Archiv des Autors: Peter Sutter

Die Olympischen Spiele und das Konkurrenzprinzip, das immer mehr an seine Grenzen stösst

 

In wenigen Tagen werden Millionen von Menschen ihren Blick nach Peking richten. Die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele wird zweifellos ebenso gigantisch sein wie all die Gebäude und Anlagen, die alles Bisherige in den Schatten stellen, bis hinauf zu den Gebirgsketten, wo mit riesigem Aufwand Skipisten erstellt wurden, die nur mit künstlichem Schnee betrieben werden können – als gäbe es keine Klimaerwärmung, kein schmelzendes Polareis, keine Überflutung bedrohter Küstengebiete und keine Länder, wo infolge von Hitze und Dürre kaum noch etwas wächst. Der Sport scheint ganz offensichtlich jener Zweck zu sein, der auch die schlimmsten Mittel heiligt. Doch nicht nur die gigantischen Bauten für die 15 olympischen Disziplinen, die nach Gebrauch wieder nutzlos in der Landschaft herumstehen werden, sind Ausdruck jenes globalen Wetteiferns im Konkurrenzkampf aller gegen alle, die sportlichen Wettkämpfe sind es genau so: Zu Beginn zieht jedes Team mit erhobener Flagge in die Halle, wo die Eröffnungsfeier stattfindet. Zwei Wochen später zählt jedes Land die gewonnenen Medaillen, die “Sieger” stehen im Scheinwerferlicht, die “Verlierer” verschwinden im Dunklen. Wir haben uns das Konkurrenzprinzip, das auch in der Wirtschaft und in der Arbeitswelt alles dominiert, selbst den Kindern in der Schule schon von klein auf eingebläut wird und im Spitzensport wohl seine extremste Form findet, so sehr gewöhnt, dass wir uns etwas anderes schon gar nicht mehr vorstellen können. Aber versuchen wir doch mal, uns die Absurdität des Konkurrenzprinzips am Beispiel des Spitzensports vor Augen zu führen. Ob Eiskunstlauf, Langlauf, Skispringen, Bob oder Ski alpin, es ist immer das gleiche Prinzip: Wenn 50 Fahrer die Abfahrtspiste hinunterrasen, liegt es in der Natur der Sache, dass sie unterschiedlich viel Zeit brauchen, um ins Ziel zu gelangen. Zwar sind das die 50 verrücktesten, wildesten, verwegensten, mutigsten und schnellsten Männer der Welt, die da eine Leistung vollbringen, von der alle übrigen Skifahrer der Welt nicht einmal zu träumen wagen. Eigentlich müsste man alle diese 50 Fahrer aufs Podest stellen und ihnen alle eine Medaille verleihen, da ja der “Langsamste” unter ihnen vielleicht bloss drei oder vier Sekunden länger gebraucht hat als der Schnellste. Und schliesslich haben ja alle diese 50 Fahrer viele Jahre ihres Lebens dem Training geopfert, zahlreiche Unannehmlichkeiten, Stürze, Verletzungen und Rückschläge in Kauf genommen. Doch, wie wir alle wissen: Am Ende werden nur drei von ihnen auf dem Podest stehen, von den weiteren sieben ist im besten Falle noch da und dort ein wenig die Rede, alle anderen verschwinden im Niemandsland. Aber es ist noch viel absurder: Die besten Drei sind ja nur deshalb die Besten, weil alle anderen “schlechter” waren. Gäbe es keine Verlierer, dann gäbe es auch keine Sieger. Wäre nur ein einziger Fahrer hinuntergesaust, er hätte so schnell oder so langsam fahren können, wie er wollte, er hätte weder verloren noch gewonnen, er wäre zugleich der Beste und der Schlechteste gewesen. Eigentlich müsste der Sieger allen anderen dankbar sein: Nur weil sie mitgemacht haben und schlechter waren, wurde er zum Sieger. So wird der olympische Kampf um Gold, Silber und Bronze zum Zerrbild jenes Konkurrenzkampfs, der unseren gesamten Alltag prägt, wo die Menschen in der kapitalistischen Arbeitswelt gegeneinander um Aufstiegschancen, Lohnerhöhungen und den Lebensstandard kämpfen, den man sich je nach dem materiellen Bedingungen leisten kann oder nicht. Wie beim Skirennfahrer, der nur deshalb so gut ist, weil die anderen schlechter sind, kann sich auch der Abteilungsleiter eines Einkaufszentrums nur deshalb einen so guten Lohn leisten, weil sich alle seine Untergebenen, auch wenn sie noch so hart arbeiten, mit einem niedrigeren Gehalt zufrieden geben müssen. Dass das Konkurrenzprinzip letztlich ein zerstörerisches Prinzip ist, zeigen uns die zahlreichen Verletzungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, von denen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler immer häufiger betroffen sind – sei es im Skirennlauf, im Kunstturnen, im Tennis oder im Eiskunstlauf. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass man früher oder später Alternativen zum traditionellen Spitzensport mit all seinen schädlichen Auswirkungen suchen, politisches Wettrüsten auf Kosten von Athletinnen und Athleten in allen seinen Formen überdenken und der immer absurdere Gigantismus sportlicher Grossanlässe wie den Olympischen Spielen einer ökologisch und gesellschaftlich verträglichen Alternative Platz machen müsste. 

Jeder sei seines Glückes Schmied – eine der gröberen kapitalistischen Lügen

 

Leistung mache sich stets früher oder später bezahlt, meinte F. Wer viel leiste, werde dafür mit beruflichem und gesellschaftlichem Erfolg belohnt. Ganz so, wie es schon das alte Sprichwort sage, wonach jeder seines Glückes Schmied sei. Dies ist wohl eine der gröberen kapitalistischen Lügen…

Das Zimmermädchen, das im Zehnminutentakt Zimmer um Zimmer des Hotels reinigen und in Ordnung bringen muss, der Bauarbeiter, der im heissesten Sommer und im kältesten Winter schwerste körperliche Arbeit verrichtet, bis ihm buchstäblich der Rücken zerbricht, die Krankenpflegerin, die unter permanentem Zeitdruck von Patient zu Patientin eilt und sich dabei nicht den allerkleinsten Fehler erlauben darf, der Arbeiter in der Fleischfabrik, der pausenlos die geschlachteten Tiere zerlegt, bis ihm fast die Arme abfallen, und die alleinerziehende Mutter, die zwischen der Kinderbetreuung, ihren beiden Teilzeitjobs und den Haushaltsarbeiten kaum zum Schnaufen kommt – mehr als sie alle und noch viele, viele mehr kann man nun wirklich nicht mehr leisten. 

Und dennoch wird keine und keiner von ihnen oder allerhöchstens ein paar ganz wenige jenen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg schaffen, von dem das Sprichwort vom Schmied und seinem Glück faselt. Und dies nicht etwa, weil die Betroffenen zu “faul” wären, nein, ganz im Gegenteil: Sie sind arbeitsamer und fleissiger, selbstloser und beharrlicher als so manche und so mancher, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Machtpyramide in ihrem Glück sonnen und sich eines um ein Mehrfaches höheren Lohns erfreuen. Dass die meisten Tieflohnarbeiterinnen und Tieflohnarbeiter trotz grösster Anstrengung den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg nicht schaffen, hat nicht mit fehlender Leistungsbereitschaft zu tun, sondern einzig und allein damit, dass sie schlechtere Startbedingungen hatten: Entweder verfügten ihre Eltern nicht über das nötige Geld, um ihnen eine gewünschte Ausbildung zu ermöglichen, oder sie sahen sich in der Schule schon von Anfang an gegenüber Kindern aus sogenannt “höhergebildeten” Akademikerfamilien benachteiligt oder sie stammen aus einem anderen Land und verfügen daher nicht über die notwendigen Bildungspapiere und nur über spärliche Sprachkenntnisse. 

Die Lüge, wonach jeder seines Glückes Schmied sei, dient einzig und allein dazu, all jene, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Arbeitswelt tummeln, von ihrem schlechten Gewissen zu befreien, gegenüber anderen privilegiert zu sein, können sie sich doch jederzeit darauf berufen, dass all jene, denen es schlechter geht, an ihrem Schicksal selber Schuld seien: Sie hätten ja bloss ein bisschen härter arbeiten müssen und dann wären sie ebenfalls schon längstens auf der Sonnenseite. 

Diese Lüge trägt aber gleichzeitig ebenso dazu bei, dass auch die Benachteiligten und Unterprivilegierten am unteren Rand der Arbeitswelt das Bild vom Schmied und seinem Glück verinnerlicht haben: Dass es ihnen so mies geht, daran seien sie selber Schuld, sie hätten halt in der Schule besser aufpassen, sie hätten halt ein bisschen ehrgeiziger und fleissiger sein müssen. So wird die herrschende soziale Ungerechtigkeit zwischen denen auf der Sonnenseite und denen auf der Schattenseite sozusagen privatisiert, individualisiert, einfach gesagt: Wem es schlecht geht, ist selber Schuld. Und so kommt ganz bestimmt niemand auf die Idee, das ganze System, die ganze Brutalität einer Arbeitswelt, in der ausgerechnet jene Berufstätigen, welche zu schlechtesten Bedingungen die härteste Arbeit mit dem geringsten Lohn bewältigen, in Frage zu stellen und sich auf politischer Ebene für eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung einzusetzen, in der all jene Lügen und falschen Versprechungen, mit denen sich das kapitalistische System heute noch über Wasser hält, endgültig der Vergangenheit angehören würden.

30 Jahre und noch immer ist der Kapitalismus nicht überwunden

 

Eine linksgrüne Mehrheit dominiert den Zürcher Stadtrat seit über 30 Jahren. Auch die Stadtratswahlen vom 13. Februar 2022 werden daran aller Voraussicht nach nichts ändern. “Das rot-grüne Gesellschaftsprojekt”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 23. Januar 2022, “ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.. Zwar läuft die Kapitalismuskritik nur noch als Hintergrundmusik und alles Anarchische wurde aussortiert. Man begnügt sich damit, das eigene Milieu mit Genossenschaftswohnungen, einem breiten Kulturangebot, Velowegen und genderkonformen Toiletten zufriedenzustellen.” Ja. Seit 30 Jahren ist Links-Grün in Zürich an der Macht. Und trotzdem ist Zürich nach wie vor und mehr denn je eine durch und durch kapitalistische Stadt: Während der Zürcher Finanzplatz Milliardengewinne scheffelt und seinen Topmanagern Löhne in zweistelliger Millionenhöhe auszahlt, müssen Zehntausende von Zürcherinnen und Zürchern auf fast alles verzichten, was auch nur ein wenig über die elementarsten Lebensbedürfnisse hinausgeht: kein Theater- und Kinobesuch, kein Essen im Restaurant, keine Spielzeuge für die Kinder, keine Ausflüge und Ferienreisen, einfach nichts. Vergleicht man die höchsten Löhne in der Stadt Zürich mit den niedrigsten, dann beträgt das Verhältnis nicht weniger als 300:1. Die Umlagerung von unten nach oben läuft ungebrochen wie eine gut geölte Maschine: Während Aktionärinnen und Aktionäre von Grossfirmen in Form von Dividenden jährlich fette Gewinne einstreichen, ohne dafür auch nur einen Finger krumm machen zu müssen, schuften sich die Arbeiterinnen und Arbeiter an den untersten Rändern der kapitalistischen Arbeitswelt fast zu Tode und erhalten bloss einen Bruchteil dessen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – um so jenes Geld zu erwirtschaften, das den Kapitalbesitzerinnen und Kapitalbesitzern unaufhörlich in den Schoss fällt. Das Gleiche bei den Immobilien, wo sich die hart erarbeiteten und oft kaum bezahlbaren Mieten unentwegt in jenes Gold verwandeln, das sich bei Immobilienbesitzerinnen, Spekulanten und Baukonzernen ansammelt. Noch immer sind der Wettbewerb und der gegenseitige Konkurrenzkampf aller gegen alle die obersten Prinzipien und noch immer hält sich die Lüge, wonach jeder reich werden könne, wenn er sich nur genug anstrenge, aller gegenteiligen Einsicht hartnäckigst am Leben. Dass die 30jährige “Herrschaft” einer linksgrünen Zürcher Regierung an alledem nichts Grundsätzliches zu ändern vermochte und sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern in dieser Zeit sogar noch vergrössert hat, zeigt die wahren Machtverhältnisse: Nur scheinbar leben wir in einer Demokratie. Tatsächlich aber ist es der Kapitalismus, der das Sagen hat. Deshalb waren die “anarchistischen” Ideen aus der Frühzeit einer jungen, unverbrauchten, unangepassten linksgrünen Bewegung genau richtig und haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Man hätte dem Kapitalismus keinen grösseren Dienst erweisen können, als solche radikale, kapitalismuskritische Stimmen über Bord zu werfen und den Weg realpolitischer “Vernunft”, “Kompromissbereitschaft” und “Pragmatismus” einzuschlagen. Nun haben wir den Salat: Die “Linken” und “Grünen” sind zwar an der Macht, doch das kapitalistische Karussell der Ausbeutung von Mensch und Natur, der Umverteilung von der Arbeit zum Kapital und dem selbstzerstörerischen Wahn, alles müsse unaufhörlich wachsen, dreht sich auch in Zürich schneller denn je. Klar, es wäre eine Illusion, anzunehmen, Zürich könnte sich als einzige Stadt weit und breit einfach so aus dem Kapitalismus verabschieden. Zu sehr ist alles mit allem verbunden. Aber es braucht eine Rückbesinnung linker und grüner Politik auf die Ideale der Anfangszeit. “Im Jugendidealismus”, sagte der Urwalddoktor Albert Schweitzer”, “erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.” Vielleicht könnte eine solche Reaktivierung des “Jugendidealismus” dazu führen, dass linksgrüne Politik sozusagen auf zwei Ebenen agieren würde: die eine wäre die konkrete, pragmatische, welche Wohnbaugenossenschaften gründet, Bäume pflanzt und Velowege realisiert. Die zweite Ebene, die “idealistische”, wäre die Vision von jener Welt, in der wir in zehn oder 20 Jahren leben wollen, einer Welt, in der aller Reichtum auf alle Menschen gerecht und gleichmässig verteilt ist, eine Welt im Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und zwischen den heute lebenden und den zukünftigen Generationen, einer Welt ohne Hunger und ohne Kriege, einer Welt, in der ein gutes Leben für alle Wirklichkeit geworden ist. Dieser “idealistische” Teil der politischen Arbeit müsste allerdings länderübergreifend stattfinden, denn so wie der Kapitalismus global vernetzt ist, so müssten sich auch die politischen Kräfte, welche sich seine Überwindung zum Ziel gesetzt haben, global vernetzen und organisieren. Eine Idee, deren Realisierung heute noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Und doch ist sie elementar. Denn analog zur Aussage einer Klimaaktivistin, wonach man die Welt auch demokratisch an die Wand fahren könne, liesse sich sagen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem früher oder später zu einem globalen gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Kollaps führen wird, auch wenn wir dannzumal über noch so viele Wohnbaugenossenschaften, Velowege und gendergerechte Toiletten verfügen werden.

 

Warum wir dem Staat in diesen schweren Zeiten umso mehr Sorge tragen sollten

 

E. ist davon überzeugt, dass der Staat auch nach dem Ende der Coronapandemie die während dieser Zeit etablierten Macht- und Kontrollinstrumente nicht so schnell wieder aus der Hand geben und die Bürgerinnen und Bürger weiterhin bevormunden und ihrer persönlichen Freiheiten berauben werde. Dieser Gefährdung der Demokratie gälte es in aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ein paar Tage später, Bürgerversammlung in B.: Das vom Stadtrat vorgelegte Budget fürs kommende Jahr wird in Bausch und Bogen verworfen. Der Stadtpräsident sieht sich bei seinen Ausführungen mit höhnischem Gelächter aus der Bürgerschaft konfrontiert. Ein Versammlungsteilnehmer meint im Anschluss an die Veranstaltung, es wäre bei alledem wohl gar nicht so sehr um das Budget gegangen, als vielmehr darum, den Stadtbehörden endlich mal eins “auszuwischen”. Und wieder ein paar Tage später geht die Neinkampagne gegen das am 13. Februar 2022 zur Abstimmung gelangende “Medienpaket”, das eine Erhöhung der staatlichen Beiträge für Print- und Onlinemedien vorsieht, ihrem Höhepunkt entgegen. Das Hauptargument der Gegnerschaft des Medienpakets: Durch die staatliche Unterstützung gerieten die Medien in die Abhängigkeit des Staates, der auf diese Weise seine “Macht” ausbauen und die Meinungsvielfalt und Demokratie bedrohen würde, es ist auch warnend von “Staatsmedien” die Rede. Nun, was haben die Ängste von E., die Bürgerversammlung in B. und die Neinkampagne gegen das Mediengesetz miteinander zu tun? Sehr viel: Durchwegs wird der Staat als etwas Gefährliches, Bedrohliches, Übermächtiges oder sogar Demokratiefeindliches gesehen, das es zu bekämpfen und in seine Schranken zu weisen gälte, als wäre dieser Staat ein Monster, das, wenn man es nicht rechtzeitig bändigt, mit der Zeit alles auffressen würde. Wer so argumentiert, lässt gänzlich ausser Acht, dass dieser vielgeschmähte Staat, dieses “Monster”, doch – zumindest hierzulande und ebenso in allen anderen echten Demokratien – doch nichts anderes ist als die Gesamtheit seiner Bürgerinnen und Bürger, nicht dazu da, diese zu bevormunden und ihre persönlichen Freiheiten einzuschränken, sondern, im Gegenteil: soziale Sicherheit zu gewährleisten, lebenswichtige Infrastrukturen bereitzustellen, Meinungsfreiheit und Mitspracherecht zu garantieren. In einer Zeit zunehmender “Staatsfeindlichkeit”, die ihren bisherigen Höhepunkt im US-amerikanischen “Trumpismus” und dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 gefunden hat, ist der Staat schon längst nicht mehr das Bedrohliche, sondern viel mehr das Bedrohte, dem wir, statt es an allen Fronten zu bekämpfen, viel mehr grösste Sorge tragen müssen, um die Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vielmehr müsste der Blick geschärft werden für das, was uns tatsächlich bedroht: die globalen Wirtschaftsmächte mit ihrem unersättlichen Drang, alles dem Zwecke des Profits und der Gewinnmaximierung zu unterwerfen, ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das auf einer permanenten Umverteilung von der Arbeit zum Kapital beruht und die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, der ungebrochene Wachstumswahn in einer Welt begrenzter Ressourcen und das gefährliche Spiel mit unserer Zukunft und dem Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten. Wenn uns etwas bedroht, dann nicht staatliche Strukturen, Gesetze und Behörden, sondern ein ausser Rand und Band geratenes Wirtschaftssystem, das mit persönlicher Freiheit, Sicherheit und Demokratie auch nicht das Geringste zu tun hat. “Abwesenheit des Staates”, sagte der frühere deutsche SPD-Politiker Erhard Eppler, “macht die Menschen nicht frei, sondern zum Freiwild der Reichen und Mächtigen.”

55jährig und schon “altes Eisen”

 

M., 55jährig, ist seit drei Jahren arbeitslos. Ihren früheren Job in einem IT-Unternehmen, in dem die gelernte Verkäuferin als Quereinsteigerin während vieler Jahre erfolgreich tätig gewesen war, hatte sie infolge einer schweren Krankheit und privater Schicksalsschläge verloren. Und nun also ist sie seit drei Jahren wieder auf Jobsuche. Ein hartes Pflaster: In den allermeisten Fällen erhält sie, wenn auf ihr Bewerbungsschreiben überhaupt geantwortet wird, eine Absage ohne jegliche Begründung, wiederum andere Firmen begründen eine Absage damit, M. sei für die betroffene Stelle “überqualifiziert”, und nicht selten wird ihr auch mitgeteilt, man hätte eine andere Bewerberin gefunden, die “besser zum gesuchten Profil” passe. Bei Absage Nr. 157 hat M., die sich mittlerweile immer mehr als “altes Eisen” vorkommt, zu zählen aufgehört und inzwischen fast die letzte Hoffnung verloren, jemals wieder einen Job zu finden. Was für eine Wirtschaft, was für ein Land, das sich den Luxus leisten kann, auf das Potenzial hunderttausender tatkräftiger, motivierter, begabter, ideenreicher Arbeitskräfte ganz einfach zu verzichten! Sollte nicht jedem Menschen, der einer Erwerbsarbeit nachgehen möchte, ganz selbstverständlich die Chance dafür offenstehen? Müsste die Wirtschaft, die, um zu funktionieren, stets auf möglichst viele und kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten angewiesen ist, den Kuchen der Erwerbsarbeit nicht ebenso auf möglichst viele arbeitswillige Menschen möglichst gerecht verteilen? Müsste es nicht, analog zum Recht auf fliessendes Wasser, ausreichende Ernährung oder auf eine Wohnung, auch ein Recht auf Arbeit geben? Sollten die Wirtschaft und die gesamte Arbeitswelt nicht so etwas wie ein Haus sein, in dem Platz ist für alle und in dem jeder Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Begabungen willkommen ist? Wäre es nicht in jeglicher Hinsicht vernünftiger, das gesamthaft vorhandene Arbeitsvolumen möglichst gleichmässig auf alle arbeitsfähigen Menschen aufzuteilen, statt die einen durch Höchstleistungen und Überzeiten permanent zu überfordern und die anderen infolge zerschlagener Zukunftsaussichten zu demütigen und in psychisches und soziales Elend versinken zu lassen? Müsste man da nicht schon von einer Verletzung elementarer Menschenrechte sprechen, wenn einem Menschen auch noch der letzte Rest von Selbstachtung entrissen wird, indem man ihm über Jahre, Schlag um Schlag, Ohrfeige um Ohrfeige, zu verstehen gibt, dass man ihn eigentlich gar nicht braucht und dass er in dieser Welt, die ohne ihn auch auszukommen vermag, im Grunde genommen überflüssig ist? Noch herrscht das Primat der betriebswirtschaftlichen Rentabilität: mit möglichst wenig Personal und damit mit möglichst geringen Lohnkosten das Maximum an Profit herauszuholen. Noch dienen die Menschen der Wirtschaft und nicht die Wirtschaft den Menschen. Doch dies geht nur solange, als Wirtschaft und Gesellschaft fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Kosten, welche die einzelne Firma durch Personalabbau und Auspressung der verbliebenen Arbeitskräfte einspart, lösen sich nicht in Luft auf, sondern fallen anderswo an: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Invalidenversicherung, bei der Sozialhilfe, im Gesundheitswesen, bei Beratungsstellen. Dies wird sich erst dann ändern, wenn das heute noch vorherrschende Primat der Privatwirtschaft gegenüber Gesellschaft und Politik auf den Kopf gestellt wird und die Wirtschaft nicht mehr vor allem dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung verpflichtet ist, sondern vor allem dem Wohl für das Ganze, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht, was ja unauflöslich miteinander verbunden ist. Dann werden nicht mehr die Menschen um einen Arbeitsplatz buhlen und sich dabei gegenseitig bis aufs Messer konkurrenzieren, sondern die Firmen werden um die Arbeitskräfte buhlen. Und dann wird man auch logischerweise nicht mehr von “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern” sprechen bzw. man wird diese Begriffe umdrehen, denn Arbeit – durch das Anbieten von Fähigkeiten und Begabungen – stellen ja nicht die so genannten “Arbeitgeber” zur Verfügung, sondern die so genannten “Arbeitnehmer”. Die wievielte Absage, die wievielte Ohrfeige, den wievielten Faustschlag hat M. in der Zwischenzeit wohl hinnehmen müssen? Wie viel Demütigung, wie viel Missachtung wunderbarer Fähigkeiten und Begabungen, die in Menschen unausgelebt schlummern, braucht es wohl noch, bis eine neue Denkweise, eine neue Sicht auf das Wohl des Ganzen Wirklichkeit werden kann? 

Soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Voraussetzung für jede funktionierende Demokratie

 

Im Gegensatz zu früheren Zeiten, so wird oft gesagt, leben wir heute in einer “multioptionalen” Gesellschaft. Noch nie hätte man eine so grosse Auswahl an unterschiedlichen Lebensentwürfen zur Verfügung gehabt. Auch philosophische Gespräche am Radio oder Fernsehen, Weiterbildungsveranstaltungen über “Selbstfindung” und “Selbstoptimierung” sowie eine ganze Flut von Ratgebern für die Erkundung des persönlichen “Lebensglücks” kreisen um dieses Thema. Doch was wird sich die alleinerziehende Mutter, die zwischen dem Aufziehen ihres Kindes, ihrer Arbeit als Verkäuferin und dem Erledigen sämtlicher Haushaltsarbeiten rund um die Uhr kaum zum Schnaufen kommt, bei alledem wohl denken? Von “Selbstoptimierung” kann sie wohl nur träumen, ihre “Multioptionalität” besteht bestenfalls darin, ob sie ihrem Kind zu Weihnachten das lange ersehnte Spielzeug kaufen kann oder doch lieber ein wenig mehr Geld zur Verfügung hat für ein gutes Essen. Ja, die “Selbstfindung” und die “Selbstoptimierung” sind Merkmale der “modernen” Gesellschaft, in der wir leben. Aber zugleich sind ihre Segnungen und Wohltaten höchst ungleich und höchst ungerecht verteilt. Sie sind nicht Privilegien heutiger gegenüber vergangener Generationen. Sie sind, wie so vieles andere auch, Privilegien einer wohlbetuchten Oberschicht gegenüber dem Rest der Bevölkerung. “Selbstfindung”, “Selbstoptimierung” und “Multioptionalität” werden einem nicht geschenkt, man muss sie sich leisten können, und dies ist nur jenem Teil der Bevölkerung vergönnt, der weit mehr Geld zur Verfügung hat, als das, was für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse auch tatsächlich notwendig ist. Doch dies geht weit über Fragen von “Selbstfindung” oder “Selbstoptimierung” hinaus. Weite Bereiche gesellschaftlicher Teilhabe sind Herrschaftsgebiete der Reichen, wo die Ärmeren nichts zu suchen haben, von kulturellen Angeboten wie Theater, Musik, Ausstellungen, Literatur über Freizeitaktivitäten wie Skifahren, Tennis, Golf und Ferien im Luxushotel oder auf den Malediven bis hin zu Politik, wo nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten anzutreffen sind, obwohl in einer echten Demokratie doch eigentlich sämtliche Segmente der Bevölkerung angemessen vertreten sein müssten. So ist es wohl nicht übertrieben, von zwei Welten im gleichen Land zu sprechen, die so weit voneinander entfernt und gegenseitig so sehr entfremdet sind, dass die auf der Sonnenseite kaum mehr nachempfinden und verstehen können, wie denen auf der Schattenseite zumute ist. Doch der Zweispalt geht ja noch viel weiter: Die “unteren” Bevölkerungsschichten sind nicht nur ausgegrenzt, abgehängt, stigmatisiert. Gleichzeitig erzielen sie durch ihre harte, entbehrungsreiche, anstrengende und dennoch schlecht bezahlte Arbeit jenen “Überschuss” an Wohlstand, welcher den “höheren” Bevölkerungsschichten jenes privilegierte Leben ermöglicht, welches ihnen selber verwehrt ist – wie die Köche, Putzfrauen, Kellnerinnen und Zimmermädchen auf einem Kreuzfahrtschiff, die durch ihre harte und schlechtbezahlte Arbeit dafür sorgen, dass sich die Gäste an Bord sämtlichen Annehmlichkeiten genüsslich hingeben können. Ich bin fast ganz sicher, dass die meisten sogenannten “Spaltungen” innerhalb der Bevölkerung , die wir auch in der Schweiz in den vergangenen Jahren zunehmend wahrnehmen und die jetzt in der Coronapandemie ihren Höhepunkt erreicht haben, mit dieser “sozialen Apartheid” etwas zu tun haben. Soziale Benachteiligung und Ausgrenzung führen, und das ist völlig verständlich, zu Hass und zu Wut. Die soziale Ungerechtigkeit, die Benachteiligung und Ausgrenzung ganzer Segmente der Bevölkerung, das ist der beste Nährboden für populistische Bewegungen, von den Trumpisten in den USA über die AfD in Deutschland bis zur SVP in der Schweiz. “Die AfD”, so Klaus Hurrelmann, Bildungsforscher an der Hertie School in Berlin, “schneidet unter den jungen Menschen deshalb so gut ab, weil sie als eine Partei wahrgenommen wird, die sich für die Rechte von Benachteiligten einsetzt.” Wer deshalb populistischen Bewegungen, die ihrerseits auf eine gefährliche Spaltung der Gesellschaft hinarbeiten und in der Regel extreme, rassistische und fremdenfeindliche Positionen vertreten, wer also solchen Bewegungen das Wasser abgraben will, kann sich nicht darauf beschränken, diese auf irgendeine Art zu “bekämpfen”. Dauerhaft solchen Bewegungen den Boden entziehen können wir nur, indem wir die soziale Gerechtigkeit stärken. Die soziale Gerechtigkeit ist die eigentliche, unersetzliche, unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wer sich nur noch in seine vier Wände privater Glückseligkeit, “Selbstfindung” und “Selbstoptimierung” zurückzieht, ohne sich um den Rest der Gesellschaft zu kümmern, gefährdet die Demokratie ebenso wie jene, die mit fremdenfeindlichen Parolen auf die Strassen gehen. Absurderweise sind die Entpolitisierung weiter Teile der Gesellschaft und der Rückzug ins private “Lebensglück” heute weiter verbreitet denn je, und dies ausgerechnet in einer Zeit nie dagewesener sozialer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen, wo politisches Engagement auf breitester Basis an allen Ecken und Enden dringender nötig wäre denn ja.

 

 

Ein paar grundsätzliche Gedanken zur Abstimmung vom 13. Februar 2022 über die “Stempelsteuer”

 

Jetzt soll es der Emissionsabgabe (Bestandteil der sogenannten Stempelabgabe), die eine Firma bei der Aufstockung ihres Eigenkapitals zu entrichten hat, an den Kragen gehen. Dadurch würden dem Staat Steuereinnahmen von jährlich 250 Millionen Franken verloren gehen. Bürgerliche Parteien und der Bundesrat begründen die geplante Abschaffung der Emissionsabgabe mit der dadurch bewirkten “Stärkung des Steuer- und Wirtschaftsstandorts”. Mit dem gleichen Argument wurde bereits 1998 die Unternehmensreform I umgesetzt, welche unter anderem die Abschaffung der Kapitalsteuer auf Bundesebene beinhaltete. Es folgte 2007 das Unternehmenssteuerreformgesetz II, welches mehrere unternehmerfreundliche Änderungen bei den Bemessungsgrundlagen für die Gewinnsteuer mit sich brachte. Und mit der Unternehmenssteuerreform III, die allerdings 2017 vom Volk abgelehnt wurde, hätten die Kantone die Möglichkeit bekommen, sämtlichen Unternehmen steuerliche Entlastungen zu gewähren, was zu Steuerausfällen von rund zwei Milliarden Franken geführt hätte. In den Erläuterungen des Bundesrats zur Unternehmenssteuerreform III lesen wir: “Mit der Unternehmenssteuerreform III sollte die Attraktivität des Steuerstandortes Schweiz gestärkt und die internationale Akzeptanz der Schweizer Unternehmensbesteuerung wieder hergestellt werden.” Auch bei der Abschaffung der Erbschaftssteuer, die in den vergangenen Jahren nach und nach in fast allen Kantonen erfolgte, wird stets das Argument des “Standortwettbewerbs” ins Feld geführt. Doch denken wir diese Argumentation konsequent weiter, dann gäbe es ja nie ein absolutes Ende dieses “Standortwettbewerbs”, weder zwischen den einzelnen Kantonen, noch zwischen den einzelnen Staaten. Buchstäblich ein Fass ohne Boden, wie auch bei jeder anderen Form von Wettbewerb: Es gibt stets noch einen anderen, der die Nase ein bisschen weiter vorne hat und den man überholen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren – worauf der Überholte dann erst recht alles daran setzen wird, seinen Kontrahenten aus dem Feld zu schlagen. Wie sehr das ein Spiel ohne Grenzen ist, zeigt sich auch darin, dass die FDP, federführend in Sachen Steuerwettbewerb, am liebsten auch noch die beiden anderen Teile der Stempelsteuer abgeschafft hätte: die Abgabe auf Versicherungsprämien und die sogenannte Umsatzabgabe, welche immer dann fällig wird, wenn in- und ausländische Wertpapiere gehandelt werden. Die Streichung aller drei Stempelabgaben hätte Steuerausfälle von zwei Milliarden Franken zur Folge. Wenigstens konnte das Parlament das Schlimmste verhindern und lehnte die Abschaffung der beiden zusätzlichen Stempelabgaben ab. Der “Steuerwettbewerb”, von dem die Unternehmen profitieren, ist, aus sozialer und gesellschaftspolitischer Sicht, die wahre Katastrophe. Denn jeder Franken, den ein Unternehmen an Steuern weniger abgibt, muss entweder im öffentlichen Raum, im Sozialbereich, in der Bildung, in der Infrastruktur eingespart oder auf Steuern und Abgaben umgeschlagen werden, welche die arbeitende Bevölkerung aufzubringen hat – eine permanente, buchstäblich “endlose” Umverteilung von der Arbeit zum Kapital. Und das ist ja noch längst nicht alles: Die Unternehmensgewinne, die zu einem grossen Teil in die Taschen von Aktionären und Aktionärinnen fliessen, sind ja nur deshalb möglich, weil genug Menschen in diesen Unternehmen für ihre Arbeit weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – ein doppelter und dreifacher Diebstahl also! Da sich bei diesem Spiel früher oder später alle letztlich ins eigene Fleisch schneiden – denn auch die Unternehmen sind auf stabile soziale Verhältnisse, guten öffentlichen Verkehr und gute Schulen angewiesen -, braucht es dringend einen radikalen Systemwechsel. An die Stelle der Globalisierung des Standortwettbewerbs und der Unternehmensgewinne muss eine Globalisierung der sozialen Gerechtigkeit treten. Das Konkurrenzprinzip mag bei sportlichen Wettkämpfen oder bei der Entwicklung neuer Technologien sinnvoll sein, nicht aber dort, wo es um die Existenzsicherung und das Wohl der Menschen geht. Steuersätze müssen sowohl in jedem Land wie auch weltweit verbindlich festgelegt werden, “Steuerwettbewerb” muss der Vergangenheit angehören. Wenn es dahin auch noch ein weiter Weg ist: Die Abstimmung am 13. Februar gegen die Abgabe der Stempelsteuer ist immerhin ein erster kleiner Schritt dazu..

Rassismus früher und heute – wir brauchen nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern vor allem auch Gegenwartsbewältigung

 

Wie “20Minuten” am 10. Januar 2022 berichtet, schliesst der Europapark im deutschen Rust seine seit Jahren mit Rassismuskritik konfrontierte “Dschungel-Flossfahrt”, wo schwarze Personen in traditioneller afrikanischer Kleidung nebst weissen Kolonialherren in beigen Safarianzügen und Tropenhüten zu sehen sind – Zerrbilder längst vergangener Zeiten, die hier bilderbuchartig über Jahrzehnte weitervermittelt worden sind. Zerrbilder? Längst vergangene Zeiten? Schön wäre es. Bei aller Rassismuskritik in der heutigen Zeit geht nur zu leicht vergessen, dass Rassismus auch heute noch längst nicht ausgerottet ist. Ganz im Gegenteil. Gemäss Duden besteht Rassismus in “institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen, durch die Menschen aufgrund bestimmter biologischer oder ethnisch-kultureller Merkmale diskriminiert werden.” So gesehen wäre Rassismus erst dann überwunden, wenn Menschen weltweit ganz unabhängig vom Ort, wo sie geboren wurden, genau die gleichen Chancen auf ein menschenwürdiges Leben hätten, genau die gleichen Chancen auf fairen Lohn und gute Arbeitsbedingungen, die genau gleichen Chancen auf Bildung und kulturelle Teilhabe. Tatsache aber ist, dass ein Kind, das im Kongo oder im Jemen geboren wird, eine ungleich viel geringere Chance auf ein menschenwürdiges Leben frei von Ausbeutung und Unterdrückung hat als ein Kind, das in Schweden oder in der Schweiz geboren wird – und dies einzig und allein infolge seines Geburtsorts, seiner ethnischen Zugehörigkeit und seiner Hautfarbe. Rassismus ist heute noch, mehr denn je, allgegenwärtige, bittere Realität in einer Welt, in der die Gegensätze zwischen Arm und Reich laufend noch grösser werden. Der Unterschied ist nur, dass der Sklavenhalter von einst nicht mehr im beigen Safarianzug mit Tropenhut durch den afrikanischen Dschungel streift, sondern mit weissem Hemd, dunkelblauem Anzug und Krawatte in einem vollklimatisierten Büro in London, New York oder Zürich sitzt und dort die Millionengewinne aus seinen Geschäften mit Kakao, Bananen oder Tropenholz auf seinem Computer genüsslich hin- und herschiebt. So sensibel die Öffentlichkeit in den USA, in Deutschland, Spanien oder Frankreich heute auf den Rassismus früherer Zeiten reagiert, so systematisch Spuren und Denkmäler früherer Sklavenhalter ausgetilgt werden, so akribisch rassistische Begriffe aus dem täglichen Sprachgebrauch entfernt werden – so blind ist man auch heute noch gegenüber dem alltäglichen Rassismus, dem Millionen von Menschen in den Ländern des Südens, die tägliche Schwerstarbeit zwecks unaufhörlicher Gewinnvermehrung multinationaler Konzerne leisten, Tag für Tag ausgeliefert sind, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden. Wäre man doch gegenüber diesem ganz “normalen”, alltäglichen Rassismus nur einen Bruchteil so kritisch wie gegenüber dem Rassismus früherer Zeiten! Dies würde allerdings mehr bedeuten als die Entfernung der “Dschungel-Flussfahrt” aus dem Europapark in Rust. Es würde bedeuten, unser gesamtes kapitalistisches Wirtschaftssystem, diese weltweite Institutionalisierung von Ausbeutung, Gewalt und Rassismus, radikal zu hinterfragen und ein neues Wirtschaftssystem zu erdenken, das nicht mehr auf endloser Ausbeutung und Gewinnmaximierung beruht, sondern auf dem guten Leben für alle – ganz unabhängig davon, wo man geboren wird, welcher Ethnie man angehört und welche Hautfarbe man hat. Die “Dschungel-Flussfahrt” im Europapark wird durch eine neue Bahn zum Thema “Österreich” ersetzt. Schade. Man hätte ja auch einen Themenpark einrichten können, bei dem man von den Wolkenkratzern Manhattans bis zu den Goldminen in Südafrika gefahren wäre und dabei erfahren hätte, wie alles mit allem zusammenhängt.

Neuer Kinofilm “The 355”: Und das war sie dann schon, die Emanzipation der Frau?

 

Am 6. Januar 2022 ist in Schweizer Kinos der Actionfilm “The 355” angelaufen. Das Besondere daran: Nicht Männer spielen darin die Hauptrolle, sondern fünf hochkarätige Schauspielerinnen, die, so berichtet die “Tagesschau” am 7. Januar, “ihren männlichen Actionkollegen punkto Knallerei und Prüglerei in nichts nachstehen und damit ganz offensichtlich sämtliche Genderstereotypen kurzerhand eliminieren, und dies mit dem Zweihänder, der Waffe in der Hand.” In der Tat: “The 355” macht “James Bond” alle Konkurrenz. Wie James Bond auf der Jagd nach dem ultimativen Bösewicht, so kämpfen sich die fünf Agentinnen von “The 355” auf der Suche nach einer Cyberwaffe bisher ungekannter Zerstörungskraft durch jedes noch so heimtückische Hindernis, angefangen von einer Verfolgungsjagd quer durch Paris, zu Fuss und per Motorrad, durch enge Strassen zwischen umgeworfenen Postkartenständern und Bistrotischen, quer über den Fischgrossmarkt mit spektakulärem Showdown zwischen Kühltruhen, auf Eis gelagerten Schwertfischen und Transportschiffen, und so weiter, von Paris über Marokko bis Shanghai. Doch ist das schon alles? Eigentlich habe ich mir unter der Emanzipation der Frau und der Überwindung bisheriger Genderstereotypen etwas anderes vorgestellt. Oder können wir uns ernsthaft damit zufriedengeben, dass die Frauen bloss in die Rollen schlüpfen, die bisher den Männern vorbehalten waren, um nun einfach noch einmal die gleichen Geschichten nachzuspielen, die schon tausendmal gespielt worden sind? Müssten echte Emanzipation, echter gesellschaftlicher Fortschritt und echte Überwindung traditioneller Geschlechterrollen nicht darin bestehen, Filme dieser Art schon gar nicht mehr zu drehen? Generationen haben sich über sinnlose Autowettrennen auf endlosen Highways in der Abendsonne, über immer ausgeklügeltere Waffen, Roboter und Unterseeboote, über mit Maschinengewehrsalven niedergemähte Gangsterbanden, über durch klirrende Fensterscheiben fliehende Bösewichte und über meterweit herumspritzendes Blut halb zu Tode amüsiert. Wäre es nicht an der Zeit, langsam erwachsen zu werden? Gut, immerhin retten am Ende des Films die fünf Agentinnen, wie löblich, die Erde vor dem Dritten Weltkrieg. Doch hätte es da nicht auch noch ein paar andere, kreativere und vielleicht sogar realistischere Möglichkeiten gegeben? Hätten die fünf Agentinnen, statt sich gegenseitig Motorräder, Tiefkühltruhen und Postkartenständer um die Köpfe zu schlagen, ihre Energie, ihre Tatkraft, ihr Geschick und ihre Intelligenz nicht auch darauf verwenden können, um eine internationale Konferenz für Frieden und Abrüstung ins Leben zu rufen, zu der Frauen aus allen Ländern der Welt eingeladen worden wären? Das wäre nicht spannend genug gewesen? Und ob! Die Widerstände und Hindernisse, die den fünf Frauen entgegengeschlagen hätten und wie sie damit umgegangen wären, was eine solche Bewegung weltweit ausgelöst hätte, wie der Dritte Weltkrieg dadurch vielleicht tatsächlich hätte verhindert werden können – kein noch so spannender Actionfilm, keine noch so wilde Motorradjagd, keine noch so weit in die Höhe fliegende Tiefkühltruhe könnten ein solches weltweites Friedensprojekt auch nur annähernd an Spannung überbieten. Aber ja, das würde wahrscheinlich viel weniger Geld in die Kinokassen und an die grossen Filmkonzerne spülen. Und so werden wir halt bescheiden, lassen die Postkartenständer und die Schwertfische weiterhin sausen und wähnen uns nur schon deshalb allzu gerne in einer besseren Welt, weil jetzt nicht mehr die Männer, sondern die Frauen mit der Waffe in der Hand auf die nimmermüden Bösewichte losballern…  

Der Wirbel um Novak Djokovic: Bloss die Folge eines unbegreiflichen, ausser Rand und Band geratenen Nationalismus?

 

Wer die serbische “Krawallpresse” lese, so schreibt der “Tagesanzeiger” vom 8. Januar 2022, wähne sich kurz vor einem “Weltkrieg”. Und dies schlicht und einfach nur deshalb, weil dem serbischen Tennisstar Novak Djokovic aufgrund eines fehlenden Impfausweises die Einreise nach Australien verweigert worden ist. Djokovic als Märtyrer, als Opfer einer Weltverschwörung – sein Vater ging gar so weit, ihn mit Jesus zu vergleichen, der ebenfalls gekreuzigt worden sei. Allerdings, so räumt der “Tagesanzeiger” ein, habe die “nationalistische Aufwallung” wohl auch mit “verletztem Nationalstolz” zu tun und mit der permanent von der Staatsmacht wiederholten “Mär”, der Westen habe in den 1990er-Jahren ein unschuldiges Volk angegriffen. “Solch krude Ansichten”, so der “Tagesanzeiger”, “verunmöglichen eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung”. Mär? Krude Ansichten? So einfach sollte man es sich nicht machen, sonst läuft man Gefahr, der gleichen Zuspitzung, Vereinfachung und Schuldzuweisung zu verfallen, die man so gerne der Gegenseite zum Vorwurf macht. Blenden wir zurück: Ab 1989 nehmen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien immer mehr zu. Dabei geht es auch um Fragen der Ökonomie und des finanziellen Ausgleichs zwischen den verschiedenen Regionen. Die reichen Regionen wie Slowenien und Kroatien kündigen ihre finanzielle Unterstützung der ärmeren Regionen wie Bosnien, Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf, diese wiederum sehen sich dadurch existenziell bedroht. Gleichzeitig mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Teilrepubliken wächst der Nationalismus, das Trennende bekommt gegenüber dem bis anhin Verbindenden immer mehr Gewicht. Bis die schwelenden Konflikte in offene Kriege umschlagen, in denen sich die Streitkräfte der Teilrepubliken und die jugoslawische Volksarmee unter Führung der Serben unversöhnlich gegenüberstehen. Es beginnt 1991 mit dem Slowenienkrieg und geht weiter mit dem Kroatienkrieg 1991-1995 und dem Bosnienkrieg 1992-1995. Wie tief der Graben zwischen den verschiedenen Volksgruppen mittlerweile geworden ist, zeigt sich in der Aussage des späteren kroatischen Staatspräsidenten Tudman, der betont, wie glücklich und stolz er sei, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nach und nach spalten sich die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens ab und bilden eigene, autonome Staaten. Auch der Kosovo strebt die Unabhängigkeit von Serbien bzw. der nach allen Abspaltungen noch übrig gebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien an, hatte Kosovo doch bereits 1989 infolge einer Änderung der serbischen Verfassung seine früheren Autonomierechte verloren und hatte seither die Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die serbische Obermacht kontinuierlich zugenommen. 1992 rufen die Kosovoalbaner unter Ibrahim Rugova die unabhängige “Republik Kosova” aus, Rugova ist zunächst bestrebt, die Autonomie gewaltlos zu erreichen, aber mit der Zeit beginnen immer mehr Kosovaren am Sinn des gewaltlosen Widerstands zu zweifeln und unterstützen die UÇK, die ab 1997 mit bewaffneten Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung tritt. Die gegenseitige Gewalt nimmt laufend zu. Und dies ist der Augenblick, in dem die westliche Militärmacht unter Führung der USA in einer Art und Weise in den Jugoslawienkrieg eingreift, wie sie dies nur gegenüber Serbien getan, niemals aber gegenüber einer anderen Volksgruppe in diesem Konflikt auch nur je erwogen hätte. Wenn sich Serbinnen und Serben heute noch immer als “Opfer der Geschichte” sehen, so sind das weder “krude Ansichten”, noch handelt es sich um eine “Mär”, sondern es ist bitterernste, knallharte, tödliche Realität: Am 24. März 1999 beginnen, notabene ohne völkerrechtliche Grundlage, die Luftanschläge der NATO auf mehrere serbische Provinzen, daran beteiligt sind U-Boote in der Adria, von B-52-Bombern abgefeuerte Marschflugkörper und von verschiedenen Basen gestartete Kampfflugzeuge. Schon in der ersten Kriegsnacht werden mehrere Chemiewerke bombardiert, grosse Mengen giftiger und krebserregender Stoffe treten aus. Ärzte raten schwangeren Frauen zur Abtreibung und für zwei Jahre zur Vermeidung von Schwangerschaften. In den folgenden Wochen werden auch Gebäude des Serbischen Rundfunks angegriffen. Ebenfalls wird der Belgrader Fernsehturm zerstört. Ein weiteres wichtiges Angriffsziel ist die Stromversorgung, eine grössere Anzahl von Umspann- und Wärmekraftwerken werden bombardiert. Zahlreiche Strassen und Brücken, Spitäler und Verwaltungseinrichtungen, rund 300 Schulen und 176 Kulturdenkmäler werden beschädigt oder zerstört. Als der Krieg am 10. Juni 1999 zu Ende ist, meint ein Kommentator des Schweizer Fernsehens in der Tagesschau: “Serbien wurde um 40 Jahre zurückbombardiert.” Und das soll keine Wunden schlagen? Ein so gedemütigtes Volk soll einfach mir nichts dir nichts wieder zur Tagesordnung übergehen? Da soll man nicht anfällig sein für übertriebene Vaterlandsliebe? Wer heute über das serbische Volk und über Novak Djokovic den Kopf schüttelt, müsste mindestens so sehr den Kopf schütteln über diesen beispiellosen Militärschlag im Frühjahr 1999, mit dem kein einziges jener Probleme, mit denen er begründet wurde, tatsächlich gelöst, sondern nur unendlich viele neue geschaffen wurden. Das Mindeste wäre genau das, was der “Tagesanzeiger” fordert, nämlich eine konstruktive “Vergangenheitsbewältigung”. Nur kann man wohl nicht allen Ernstes vom serbischen Volk alleine die Bewältigung einer so traumatischen, bis heute nachwirkenden Demütigung erwarten. Die Vergangenheitsbewältigung müssten vor allem jene betreiben, die einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen haben und nichts Gescheiteres wussten, als in ein lichterloh brennendes Feuer noch zusätzlich Öl zu giessen. Und ja: Auch Medien wie der “Tagesanzeiger” müssten sich vor allem um eine sachliche Aufklärung historischer Zusammenhänge bemühen, statt Feindbilder, die sowieso schon genug stark verbreitet sind, noch zusätzlich anzufeuern…