung für Schulschwänzer”, fordert René Donzé. Er spricht von einer “erodierenden psychischen Gesundheit der Jugend”, ohne die Wechselwirkung zwischen dieser “psychischen Gesundheit” und einer Schule zu erwähnen, die viel zu wenig sorgsam auf die eigentlichen Lern- und Lebensbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht. Nicht zuletzt wirft er den Eltern vor, zu “lasch” zu reagieren – so müsse man sich nicht wundern, wenn die Absenzen weiter zunähmen. Eine “Schonhaltung” schade den Jungen bloss. Doch ist wohl zu bezweifeln, dass weniger “Schonhaltung” und mehr Härte den Schulabsentismus verhindern könnten. Viel eher wäre wohl das Gegenteil der Fall: Der Widerwillen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Schule würde dadurch wahrscheinlich eher noch zunehmen.

Vielleicht müsste man bei dieser Gelegenheit nur wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen, den eigentlichen “Vater unserer Volksschule”. Dieser sagte nämlich: Wenn etwas im Unterricht nicht funktioniere, dann müsse der Lehrer stets zuallererst die Ursache bei sich selber suchen. Und erst, wenn er sie, was höchst selten sei, nicht bei sich selber finde, könne er sich ja überlegen, wo sie vielleicht sonst noch irgendwo sein könnte…

“NZZ am Sonntag” vom 28. April 2024: Wenn selbst Wörter zu Waffen werden…

Der Artikel „Aufstand der Neoidealisten“ in der „NZZ am Sonntag“ vom 28. April ist ein typisches und vor allem höchst erschreckendes Beispiel dafür, wie sich selbst die Sprache je nach Zeitgeist verändert und Begriffe plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen, als sie normalerweise haben. So werden die estnische Regierungschefin, der litauische Aussenminister und der tschechische Aussenminister als „idealistische Vorreiter“ gelobt, die sich der „Wahrung humanistischer Ideale“ verschrieben hätten und den „Weg in Europas Zukunft weisen könnten“ – und dies bloss deshalb, weil sie sich an vorderster Front für eine möglichst massive militärische Aufrüstung Europas stark machen und daher, zynisch genug, tatsächlich einiges dazu beitragen könnten, einen Weg in Europas Zukunft zu weisen, aber wohl einen, den sich niemand ernsthaft herbeiwünschen kann.

Als ein Land, welches „die demokratischen Werte hochhält, die Freiheit verteidigt und die Zukunft Europas schreibt“, wird, mit den Worten von Ursula von der Leyen, die Ukraine beschrieben, ausgerechnet jenes Land, wo mehrere Oppositionsparteien, Fernsehsender und Zeitungen verboten, alle russischen Bücher aus den Bibliotheken verbannt und die Aufführung von Musikstücken russischer Komponisten untersagt wurde, die Verwendung des Russischen mit Bussen geahndet wird und der Präsident seinem Volk, das sich gemäss Umfragen zu 72 Prozent für Verhandlungen mit Russland ausspricht, per Dekret ebensolche Verhandlungen verboten hat.

Das „Zaudern“ jener europäischen Regierungen, welche Waffenlieferungen an die Ukraine skeptisch gegenüberstehen, wird als „mutlos“ und „unmoralisch“ gebrandmarkt – vermutlich könnte allzu viel Zaudern möglicherweise ja dazu führen, noch auf dumme Gedanken zu kommen, etwa darauf, dass jede Waffe früher oder später einen Menschen verstümmeln, zerfetzen und seiner Familie entreissen wird.

So werden in kriegerischen Zeiten selbst die schönsten und edelsten Wörter, die dem Frieden, einer gewaltlosen Konfliktlösung und der Völkerverständigung dienen könnten, zu Waffen in der Sprache jener Illusionisten, die immer noch daran glauben, Kriege wären gewinnbar. Was für eine verrückte Zeit.

(P.S. Die obere Hälfte der Zeitungsseite, auf der dieser Artikel zu lesen ist, nimmt ein Foto mit zwei schwerbewaffneten, beim derzeitigen NATO-Manöver Steadfast Defender im Einsatz stehenden Soldaten ein, der eine von ihnen mit einem Maschinengewehr im Anschlag, beide, halb verschwommen, in einen rötlich-gelben Nebel gehüllt, ein Bild, das jedem Hollywood-Kriegsfilm alle Ehre machen würde. Was wohl der russische Präsident denken würde, wenn die Zeitung mit diesem Artikel und diesem Bild vor ihm auf dem Schreibpult liegen würde?)

Sonntagszeitung vom 28. April 2024: Psychische Probleme – alles nur eingebildet?

„Entgegen der landläufigen Meinung nimmt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nicht zu“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Dirk Richter. Dass sich 14 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen – bei den jüngeren Frauen sogar 29 Prozent – als „mittel bis schwer psychisch belastet“ fühlen, führt Richter vor allem darauf zurück, dass sich die „gesellschaftliche Wahrnehmung“ in Bezug auf psychische Probleme stark verändert habe. Daraus aber nun den Schluss zu ziehen, das meiste sei bloss „eingebildet“, erscheint mir doch allzu voreilig. Auch die Aussage des Buchautors und Arztes Adrian Massey, wonach jeglicher Sinn dafür, was psychische Krankheiten seien, verloren gegangen sei, wenn diese bis zu 50 Prozent der Bevölkerung beträfen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass zunehmender Zeitdruck und Stress am Arbeitsplatz, Überarbeitung, fehlende Sinnhaftigkeit in der beruflichen Tätigkeit, der wachsende gegenseitige Konkurrenzkampf, der beständige Zwang zur Selbstoptimierung, fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte, Zukunftsängste, Vereinsamung, Armut und der wachsende Leistungsdruck in den Schulen tatsächlich zu einer Zunahme psychischer Belastungen führen. Dann helfen freilich Therapien und Medikamente auch nicht weiter, sondern nur die Vermenschlichung und Entschleunigung eines Wirtschaftssystems, das viel zu stark auf materielle Profitmaximierung ausgerichtet ist und viel zu wenig auf die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Menschen.

Täglich ein Drittel unserer Wachzeit vor einem Bildschirm: Höchste Zeit, Nützliches von Schädlichem, Sinnvolles von Überflüssigem zu trennen…

Internet, soziale Medien, Computerspiele und Videos verschlingen inzwischen rund einen Drittel unserer Wachzeit, so war in dem am 24. April 2024 auf ORF 1 ausgestrahlten Dokumentarfilm “Smarte Kids? Kinder und digitale Medien” zu erfahren. Das typische Vorschulkind verbringt etwa vier Stunden pro Tag vor irgendeiner Art von Bildschirm, in den USA sind es sogar sechs Stunden pro Tag. Immer mehr Kinderärzte schlagen Alarm und warnen vor den schädlichen Auswirkungen übermässigen digitalen Medienkonsums auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Auch Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Schlafstörungen, Übergewicht, Ängstlichkeit und zunehmende Beziehungslosigkeit zwischen den Kindern und ihren Eltern sind höchstwahrscheinlich zu einem grossen Teil auf die massive Bild- und Informationsflut zurückzuführen, der schon kleinste Kinder von früh bis spät ausgesetzt sind. Was in den USA schon lange Normalität ist, nämlich, dass der Fernsehapparat Tag und Nacht läuft, vor dem Fernseher gegessen und die Hausaufgaben erledigt werden und es in vielen Familien nicht einmal mehr einen Esstisch gibt, diese “Normalität” greift immer mehr auch auf die europäischen Länder über. Begann der Fernsehkonsum im Jahre 1970 noch im Alter von durchschnittlich vier Jahren, sitzen heute schon Kinder im Alter von vier Monaten vor dem Fernseher. Und dies, obwohl das Gehirn in diesem Alter noch gar nicht die Fähigkeit besitzt, eine so schnelle und dichte Bildfolge zu bewältigen. Zudem ist, wie Experimente gezeigt haben, das Kind erst im Alter von etwa drei Jahren fähig, zweidimensionale von dreidimensionalen Ansichten zu unterscheiden, das heisst: Es hat vor dem Erreichen dieses Alters noch keine reale, konkrete, verinnerlichte Vorstellung davon, was auf dem Bildschirm tatsächlich dargestellt wird. Trotzdem verbringen etwa ein Drittel aller Kinder schon vor dem zweiten Lebensjahr täglich bis zu 90 Minuten vor dem Bildschirm – nutzlos vergeudete und verlorene Zeit in Bezug auf ihre Lernentwicklung, die viel schneller voranschreiten würde, wenn sie sich während dieser Zeit mit Bauklötzen, Legosteinen, Zeichnen, Malen, Basteln, Rollenspielen oder anderen altersgerechten Tätigkeiten beschäftigen würden.

Diejenigen, welche alle diese digitalen Verführungen produzieren, wissen haargenau, welche Mittel sie anwenden müssen, um möglichst viele Menschen schon von klein auf in ihren Bann zu ziehen und von ihnen abhängig zu machen, so dass sich das Konsumverhalten nach und nach immer weiter potenziert. Dabei spielen Belohnungssysteme eine zentrale Rolle. Wenn man in einem Videospiel einen Punkt gewinnt, einen Sieg erringt oder, in den sozialen Medien, ein Herzchen, irgendein Glückssymbol oder gar einen neuen “Freund” oder eine neue “Freundin” erobert, dann wird jedes Mal im Gehirn ein Glücksgefühl ausgelöst, das sich mit jenem vergleichen lässt, das auch mit Nahrungsaufnahme, Drogenkonsum oder Sex verbunden ist und nach immer mehr und mehr davon verlangt. Dabei zeichnen sich Videospiele durch ein besonders hohes Suchtpotenzial aus, vergleichbar jenem, auf dem auch schon in vordigitalen Zeiten die Glücksspielindustrie beruhte, damit unzählige Menschen in eine existenzgefährdende Verschuldung trieb und katastrophale volkswirtschaftliche Folgen zeitigte. Seit 2018 gilt die Videospielsucht gemäss WHO als ein Krankheitsbild, welches mit einer Kokainsucht vergleichbar ist. Videospielsucht kann zu einem völligen Verlust jeglichen Zeitgefühls führen, häufig wird so lange und so exzessiv gespielt, bis es den Betroffenen schwarz vor den Augen wird, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen auftreten oder es gar zu einem völligen psychischen Zusammenbruch kommt. In China, Südkorea und den USA, wo Videospielsucht besonders weit verbreitet ist, gibt es bereits spezielle Entzugsanstalten, um betroffenen Jugendlichen für teures Geld mit militärischem Drill ihre Sucht wieder auszutreiben. Doch nicht nur das Suchtpotenzial macht Videospiele so gefährlich. Hinzu kommt, dass viele der besonders beliebten dieser Spiele auf dem Prinzip beruhen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele “Feinde”, die von allen Seiten heranstürmen, abzuknallen. Um sich vorzustellen, was dies wiederum, wenn man es täglich stundenlang tut, in den Köpfen der Gamerinnen und Gamer bewirkt, hierfür braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie…

Dass uns allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass im Bereich des digitalen Medienkonsums allzu vieles schief läuft und insbesondere Kinder in viel zu frühem Alter allen möglichen Formen von Dauerberieselung ausgesetzt sind, die einer gesunden, ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung kaum besonders förderlich sind, scheint in einer so technologie- und wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unseren nicht zu genügen. Deshalb werden, wie im erwähnten Dokumentarfilm gezeigt wird, alle möglichen und unmöglichen Experimente und Studien durchgeführt, um das, was allgemein vermutet wird, sozusagen hieb- und stichfest zu “beweisen”. So zum Beispiel werden Experimente durchgeführt, bei denen Mäuse während sechs Stunden pro Tag pausenlosem Blitzlichtgewitter ausgesetzt werden, um herauszufinden, was für jedes Kind auch ohne ein solches Experiment logisch ist, nämlich, dass diese Mäuse mit der Zeit völlig irre und orientierungslos in ihren Käfigen hin und her rasen – was für eine Grausamkeit, die hier unter dem Vorwand einer völlig überflüssigen und unnötigen “Forschung” betrieben wird! Mittels einer weiteren Studie, welche zurzeit mit 12’000 Kindern und Jugendlichen in 21 speziell zu diesem Zweck geschaffenen Untersuchungszentren in den USA durchgeführt wird, will man “wissenschaftlich” herausfinden, was für einen Einfluss digitaler Medienkonsum auf die Entwicklung des Gehirns im Kindes- und Jugendalter hat. Zu diesem Zweck werden die Probandinnen und Probanden alle drei Monate einer Computertomographie unterzogen, dabei werden ihnen – absurder geht es nun wirklich nicht mehr – Videofilme vorgespielt, damit sie sich während der Dauer der Untersuchung möglichst nicht bewegen. Um “aussagekräftige” Ergebnisse zu bekommen, muss die Studie über mindestens sieben Jahre hinweg erfolgen, sodass die möglichen Spätfolgen problematischer Gehirnveränderungen erst zu einem Zeitpunkt feststehen werden, in dem die untersuchten Kinder von den Ergebnissen der an ihnen vorgenommenen Analysen selber gar nicht mehr profitieren werden. Gleichzeitig werden aller Voraussicht nach in der Zwischenzeit bereits wieder zahlreiche neue digitale Produkte auf dem Markt angekommen sein, welche von den laufenden Untersuchungen noch gar nicht erfasst wurden – ein sich ständig beschleunigendes Wettrennen, bei dem die Wissenschaft gegenüber der Technologie laufend den Kürzeren zieht. Den grössten kurzfristigen Nutzen daraus ziehen wohl in erster Linie all jene, die als Produzenten von Messgeräten, Programmierern von Testverfahren oder “Expertinnen” und “Experten” bei der Durchführung und der Auswertung der Studienergebnisse ihr ganz grosses Geschäft machen.

“Tablets sind auf den Markt gekommen, bevor wir die Risiken ihrer Nutzung erforscht haben”, bringt es Daphné Bavelier, Neurowissenschaftlerin an der Universität Genf, auf den Punkt. Das gilt nicht nur für Tablets, sondern für die technologische Entwicklung insgesamt. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet, aus ihr sprudeln in immer grösserer Anzahl und in immer höherem Tempo Verlockungen aller Art hervor und ziehen uns in ihren Bann, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten, uns mit ihren vielfältigen, komplexen und widersprüchlichen Sonnen- und Schattenseiten ernsthaft auseinanderzusetzen. Produziert wird einfach, was technisch möglich ist und was sich gewinnbringend verkaufen lässt, sozusagen ohne alle Rücksicht auf mögliche Opfer. Die ethische Frage, die Frage, was sinnvoll ist und was nicht, was den Menschen schadet und was ihnen nützt, die Frage, welches all die damit verbundenen ökologischen Folgen sind, woher all die Rohstoffe und all die Energie kommt, die es für die Aufrechterhaltung aller dieser Beschäftigungen braucht und wie lange diese Rohstoffe und diese Energie überhaupt in genügendem Masse vorhanden sein werden – all dies ist vollkommen in den Hintergrund getreten, aus der öffentlichen Debatte ausgeklammert. Als wäre die Technologie im Bunde mit der sogenannten “freien Marktwirtschaft” so etwas wie eine schicksalshaft über uns gekommene Gottheit, der wir uns nahezu willen- und kritiklos ausliefern müssten, um als Konsumentinnen und Konsumenten ganz allein selber dafür verantwortlich zu sein, wie wir damit umgehen, um allzu grossen Schaden von uns fernzuhalten…

Allerhöchste Zeit für einen radikalen Marschhalt. Es gilt, das Bestehende auf den Kopf zu stellen. Nicht zuerst die neuen Technologien und dann, im Nachhinein, die Fragen, Experimente und Untersuchungen, ob sie nützlich oder schädlich sind. Sondern genau umgekehrt: Zuerst die Frage, was aufgrund ethischer, sozialer, psychologischer, menschlicher, pädagogischer und ökologischer Erwägungen sinnvoll und verantwortbar ist, und dann erst, basierend auf diesen Erkenntnissen, der Entscheid darüber, welche Ideen weiterverfolgt werden sollen und welche nicht. Zudem muss es unbedingt darum gehen, sämtliche damit verbundenen Interessen offenzulegen. Damit neue Ideen, neue Produkte, neue Technologien, neue technische Werkzeuge und Instrumente nicht mehr länger vor allem deshalb in die Welt kommen, damit irgendwer damit möglichst viel Geld verdienen kann, sondern deshalb, weil sie den Menschen tatsächlich einen Nutzen bringen, das Leben erleichtern und es schöner machen, eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, gesellschaftliche Fortschritte ermöglichen, den Zugang zu Informationen demokratisieren und Menschen miteinander in Verbindung bringen, die sonst kaum je den Kontakt zueinander gefunden hätten.

Es ist absolut nicht einzusehen, weshalb nicht auch der Zugang zu digitalen Medien mit ihrem nachweislich starken Suchtpotenzial ebenso restriktiven Altersbeschränkungen unterliegen sollte wie der Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Die Grosszügigkeit und Allgegenwart, mit der digitale Medien fast jederzeit und überall angeboten, ja geradezu angepriesen und als scheinbar unentbehrlicher Bestandteil des Alltagslebens als selbstverständlich angesehen werden, steht in einem unbegreiflichen Gegensatz zu fast allen anderen täglichen Betätigungsfeldern und Alltagsgewohnheiten. Kein Mensch käme auf die Idee, in seinem Haus oder seiner Wohnung auf jedem Möbelstück eine kleine Schale mit Gummibärchen, Smarties und Sauernudeln aufzustellen, um den Kindern jederzeit und überall den Konsum dieser Süssigkeiten zu ermöglichen – wo es aber um den Fernseher, das Tablet, den Computer oder das Smartphone geht, tun wir genau dies.

Die gesellschaftliche Debatte müsste aber noch weit darüber hinausgehen. Besteht durch die Omnipräsenz der digitalen Welt nicht auch die Gefahr einer tiefgreifenden Entwurzelung der Menschen schon von klein auf von der realen, sinnlichen, greif- und fühlbaren Welt, von der Natur, den Tieren und Pflanzen, von der Erde, dem Wetter, dem Erleben der unterschiedlichen Jahreszeiten? Jede Minute mehr, die an einem Bildschirm verbracht wird, jede Minute mehr, in der mit der Maustaste ein künstlicher Hund gefüttert wird, ist eine Minute weniger, die mit gemeinsamem Spielen, Zusammensein mit Freunden, im Garten oder im Wald verbracht oder in der einem echten Hund Nahrung gegeben wird. Zeiten, die für alles Mögliche und Erdenkliche zur Verfügung stünden, werden, wie in ein schwarzes Loch, in immer grösserem Ausmass von den digitalen Medien aufgesogen und weggefressen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei den Erwachsenen. Kein Wunder, bleibt am Ende dann kaum noch Zeit für echte zwischenmenschliche Begegnungen, für Vereinsarbeit sowie für ehrenamtliches und politisches Engagement – lauter gesellschaftlich wichtige und für das Funktionieren einer Demokratie geradezu unverzichtbare Tätigkeiten, wo es zunehmend schwieriger wird, genügend Nachwuchs zu finden.

Viele Menschen empfinden die digitale Welt als willkommenen Ausgleich zu den Belastungen, dem Zeitdruck und dem Stress in der Arbeitswelt und der Schule. Zweckfrei und ziellos surfen, in die Welt hinaus träumen, in Phantasiewelten eintauchen, sich spannende Filme “hineinziehen”, Musik hören, Veranstaltungsangebote in der näheren und weiteren Umgebung abchecken, Hotelpreise vergleichen, Ferienziele durchforsten, in den sozialen Medien möglichst viele neue Leute mit ihren Vorlieben und Lieblingsbeschäftigungen “kennenlernen”, Ferienfotos und Ferienfilme in alle Welt hinausschicken, nach den Ferien die auf 300 oder 400 neue Nachrichten angewachsene Mailbox abarbeiten – es gibt in den unendlichen Weiten künstlicher Welten immer noch irgendetwas zu erledigen oder zu tun, auch wenn es noch so unnötig ist und einen noch so geringen Nutzen erbringt. Doch lenken solche “Fluchtversuche” aus der realen Welt nicht von der viel wichtigeren und grösseren Herausforderung ab, diese reale Welt eben in einer Art und Weise umzugestalten, dass alle diese Ablenkungen und Kompensationen eines Tages überflüssig geworden wären und man die digitalen Werkzeuge tatsächlich nur noch für jene Zwecke brauchen würde, die sich auf anderen Wegen nicht bewerkstelligen lassen? Ebenso wie auch Alkohol- und Nikotinkonsum, Spielsucht oder übertriebenes, bis zum Exzess betriebenes sportliches Training bei jenen Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit viel Freude, Wertschätzung und Befriedigung erfahren, weitaus seltener anzutreffen sind.

Damit sind wir freilich mitten in der Kapitalismuskritik. Denn ein auf endloses Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem ist zwangsläufig darauf angewiesen, laufend neue Bedürfnisse zu schaffen und – mithilfe immer aggressiverer Werbemethoden – die Menschen dazu anzutreiben, in wachsendem Ausmass Dinge zu kaufen und sich anzueignen, die sie für ein gutes Leben gar nicht wirklich brauchen. Als ich zehn Jahre alt war, gab es einen einzigen Fernsehsender, das schweizerische Staatsfernsehen. Tagsüber gab es kein Programm, die Sendungen begannen jeweils um 18 Uhr und zwischen 22 und 23 Uhr war Schluss. Dienstag war jeweils fernsehfrei, der Bildschirm blieb schwarz. Heute habe ich die Wahl zwischen etwa 300 verschiedenen Sendern, und dies pausenlos, Tag und Nacht, zudem kann ich mir Sendungen auch zeitversetzt noch bis zu drei Tagen später anschauen. Und doch habe ich nicht das Gefühl, in diesen 64 Jahren deswegen tausend Mal glücklicher geworden zu sein…

2,44 Billionen Dollar für Waffen: Pazifismus als einzige vernünftige Alternative

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendein Staat bekanntgibt, mehr Geld für sein Militär ausgeben zu wollen. Gemäss dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri erreichten die globalen Militärausgaben 2023 einen neuen Höchststand. Sie stiegen gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent auf rund 2440 Milliarden Dollar – es war bereits das neunte Jahr in Folge, in dem die Länder der Erde mehr Geld für ihre Verteidigung ausgaben. Spitzenreiter sind dabei die USA, sie bestritten mit 916 Milliarden Dollar 37 Prozent sämtlicher weltweiter Militärausgaben.

Gleichzeitig sind immer mehr Menschen nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den Ländern des Nordens von Armut betroffen. All das Geld, das weltweit in militärische Aufrüstung gesteckt wird, fehlt bei der Grundversorgung von Millionen von Menschen umso schmerzlicher, bei der Bereitstellung günstigen Wohnraums, bei der Wasserversorgung, bei Sozialprogrammen, im Gesundheitswesen, in der Bildung, in der Entwicklungshilfe. Jeden Tag sterben weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. “Jede Kanone, die gebaut wird”, so der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, “jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.” Auch Albert Einstein schrieb schon vor über 70 Jahren: „Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.“

Die Lösung wäre so einfach: Es bräuchte nur eine internationale Friedenskonferenz sämtlicher Regierungen, die bald einmal, wenn sie sich ernsthaft mit der Frage nach dem Überleben der Menschheit auseinandersetzen würden, unweigerlich erkennen müssten, dass sie alle nur gewinnen und dass niemand von ihnen etwas verlieren würde, wenn sie all das viel zu viele Geld, das heute für militärische Zwecke verschleudert wird, für zivile Zwecke verwenden würden. Die Einzigen, die dabei verlieren würden, wären die Rüstungskonzerne. Aber auch sie nur auf den ersten Blick. Denn es gibt unendlich viel Sinnvolleres, was man anstelle von Waffen produzieren kann: Wohnungen und Häuser, Anlagen für eine flächendeckende Versorgung mit sauberem Trinkwasser, ausreichende sanitäre Einrichtungen zur Verhinderung von ansteckenden Krankheiten, Spitäler, Geräte für medizinische Grundversorgung, intelligente und energiesparsame Verkehrssysteme, Fahrräder, Schulen, Kulturzentren, Bücher und vieles, vieles mehr. Und das würde all jene, welche ihre Produktion von militärischen auf zivile Güter umstellen würden, erst noch viel glücklicher machen, sie von schlechtem Gewissen und von schlaflosen Nächten befreien. Ja, der Pazifismus, der in der Abschaffung sämtlicher Armeen gipfeln und auf diese Weise endlich Wirklichkeit würde, ist die aktuellste Philosophie der Gegenwart und “aus der Zeit gefallen” sind einzig und allein nur jene, die das immer noch nicht begriffen haben.

Aber noch etwas müsste an dieser globalen Friedenskonferenz beschlossen werden, nämlich, der UNO eine unvergleichlich viel grössere Macht zu geben als die, über welche sie heute verfügt. Die USA müssen ihre Rolle als Weltpolizist und als Weltmacht Nummer eins, die sich einzig und allein auf das Recht des Stärkeren begründet und an die sie sich je länger je verzweifelter und mit immer gefährlicheren möglichen Folgen festklammern, endlich abgeben. Nicht an China oder irgendeine andere künftige Grossmacht, sondern an eine supranationale Organisation wie die UNO, demokratisch legitimiert und ohne ein Vetorecht irgendeines einzelnen oder einer Gruppe privilegierter Staaten. Jeder Konflikt zwischen zwei Jugendlichen, die sich auf einem Pausenplatz verprügeln, jeder Konflikt zwischen Eheleuten, die nicht mehr miteinander sprechen, und jeder Streit zwischen Nachbarn wegen bellenden Hunden in der Nacht oder Bäumen, die in die falsche Richtung wachsen, wird heute durch den Beizug von Mediatoren oder Friedensvermittlerinnen und durch gemeinsames Suchen nach Kompromissen gelöst. Nur bei den grössten, schwierigsten und gefährlichsten Konflikten, jenen zwischen Völkern oder Staaten, geht man immer noch von der irrigen Annahme aus, diese könnten von den Kontrahenten alleine und ohne Hilfe von aussen gelöst werden. Dass dies definitiv nicht funktionieren kann, müsste die Menschheit aus der viele hundert Jahre währenden Geschichte von Kriegen, bei denen es am Ende nie Gewinner, sondern immer nur Verlierer gegeben hat, eigentlich schon längst gelernt haben.

Vielleicht, und das ist trotz allem die Hoffnung, sind wir dem Punkt einer Entscheidung, die wir nicht mehr viel länger hinausschieben können, heute näher denn je. Denn es gibt nur zwei Wege. “Entweder”, so der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.”

Ins Paradies

Wenn die Kinder an unserer Seite aus dem Paradies gekommen sind, dann müsste es doch auch umgekehrt möglich sein, dass wir an ihrer Seite auch wieder dorthin zurückkehren können.

“Arena” vom 19. April 2024 am Schweizer Fernsehen zum Thema Klimapolitik: Viel tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen…

Eigentlich hatte ich, als ich am Freitagabend nach dem Zürcher Klimastreik wieder zuhause angekommen war, zunächst absolut keine Lust, mir die am gleichen Abend ausgestrahlte SRF-Diskussionssendung “Arena” zum Thema Klimapolitik anzuschauen. Wahrscheinlich wäre ich sowieso nur einmal mehr zutiefst enttäuscht gewesen und hätte kaum etwas von dem wiedergefunden, was ich während dieser zwei Stunden im Regen und in der Kälte von Zürich erlebt hatte, nichts von dieser überschäumenden Lebensfreude tausender ausschliesslich friedlich und fröhlich für eine lebenswerte Zukunft demonstrierender, vorwiegend junger Menschen, nichts von all dieser wunderbaren Energie und nichts von dem Optimismus, den dies alles in mir ausgelöst hatte. Dennoch habe ich dann zwei Tage später noch kurz in die “Arena”-Sendung hineingeschaut. Und ja, schon zwei kurze Ausschnitte haben genügt, um meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu finden…

Im ersten Ausschnitt stellt der Diskussionsleiter Sandro Brotz fest, dass die Klimabewegung in jüngster Vergangenheit wieder “in die öffentliche Wahrnehmung zurückgekehrt” sei. Dies sei bei “verschiedenen Aktionen” der vergangenen Wochen deutlich geworden. So etwa beim Zürcher Sechseläuten, wo sich eine Handvoll von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten mit einer schwarzen Flüssigkeit übergossen hätten – die entsprechenden Bilder werden eingeblendet -, wobei diese Aktion “gar nicht gut angekommen” sei. Bei dieser Aktion hätte auch Max Vögtli mitgemacht, der später wegen einer Flugreise nach Mexiko in die Schlagzeilen geraten sei. Auch in Basel hätte eine ähnliche Aktion stattgefunden, bei der sogar ein 13Jähriger beteiligt gewesen sei: Im Bild sieht man drei Personen, welche eine schwarze Flüssigkeit über Tramgeleise giessen und sich dann mit einem Transparent auf den Boden setzen, einer von ihnen ist der Dreizehnjährige. Weiter geht es zu den Bildern von zwei Brunnen in der Berner Altstadt, deren Wasser grün eingefärbt worden sei. Und auch heute, am 19. April, so Brotz, seien “weitere Aktionen geplant”. Und ja – Brotz wendet sich nun, anknüpfend an diese Bilder, an den Juso-Präsidenten Nicola Siegrist und wirft ihm die provokative Frage entgegen, ob das nun immer so weiter gehe mit diesen “Strassenblockaden, die uns alle so nerven.”

Man findet kaum Worte, um eine dermassen tendenziöse “Informationsvermittlung” zu beschreiben. In den drei gezeigten Episoden waren insgesamt nicht einmal zehn sogenannte “Klimaaktivistinnen” und “Klimaaktivisten” zu sehen. Während gleichzeitig allein in Zürich rund 4000 Menschen ausnahmslos friedlich, gewaltlos und ohne nur einen Ansatz von Provokation auf die Strasse gegangen sind, um daran zu erinnern, wie weit wir derzeit noch von der Umsetzung der Pariser Klimaziele, mit denen alle Länder der Welt einmal einverstanden gewesen waren, immer noch entfernt sind. Ein Thema, das aktueller nicht sein könnte, das uns eigentlich mit einem gewaltigen Ruck quer durchs ganze Land aufrütteln müsste, wird in der “Arena” reduziert auf ein paar sensationslüsterne Bilder, die aber aus den Köpfen all jener, welche an keiner dieser friedlichen Demonstrationen dabei waren und nichts von der Leidenschaft, den Hoffnungen und Visionen abertausender junger Menschen mitbekommen haben, kaum jemals mehr auszulöschen sein werden.

Im zweiten Ausschnitt bringt Juso-Präsident Nicola Siegrist in einem kurzen Moment alles auf den entscheidenden Punkt: Das Gründübel sei das auf reine Profitmaximierung und immerwährendes Wachstum ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftssystem. Solange dies nicht durch eine nachhaltige, nicht mehr länger auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruhende Wirtschaftsweise ersetzt würde, wäre auch eine Lösung des Klimaproblems nicht machbar. Doch statt jetzt in die alles entscheidende Grundsatzdiskussion einzusteigen, scheinen die beiden Kontrahenten auf der anderen Seite des Podiums, Christian Wasserfallen von der FDP und Christian Imark von der SVP, nur darauf gewartet zu haben, ihrem politischen Gegner die alles entscheidende Niederlage beizufügen. Wie Hyänen lauern sie auf ihre Beute, statt mit ernsthaftem Bemühen um eine möglichst sachbezogene Diskussion reagieren sie mit hämischem Grinsen. Wasserfallen beginnt schon zu reden, bevor Siegrist seinen Gedankengang überhaupt zum Ende bringen konnte. Jetzt, meint er, hätte sich Siegrist definitiv selber verraten, es sei doch immer wieder das gleiche “Narrativ”, es gäbe doch kein einziges sozialistisch-kommunistisches Land, das “klimamässig sauber unterwegs” sei, die seien doch alle von Armut geprägt, hätten keinerlei Infrastruktur und keinerlei Innovationen, die dazu führen könnten, Klimaschutzmassnahmen überhaupt technisch umzusetzen. Dann wirft er Siegrist vor, dieser wolle doch bloss den Firmen alle Gewinne wegnehmen, Löhne fordern, die gar niemand bezahlen könne, und damit auch keine Mittel mehr übrig zu lassen, um das Klimaproblem zu lösen. “Herr Siegrist”, sagt er, “haben Sie sich das alles schon einmal überlegt? Wahrscheinlich nicht.” Und dann rät Wasserfallen ihm, endlich von den “marxistisch-roten Büchern” wegzukommen und in die “betriebswirtschaftliche Realität” zu gelangen. Und überhaupt, so fährt er nahtlos weiter, sähe man es ja an diesem Max Vögtli, wohin das alles führe, wenn einer solche Aktionen durchführe und dann am nächsten Tag mit dem Flugzeug nach Mexiko verreise.

Eigentlich wäre das jetzt der Moment für den Moderator. Eigentlich müsste der jetzt sagen, dass man so nicht konstruktiv diskutieren könne und nicht alles durcheinanderbringen dürfte, sondern jeweils beim entsprechenden Thema bleiben müsste. Und er müsste zumindest die Frage aufwerfen, ob es denn ausserhalb des profitsüchtigen Kapitalismus und eines zweifellos mit viel zu vielen Mängeln behafteten “sozialistisch-kommunistischen” Systems nicht möglicherweise noch etwas Drittes geben könnte, das vielleicht noch gar nicht existiert, worüber aber ernsthaft zu diskutieren von grösster Dringlichkeit wäre. Er müsste auch nachweislich falsche Aussagen richtig stellen und zum Beispiel daran erinnern, dass die DDR kurz vor ihrem Zusammenbruch immerhin die sechststärkste Wirtschaftsnation der Welt gewesen war. Doch nichts von alledem geschieht. All die Anschuldigungen, die falschen Behauptungen, die immer wieder neu aufgewärmten Feindbilder bleiben unwidersprochen im Raum hängen. An keiner Stelle findet eine seriöse, vertiefte Auseinandersetzung statt. Ein knallhartes 1:0 für alle, die es immer schon wussten: Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten sind vor allem Menschen, die sich auf Strassen kleben, sich mit schwarzen Flüssigkeiten übergiessen und Flüsse und Brunnen vergiften. Wirtschaftswachstum ist gut. Zum Kapitalismus gibt es keine glaubwürdige Alternative. Deckel darüber. Tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen.

Es ist immer wieder die gleiche Methode, mit der man sich einer demokratischen, diskursiven Auseinandersetzung entzieht, indem man den politischen Kontrahenten mundtot zu machen versucht: Wer nur schon die leiseste Vermutung äussert, auch der Westen trage infolge der NATO-Osterweiterung eine Mitschuld am Ukrainekonflikt, ist ein “Putinfreund”. Wer auch nur ansatzweise die derzeitige Politik Israels und den Völkermord an den Menschen im Gazastreifen zu kritisieren wagt, ist ein “Antisemit”. Und wer nur schon den geringsten Zweifel darüber äussert, ob die kapitalistische Ideologie unbeschränkter Profitmaximierung und eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums eine Zukunft haben kann, wird zum “Kommunisten” abgestempelt. Damit aber ist jegliche auch nur ansatzweise demokratische Auseinandersetzung bereits im Keim erstickt.

Meine Eindrücke vom Klimastreik in Zürich, die Begegnungen mit so vielen wunderbaren Menschen voller Idealismus und voller Leidenschaften. Und dann die “Arena”. Zwei Dinge, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Wäre nicht endlich die Zeit reif dafür, sich nicht mehr länger verheizen zu lassen, nicht mehr länger solche Spiele mitzuspielen, sich nicht mehr länger in den Fleischwolf jener werfen zu lassen, die aus dem lautstarken Schlagabtausch oberflächlicher scheinbarer “Wahrheiten” immer wieder als “Sieger” hervorgehen und dabei einer ernsthaften, zukunftsgerichteten Auseinandersetzung schon zum Vornherein jeglichen Boden unter den Füssen entziehen? Es gäbe, so der chinesische Künstler, Dissident und Systemkritiker Ai Weiwei in einem kürzlich mit Sky News geführten Interview, auffallende Ähnlichkeiten zwischen der politischen Zensur in den aktuellen westlichen Gesellschaften und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit während der Herrschaft Mao Zedongs. Diese “Arena” war einmal mehr ein zutiefst erschreckendes Beispiel dafür.

(Ich habe auch bis heute nicht verstanden, was dieses Konzept der “schweigenden Masse im Hintergrund” bei den Arena-Sendungen eigentlich soll. Während sich im Vordergrund seit eh und je immer wieder die gleichen Politköpfe, deren immergleiche Worthülsen man längst schon bis zum Überdruss kennt, gegenseitig “duellieren”, sitzen da rund hundert meist junge Menschen, die wohl unzählige Fragen hätten und mit neuartigen, unkonventionellen Ideen das sich stets nach den gleichen Regeln abrollende Ritual aufwirbeln und aufbrechen könnten. Aber nein, sie sind zum Schweigen verdammt, gleichsam die anonyme Masse der nicht wahrgenommenen Bevölkerung symbolisierend, reine Statistinnen und Statisten, reine Dekoration, um dem Ganzen einen einigermassen demokratischen Anstrich zu geben, tatsächlich aber etwas zutiefst Antidemokratisches und das pure Gegenteil dessen, was man als partizipativ bezeichnen könnte, signalisierend, dass sie alle gefälligst zu schweigen haben, weil die da vorne, die wirklich “Wichtigen”, so viel Gescheites zum Besten geben, was man auf keinen Fall stören oder gar in Frage stellen darf. Jeden Freitag eine schallende Ohrfeige für all jene, die seit Jahren dafür kämpfen, dass die Jugend über viel mehr politische Mitsprache verfügen müsste. Gerade bei einem Thema wie Klimapolitik, von dem ja die heute noch unter 30Jährigen in ihrem zukünftigen Leben weit mehr betroffen sein werden als alle älteren Jahrgänge.)