Archiv des Autors: Peter Sutter

Melnik: Von der “Nervensäge” uim “Medienstar”

 

Andri Melnik, der ukrainische Botschafter in Deutschland, ist eine umstrittene Figur. Eben noch galt er, wie der “Tagesanzeiger” am 30. März 2022 berichtet, als “Nervensäge”. Der sozialdemokratische Staatssekretär Sören Bartol bezeichnete ihn auf Twitter sogar als “unerträglich” und setzte das Wort “Botschafter” in Anführungszeichen. Im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt ist er bis heute mit einer Art Hausverbot belegt. Doch nun ist er, sozusagen über Nacht, von einem “exotischen Querulanten” zu einem Medienstar geworden, dem “alle Sympathien zufliegen”. Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag eine Rede hielt, sass Melnik auf der Tribüne. Die Angeordneten erhoben sich zu seinen Ehren von den Sitzen und applaudierten, Alt-Bundespräsident Joachim Gauck umarmte ihn – die Bilder gingen um die Welt. Wie ist ein solcher Sinneswandel innert kürzester Zeit zu erklären? Wohl nur damit, dass es dort, wo es noch bis vor Kurzem Grautöne aller Art gab, nur noch Schwarz und Weiss gibt. Entweder bist du ein “Guter” oder du bist ein “Böser”, entweder bist du mein Freund oder du bist mein Feind. Und da genügt es dann eben, auf der “richtigen” Seite zu stehen, damit einem die Herzen und die Sympathien zufliegen, selbst wenn man, wie Melnik, so verrückte Dinge fordert wie eine Flugverbotszone über der Ukraine, welche wohl zweifellos gleichbedeutend wäre mit dem Beginn des dritten Weltkriegs. Wenn man erst einmal dieser “Medienstar” ist, dem “alle Sympathien zufliegen”, dann hat man offensichtlich augenblicklich all das vergessen, was vorher gewesen ist. Man hat vergessen, dass dieser Liebling Melnik unlängst noch seine Sympathien für das Regiment Asow öffentlich kundtat, welches Seite an Seite mit den ukrainischen Truppen kämpft und sich schon seit 2014 schwerster Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten an Zivilpersonen – Folterungen, Waterboarding, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Überfälle auf Medienleute, Plünderungen, Entführungen, alles dokumentiert durch das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte – schuldig gemacht hat. Vergessen ist auch, dass faschistische Kräfte beim Sturz des früheren ukrainischen Präsidenten Janukowitch eine wichtige Rolle spielten. Vergessen ist auch die Rede von Wladimir Putin 2001 vor dem deutschen Bundestag, in welcher er dem Westen eine auf Frieden und Versöhnung ausgerichtete europäische Sicherheitsordnung vorgeschlagen hatte. Vergessen ist ebenfalls, dass trotz gegenteiliger Versprechungen die NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrittweise bis an die Grenze Russlands ausgedehnt wurde. Vergessen sind auch die zahlreichen ukrainischen Gesetze und Dekrete, mit denen der russischsprachige Teil der Bevölkerung benachteiligt wurde. Doch wenn Meinungen so schnell vom einen Extrem ins andere kippen können und über Nacht aus einer “Nervensäge” ein “Medienstar” werden kann, muss es noch andere Gründe geben. Ich sehe eine Mischung aus drei Komponenten. Erstens: die Macht der Bilder. Die meisten Menschen informieren sich aufgrund von Bildern, sei es im Fernsehen oder in den sozialen Medien, das Lesen langer Zeitungslektüre oder gar von Büchern liegt nur schon aus zeitlichen und oft auch aus finanziellen Gründen gar nicht drin. Diese Bilder aber zeigen uns pausenlos zerbombte Städte, alte, gebrechliche Menschen und Kinder, die über notdürftig zusammengezimmerte Brücken Sicherheit suchen, Menschen, die dicht aneinandergedrängt in U-Bahnstationen Zuflucht vor drohenden Luftangriffen finden. Mit jedem dieser Bilder wächst der Hass auf jene, die an alledem Schuld sind, immer mehr, was durchaus verständlich ist. Doch zeigen freilich alle diese Bilder nur die eine Seite. Würde man die Bilder jener Frau zeigen, die im Mai 2014 in Saporischja von Angehörigen des Regiments Asow entführt, mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt und fünf Stunden lang heftigst verprügelt wurde, oder das Bild jenes Mannes, der, ebenfalls von Angehörigen des Regiments Asow, im August 2014 in Monohopillia gefangen und an einem um den Hals gebundenen Seil solange über ein Feld geschleift wurde, bis er bewusstlos liegenblieb – dann würde die Stimmung möglicherweise sehr schnell ins Gegenteil kippen. Die zweite Komponente: das Sündenbocksyndrom. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich selber, sein Land, seine Nationalität, seine ethnische Herkunft “gut” zu finden und jene von “Andersartigen”, “Fremden”, möglichst “schlecht”. Mit einem Wort: Rassismus. Das zeigt sich in der gegenwärtigen Situation und vor dem Ukrainekonflikt besonders krass und geradezu erschreckend. Der frühere US-Präsident Ronald Reagan nannte die damalige Sowjetunion selbstherrlich das “Reich des Bösen”. Dieses Bild hat sich dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Russland übertragen und prägt, bewusst oder unbewusst, unser Denken bis heute. Anders ist nicht zu erklären, weshalb sich heute in den verschiedensten europäischen Ländern zahlreiche Russinnen und Russen selbst dann, wenn sie sich mutig und öffentlich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine aussprechen, verschiedenen Formen von Diskriminierung, Beleidigungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sehen. Das Sündenbocksyndrom macht blind: Es erkennt im anderen nur noch das Böse, den Feind – und rechtfertigt damit sogar noch etwas so Verbrecherisches wie den Krieg, bloss um dieses “Böse” zu vernichten. Die dritte Komponente ist der fehlende historische Hintergrund: Obwohl wir rund um die Uhr mit Informationen aller Art pausenlos bombardiert werden, fehlt den meisten Menschen ein differenzierter historischer Hintergrund. Dieser Fokus auf den aktuellen Augenblick hindert uns daran, aus der Geschichte zu lernen. Und er führt dazu, dass wir immer und immer wieder in die selben Fallen hineintappen. Hätten wir aus allen bisherigen Kriegen der Weltgeschichte etwas gelernt, dann müssten heute weltweit alle Menschen nur noch Pazifistinnen und Pazifisten sein und es dürfte keine Armeen mehr geben, weil alle Menschen wüssten, dass Kriege noch nie irgendwem etwas genützt haben, weder den sogenannten “Siegern” noch den sogenannten “Verlierern”. Weshalb ist es möglich, dass ein ukrainischer Botschafter, der mit andersdenkenden Politikern und Politikerinnen höchst unzimperlich umgeht, sie bei jeder Gelegenheit blossstellt und nicht einmal vor einem dritten Weltkrieg zurückschrecken würde, von einem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten umarmt wird, während von der Friedensinitiative des Dalai Lama und 15 weiterer Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger, die bereits von 950’000 Menschen unterzeichnet worden ist, weit und breit nichts zu hören ist? Und doch bleibt Hoffnung. Hass, Feindbilder, Rassismus und Kriege brauchen nicht ewig Bestand zu haben. Denn, wie Nelson Mandela so wunderbar sagte: “Niemand wird geboren, um einen anderen wegen seiner Hautfarbe, seines Hintergrunds oder seiner Religion zu hassen. Den Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch die Liebe.” 

Multimediahändler Fnac: Wenn das Lächeln der Verkäuferin über ihren Lohn entscheidet

 

“Wenn das Lächeln über den Lohn entscheidet” – so der Titel eines Artikels im “Tagblatt” vom 28. März 2022 über den französischen Multimediahändler Fnac, der “mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Franken die Deutschschweiz erobern und M-electronics, Orell Füssli und Co. Kundschaft abjagen” will. Das Besondere an Fnac ist seine Vergütungsstruktur: Nach jedem Kauf wird dem Kunden oder der Kundin eine Umfrage geschickt mit einer Notenskala von 1 bis 10, mit welcher die jeweilige Angestellte vom Kunden oder der Kundin bewertet wird. Auch werden sogenannte “Mysteryshopper” eingesetzt, um die Servicequalität vor Ort regelmässig zu überprüfen. Die verschiedenen Parameter tragen zum Gesamtbild der Mitarbeitenden bei und sind ausschlaggebend für den variablen Lohnanteil, der ca. 25 Prozent des Gesamtlohn ausmacht. Ein Lohnmodell, über welches sich wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Artikels nicht besonders verwundern werden, sind wir uns mittlerweile doch gewohnt, als Kundinnen und Kunden bei jeder Gelegenheit von der Hotelübernachtung über das Essen im Restaurant bis zum Einkaufen im Internet Bewertungen und Beurteilungen abzugeben. Und doch gäbe es genügend Gründe, solche Bewertungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen, vor allem dann, wenn sie noch zusätzlich mit variablen Lohnmodellen verknüpft werden. Typisch für solche Bewertungssysteme ist das immense Machtgefälle, das dahinter steckt: Der Kunde oder die Kundin kann sich noch so mühsam, lästig oder rechthaberisch verhalten – die Verkäuferin darf dennoch nie die Geduld verlieren, muss stets freundlich bleiben und lächeln, denn wenn sie das nicht tut, muss sie mit einer negativen Beurteilung und demzufolge mit einer Lohneinbusse rechnen. Das dahinter liegende Bild ist das Bild einer knallharten Klassengesellschaft, in welcher die Regeln von denen erfunden werden, die oben sind, und die jene ausbaden müssen, die unten sind. Das beginnt schon in der Schule, wo die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern bewertet und beurteilt werden und bei “schlechten” Leistungen oder fehlendem Wohlverhalten mit schlechten Noten und Zeugnissen dafür bestraft werden, was sich gravierend auf ihre zukünftigen Berufs- und Lebenschancen auswirken kann. Ob der Gast im Restaurant oder Hotel, ob die Kundinnen und Kunden im Modegeschäft oder ob der Lehrer und die Lehrerin, welche Noten und Zeugnisse verteilt: Andere Menschen zu bewerten und beurteilen zu können, ist stets auch mit dem Gefühl verbunden, über Glück oder Unglück anderer ein Stück weit bestimmen zu können, sich besser und “mächtiger” zu fühlen als andere. Dass dies etwas zutiefst Menschenfeindliches ist und dem elementaren Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen widerspricht, wird uns vielleicht dann bewusst, wenn wir uns für einen Moment einmal das Gegenteil vorzustellen versuchen: Nicht der Kunde bewertet die Verkäuferin, wie freundlich sie gelächelt hat, sondern die Verkäuferin bewertet den Kunden, wie geduldig und freundlich er sich verhalten hat. Nicht der Hotelgast bewertet das Zimmermädchen, wie gründlich sie das Zimmer geputzt hat, sondern das Zimmermädchen bewertet den Gast, wie herzlich er sich für ihre Arbeit bedankt hat. Nicht die Lehrerinnen und Lehrer bewerten die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen, sondern die Kinder und Jugendlichen bewerten die Lehrkräfte, wie interessant und verständlich sie den Schulstoff vermittelt haben, wie humorvoll sie sind und mit wie viel Liebe und Aufmerksamkeit sie sich um das einzelne Kind gekümmert haben. Doch zurück zu den Angestellten des Multimediahändlers Fnac, die nun damit leben müssen, dass ein Viertel ihres Lohns davon abhängt, wie freundlich sie lächeln und wie geduldig sie ihre Kundschaft auch dann noch bedienen, wenn sich, nach acht Stunden Arbeit, alles im Kopf dreht und sie vor lauter Schmerzen fast nicht mehr auf den Füssen stehen können. Die müssten doch froh sein, wenn sie überhaupt eine Stelle hätten, heisst es dann immer so schön. Was für eine verkehrte Welt! Was für eine Lüge, das ewige Gerede von den “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern”! Tatsächlich muss doch nicht die Verkäuferin dankbar sein dafür, dass sie eine Stelle hat. Dankbar sein muss doch der Firmenchef, dass die Verkäuferin ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ihm hilft, dank ihrem tiefen Lohn den Konzerngewinn immer weiter in die Höhe zu treiben. Und so ist es mit allen sogenannten “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern” in der kapitalistischen Arbeitswelt voller Ausbeutung und voller Lügen, welche die tatsächlichen Machtverhältnisse beschönigen und verschweigen. Aber vielleicht kommt ja doch noch irgendwann die Zeit, wo sich das Blatt wendet und dann nicht mehr der Kunde die Verkäuferin bewertet, sondern alle “Arbeitnehmer” und “Arbeitnehmerinnen” weltweit das kapitalistische Wirtschaftssystem bewerten, mit einer Notenskala von 1 bis 10. Wetten, das könnte eine böse Überraschung geben? 

Biden, Selenski und Putin: Sind sie taub, haben sie nur Krieg im Kopf?

 

“Es geht”, verkündete US-Präsident Joe Biden anlässlich seines Staatsbesuchs in Polen am 26. März 2022, “um eine grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stärken.” Was für ein himmelschreiender Widerspruch! Biden plädiert für einen Sieg der Freiheit, gleichzeitig aber schwört er die Menschen in der Ukraine und weit darüber hinaus auf einen “langen Kampf” ein und zerreisst damit jegliche Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluss. Zudem, und das ist das besonders Absurde, spricht er einerseits von einem Kampf für die Freiheit, beraubt aber gleichzeitig Tausende und Abertausende von jenen Menschen, welche diesen Kampf führen oder unter ihm leiden, nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens. Freiheit für wen? Für die Väter, Mütter und Kinder der Ukraine? Oder vielleicht doch nur für all jene, welche sich diese “Freiheit” auch tatsächlich leisten können? Ich jedenfalls vermute, dass die ukrainischen Oligarchen, und es sind nicht wenige, wohl kaum auf den Schlachtfeldern im Kampf gegen die russischen Invasoren anzutreffen sind. Und auch Selenski wird höchstwahrscheinlich seine Freiheit auch dann noch geniessen, wenn Hunderttausende seiner Landsleute gestorben sein werden. Und was eigentlich genau will Biden mit dieser “Schlacht” verteidigen? Etwa jene kapitalistische Weltordnung, als deren Anführer er sich sieht und die dazu geführt hat, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch nie so gross waren wie heute, dass eine Milliarde Menschen unter Hunger leiden und jeden Tag zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs infolge Nahrungsmangels sterben und dass bereits 3,5 Milliarden Menschen im globalen Süden durch den Klimawandel, der nichts anderes ist als die Folge des kapitalistischen Prinzips endloser Wachstumssteigerung, existenziell bedroht sind? Und mit was für einem Wort müsste Biden, der Putin einen “Schlächter” nannte, den früheren US-Präsidenten George W. Bush bezeichnen, der 2003 aufgrund von Lügen und Erfindungen einen Krieg gegen den Irak anzettelte, dem über eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen? Biden täte gut daran, seinen eigenen Stall auszumisten, statt sich zum Weltführer von Freiheit und Menschenrechten aufzuspielen, die genug oft an anderen Orten mit Füssen getreten wurden. Und wenn er schon die Menschenrechte beschwört: Weshalb bekennt er sich dann nicht zum Einzigen, was die Menschenrechte tatsächlich verwirklichen würde, nämlich, anstelle eines “langen Kampfs” und einer grossen “Schlacht”, ein Angebot des Friedens auszusenden, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, das gemeinsame und gegenseitige Suchen nach einer Lösung des Ausgleichs und des Kompromisses anzuregen, mit dem beide Seiten leben könnten, ohne weiteres Blutvergiessen, ohne weiterhin Freiheit und Menschenrechte zu opfern. Soeben haben der Dalai Lama und 15 weitere Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger einen Friedensappell ausgerufen. Haben Biden, Selenski und Putin nichts davon gehört? Haben Sie nur Krieg im Kopf? Dass der Dalai Lama und seine 15 Mitunterzeichnerinnen und Mitunterzeichner den Friedensnobelpreis bekommen haben, das muss doch einen Sinn gehabt haben. Man hätte die Preise doch nicht verliehen, bloss dass die damit Ausgezeichneten sich dann in ihr stilles Kämmerchen zurückgezogen hätten, nichts mehr von sich hätten hören lassen und zu allem geschwiegen hätten. Was ist da los mit einer Welt, wenn die Worte ein paar weniger Kriegstreiber mehr Gewicht haben als 15 Persönlichkeiten, die sich mit ihrem ganzen Leben über Jahrzehnte für Aussöhnung, Frieden und Völkerverständigung eingesetzt haben? Und ganz gewiss, wenn es zu einer weltweiten Abstimmung käme, hätten sie die ganz überwiegende Mehrheit der Menschheit auf ihrer Seite. Denn für alle, die sich von den Kriegstreibern noch nicht haben einlullen lassen, ist es klar: “Entweder wird die Menschheit dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende setzen.” Das sagte übrigens nicht irgendein Friedensaktivist, sondern der frühere US-Präsident John F. Kennedy. Ob Joe Biden noch nie etwas davon gehört hat?

Klimastreik Zürich: Das alles nütze sowieso nichts? Je mehr mitmachen, umso mehr nützt es!

 

Klimastreik am 23. März 2022 in Zürich. Viele hätten sie am liebsten schon totgesagt, haben alles ins Lächerliche gezogen, haben von “Träumerinnen” und “Phantasten” gesprochen, doch jetzt ist sie wieder da, die Klimabewegung, jetzt, wo der Winter vorüber ist und ein wunderbarer Frühlingstag alles überstrahlt. Ja, sie ist wieder da, die Klimabewegung, stärker denn je, vielleicht nicht was die Zahl der Teilnehmenden betrifft, aber was ihre Energie betrifft, ihre Argumente, ihre Überzeugungskraft, ihre Dringlichkeit. Die vielen bunten Transparente, die mitreissende Musik, tanzende und singende junge Menschen voller Lebenslust, das Auf- und Niederschwellen tausendstimmiger Parolen, dazwischen ein älterer Herr, der in seinem dunklen Anzug ein pensionierter Banker sein könnte, und eine weit über achtzigjährige Frau am Rollator, in eine Klimafahne gehüllt: Ein Herzschlag der Liebe zieht sich an diesem Freitag durch die Strassen Zürichs. Und es lässt auch die Menschen am Rande der Strassen nicht unberührt: Aus einer Bar sind ein paar Angestellte herausgekommen, mischen sich tanzend in den Demonstrationszug und verteilen Gratisgetränke. Die Menschen, die in den Cafés an der Sonne sitzen, verfolgen das Geschehen gebannt, schiessen Fotos und viele von ihnen haben ein wunderbares Lächeln im Gesicht, so etwas wie Sehnsucht, als wollten sie am liebsten alles stehen und liegen lassen und sich in den Demonstrationszug einreihen. Nur wenige scheinen gänzlich unberührt zu sein: Viele der Autofahrer und Autofahrerinnen, die mit grimmigem Gesicht in der Kolonne stehen, weil die Strassen für den Verkehr gesperrt sind, Geschäftsleute mit stechendem Schritt und grossen Aktenkoffern, Menschen auf der Shoppingtour, die zwischen dem einen und dem nächsten Geschäft, wo sie einkaufen, nur für ihre Handys Blicke übrig haben. Sie und wir – als wären es zwei gänzlich gegensätzliche Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Doch was ist “normal”? Was ist “verrückt”? Wird vielleicht eine Zeit kommen, da sich alles ins Gegenteil verkehrt und das “Verrückte” normal sein wird und umgekehrt? In der Ferne kurven Polizeiautos nutzlos herum. Hier gibt es keine Gewalt, keine Auseinandersetzungen, nicht einmal irgendein böses Wort. Ich bin sicher: Käme es auch nur zur geringsten Tätlichkeit im Rahmen dieser Demonstration, so würden sich die bereitstehenden Kameraleute wie hungrige Wölfe darauf stürzen und es würde garantiert in der abendlichen Tagesschau, in den Tageszeitungen und auf den sozialen Medien darüber berichtet. So aber ist weder in der Tagesschau noch in den Tageszeitungen am nächsten Morgen auch nur ein einziges Wort über die Klimademonstration in Zürich zu erfahren, und erst Recht nicht über die an diesem gleichen Tag an 800 Orten weltweit durchgeführten Klimastreiks mit Hunderttausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Inzwischen ist der Zug entlang der Limmat unterwegs. Auf der erhöhten Terrasse eines Kirchenplatzes stehen wiederum dicht gedrängt viele Schaulustige, gestikulieren und fotografieren. Die letzten Sonnenstrahlen und lautes Glockengeläute, fast ein “heiliger” Moment, an dem die Welt für einen Moment stillzustehen scheint. Viele sagen, dies alles nütze sowieso nichts, der Klimawandel lasse sich nicht mehr aufhalten. Wer das sagt, soll mitmachen. Je mehr mitmachen, umso mehr nützt es. Wenn 2000 Menschen auf der Strasse sind, kann man leicht darüber hinweggehen. Wenn es 200’000 sind, wird es schon schwieriger. Wie ein Felsblock, der im Weg liegt. Wenn zwanzig Menschen daran ruckeln, bewegt er sich keinen Millimeter. Wenn fünfzig dazu kommen, wird er ein ganz klein wenig nachgeben. Wenn es hundert sind, kommt er ins Wanken. Und wenn es tausend sind, scheint er plötzlich federleicht zu sein und kann aus dem Weg geschafft werden und der Weg in jene neue Zeit des Friedens und der Liebe, von der wir alle träumen, wird frei. Zuhause angekommen, lese ich vom britischen Historiker Eric Hobsbawn folgende Worte: “Entweder hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Katastrophe. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.” Gut, war ich dabei…

Madeleine Albright, die goldenen Sockel und das kurze Gedächtnis jener, die es eigentlich wissen müssten

 

Madeleine Albright, frühere US-Aussenministerin und am 23. März 2022 im Alter von 84 Jahren verstorben, sei, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 24. März 2022, stets eine glühende Verfechterin der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit gewesen, unter Führung der USA als “Schutzmacht von Demokratie und Freiheit in aller Welt”. Auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock äussert sich auf Twitter geradezu überschwänglich über die verstorbene ehemalige US-Aussenministerin: “Mit Haltung, Klarheit und Mut stand Madeleine Albright als erste US-Aussenministerin ein für Freiheit und die Stärke von Demokratien. Mit ihr verlieren wir eine streitbare Kämpferin, Vorreiterin und wahre Transatlantikerin. Auch ich stehe auf ihren Schultern.” Sowohl der “Tagesanzeiger” wie auch die deutsche Aussenministerin scheinen ein wahrhaft kurzes Gedächtnis zu haben. Bei Annalena Baerbock erstaunt dies umso mehr, als sie ja gerne bei jeder Gelegenheit betont, “Völkerrecht” studiert zu haben. Ist ihr gänzlich entgangen, dass Albright eine knallharte, um nicht zu sagen herzlose Politikerin gewesen ist, die unter anderem für die völkerrechtswidrige Bombardierung Belgrads 1999 wesentlich mitverantwortlich war und sich auch in den frühen Neunzigerjahren für schärfste Sanktionen gegen den Irak eingesetzt hatte, welche infolge Nahrungs- und Medikamentenmangels den Tod einer halben Million Kinder zur Folge hatten? Doch damit nicht genug. Als Albright 1996 in einem Fernsehinterview gefragt wurde, ob die Sanktionen gegen den Irak angesichts des Todes von einer halben Million Kinder diesen Preis wert gewesen seien, antwortete sie wie folgt: “Ja, es war diesen Preis wert.” Der Tod scheint noch die zwielichtigsten historischen Figuren reinzuwaschen, auf einen goldenen Sockel zu heben und alles Vergangene aus der Erinnerung der Menschen zu löschen. Auch beim zwischen 1981 und 1989 amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan war es nicht anders, als er am 5. Juni 2004 mit grossem Pomp zu Grabe getragen wurde. Auch damals war die ganze westliche Welt einhellig des Lobes voll. Und alles war vergessen: Dass Reagan in seinem fanatischen Kampf gegen die Sowjetunion, das “Reich des Bösen”, jedes Mittel Recht war, auch die konsequente Unterstützung mehrerer antikommunistischer Militärdiktaturen. Dass er der rechtsgerichteten Militärregierung von El Salvador, welche Anfang der 1980er Jahre etwa 40’000 Oppositionelle ermorden liess, jegliche militärische und finanzielle Hilfe zukommen liess. Dass er zwischen 1981 und 1990 einen verdeckten Krieg gegen die sandinistische Regierung Nicaraguas führte, welche die gesamte Wirtschaft des Landes zum Erliegen brachte und dem 20’000 bis 60’000 Menschen zum Opfer fielen. Und dass er einen nie dagewesenen Rüstungswettlauf einleitete, dem die Sowjetunion aus wirtschaftlichen Gründen schliesslich nicht mehr gewachsen war, ein Ungleichgewicht, das mit einem zwölf Mal höheren Militärbudget der USA im Vergleich zu Russland bis heute andauert und möglicherweise eine der zahlreichen Wurzeln des aktuellen Ukrainekonflikts bildet. Aber nicht nur der Tod legt einen Deckel über die Vergangenheit. Auch zu Lebzeiten kommt es einzig und allein drauf an, auf welcher Seite der gelobte oder der geschmähte Staatsführer, die gepriesene oder die verachtete Regierungschefin steht, ob auf der Seite der “Guten” oder auf der Seite der “Bösen”: Trotz seiner Zentralamerikapolitik, für die man ihn eigentlich als “Kriegsverbrecher” bezeichnen müsste, wurde Ronald Reagan am 9. November 1992 zum Ehrenbürger von Berlin ernannt. Auch George W. Bush geniesst über alle politischen Parteien hinweg nach wie vor grösstes Ansehen, obwohl er mit seinem 2003 völkerrechtswidrig vom Zaun gerissenen Krieg gegen den Irak über eine halbe Millionen Zivilpersonen in den Tod gerissen hat. Und Barack Obama, US-Präsident von 2009 bis 2017, wurde sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, obwohl er die Zahl der Drohnenangriffe gegen mutmassliche Terroristen in Pakistan und Afghanistan gegenüber seinem Vorgänger George W. Bush massiv steigerte, buchstäblich Luftschläge aus heiterem Himmel, welche die Menschen in ständige Angst und Schrecken versetzten und den Tod tausender Zivilpersonen, darunter auch vieler Kinder, zur Folge hatten. Während also die Führer der “freien Welt”, egal wie viele Menschenleben sie auf dem Gewissen haben, gebauchpinselt, gehätschelt und auf goldene Sockel gestellt werden, sieht es für die anderen, die auf der “falschen” Seite stehen, ganz anders aus: Sowohl der libysche Führer Muammar al-Gaddafi als auch der irakische Präsident Saddam Hussein und der Hauptverdächtige der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center, Bin Laden, wurden alle wegen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” verfolgt und unter teilweise bis heute ungeklärten Umständen durch mehr oder weniger “offizielle” Todeskommandos umgebracht. Auch der serbische Präsident Slobodan Milošević war einer der “Bösen”. Er wurde ans Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert, wo er 2006 kurz vor dem Abschluss seines Verfahrens verstarb. Doch nicht nur, dass dies alles so unbeschreiblich ungerecht ist, muss uns zu denken geben. Und nicht nur, dass “Gerechtigkeit” offensichtlich bloss ein schöneres Wort für das Recht des Stärkeren ist. Nein, zu denken geben muss uns auch, wie klein der Widerstand gegen die Macht der Mächtigen ist, wie kurz das Gedächtnis an Ereignisse, die nur wenige Jahre zurückliegen, wie stromlinienförmig und käuflich die meisten Medien, die sich nur selten an das Hinterfragen der herrschenden Heiligenbilder heranwagen, wie verlogen all die Blumen auf den Gräbern der schlimmsten Übeltäter, statt dass man dort die Namen aller durch ihre Hand zu Tode Gekommener aufschreiben würde…

Ukraine: Die Rückkehr der kalten Krieger und das baldige Ende ihrer Zeit

 

Eine volle Frontseite des “St. Galler Tagblatts” vom 19. März 2022 nimmt der Leitartikel des Verlegers Peter Wanner zum Ukrainekonflikt ein. Schon der Titel des Artikels sagt alles: “Der Westen muss seine Feigheit überwinden und Putin endlich in die Schranken weisen.” Der Westen, so Wanner, hätte viel zu lange gezögert und trete zu wenig entschlossen auf. So etwa hätte es viel zu lange gedauert, bis sich Deutschland, dem Wanner eine “naive Ostpolitik” vorwirft, dazu entschlossen habe, Waffen in die Ukraine zu liefern. Und Joe Biden hätte schon längstens Kampfflugzeuge liefern und eine Flugverbotszone einrichten sollen. Man hätte eine klare rote Linie ziehen sollen und Russland im Falle eines Angriffs auf Kiew mit einem Luftschlag der NATO drohen sollen. Auf die Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen, hätte der Westen mit einer Gegendrohung antworten müssen. Denn wer Angst vor einer atomaren Drohung habe, der habe schon verloren. Schliesslich hätte man die in Polen stationierten MiG-29-Kampfjets ohne Aufhebens “still und heimlich” in die Ukraine liefern sollen. Noch schlimmer sei die zu wenig konsequente Haltung beim wirtschaftlichen Embargo. Alles müsse unternommen werden, um die russische Wirtschaft “in den Abgrund zu ziehen”. Die kalten Krieger von früher und heute werden sich über Wanners Ausführungen freuen. Da ist endlich einer, der Klartext spricht. Der sich über Empfindlichkeiten, Rücksichtnahme und Ängste entschlossen hinwegsetzt und am liebsten allen Pazifisten, Träumerinnen und Naivlingen ganz gehörig die Leviten lesen würde. Doch gottseidank ist Wanner nur ein Schreiberling. Würde man nämlich seine Ideen in die Tat umsetzen, wären wir zweifellos schon mitten im dritten Weltkrieg. Dass die NATO und die westlichen Führer genau das nicht getan haben, was Wanner fordert, das hat uns bisher vom Allerschlimmsten bewahrt. Die tatsächlichen Naivlinge sind nämlich nicht die, welche immer noch an eine friedliche Lösung dieses Konflikts glauben, sondern Leute wie Wanner, die trotz aller gegenteiliger historischer Erfahrungen immer noch glauben, Krieg sei durch Krieg, Gewalt durch Gewalt zu überwinden. Realistisch gesehen gibt es nämlich nur vier Szenarien. Das erste: Russland “gewinnt” diesen Krieg. Eine verheerende Aussicht, könnte dies doch bedeuten, dass Russland weitere “Beutezüge” wie etwa die Eroberung der baltischen Staaten in Erwägung ziehen könnte. Das zweite Szenario: Die Ukraine “gewinnt” diesen Krieg. Der Preis, der dafür an Opfern und an Zerstörungen bezahlt werden müsste, wäre gigantisch. Und wie würde Russland auf eine solche Schmach reagieren? Wäre das der Moment, in dem in letzter Verzweiflung die Atombombe zum Einsatz käme? Das dritte Szenario: Weder Russland noch die Ukraine “gewinnen” den Krieg, verkeilen sich gegenseitig in sinnlosem Blutvergiessen und sinnloser Zerstörung und was dereinst ein blühendes Land war, wäre nur noch ein apokalyptischer, beinahe menschenleerer Trümmerhaufen. Das vierte Szenario: Russland und die Ukraine einigen sich auf einen Friedensvertrag und beenden diesen Krieg so schnell wie möglich. Gemeinsam bauen sie in gegenseitigem Einvernehmen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die ein friedliches Miteinander der europäischen Völker und Staaten garantiert. Das “Friedensszenario” ist das einzige vernünftige. Statt des Rückfalls in den kalten Krieg und in eine weltweit immer mehr um sich greifende Kriegsrhetorik müssten hier und heute weltweit Millionen und Abermillionen von Menschen ihre Stimmen erheben und nicht nur ein Ende des Ukrainekonflikts fordern, sondern ein Ende aller Waffen, Armeen und Kriege. Wir waren noch nie so nahe daran, uns und das ganze Leben auf diesem Planeten auszulöschen. Aber vielleicht waren wir, angesichts dieser Bedrohung, auch noch nie so nahe daran, in ein neues Zeitalter aufzubrechen, in ein Zeitalter des Friedens und der Liebe über alle Grenzen hinweg. “Entweder”, sagte der frühere US-Präsident John F. Kennedy, “setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.”

“Dass der Westen in Bezug auf die Ukrainekrise nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden kann”

 

Es mag – angesichts des verheerenden, verbrecherischen russischen Feldzugs in der Ukraine – vermessen klingen: Aber versuchen wir uns doch trotz allem für einen Moment in die Sichtweise Russlands bzw. Wladimir Putins zu versetzen. Nicht um irgendetwas zu beschönigen oder zu rechtfertigen, sondern einzig und allein darum, um aus der Geschichte zu lernen und gemachte Fehler nicht stets wieder von Neuem zu wiederholen. Ich zitiere im Folgenden zwei unverfängliche Quellen, einen Autor und eine Autorin, die Putin gegenüber gewiss kritisch eingestellt und nicht einfach blindlings “russlandfreundlich” ausgerichtet sind. Der eine ist der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen. In seinem Buch “Frieden oder Krieg” schreibt er, dass in Bezug auf die Ukrainekrise der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne: “Historiker künftiger Generationen werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass Europas schwerste Ost-West-Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Entscheidung der Europäischen Union ausgelöst wurde, die Ukraine mit einem Assoziierungsabkommen auf die Seite des Westens zu ziehen.” Diese Assoziierung hätte mit elementaren Interessen von Russland kollidiert, das mit der Ukraine sowohl aufgrund historischer Wurzeln wie auch wirtschaftlich aufs Engste verbunden sei: “Über 50 Prozent des Exports ukrainischer Güter ging nach Russland. Hunderte Unternehmen arbeiteten für beide Seiten. Millionen russisch-ukrainischer Mischehen vertieften die Beziehungen zwischen beiden Ländern.” Um einen solchen Organismus zu zerlegen, so Pleitgen, hätte es eines ausserordentlichen politischen Fingerspitzengefühls bedurft. Dieses Fingerspitzengefühl aber habe der Westen nicht aufgebracht: “Russland wurde behandelt wie ein missgünstiger Störefried. Brüssel scherte sich weder um die russisch-ukrainische Geschichte noch um die die wirtschaftlichen und familiären Verflechtungen der Gegenwart. Die EU-Bindung der Ukraine hätte in ein europäisches Abkommen eingebettet werden müssen, das Russland in eine Sicherheits- und Wirtschaftspartnerschaft mit der Europäischen Union eingebunden hätte.” Die andere Stimme ist jene von Catherine Belton, Journalistin und Moskauer Korrespondentin der “Financial Times” von 2006 bis 2013. In einem Interview mit der “Sonntagszeitung” vom 20. März 2022 sagt Belton, Putin hätte sich, ob zu Recht oder nicht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Obwohl der NATO-Beitritt der Ukraine noch nicht spruchreif gewesen sei, hätte das westliche Verteidigungsbündnis bereits die ukrainische Armee vor Ort trainiert. Westliche Waffen wären ins Land geströmt und die ukrainische Armee sei auf NATO-Standards umgestellt worden. Rückblickend auf das Ende des Kalten Kriegs und des Zusammenbruchs der Sowjetunion sagt Belton: “Jetzt herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes mehr übrig blieb als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.” Belton erinnert daran, dass Putin nach seinem Amtsantritt im Jahre 2000 dem Westen die Hand ausgestreckt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hatte. Sie sagt: “Vielleicht wären die Dinge anders verlaufen, wenn der Westen auf Putins Annäherungsversuche eingestiegen wäre.” Belton erwähnt zudem, dass Putin nach 9/11 den USA angeboten hatte, Zentralasien für Operationen in Afghanistan zu nutzen: “Und was bekam er im Gegenzug? Die USA zogen sich 2001 einseitig aus dem Vertrag über ballistische Raketen zurück. Das machte es dem Westen möglich, Raketenabwehrschilde an den Grenzen Russlands zu errichten. Und die NATO hat gleichzeitig ihre Expansion nach Osten unbeirrt fortgesetzt.” Putin hätte, zu Recht oder zu Unrecht, geglaubt, dass die USA dies alles absichtlich getan hätten, um sein Land einzukreisen und zu schwächen.. “Man behandelte Putin”, so Belton, “als hätte er nie eine Bedeutung gehabt.” Wer hier und heute die Bilder aus zerbombten ukrainischen Städten und der millionenfach fliehenden Frauen und Kinder sieht, hat begreiflicherweise für die Seite Russlands wenig Verständnis. Wenn aber namhafte westliche Journalisten und Publizistinnen zum Schluss kommen, dass der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne und die Dinge möglicherweise anders verlaufen wären, wenn der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands Ernst genommen und die entgegengestreckte Hand Putins ergriffen hätte, dann muss das doch sehr zu denken geben. Freilich eine höchst unbequeme Tatsache, wenn wir uns eingestehen müssten, dass die westliche Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs mitschuldig wäre an all dem, was heute der Ukraine widerfährt. Und doch können wir vor all dem nicht einfach die Augen verschliessen und so tun, als hätten wir mit alledem nichts zu tun. “In der Menschheitsgeschichte”, so der bekannte US-Historiker George Kennan, “führt ein Ding zum anderen. Jeder Fehler ist das Produkt vorheriger Fehler.” Wir können nur hoffen, dass wir nicht immer und immer wieder die gleichen Fehler machen, sondern endlich den Weg finden aus dem Teufelskreis von Gewalt und Krieg, hin zu Gewaltlosigkeit, Völkerverständigung und Frieden über alle Grenzen hinweg.

Ukraine: Höchste Zeit, dem sinnlosen Blutvergiessen ein Ende zu bereiten

 

Es ist noch nicht lange her, da hiess es, Frieden in der Ukraine sei nur mit Russland, nicht aber gegen Russland möglich. Ebenfalls ist es nicht lange her, da wurde auch in der Schweiz über die Frage, ob man die Neutralität aufgeben und sich den EU-Sanktionen gegen Russland anschliessen wolle, noch durchaus kontrovers diskutiert – selbst Bundesrat Guy Parmelin sprach sich gegen die Ergreifung solcher Sanktionen aus. Und jetzt das: Mehrere tausend Menschen haben sich zu einer Kundgebung auf dem Berner Bundesplatz eingefunden, überall wehen ukrainische Fahnen, per Videoübertragung ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zugeschaltet und ruft zum “Kampf gegen das Böse” auf. Schliesslich tritt sogar Bundespräsident Ignazio Cassis ans Rednerpult und lobt den “Kampfeswillen” Selenskis und des ukrainischen Volks. Die allgemeine Euphorie scheint selbst auf den Tagesschausprecher überzuschwappen: Die von Cassis an Selenski in Englisch übermittelte Unterstützungsbotschaft wird vom Tagesschausprecher in der “Du-Form” übersetzt, ganz so, als handle es sich bei Selenski und Cassis um alte Kumpanen, die sich schon lange kennen würden. Gewiss, die Empörung und die Wut über den so zerstörerischen, verheerenden und durch nichts zu rechtfertigenden Krieg gegen die Ukraine ist nur allzu verständlich. Jetzt aber ausschliesslich mehr militärische Unterstützung und noch schärfere Wirtschaftssanktionen zu fordern, um den Gegner besiegen zu können, erscheint mir doch definitiv der falsche Weg zu sein. Kriege kennen keine Sieger, nur Verlierer. Jeder Tag, an dem weitergekämpft wird und weitere Menschen sterben, egal ob es sich dabei um ukrainische Kinder oder russische Soldaten handelt, ist ein Tag zu viel. Nichts führt an einer Friedenslösung vorbei, so schnell wie möglich. Und eine solche kann es nur geben, wenn beide Seiten von ihren Extrempositionen abrücken. Mit dem unlängst von Russland vorgelegten 15-Punkte-Plan, dessen wichtigste Elemente der neutrale Status der Ukraine ohne NATO-Beitritt und der Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine sind, liegt ein solcher Kompromissvorschlag auf dem Tisch. Ebenfalls vor wenigen Tagen haben ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte gemeinsam einen dringenden Appell für eine umfassende Friedenslösung ausgerufen. Was hält die ukrainische Führung davon ab, sich auf solche Ansätze zur Beendigung des Krieges ernsthaft einzulassen? “Selbst der ungerechteste Frieden”, sagte der römische Philosoph Cicero vor über 2000 Jahren, “ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.” Hoffen wir, dass die militärischen und politischen Führer auf beiden Seiten rechtzeitig zur Vernunft kommen, denn alles andere bedeutet nichts anderes als eine endlose Verlängerung unermesslichen Leids, sinnlosen Blutvergiessens und blindwütiger Zerstörung.

Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands – wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden

 

Mehr als 7000 russische Soldaten, so die “New York Times”, könnten im Ukrainekrieg bereits gefallen sein. Ukrainische Quellen sprechen sogar von 13’500 Toten. In knapp drei Wochen hätte Russland somit mehr Soldaten verloren als die USA in den 20 Jahren Irak- und Afghanistankrieg zusammen. Dazu kommen erst noch, je nach Schätzung, 14’000 bis 21’000 Verwundete. Doch sagen alle diese Zahlen rein gar nichts aus über das unermessliche Leiden, das sich dahinter verbirgt: siebzehn- und achtzehnjährige Wehrpflichtige, kaum richtig ausgebildet, in einen Krieg geschickt, von dem ihnen eingetrichtert worden war, es handle sich bloss um ein Manöver, eingequetscht in viel zu enge Panzerkabinen, tagelang ohne Nachschub an Essen und Treibstoff, quälender Kälte ausgesetzt, traumatisiert durch die allesdurchdringenden Schmerzensschreie zu Tode getroffener Leidensgenossen, in ständiger Angst vor ihren Vorgesetzten, welche schärfste Sanktionen ergreifen würden, sollte nur ja einer auf die Idee kommen, dieser Hölle durch eine Flucht über die Frontlinie zu entrinnen. Und für jeden der Gefallenen und Verwundeten eine ganze Familie irgendwo im fernen Moskau, in Wladiwostok oder Nowosibirsk, Eltern, Grosseltern, Frau und Kinder, die vor lauter Angst um den geliebten Vater nicht mehr schlafen können und sich selber infolge der Sanktionen des Westens immer öfters auch das Lebensnotwendigste nicht mehr leisten können. Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch die russische Bevölkerung und ganz besonders die russischen Soldaten leiden in diesem sinnlosen, verbrecherischen Krieg unermesslich. Der Unterschied ist nur: Das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer hat in der westlichen Öffentlichkeit, in den Zeitungen, am Fernsehen und in den sozialen Medien ein Gesicht. Die Russinnen und Russen dagegen leiden unsichtbar. Denn sie sind ja, aus der Sicht des Westens, die “Bösen” – egal ob es sich um Putin, um die russischen Soldaten, um die russische Bevölkerung oder um russische Künstlerinnen und Künstler handelt, welche von westlichen Theater- und Konzerthäusern boykottiert werden. Eine gefährliche Schieflage, die – angeheizt durch den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in seinen Videobotschaften an das amerikanische und das deutsche Parlament – immer mehr auf den Kampf zwischen dem “Guten” und dem “Bösen” hinausläuft, immer stärker von Kriegs- und Durchhalteparolen bestimmt wird und immer weniger von der Suche nach einer gemeinsamen Friedenslösung. Im Gegenteil: Wer immer noch für Verständigung und für Kompromisse eintritt, wird schon fast als ewiggestriger Träumer belächelt. Dabei ist nichts so naiv wie die Vorstellung, man könne einen Krieg gewinnen, indem man seinen Feind vernichtet, selbst auf die Gefahr hin, damit einen Weltkrieg auszulösen. Das einzig wirklich Realistische und Vernünftige ist, sich auszusöhnen und sich gegenseitig die Hände zu reichen. Drei Berichte, auf die ich – fernab vom kriegerischen medialen Mainstream – gestossen bin, geben mir trotz allem Hoffnung. Der erste: Seitens der russischen Regierung liegt mittlerweile ein 15-Punkte-Plan zu einer Friedenslösung mit der Ukraine vor. Die wichtigsten Elemente: Die Ukraine gibt ihre Ambitionen auf, der NATO beizutreten; die Ukraine verzichtet auf ausländische Militärbasen im Land; die Ukraine soll eine eigene Armee behalten; Staaten wie die USA, Grossbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren; die russischen Truppen ziehen sich aus der Ukraine zurück. Was ist an diesem Plan so ungeheuerlich? Weshalb hetzt Selenski die NATO-Staaten gegen Russland auf, statt sich ernsthaft auf den Vorschlag Russlands einzulassen? Offenbar hat die ukrainische Regierung zu wenige überzeugende Gegenargumente, steht dem Plan aber skeptisch gegenüber, weil man den Russen “nicht trauen” könne. Wer aber so denkt, verunmöglicht a priori jede Friedenslösung und müsste dann eigentlich konsequenterweise schon gar keine Friedensverhandlungen führen, denn jeglicher Versuch einer Verständigung ist ohne eine gegenseitige Vertrauensbasis zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Der zweite Bericht, ebenfalls fernab von medialem Scheinwerferlicht: Am 17. März 2022 erliessen ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte einen gemeinsamen Friedensappell. Er lautet wie folgt: “Wir rufen die Verantwortlichen der Konfliktparteien und der USA dazu auf, alles daran zu setzen, konstruktive und effektive Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zu beschleunigen, um die Menschenleben in der Ukraine und Russland zu retten.” Der dritte Bericht betrifft die 28jährige russische Cellistin Anastasia Kobekina. Sie war von der Kartause Ittigen im schweizerischen Thurgau aus politischen Gründen ausgeladen worden, obwohl sie sich dezidiert gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesprochen hatte. Die Entrüstung über die Absage des Konzerts war aber in der Kulturszene so gross, dass gleich zwei Veranstalter in die Bresche springen wollten, um dennoch ein Konzert mit Anastasia Kobekina zu ermöglichen. In wenigen Tagen wird das Konzert nun stattfinden und als Zeichen der Aussöhnung wird Kobekina zusammen mit einem Geiger aus der Ukraine auftreten und nebst anderen auch ukrainische Werke interpretieren. Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands. Wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden. Wie dieser ausgehen wird, dazu können wir alle etwas beitragen, sowohl die Politiker und Politikerinnen, wie auch die Medien und wie auch jede Einzelne und jeder Einzelne von uns. 

Ohne Aufklärung und Selbstkritik gibt es keine nachhaltige, dauerhafte Friedenslösung

 

“Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion”, so der deutsche Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel im “Tagesanzeiger” vom 17. März 2022, “gab es eine Zeit der Offenheit. Verhängnisvollerweise hat das Regime Putin diese Suchbewegung abgebrochen und blockiert. Putin verkörpert eine Politik, die nicht fähig ist, einen Ausweg aus dem Grossmachtstreben zu finden. Putin stemmt sich gegen den Lauf der Geschichte.” Von einem Historiker und Osteuropaexperten hätte ich eigentlich eine etwas differenziertere Betrachtungsweise erwartet. Schlögel scheint die Rede Putins vor dem deutschen Reichstag im September 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, völlig entgangen zu sein. “In dieser Rede”, so der langjährige ARD-Publizist Fritz Pleitgen, “gab Putin alles, um die Europäische Union für eine faire Partnerschaft mit Russland zu gewinnen. Er erklärte einen stabilen Frieden auf dem europäischen Kontinent zum Hauptziel Russlands und forderte eine Abkehr von den Stereotypen und Klischees des Kalten Kriegs. Und er betonte, ohne eine standfeste Sicherheitsarchitektur sei auf diesem Kontinent kein Klima des Vertrauens und kein einheitliches Grosseuropa zu schaffen.” Ebenfalls unterschlägt Schlögel die Tatsache, dass trotz dieser russischen Friedensangebote die NATO-Osterweiterung unter Federführung der USA aktiv und gezielt vorangetrieben wurde und dies, obwohl die Administration George Bush sen. dem damaligen Sowjetführer Gorbatschow im Februar 1990 versprochen hatte, die NATO werde “keinen Inch” nach Osten vorrücken, und der US-Historiker George Kennan 1997 mit folgenden Worten vor einer NATO-Osterweiterung warnte: “Die ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung lenken, die uns nicht gefallen wird.” Schliesslich erwähnt Schlögel auch mit keinem Wort, dass die jährlichen Militärausgaben der USA zwölf Mal höher sind als jene Russlands. Meine Anmerkungen sollen auf keinen Fall als Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dienen. Krieg ist nie und unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Trotzdem sollte man sich aber weiterhin, und in einer so angespannten Zeit wie der unseren erst Recht, um die historische Wahrheit bemühen. Von einem glaubwürdigen Historiker erwarte ich Aufklärung, nicht polemische und einseitige Zuspitzungen und Schuldzuweisungen. Aufklärung aber beinhaltet immer auch Selbstkritik. Erst wenn wir erkennen, dass der Westen an der heutigen weltpolitischen Entwicklung nicht gänzlich unschuldig ist, werden wir in der Lage sein, eine Friedensordnung aufzubauen, die nachhaltig und dauerhaft Bestand haben wird.