Archiv des Autors: Peter Sutter

Die 35-Stunden-Woche: Weshalb wird uns einen Fortschritt leisten können, der für die überwiegende Mehrheit der Menschheit in unerreichbarer Ferne liegt

 

Die Swisscom, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 24. November 2021, ist mit der Forderung nach einer 35-Stunden-Woche an die Öffentlichkeit getreten – ein Anliegen, das auch von der SP seit Längerem verfochten wird und im Trend der Zeit liegt: Seit Jahrzehnten haben sich die wöchentlichen Arbeitszeiten in der Schweiz kontinuierlich verringert, die 16-Stunden-Arbeitstage  des 19. Jahrhunderts liegen in dunkler Vergangenheit. Doch so verlockend es für die Betroffenen auch sein mag: Es hat, wie alles im Kapitalismus, seine Schattenseiten. Die Arbeitszeiten haben sich im Laufe der Zeit nämlich nicht wirklich reduziert, sondern bloss verlagert. Und zwar von den sogenannt “qualifizierten” Jobs, wo gut verdient wird, zu den “Knochenjobs”, wo zwar sehr viel gearbeitet, aber kaum etwas verdient wird. Wenn man nämlich, zum Beispiel als Koch, als Strassenarbeiter, als Kellnerin oder als Verkäuferin – auch bei voller Erwerbstätigkeit und womöglich noch zusätzlichen Überstunden – dennoch nicht genug verdient, um eine Familie ernähren zu können, und daher der Ehepartner, die Ehepartnerin, gezwungen ist, ebenfalls, ob sie will oder nicht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, so bedeutet dies faktisch nicht eine Arbeitszeitverkürzung, sondern eine Arbeitszeitverlängerung: Um im Niedriglohnsektor die gleiche Lohnsumme zu erreichen wie früher, muss insgesamt länger gearbeitet werden, während in Berufen, wo man überdurchschnittlich viel verdient, ein einziger Lohn für den Lebensunterhalt genügt. Eine zweite Verlagerung hat stattgefunden zwischen den Löhnen und Arbeitsbedingungen hierzulande einerseits und den Löhnen und Arbeitsbedingungen im Ausland andererseits. Wenn sich Herr und Frau Schweizer auch mit dem Lohn einer 35-Stunden-Woche locker jede beliebige Anzahl von Kleidern und Schuhen leisten können, dann ist dies nur möglich, weil irgendwo in der Türkei oder in Bangladesch Hunderttausende von Arbeiterinnen genau zu jenen Hungerlöhnen und Arbeitszeiten schuften, die wir Glücklichen schon längst hinter uns gelassen haben. Auch all die Lebens- und Genussmittel in unseren Supermärkten sind nur deshalb so billig, weil die damit verbundene Arbeit nicht mehr hierzulande geleistet wird, sondern auf brasilianischen Kaffeeplantagen, auf spanischen Erdbeerfeldern, wo sich marokkanische und algerische Landarbeiterinnen und Landarbeiter zu Tode schuften, und in deutschen Schlachthöfen, wo polnische Leiharbeiter jene Arbeit verrichten, die nur noch wenige Deutsche oder Schweizer zu leisten bereit wären. Noch krasser ist es nur bei den Rohstoffen. Während afrikanische Minenarbeiter, wiederum zu Hungerlöhnen und an überlangen Arbeitstagen, wertvollste Bodenschätze zutage schürfen, ist ausgerechnet die Schweiz, welche über keinerlei Rohstoffe verfügt, Nummer eins im internationalen Handel und im Kaufen und Verkaufen dieser Güter. Da ist dann auch unsere Empörung über die in der “Dritten Welt” immer noch weit verbreitete Kinderarbeit nur scheinheilig. Den Reichtum, den wir geniessen, verdanken wir der Arbeit von Millionen von Menschen, die nicht genug verdienen, um davon leben zu können – da ist die Kinderarbeit, will man nur einigermassen über die Runden kommen, doch der einzige Ausweg, genau so wie in unseren Fabriken und auf unseren Bauernhöfen im 19. Jahrhundert. Kein Wunder, kann man sich dann, wenn andere so viel, so hart, so lange und zu so unmenschlichen Bedingungen und geringen Löhnen für uns arbeiten müssen, kürzere Arbeitszeiten leisten – auf Kosten all jener, die davon nicht einmal zu träumen wagen. Lösen lässt sich das Problem nur durch eine neue globale Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Ausbeutung beruht, sondern auf einer Überwindung der weltweiten Klassengesellschaft, auf gerechtem Teilen von Gütern und Reichtum und auf fairen – möglichst gleichen – Löhnen für alle. Damit nicht nur der schweizerische Swisscom-Mitarbeiter, sondern auch die schweizerische Kellnerin, die kongolesische Krankenschwester und der chilenische Hafenarbeiter in 35 Stunden pro Woche genug verdienen, um davon leben zu können. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.” 

Die Alternative zur Demokratie ist die Demokratie

 

“Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren”, meinte eine junge Frau, die unlängst an einer Strassenaktion von “Exstinction Rebellion” in Zürich teilnahm. Ähnliche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man an die Abstimmung über das schweizerische CO2-Gesetz denkt oder an die neu gewählte Regierung Deutschlands, welche bei Weitem nicht jene Erwartungen erfüllt, welche zahllose Wählerinnen und Wähler in Sachen Klimaschutz in sie gesetzt hatten. Hat sich die Demokratie überlebt? Wäre es an der Zeit, eine Art Diktatur einzuführen, um die wichtigsten Probleme unserer Zeit endlich einer Lösung entgegenzuführen? Nein, das wäre eine Bankrotterklärung sondergleichen. Denn die Demokratie ist, neben der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheit, wohl unser höchstes gesellschaftliches Gut. Es darf nicht darum gehen, die Demokratie abzuschaffen. Im Gegenteil. Es geht darum, sie weiterzuentwickeln, sie auf den neuesten gesellschaftlichen Stand zu bringen. Heute besteht Demokratie nämlich hauptsächlich darin, dass die Mehrheit Recht bekommt. Wenn einer Abstimmungsvorlage 50,1 Prozent der Bevölkerung zustimmen, dann wird sie umgesetzt, wenn sie von 50,1 Prozent der Stimmenden abgelehnt wird, dann fällt sie durch. Oder, wie in Deutschland: Wenn die SPD zwei Prozentpunkte mehr Wähleranteil als die CDU erreicht, wird sie zur Regierungspartei und wird den zukünftigen Bundeskanzler stellen – hätte sie zwei Prozentpunkte weniger Wähleranteil erzielt, dann wäre es genau gegenteilig herausgekommen. So wird die Demokratie zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, während die eigentlichen Grundinteressen und Bedürfnisse der Menschen auf der Strecke bleiben. Doch wie könnte man das ändern? Demokratie kann im luftleeren Raum nicht wirklich funktionieren. Sie braucht so etwas wie eine ethische Grundlage, einen gesellschaftlichen “Vorlauf”. In welcher Form ein solcher “Vorlauf” erfolgen könnte, ist schwer zu sagen. Aber vielleicht könnte es in der Richtung gehen, wie es bei den afrikanischen Urvölkern vor vielen hundert Jahren Brauch war: Da wurde über Beschlüsse, die das Dorf zu fällen hatte, so lange gesprochen, “palavert”, bis alle der gleichen Meinung waren. Das ging zweifellos nur, indem man einander aufmerksam zuhörte und aus den vielen kleinen Mosaiksteinchen schliesslich ein Ganzes geformt werden konnte. So ganz anders, als es uns in der “Arena”, der Diskussionssendung am Schweizer Fernsehen jeden Freitagabend, aber auch in den Talkshows auf den deutschen Kanälen vorgeführt wird: Jeder Gesprächsteilnehmer, jede Gesprächsteilnehmerin ist bemüht, “ihre” Wahrheit zu verkünden und die Meinungen der anderen möglichst klein zu reden. Anderen aufmerksam zuzuhören, anderen vielleicht auch mal Recht zu geben, eine gemachte Fehlaussagen zu korrigieren – gibt es nicht. Die Sendung “Club” zeigt, dass es auch anders gehen kann, vor allem dann, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nach Parteizugehörigkeit aufgespalten sind. Doch es braucht nicht nur eine andere Gesprächskultur. Es braucht auch so wie etwas wie ein gemeinsames Ganzes, Werte, die über den einzelnen Themen und Sachverhalten stehen und Verbindliches zwischen den einzelnen Parteien und Bevölkerungsgruppen schaffen können. Nichts würde sich dafür besser eignen als unsere schweizerische Bundesverfassung. Schliesslich hatte man sich zu dem Grundlagenwerk vor langer Zeit demokratisch bekannt und es ist nicht einzusehen, weshalb es nicht auch heute noch ein mindestens so hohes politisches Gewicht haben sollte wie irgendwelche Parteiprogramme oder Regierungserklärungen. Nur schon der Satz “Die Schweiz trägt eine Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen” würde so ziemlich alles auf den Kopf stellen, was unter heutiger Wirtschafts- und Umweltpolitik verstanden wird. Auch im deutschen Grundgesetz heisst es: “Der Staat schützt in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.” Höchstwahrscheinlich fänden wir diesen Grundsatz noch in zahllosen anderen Verfassungen und Grundgesetzen weltweit. Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Das Gemeinsame – das Bedürfnis nach Sicherheit, Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit auf einem lebenswerten Planeten – ist so viel grösser und umfassender als politische Grabenkämpfe und das kleinliche Gezänk um einzelne Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen. Nein, die Demokratie ist nicht abzuschaffen, im Gegenteil, sie ist auszubauen und weiterzuentwickeln zu einem Instrument, das in der Lage ist, die riesigen Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich zu lösen, durch eine ethische Basis, Orientierung an den Grundwerten, eine Neuauflage der “Palaverkultur” und die Besinnung auf das Gemeinsame, das so viel grösser ist als alles Trennende. Noch nie gab es eine solche Fülle von Weiterbildungsangeboten aller Art, noch nie hörte man so oft wie heute die Forderung nach “lebenslangem Lernen”. Da wäre es doch höchste Zeit, dass wir auch im Gesellschaftlich-Politischen weiterlernen und alles daran setzen, unsere Demokratie noch viel besser zu machen, als sie schon ist.

 

“Gendern” – eine rein akademische Luxusdiskussion?

 

Gemäss “Sonntagszeitung” vom 21. November 2021 postuliert Paul Gygax, Unidozent und Leiter der Arbeitsgruppe Psycholinguistik an der Universität Freiburg, in seinem soeben erschienen Buch “Denkt das Gehirn männlich?” die konsequente Verwendung weiblicher Sprachformen, das so genannte “Gendern”. Zweifellos ist das “Gendern” eine wichtige, ja geradezu unerlässliche gesellschaftspolitische Forderung im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch leider ist das “Gendern” bis heute praktisch ausschliesslich eine akademische Diskussion. Die Verwendung männlicher und weiblicher Formen ist weit davon entfernt, bis in Restaurantküchen, Fabrikhallen, Baustellen oder Wohnzimmer ganz “gewöhnlicher” Durchschnittsfamilien vorgedrungen zu sein. Wer im “Gendern” das eigentliche Hauptinstrument zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sieht, verkennt, dass die gesellschaftspolitischen Trennlinien eben nicht nur zwischen Männern und Frauen verlaufen, sondern vor allem auch zwischen den verschiedenen gesellschaftspolitischen Schichten in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Der alleinerziehenden Mutter, die sich mit 3000 Franken pro Monat durchschlagen muss, nützt es nichts, wenn in den Zeitungen und Büchern, die sie sich sowieso nicht leisten kann, durchgängig männliche und weibliche Formen verwendet werden. Und die Kellnerin hat noch keinen Rappen mehr Lohn, wenn in der gepflegten Kundschaft, welche sie bedient, ausschliesslich “korrekt” gesprochen und “gegendert” wird. Auch die Arbeit der Krankenpflegerin wird kein bisschen weniger anstrengend, wenn in den Krankheitsberichten, die sie zu lesen hat, jede männliche Personenbezeichnung noch eine zusätzliche weibliche Endung aufweist. Bedeutet dies, das man auf “Gendern” verzichten sollte mit dem Argument, dies alles sei eine reine Luxusdiskussion, eine reine Zeitverschwendung von Menschen, die offensichtlich nichts Gescheiteres zu tun wüssten? Keinesfalls. Das Hinterfragen einer rein männlichen Sprachwelt ist essenziell. Aber das “Gendern” kann im besten Falle nur ein erster kleiner Schritt sein hin zu einem viel umfassenderen, grösseren. Gerechtigkeit ist nicht eine Frage von Doppelpunkten, Sternchen oder einem Binnen-I, die den bisher rein männlichen Formen von Substantiven hinzugefügt werden. Die gesellschaftspolitischen und akademischen Anstrengungen, Initiativen und Debatten, die heute mit viel Eifer in das korrekte “Gendern” investiert werden, müssten vermehrt auch für die Überwindung einer Klassengesellschaft aufgebracht werden, welche einen grossen Teil der Bevölkerung nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch materiell diskriminiert. Man wünschte sich zum Thema der sozialen Gleichheit eine ebenso breite, intensive und leidenschaftliche Diskussion wie über die Fragen korrekter Rechtschreibung, geschlechtsneutraler Redewendungen und der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Sprachformen und Denkprozessen.   

Lieferdienste, in Flaschen pinkelnde Velokuriere und die “plötzliche Lust” der Konsumentinnen und Konsumenten

 

Der Genfer Lieferdienst Smood ist, wie die “Wochenzeitung” am 18. November 2021 berichtet, eine “Erfolgsgeschichte” und hat seit 2015 ein rasantes Wachstum hingelegt. Ein Schweizer Unternehmen, das es mit den ganz Grossen auf dem Markt aufnehmen kann, zum Beispiel mit Uber eats und Just Eat aus den Niederlanden. Weniger rosig sieht es für die Menschen aus, die für Smood arbeiten. Eine Lohnabrechnung, so die “Wochenzeitung”, hätte Farès Doudouhi noch nie gesehen. Ende August seien ihm 180 Stunden vergütet worden, obwohl er nach eigenen Berechnungen 195 Stunden gearbeitet hätte. Hinzu käme die Zeit, während der Doudouhi auf Aufträge gewartet habe: Sie werde nicht bezahlt, genau so wenig wie die Autoreparatur, die er im selben Monat in Auftrag geben musste. Weitere Kosten würden für Benzin anfallen. Alle diese Auslagen vergüte Smood mit gerade mal 32 Rappen pro Stunde. Insgesamt seien ihm im August 4247 Franken ausbezahlt worden, nach Anzug aller Auslagen seien ihm am Ende gerade mal noch 3000 Franken geblieben, und dies bei 50 Stunden Arbeit pro Woche. Doch es würde zu kurz greifen, nur einzelne Unternehmen wegen schlechter Arbeitsbedingungen an den Pranger zu stellen. An den Pranger zu stellen, ist in erster Linie nicht Smood noch Hey Migrolino, weder Stash noch Eat CH, weder Just Eat noch Shoplino und wie die Lieferdienste, die seit Jahren wie die Pilze aus dem Boden schiessen, alle heissen. An den Pranger zu stellen ist das System als Ganzes, die Idee der “Freien Marktwirtschaft”, das Prinzip des Konkurrenzkampfs aller gegen alle. Ein gegenseitiger Vernichtungsfeldzug mit gigantischen Kollateralschäden. Immer schneller, immer billiger, das ist die Devise. Und wer da nicht mithalten kann, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Ein Motor, der alles bis zum äussersten Exzess weitertreibt, Kuriere, die sich im Wettlauf mit der Konkurrenz fast zu Tode strampeln und unterwegs in mitgenommene Flaschen pinkeln, weil der Zeitdruck gelegentliche Pausen gar nicht zulässt. Doch nicht nur Hauslieferdienste sind einem gnadenlosen Konkurrenzkampf um die Gunst der Kundschaft ausgeliefert, ebenso Hotels und Restaurants, Handwerksbetriebe, Autowerkstätten, Frisiersalons und so weiter und so weiter. Und stets lautet die Devise: immer schneller, immer billiger. Doch damit dieses ganze zerstörerische Spiel nicht ein Ende findet, braucht es nicht nur die Unternehmen, welche Dienstleistungen anbieten. Es braucht ebenso die Kundinnen und Kunden, die das Spiel mitmachen, indem sie in aller Regel stets das billigste und schnellste Angebot wählen, ohne sich der Folgen, die sie damit anrichten, bewusst zu sein. Mit dem Sprung ins Internet und dem immer schnelleren Zugang zu einer Riesenpalette von Angeboten aller Art hat sich eine “Konsumkultur” entwickelt, die darauf beruht, dass einem sozusagen rund um die Uhr die ganze Welt zur Verfügung steht. Christa Wahlstart, Sprecherin des Lieferdienstes Avec nous, sagt: “Wir liefern Dinge, die einem gerade noch fehlen oder auf die man plötzlich Lust hat.” Je nachdem, ob man ein Velokurier ist, der in eine Flasche pinkelt und im Grossstadtverkehr sein Leben riskiert, oder ob man für seine Party eine Pizza, Chips und Bier bestellt, sieht diese “plötzliche Lust” höchst unterschiedlich aus. Und noch einmal anders sieht die “plötzliche Lust” für jene Unternehmer, Firmenbesitzerinnen und Aktionäre aus, denen die Firmen gehören. So hat der Gründer des Lieferdienstes Smood, Marc Auschlimann, gemäss Wirtschaftsmagazin “Bilanz” heute ein Vermögen von 150 bis 200 Millionen Franken. Alles herausgestrampelt aus knochenharter Arbeit von Kurierinnen und Kurieren und der “plötzlichen Lust” Abertausender Konsumentinnen und Konsumenten. So ist das, im Kapitalismus. So lange alle mitmachen, niemand das Spiel unterbricht und alle ungebrochen daran glauben, dass nur das gut ist, was möglichst schnell und möglichst billig ist…

Zankapfel Taiwan: Krieg als Instrument zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte muss ein Ende haben

 

Seit 40 Jahren sei das Verhältnis zwischen China und den USA noch nie so schlecht gewesen wie heute, schreibt der “Tagesanzeiger” am 17. November 2021. Einer der Hauptstreitpunkte ist das Verhältnis zwischen dem Inselstaat Taiwan und China. Seit Jahren steht Taiwan unter wachsendem politischen und militärischen Druck Chinas, welches die Vereinigung des Inselstaates mit China fordert. Ein, wie Chinas Staatschef XI Jinping sagt, “historisch unabwendbarer” Schritt, der notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt würde. Auf der anderen Seite die USA, die an einem 1979 vereinbarten Gesetz festhalten, wonach sich die USA der Verteidigungsfähigkeit von Taiwan verpflichtet haben. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder lassen die beteiligten Staaten den Konflikt eskalieren – mit dem Risiko, dass es zu einem kleineren oder grösseren Krieg kommt, mit möglicherweise unabsehbaren Folgen. Oder die beteiligten Regierungen setzen sich zusammen an den Verhandlungstisch und setzen alles daran, den Konflikt friedlich zu lösen. Könnte das nicht eine Aufgabe für die Schweiz sein? Wir rühmen uns ja stets unserer vielgepriesenen Neutralität – da würde doch nichts näher liegen, als diesen Status dafür zu nutzen, verfeindete Mächte zum gemeinsamen Gespräch einzuladen, ohne Partei der einen oder anderen Seite zu sein. Doch wie auch immer, ob die Schweiz ihre guten Dienste nun anbietet oder nicht: Wann endlich kommen die Mächtigen dieser Welt zur Vernunft? Hat Krieg jemals auch nur ein einziges zwischenstaatliches Problem so gelöst, dass es den betroffenen Menschen besser ging als zuvor? Wann endlich wird das, was in jeder Familie das Selbstverständlichste ist, nämlich, dass man Konflikte nicht mit Gewalt, sondern mit Worten zu lösen versucht, auch zur Selbstverständlichkeit im Verhältnis zwischen Ländern und Völkern? Wie können wir es zulassen, dass jährlich Hunderte von Milliarden Dollar für Waffen ausgegeben werde, während eine Milliarde Menschen nicht einmal genug zu essen haben? Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta lautet: “Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.”
Wie viel Wert ist denn das Papier, auf dem die Erklärungen der UNO über Jahrzehnte hinweg festgeschrieben wurden? Von der Steinzeit bis in unsere heutige Zeit haben Kriege unermessliches Leiden über die Menschheit gebracht, mit schlimmsten Folgen über Jahrhunderte und Generationen hinweg. Bis sich heute noch zwei Grossmächte gegenüberstehen, bis an die Zähne bewaffnet, zwei Grossmächte, die es in der Hand haben, entweder die Geschichte der Kriege blindlings weiterzuverfolgen und im aller schlimmsten Fall einen Dritten Weltkrieg auszulösen, der möglicherweise das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Oder sie haben es in der Hand, das Steuer herumzureissen und einer neuen Ära den Weg zu öffnen, in der Krieg als Mittel der Konfliktlösung endlich ein Ende hätte. Das ist so etwas wie ein Kipppunkt. Er setzt voraus, dass zwei Männer, die weitgehend immer noch ganz ähnlich denken, wie Männer schon seit Menschengedenken gedacht haben, sich inspirieren lassen von einem neuen Geist, von all den über Jahrhunderte für Frieden und die Abschaffung der Armeen kämpfenden Pazifistinnen und Pazifisten, von Künstlern und Schriftstellerinnen, von den Jugendlichen, die für eine gerechtere und friedlichere Zukunft auf die Strasse gehen, von den Kindern, die alle schon bei ihrer Geburt für eine Welt voller Liebe und Frieden träumen. “Erst wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht überwindet, wird es Frieden geben,” sagte Jimi Hendrix. Und offensichtlich hatte auch Martin Luther King den historischen Zeitpunkt vorausgesehen, an dem wir uns heute befinden: “Entweder”, sagte er, “werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.”

 

Kapitalismus lässt sich überwinden, aber nur, wenn genug Menschen dies auch wollen

 

Die Coronapandemie als Folge des immer ungezügelteren Vordringens der Menschen in bisher unberührte Lebensgebiete von Fledermäusen und anderen Wildtieren. Niedergebrannte Tropenwälder gigantischen Ausmasses, die sich in Wüsten verwandeln. Steigender Meeresspiegel, der die Wohngebiete von Millionen von Menschen zu verschlingen droht. Eine Million Tier- und Pflanzenarten, die vom Aussterben bedroht sind. 80 Millionen Flüchtlinge aus Kriegs- und Hungergebieten weltweit. Zwölfstundentage, Siebentagewochen, Hungerlöhne und Prügel für Textilarbeiterinnen in China, welche jene Kleider herstellen, die in den reichen Ländern des Nordens für Spottpreise verkauft oder ungebraucht fortgeworfen werden. Postkuriere, Hotelangestellte, Putzfrauen und Verkäuferinnen, die laufend wachsendem Zeitdruck ausgesetzt und gezwungen sind, sich im Kampf ums Überleben gegenseitig zu konkurrenzieren. Weltweite Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich, die ins Unermessliche steigen. Eine Milliarde Menschen, die hungern, während in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel der Lebensmittel im Müll landen. Eine weltweit von Jahr zu Jahr wachsende Zahl von Milliardären, während selbst in den reichen Ländern des Nordens immer mehr Menschen von Armut betroffen sind. Kreuzfahrtschiffe, Segelyachten, immer drastischer anschwellende Blechlawinen in den Grossstädten, Flugzeuge und Weltraumraketen, während Kinder in Afrika täglich barfuss zwanzig oder mehr Kilometer weit gehen müssen, um für ihre Familien das nötige Brennholz und Trinkwasser zu beschaffen. 200 Milliarden Dollar jährlich für die weltweite Rüstung – 130 Mal mehr, als das Welternährungsprogramm jährlich benötigen würde. Wie könnte da jemand noch behaupten, dass dies alles nicht das Ende des Kapitalismus ist? Die Frage ist doch schon lange nicht mehr, ob das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zusammenbricht, sondern nur noch, wie dieser Zusammenbruch erfolgen wird, ob in Form einer Apokalypse, die Bertolt Brecht dereinst mit dem Bild eines über den Abgrund stürzenden goldenen Wagens verglich, der die “schwitzenden Zugtiere” mit in den Abgrund reisst. Oder ob es uns rechtzeitig gelingt, inmitten der zerfallenden Mauern des Kapitalismus den Grundstein zu legen für ein neues Zeitalter, in der nicht mehr Raffgier, Profitmaximierung, das Streben nach immer grösserem Reichtum und die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur im Mittelpunkt stehen, sondern Liebe, Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität über alle Grenzen hinweg. Ja, wir leben in einer Zeit, da alles ausser Rand und Band geraten ist. Und ich verstehe alle, die ihre Hoffnung aufgegeben haben, in Resignation verfallen sind oder sich einfach in ihre privaten vier Wände zurückziehen. Und doch, so verrückt es klingen mag: Ich bin optimistisch. Der Verfall der bisherigen Ordnung führt uns vor Augen, wie eine Welt nach dem Kapitalismus aussehen könnte. Wir haben noch alles in der Hand. So wie der Kapitalismus aufgrund bestimmter Interessen von Menschen aufgebaut wurde, so kann er ebenso nach anderen Interessen auch wieder von Menschen abgebaut und durch etwas Neues, Besseres ersetzt werden. Es hängt nur davon ab, ob genug Menschen dies tatsächlich auch wollen. Es gibt keinen Grund, und schon gar nicht in der heutigen Zeit, davon auszugehen, dass der Kapitalismus die einzige, die letzte und die endgültige Form des Zusammenlebens auf diesem Planeten sein sollte. Die Vision eines neuen Zeitalters müssen wir glücklicherweise nicht aus fernen Welten herbeiholen. Diese Vision wird uns täglich millionenfach geschenkt, mit jedem Kind, das geboren wird. “Drei Dinge”, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, “sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder.” Was für ein Zeichen der Hoffnung: Die Kinder haben den Schlüssel zu einer neuen Zeit, den Schlüssel zum Paradies. Wenn wir ihnen folgen, dann können wir das Paradies hier und heute auf dieser Erde Wirklichkeit werden lassen und brauchen nicht zu warten, bis wir gestorben sind.

Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder…

 

Die soeben zu Ende gegangene Weltklimakonferenz in Glasgow hat es einmal mehr bestätigt: Wachstum, Industrialisierung und die Steigerung des Bruttosozialprodukts – das sind die ungeschriebenen Gesetze des Kapitalismus, aufgrund derer sich alle Länder der Welt einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf liefern, an deren vorderster Stelle die reichsten Industrienationen des Westens stehen, während alle anderen auf Teufel komm raus ihnen nachzueifern versuchen. Man kann es freilich keinem Land verargen, einen Wohlstand anzustreben, der für andere Länder längst selbstverständlich ist. Aber wenn alle Länder der Welt so viel Energie und so viele Ressourcen verbrauchen würden wie zum Beispiel die USA, dann wäre unser gesamten Ökosystem wohl schon längst kollabiert. Es braucht daher tatsächlich einen radikalen “Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft”, aber nicht, indem man mehr Windräder baut, mehr Hecken pflanzt und mehr Nachtschnellzüge zwischen europäischen Städten hin- und hersausen lässt. Es braucht einen Umbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems, und zwar weltweit. Nicht schrankenlose Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur, nicht das rücksichtslose Verprassen von Energie und Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen und nicht die immer tiefer gehende Kluft zwischen Arm und Reich sollen zukünftig die Grundlage des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens auf diesem Planeten bilden, sondern das gemeinsame Bemühen um das Wohlergehen aller Menschen auf einer Erde, wo uns früher oder später nur noch die Wahl bleibt zwischen einem kollektiven Untergang oder dem Anfang einer neuen, radikal neuen Zeit. Das enttäuschende Ergebnis der Weltklimakonferenz hat gezeigt, dass die Politiker und Politikerinnen der alten kapitalistischen Zeit wohl nicht mehr in der Lage sind, das Ruder tatsächlich herumzureissen und eine solche grundlegende Systemveränderung voranzutreiben, ja nicht einmal, sich einen solchen Wandel überhaupt nur annährend vorstellen zu können, zu sehr sind sie gefangen in ihrer traditionellen Rolle, zu sehr sind sie Teil dieses Systems, in dem sie gross geworden sind, das sie durch und durch geprägt hat und dem sie das Ansehen, den Einfluss und die Macht verdanken, die es ihnen möglich gemacht haben, an dieser Konferenz ihr jeweiliges Land zu vertreten. Schon Albert Einstein sagte: “Man kann Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Ja, es braucht etwas von Grund auf Neues, alles andere ist vergebliche Mühe. Und es wäre ja nicht einmal so schwer: Die Klimajugend hat den Boden vorbereitet, den Teppich ausgerollt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weltklimakonferenz hätten nur wenigstens einen Tag lang auf die andere Seite des Flusses gehen müssen, dorthin, wo Greta Thunberg und ihre Mitstreiterinnen und Mietstreiter ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Die Kinder und Jugendlichen hier und heute wahren diesen wunderbaren Schatz, das Wissen und die zeitlosen Werte der Liebe und der Gerechtigkeit, das Feuer der Leidenschaft, den unverbrüchlichen Glauben an eine schöne Zukunft und an das gute Leben für alle. Wie lange noch wollen wir blind an den Kindern und den Jugendlichen vorbeigehen, wie lange wollen wir sie noch belehren, statt ihnen zuzuhören und von ihnen zu lernen, wie lange wollen wir noch warten, bis eine neue Zukunft Wirklichkeit werden kann? “Drei Dinge”, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, “sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder.” Was für ein Zeichen der Hoffnung: Die Kinder haben den Schlüssel zum Paradies. Wenn wir ihnen folgen, dann können wir das Paradies hier und heute auf dieser Erde Wirklichkeit werden lassen und brauchen nicht zu warten, bis wir gestorben sind.

 

Die ökologische Wende: Wir brauchen nicht nur mehr Windräder, Hecken und Nachtschnellzüge, wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem

 

Die Partei der schweizerischen Grünen kündigt die Lancierung einer neuen Volksinitiative an, die einen Investitionsfonds für eine “ökologische Wende” fordert – so berichtet die “NZZ am Sonntag” am 14. November 2021. In diesen Investitionsfonds soll jedes Jahr ein Prozent des Bruttosozialprodukts fliessen, was rund sieben Milliarden Franken entspricht. Mit diesem Geld soll der ökologische “Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft” vorangetrieben werden. In den Übergangsbestimmungen der Initiative werden konkrete Massnahmen formuliert, die jeweils bis zu einem bestimmten Zeitpunkt realisiert werden müssten. Als Beispiele werden genannt: eine Offensive bei den erneuerbaren Energien, Investitionen in ein funktionierendes Nachtzugnetz in alle europäischen Städte bis 2035, Geld für zusätzliche Hecken, Bäume und Ausgleichsflächen für die Biodiversität, Geld für die Renaturierung der Städte. Glauben die Grünen tatsächlich, mit solchen Massnahmen die “ökologische Wende” und den “ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft” bewirken zu können? Mit solchen punktuellen Massnahmen kann doch allerhöchstens ein wenig Symptombekämpfung betrieben werden, während die eigentliche Ursache von allem, das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem Dogma des immerwährenden Wachstums und der rücksichtslosen Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur, unangetastet bleibt. Auch die soeben zu Ende gegangene Weltklimakonferenz in Glasgow hat es einmal mehr bestätigt: Wachstum, Industrialisierung und die Steigerung des Bruttosozialprodukts – das sind die ungeschriebenen Gesetze des Kapitalismus, aufgrund derer sich alle Länder der Welt einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf liefern, an deren vorderster Stelle die reichsten Industrienationen des Westens stehen, während alle anderen auf Teufel komm raus ihnen nachzueifern versuchen. Man kann es freilich keinem Land verargen, einen Wohlstand anzustreben, der für andere Länder längst selbstverständlich ist. Aber wenn alle Länder der Welt so viel Energie und so viele Ressourcen verbrauchen würden wie zum Beispiel die USA, dann wäre unser gesamten Ökosystem wohl schon längst kollabiert. Es braucht daher tatsächlich einen radikalen “Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft”, aber nicht, indem man mehr Windräder baut, mehr Hecken pflanzt und mehr Nachtschnellzüge zwischen europäischen Städten hin- und hersausen lässt. Es braucht einen Umbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems, und zwar weltweit. Nicht schrankenlose Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur, nicht das rücksichtslose Verprassen von Energie und Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen und nicht die immer tiefer gehende Kluft zwischen Arm und Reich sollen zukünftig die Grundlage des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens auf diesem Planeten bilden, sondern das gemeinsame Bemühen um das Wohlergehen aller Menschen auf einer Erde, wo uns früher oder später nur noch die Wahl bleibt zwischen einem kollektiven Untergang oder dem Anfang einer neuen, radikal neuen Zeit. Das enttäuschende Ergebnis der Weltklimakonferenz hat gezeigt, dass die Politiker und Politikerinnen der alten kapitalistischen Zeit wohl nicht mehr in der Lage sind, das Ruder tatsächlich herumzureissen und eine solche grundlegende Systemveränderung voranzutreiben, ja nicht einmal, sich einen solchen Wandel überhaupt nur annährend vorstellen zu können, zu sehr sind sie gefangen in ihrer traditionellen Rolle, zu sehr sind sie Teil dieses Systems, in dem sie gross geworden sind, das sie durch und durch geprägt hat und dem sie das Ansehen, den Einfluss und die Macht verdanken, die es ihnen möglich gemacht haben, an dieser Konferenz ihr jeweiliges Land zu vertreten. Schon Albert Einstein sagte: “Man kann Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Ja, es braucht etwas von Grund auf Neues, alles andere ist vergebliche Mühe. Und es wäre ja nicht einmal so schwer: Die Klimajugend hat den Boden vorbereitet, den Teppich ausgerollt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weltklimakonferenz hätten nur wenigstens einen Tag lang auf die andere Seite des Flusses gehen müssen, dorthin, wo Greta Thunberg und ihre Mitstreiterinnen und Mietstreiter ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Die Kinder und Jugendlichen hier und heute wahren diesen wunderbaren Schatz, das Wissen und die zeitlosen Werte der Liebe und der Gerechtigkeit, das Feuer der Leidenschaft, den unverbrüchlichen Glauben an eine schöne Zukunft und an das gute Leben für alle. Wie lange noch wollen wir blind an den Kindern und den Jugendlichen vorbeigehen, wie lange wollen wir sie noch belehren, statt ihnen zuzuhören und von ihnen zu lernen, wie lange wollen wir noch warten, bis eine neue Zukunft Wirklichkeit werden kann? “Drei Dinge”, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, “sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder.” Was für ein Zeichen der Hoffnung: Die Kinder haben den Schlüssel zum Paradies. Wenn wir ihnen folgen, dann können wir das Paradies hier und heute auf dieser Erde Wirklichkeit werden lassen und brauchen nicht zu warten, bis wir gestorben sind.

 

Flüchtlingsdrama an der polnisch-belarussischen Grenze: Und am Ende trifft es immer die Schwächsten

 

Offensichtlich instrumentalisiert der belarussische Präsident Lukaschenko Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, indem er sie nach Weissrussland fliegen lässt und dann zu Tausenden an die polnische Grenze schickt, um die EU unter moralischen Druck zu setzen und sie in der Weltöffentlichkeit als barbarisches Monster darzustellen, das nicht einmal davor zurückschreckt, Männer, Frauen und Kinder bei Minustemperaturen in den Wäldern des polnisch-belarussischen Grenzgebiets ausharren zu lassen, ohne Wasser, Nahrung und medizinische Versorgung, eingekeilt zwischen polnischen Grenzpolizisten auf der einen, belarussischen Sicherheitskräften auf der anderen Seite. Gehen wir noch einen Schritt zurück, dann ist diese Politik Lukaschenkos auf die Sanktionen zurückzuführen, welche von der EU gegen sein Land verhängt wurden als Reaktion auf die dort herrschende katastrophale Menschenrechtssituation. Also: Je mehr Druck auf der einen Seite, umso mehr Gegendruck auf der anderen – und die Opfer sind am Ende immer die Schwächsten, die schwangere Frau, die von einem polnischen Soldat dermassen traktiert wurde, dass sie eine Fehlgeburt erlitt, die Männer, deren Rücken blutig geschlagen werden, die Kinder, die sich zitternd vor Kälte an ihre Mütter klammern und von denen jüngst die ersten schon erfroren sind. Müssten wir aus dieser Geschichte nicht endlich etwas lernen? Seit den US-Sanktionen gegen den Irak in den Neunziger Jahren, denen eine halbe Million Kinder infolge Hungers und fehlender Medikamente zum Opfer fielen, müssten wir doch wissen, dass Wirtschaftssanktionen einzelner Länder gegen andere noch nie etwas anderes bewirkt haben, als dass das Elend der Schwächsten nur noch viel grösser wurde, während die Mächtigen in ihren Palästen stets überlebten oder sich sogar durch Machenschaften übelster Art noch zusätzlich bereichern konnten. Weder die EU noch Weissrussland würden ihr Gesicht verlieren, wenn sie ihr gegenseitiges Verhältnis nicht länger auf Machtgebaren, Sanktionen und Drohgebärden abstellen würden, sondern auf Kooperation, auf das Bemühen um friedliche Nachbarschaft und auf die gemeinsame Anstrengung, für Tausende von Menschen, von denen die meisten schon ein halbes oder gar ein ganzes Leben lang voller Krieg, Armut, Verfolgung und Zerstörung hinter sich haben, eine menschenwürdige Zukunft möglich zu machen…

Nicht nur im Pflegebereich: Die Forderung nach höheren Löhnen und die “unternehmerische Realität”

 

“Als Spitaldirektor”, so Fortunat Von Planta, Direktor des Kantonsspitals Uri, in der “Rundschau” des Schweizer Fernsehens vom 10. November 2021, “muss ich ganz ehrlich sagen, auf der Seite des Spitals ist einfach nicht genug Geld vorhanden, um höhere Löhne zu bezahlen. Da würden wir nur falsche Erwartungen schüren, die gar nicht eingehalten werden könnten, und dann wäre die Enttäuschung nur umso grösser. Mit höheren Löhnen würden wir nämlich unser Spital glatt an die Wand fahren. Das ist die unternehmerische Realität.” Das Gleiche würde wahrscheinlich auch der Besitzer eines Restaurants oder eines Hotels seinen Angestellten sagen, wenn sie mehr Lohn verlangen würden. Und genau gleich tönt es jeweils vom Baumeisterverband, wenn die Gewerkschaften der Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter höhere Löhne fordern. Auch der Detailhandel, Industrieunternehmen und die Landwirtschaft, überall das gleiche Lied von der “unternehmerischen Realität”, wonach kein Betrieb mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Eigentlich logisch. Und doch gleichzeitig auch höchst fragwürdig. Denn diese Logik der betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung hat zur Folge, dass ausgerechnet all jene Berufe – von der Landarbeiterin, der Krankenpflegerin und dem Bäcker über den Fabrikarbeiter, den Lastwagenfahrer und den Kehrichtmann bis zur Verkäuferin und dem Bauarbeiter -, die für das Funktionieren der gesamten Gesellschaft am unerlässlichsten sind, dass ausgerechnet diese Berufe mit den geringsten Löhnen Vorlieb nehmen müssen, während Berufe, auf die man notfalls auch verzichten könnte – wie zum Beispiel Bankangestellte, Werbefachleute, Immobilienmakler, Unternehmensberaterinnen, Verkaufsleiter, Rechtsanwälte und Anlageberater – mit mehrfach höheren Löhnen ausgestattet sind. Offensichtlich ein Systemfehler. Denn wenn es schon Lohnunterschiede geben muss, dann müssten doch jene beruflichen Tätigkeiten am höchsten entlohnt werden, auf welche die Gesellschaft am wenigstens verzichten kann und welche die höchste “Systemrelevanz” aufweisen, so dass dann beispielsweise Krankenpflegerinnen und Bauarbeiter, aber auch all jene, die unsere tägliche Nahrung besorgen, zu den Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdienern gehören würden. Dass jedoch das Gegenteil der Fall ist, bleibt nicht ohne gravierende Folgen. Allein im Pflegebereich sind heute bereits 11’000 Stellen unbesetzt und bis zum Jahr 2030 wird mit weiteren 65’000 fehlenden Pflegefachleuten gerechnet. Aber auch in der Gastronomie, der Industrie, auf dem Bau, im öffentlichen Dienst, in der Landwirtschaft und in vielen anderen Branchen wären Zehntausende von Stellen unbesetzt, wenn nicht Ausländerinnen und Ausländer all jene Arbeiten übernehmen würden, um die sich Schweizerinnen und Schweizer infolge schlechter Arbeitsbedingungen und tiefer Löhne schon längst nicht mehr reissen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn alle diese Arbeitskräfte eines Tages unser Land verlassen würden, um in ihrem eigenen Land eine berufliche Existenz aufzubauen. Wenn der Direktor des Kantonsspitals Uri davor warnt, dass mit höheren Löhnen sein Spital “an die Wand gefahren” würde, dann müsste man sich fragen, ob mit der heutigen betriebswirtschaftlichen Lohnpolitik möglicherweise früher oder später nicht nur das gesamte Gesundheitswesen, sondern auch die gesamte Wirtschaft an die Wand gefahren wird. Doch was wäre die Alternative? Wir müssten, was die Löhne betrifft, von einer betriebswirtschaftlichen zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise übergehen. Die Höhe eines Lohnes sollte sich nicht mehr nach der jeweiligen betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung ausrichten, sondern nach der Wichtigkeit eines Berufes für die Gesellschaft. Auch sollte ernsthaft die Einführung eines Einheitslohns in Betracht gezogen werden, denn in einer Gesellschaft, die so vernetzt ist wie die unsere, in der alles mit allem zusammenhängt und alles von allem abhängig ist, in einer solchen Gesellschaft wäre ein Einheitslohn das einzige wirklich Gerechte. Neue Sichtweisen und Visionen, die sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen lassen. Doch was soll uns davon abhalten, zumindest darüber nachzudenken? Ein Gefälle von 300 zu eins zwischen Höchst- und Tiefstlöhnen, wie es heute in der Schweiz an der Tagesordnung ist, kann ja wohl nicht ernsthaft der Weisheit letzter Schluss sein. Es gibt genug Ökonomen und Ökonominnen, welche sich ausschliesslich innerhalb der herrschenden “Marktlogik” bewegen. Da würde es doch nicht schaden, wenn ein paar wenige von ihnen neue, unverbrauchte, visionäre Wege beschreiten würden. Damit wir nicht eines Tages erwachen und mit Schrecken feststellen müssen, dass wir alle miteinander “an die Wand gefahren” sind…