Archiv des Autors: Peter Sutter

“Jene, die den Frieden lieben, müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.”

 

Es gehe, sagte Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU im Zusammenhang mit der Lieferung deutscher Panzer an die Ukraine, darum, ob man auf der “richtigen Seite der Geschichte” stehe. Andere sprechen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen von einem “Wertewandel” oder gar einer “Zeitenwende”. Und alle meinen das Gleiche: Wer die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt habe und sich immer noch an der Vision einer Welt ohne Waffen und Kriege festklammere, habe endgültig den Anschluss an die heutige Zeit verloren. Friedensmärsche, so lese ich in einem Twitterkommentar, seien doch längst nicht mehr zeitgemäss. Und der deutsche FDP-Politiker Graf Lambsdorff versteigt sich gar zur Behauptung, Friedensmärsche wären nichts anderes als eine “5. Kolonne Wladimir Putins”. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Ins Jahr 1971 zum Beispiel, als der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises sagte: “Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.” Oder ins Jahr 1980, als der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte: “Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.” Seitdem sind sie wie Dominosteine einer nach dem andern umgefallen, zuerst Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur, auch die Grünen, die ihre so radikale pazifistische Tradition sang- und klanglos über den Haufen geworfen haben, als wäre da nie etwas gewesen, und jetzt auch noch die SPD. Sie alle argumentieren, die Zeiten hätten sich eben geändert. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sähe die Welt von Grund auf anders aus. Der Pazifismus sei grundsätzlich schon richtig, aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Man müsse ihn jetzt sozusagen ins Gefrierfach legen, um ihn dann, wenn bessere Zeiten gekommen sind, wieder hervorzuholen. Doch man kann den Pazifismus nicht aufs Eis legen. Im Gegenteil, er ist heute aktueller und dringender denn je. “Wir haben uns auf Putins Kriegslogik eingelassen, auf das Prinzip von Gewalt und Gegengewalt”, schreibt die russische Schriftstellerin Natascha Wodin, “ich glaube nicht, dass wir der Ukraine damit helfen können. Es muss alles getan werden, um die Lage zu deeskalieren, zu entschärfen, kein Öl mehr ins Feuer zu giessen.” Ja, Putin erobert nicht nur ukrainische Städte. Er ist auch daran, unser Denken zu erobern, indem wir es der gleichen zerstörerischen Logik unterwerfen, Gewalt sei mit Gewalt zu bezwingen und es gäbe dazu keine Alternative. Aber auch das ist noch nicht alles. Erobert wird auch immer stärker die Oberhand über die öffentliche Meinung inmitten von Ländern, die eben noch auf ihre demokratische Meinungs- und Gedankenfreiheit so stolz gewesen sind. Immer mehr formt sich ein Einheitsdenken heraus, immer stärker geraten Einzelne, die anders denken, unter die Räder, werden als “Ewiggestrige”, als “Naivlinge”, “Träumerinnen” oder “Putinversteher” abgestempelt oder sogar lächerlich gemacht und es wird ihnen vorgeworfen, sie stünden auf der “falschen Seite der Geschichte”. Ist erst einmal eine Mehrheit für das “Richtige” gewonnen, so haben es jene, die das “Falsche” vertreten, immer schwerer, überhaupt noch zu Wort zu kommen. Selbst die besten Argumente verhallen im Leeren, wenn jene, die sich in der Mehrheit sonnen, nicht mehr bereit sind zuzuhören. “Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt”, sagte der englische Schriftsteller George Orwell, “desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.” Auch Albert Einstein sagte: “Wir sollten uns viel öfter die Frage stellen, ob es richtig ist, nur weil wir es alle tun.” Und der russische Schriftsteller Leo Tolstoi formulierte es ganz ähnlich: “Falsch hört nicht auf, falsch zu sein, nur weil die Mehrheit daran beteiligt ist.” Und doch bleibt Hoffnung. Es gibt nämlich nicht nur die Kriegstreiber, die Scharfmacher, die Machtpolitiker, die Rüstungsindustrie und die abtrünnig gewordenen Pazifisten und Pazifistinnen, die uns auf beiden Seiten der ideologischen Gräben ins Unheil zu stürzen versuchen. Es gibt eine ganz überwiegend grosse Mehrheit von Menschen hüben und drüben aller Grenzen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende aller Gewalt, aller Zerstörung, aller Kriege und die Geburt einer neuen Zeit weltweiten Friedens. Nur solange sie schweigen und nicht selber aktiv werden, kann das Böse sein Spiel weitertreiben. Denn “alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren”, sagte der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan, “ist das Schweigen der Mehrheit.” Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King rief dazu, aus Gleichgültigkeit und Passivität herauszutreten und aktiv zu werden: “Jene, die den Frieden lieben”, sagte er, “müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.” Was für eine Vision: Der Ukrainekrieg als der erste Krieg, der nicht durch Gegenkrieg, sondern durch Pazifismus besiegt worden wäre. Dann, erst dann, könnten wir davon sprechen, auf der “richtigen Seite der Geschichte” gestanden zu haben. Dann, erst dann, könnten wir tatsächlich von einem “Wertewandel” oder gar von einer “Zeitenwende” sprechen. Und dann, erst dann, wäre die Sehnsucht tief in uns allen, die mit jedem Kind, das in die Welt kommt, immer wieder aufs Neue geboren wird, dann. erst dann, wäre diese Sehnsucht nach einer Welt voller Liebe, Frieden und Gerechtigkeit Wirklichkeit geworden.

Ukraine: Es gibt keine vernünftige Alternative zu einem umfassenden Friedensvertrag

 

US-Aussenminister Antony Blinken und US-Verteidigungsminister Lloyd Aston haben am 24. April 2022 den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in Kiew getroffen und bei dieser Gelegenheit bekräftigt, die Ukraine weiterhin mit schweren Waffen zu beliefern. “Wir wollen”, sagte Aston, “Russland derart geschwächt sehen, dass es nicht zu Dingen wie der Invasion der Ukraine in der Lage ist.”  Psychologie scheint Aston ein Fremdwort zu sein. Sonst wüsste er nämlich, dass der Widersacher, den man mit aller Gewalt klein zu machen versucht, nur umso aggressiver und gewalttätiger wird. So gesehen ist der Angriff Russlands auf die Ukraine nur das letzte Glied einer langen Kette von Demütigungen: Es begann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und ging weiter mit der schrittweisen Erweiterung der NATO bis an die Grenze Russlands, und dies, obwohl Putin 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, seine Hand nach dem Westen ausgestreckt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hatte. Auch die Ukraine, mit der die NATO bereits 1997 einen militärischen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen hatte, sollte nach dem Willen der westlichen Machthaber vollwertiges NATO-Mitglied werden. Man stelle sich einmal vor, wie die USA reagieren würden, wenn Mexiko und Kanada ein Militärbündnis mit Russland eingehen würden! Dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO weitgehende und gefährliche Folgen haben könnte, sah schon der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger voraus und er forderte deshalb, dass die Ukraine weder zum “Vorpfosten” der einen, noch der anderen Seite werden, sondern eine “Brücke zwischen beiden Seiten” sein sollte. Zur Geschichte der Demütigung Russlands gehört auch der 1999 von den USA angeführte Krieg gegen Serbien, in klarem Widerspruch zum internationalen Völkerrecht und entgegen dem heftigen Widerstand Russlands, dem schliesslich nichts anderes übrig blieb, als diesen Gewaltakt des Westens zähneknirschend hinzunehmen. Man sei, so Catherine Belton, Korrespondentin der “Financial Times”, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so euphorisch gewesen, dass man geglaubt habe, den Russen bliebe gar nichts anderes übrig, als sich anzupassen und in die vom Westen angeführte Welt zu integrieren. Wenn nun westliche Politiker eine umfassende Schwächung Russlands oder gar, wie das auch schon vorgekommen ist, einen “wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands” zu fordern, dann giessen sie Öl in jenes Feuer, das sie angeblich löschen wollen. Denn immer mehr Demütigungen führen zu immer mehr Zorn und Gewalt. Das müssten wir eigentlich spätestens seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zur Genüge wissen, waren es doch die mannigfachen politischen und wirtschaftlichen Demütigungen, die einseitige Schuldzuweisung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die exorbitanten Reparationszahlungen, die Deutschland an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu zahlen hatte, welche den Aufstieg Hitlers und den späteren Krieg überhaupt erst möglich machten. Besonders brisant ist übrigens, dass mit Lloyd Aston ausgerechnet ein Politiker die Zerschlagung der russischen Militärmacht fordert, dessen eigene Regierung 2003 einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak vom Zaun riss, der über einer halben Million Zivilpersonen das Leben kostete. Da hätte man wohl auch allen Grund gehabt, die Zerschlagung der US-Armee zu fordern, damit sich solches Unheil nie mehr wiederholen sollte. Heisst das alles nun, dass man Putin gewähren lassen und ihm die ganze Ukraine kampflos überlassen sollte? Mitnichten. Aber auch das Gegenteil, Russland eine vernichtende militärische Niederlage zuzufügen, wäre keine gute Lösung, da sie die Demütigungen nur noch weiter verschärfen und der verwundete Bär dann an einem anderen Ort umso heftiger zuschlagen würde. Es gibt tatsächlich keine vernünftige Alternative zu einer Friedenslösung, zu der beide Seiten ja sagen könnten, die Ukraine als “Brücke” zwischen Ost und West – was für eine bestechende Idee, ein Schritt in eine neue Zeit, ohne Schmach, ohne Demütigung, ohne leidvolle Spuren über Generationen hinweg. “Deeskalieren, vermitteln”, schreibt Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Buch “Eiszeit”, “sich in die Lage anderer versetzen, um deren Handeln besser begreifen und die Folgen des eigenen Handelns besser einschätzen zu können – das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit menschlicher Grösse und mit genau den christlichen Werten, die so viele im Munde führen.” 

Eine neue Welt: Man muss das Unmögliche denken, damit es möglich wird…

 

Ein Krieg, der unermessliches Leiden schafft, entstanden aus einem Konflikt, der schon längstens mit friedlichen Mitteln hätte gelöst werden können. Eine Vielzahl weiterer Kriege, mehr als je seit dem Zweiten Weltkrieg, von denen schon niemand mehr spricht. Eine Milliarde Menschen, die hungern, Tag für Tag weltweit zehntausend Kinder, die vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen und kein sauberes Trinkwasser haben. Eine Minderheit von Reichen und Superreichen über alle Kontinente hinweg, die sich in Luxushotels, auf Golfplätzen und Kreuzfahrtschiffen vergnügen, mit Edelkarossen über die Autobahnen rasen, sich im Luxusrestaurant einen tausendfränkigen Wein servieren lassen und von denen die Allerreichsten gar eine private Weltraumrakete ihr Eigen nennen. Millionen von Männern, Frauen und Kinders, denen härteste Arbeit zu geringstem Lohn aufgezwungen wird, bloss um die laufend wachsenden Luxusbedürfnisse der Reichen und Reichsten zu befriedigen. Lohnunterschiede zwischen den höchsten und tiefsten Einkommen, die grösser sind als alles, was die Geschichte je gesehen hat. Der unerbittliche Glaube an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, dem alle Schätze der Erde, die ganze Vielfalt der Natur, das Wasser, die Luft und selbst das Überleben der Menschheit in den nächsten 20 oder 50 Jahren rücksichtslos geopfert werden. Und wie wenn das alles nicht schon mehr als genug wäre, stehen weltweit mit einem Riesenarsenal an Atomwaffen Massenvernichtungsmittel bereit, die jederzeit die gesamte Menschheit nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach auslöschen könnten. Wären Lebewesen eines anderen, höher entwickelten Planeten in der Lage, auf die Erde zu schauen, sie würden es nicht begreifen, würden sich ungläubig die Augen reiben und würden buchstäblich die Welt nicht mehr verstehen. Und auch der kleine Prinz in der bekannten Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry, der schon vor vielen Jahren auf der Erde landete und damals schon ob dem Treiben der Menschen zutiefst verwundert war, würde heute wohl noch viel früher als damals die Erde fluchtartig wieder verlassen.

Eigentlich gibt es angesichts dieses Zustands der Erde und der Menschheit nur zwei Möglichkeiten: Resignation oder Hoffnung. Ich plädiere für die Hoffnung. So “naiv” oder “realitätsfern” dies im Moment auch erscheinen mag. Doch die Vorstellung einer Zukunft ohne Kriege, ohne soziale Ungerechtigkeit, ohne Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks Profitmaximierung und ohne zukunftsbedrohenden Raubbau an der Natur und den Schätzen der Erde, ist so viel einfacher, klarer, logischer als diese so komplizierte und so verrückte Welt, in der wir heute leben. “Ich weigere mich”, sagte Nadine Gordima, Schriftstellerin und Anti-Apartheid-Kämpferin, “ohne Hoffnung zu leben.” Ja, Hoffnung gibt Kraft. Und diese Kraft brauchen wir, die von so grossem Leid, so unermesslicher Zerstörung, so verstörenden Zukunftsängsten so müde und kraftlos geworden sind, dass wir höchstens noch die letzten Reste privater Glückseligkeit geniessen, uns aber nicht mehr um das grosse Ganze kümmern, weil doch schon alles verloren zu sein scheint. 

Hoffnung bedeutet: sich jene andere Welt vorzustellen, die als tiefe Sehnsucht in uns allen verborgen liegt und die mit jedem Kind, das in die Welt kommt, neu geboren wird. Man muss die vorhandene Wirklichkeit übersteigen. Man muss das Unmögliche denken, damit es möglich wird. Je schöner und farbiger die Vision einer Welt ohne Krieg, ohne soziales Unrecht, ohne Ausbeutung und ohne Raubbau an der Natur erscheint, umso hässlicher wird die Fratze der gegenwärtigen Weltordnung dastehen. Und dann, irgendwann, wird das Ganze kippen. Dann werden die, welche heute als Träumerinnen, Naivlinge und Spinner verschrien werden, als “realistisch” und “vernünftig” angesehen werden, und all jene, die heute noch mit dem Kriegsbeil herumrennen und nicht einmal vor der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen zurückschrecken, bloss noch als Relikte einer vergangenen, überwundenen Zeit.

“Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr werde ich leben.” Ja, diese Zukunft kann erst dann Wirklichkeit werden, wenn wir sie in unseren Gedanken und Visionen vorwegnehmen. Nach allen Anstrengungen, nach allem Leiden, nach allen Entbehrungen vergangener Jahrhunderte wäre das wohl die vornehmste und vordringlichste Herausforderung, die man sich nur vorstellen kann. Damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner jenes fernen Planeten, die uns beobachten, nicht mehr voller Abscheu von uns abwenden müssten, sondern nichts lieber täten, als uns einen Besuch abzustatten. Und der kleine Prinz für immer auf der Erde bleiben würde. “Du hast die Wahl”, sagte der US-Publizist Noam Chomsky, “du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden. Eigentlich hast du gar keine Wahl.”

Frontex: Wir brauchen dringend neue Ideen

 

Am 15. Mai 2022 wird darüber abgestimmt, ob der Schweizer Beitrag an die Grenzschutzagentur Frontex von 14 auf 61 Millionen Franken pro Jahr erhöht und damit ein wesentlicher Ausbau der Frontex unterstützt werden soll. “Gewalt, Elend und Tod”, schreibt das Referendumskomitee, das eine Ablehnung dieser Abstimmungsvorlage empfiehlt, “sind an den Aussengrenzen Europas Alltag geworden. Flüchtende werden entrechtet, geprügelt und abgeschoben.” Malek Ossi, der über die sogenannte Balkanroute in die Schweiz geflüchtet ist, sagt im Interview mit der “Wochenzeitung” vom 21. April: “Wenn ich das Wort Frontex höre, denke ich an das Grenzregime, an Gewalt und Militarisierung, an Abschottung, gesunkene Flüchtlingsboote und Ausschaffungen.” Und Amine Diare Conde, der auf dem Weg über das Mittelmeer in die Schweiz gekommen ist, sagt: “Ja, es geht um einen Krieg gegen Geflüchtete. Frontex ist dazu da, gegen Menschen vorzugehen, die auf der Suche nach Freiheit und Schutz fliehen. Ich habe fünfmal die Überfahrt versucht und wurde dreimal aufgegriffen. Wir wurden zurück in die Wüste geschickt, wir mussten tagelang ohne Essen und Wasser durch den Sand gehen. Nein, Frontex funktioniert nicht – es stirbt bloss noch eine grössere Anzahl Menschen. Zudem kann Frontex nicht verhindern, dass Menschen fliehen. Warum also nicht neue Ideen entwickeln?” Das ist der springende Punkt. Es braucht in der Tag neue, von Grund auf andere Ideen. Wir brauchen, einfach gesagt, eine Welt, in der überall die Menschen unter so guten Bedingungen leben können, dass niemand mehr gezwungen ist, auf der Suche nach einem besseren Leben seine Heimat zu verlassen – alles andere ist reine Symptombekämpfung. Ich sehe drei Hauptursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Die erste ist das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern. 500 Jahre kolonialistische Ausbeutung, die bis in unsere Tage andauert, sind die Ursache dafür, dass die reichen Länder im Laufe der Zeit immer reicher und die armen immer ärmer geworden sind – bis hin zur unfassbaren Tatsache, dass heutzutage die gut verdienenden Bevölkerungsschichten in den Ländern des Nordens in einem nie dagewesenen Luxus schwelgen, während gleichzeitig eine Milliarde Menschen hungern und jeden Tag weltweit zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen oder kein sauberes Trinkwasser haben. Dass die Ausbeutung der Armen durch die Reichen unvermindert weitergeht und die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können, zeigt folgende Zahl der Entwicklungsorganisation Oxfam: Aus dem Handel mit “Entwicklungsländern” zieht die Schweiz einen fast 50 Mal höheren Profit, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt. Die zweite Fluchtursache ist der Krieg. Und auch hier, ob im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen oder im Jemen, überall haben die “entwickelten” Länder des Nordens, allen voran die USA, ihre Finger im Spiel, angetrieben vom perversesten aller Industriezweige, jenem nämlich, der seine Gewinne daraus schöpft, dass zehntausendfaches Leben vernichtet, ganze Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht, ganze Volkswirtschaften zerstört und Elend über viele Generationen hinweg geschaffen wird. Längst hätten es die reichen Länder des Nordens in der Hand, durch den Abbau ihrer exorbitanten Militärarsenale mit dem guten Beispiel voranzugehen und alle ihre Beziehungen zu den Ländern des Südens niemals auf Armeen und auf Gewalt aufzubauen, sondern einzig und allein auf der friedlichen Unterstützung zum Aufbau funktionierender Zivilgesellschaften. Die dritte Fluchtursache ist der Klimawandel. Bereits heute leiden 3,5 Milliarden Menschen weltweit unter den Folgen von Dürre, fehlendem Wasser, Stürmen, Überschwemmungen und dem durch die Klimaerhitzung verursachten Anstieg des Meeresspiegels. Und auch hier liegen die Schlüssel zur Lösung des Problems bei den “entwickelten” Ländern des Nordens, welche mit Abstand die grössten Verursacher des Klimawandels sind, während die Länder des Südens, die selber am wenigsten an der Klimaerwärmung Schuld sind, dennoch am allermeisten darunter leiden. Wenn es uns nicht gelingt, bei den eigentlichen Fluchtursachen anzusetzen, dann können wir noch so viele finanzielle Mittel in eine Grenzschutzbehörde hineinpumpen, deren Auftrag kein anderer ist, als flüchtende Menschen aufzuhalten und sie in das Elend, woher sie gekommen sind, mit Gewalt wieder zurückzuschicken. Wir könnten, wenn alles so weitergeht wie bisher, ganze Armeen gegen flüchtende Menschen in den Krieg schicken und dennoch würden wir das Problem nicht lösen, sondern es würde nur alles noch viel schlimmer. Der Krieg in der Ukraine, viele weitere Kriege in anderen Ländern, von denen schon gar niemand mehr spricht, Hunger und Armut, Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Profitmaximierung – wann endlich verstehen wir die Zeichen der Zeit? Wann endlich geben wir es auf, bloss die Symptome zu bekämpfen, statt endlich an die Ursachen aller Übel heranzugehen und eine Welt aufzubauen, in der alle Menschen, unabhängig davon, wo und wann sie geboren wurden, ein gutes Leben haben? “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.”

Ukraine: Wir sehen die Realität nur, wenn wir durch beide Brillengläser schauen

 

Aufgrund neuester Umfragen zeigt schweizweit jede dritte Person in der Alterskategorie der 18- bis 34Jährigen Verständnis für die Motive Wladimir Putins im Krieg um die Ukraine. Dies berichtet der “Tagesanzeiger” am 20. April 2022. Zwar würden die “jungen Putinversteher” – so der Titel des Zeitungsartikels – den Krieg grundsätzlich verurteilen, im Einzelnen sähen sie aber die Rolle und die Mitverantwortung des Westens an diesem Konflikt durchaus kritisch. Aussagen wie diese seien bei den jungen “Putinverstehern” häufig anzutreffen: Die NATO sei ein “imperiales Instrument” und dem Interesse der USA dienend, das westliche Militärbündnis habe mit seiner ständigen Expansion nach Osten Russland provoziert, die NATO hätte nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgelöst werden müssen, die Sanktionen gegen Russland seien kontraproduktiv, schädlich und würden die Neutralität der Schweiz untergraben. Auch in den USA, so der “Tagesanzeiger”, würden nur 56 Prozent der befragten 18- bis 29Jährigen eher mit der Ukraine als mit Russland sympathisieren, ähnlich sähe es in Frankreich und in Grossbritannien aus. Der Zürcher Politologe Michael Hermann sieht gemäss “Tagesanzeiger” den Grund für diese überproportionale “Russlandfreundlichkeit” der jüngeren Altersgruppe vor allem darin, dass sich Jugendliche vorwiegend in den sozialen Medien informierten und deshalb in besonders hohem Masse den “Lügen der gut funktionierenden russischen Propaganda” ausgesetzt seien. Diese Aussage erscheint mir höchst problematisch. Tatsache ist doch, dass man keineswegs der “russischen Propaganda” auf den Leim gehen muss, um eine kritische Haltung gegenüber dem Westen, den USA und der NATO einzunehmen. Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher genügt nämlich vollauf, um jenes “Verständnis” gegenüber Putin aufzubringen, das zwar niemals auch nur ansatzweise diesen Krieg rechtfertigen darf, aber uns auch gleichzeitig von einer zu starren Freund-Feind-Optik und einer blinden Reduktion auf das vermeintlich “Gute” und “Böse” befreien kann. So zum Beispiel sagte der US-Historiker George F. Kennan schon 1997: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Auch Ronald Popp von der Militärakademie der ETH Zürich sieht in der NATO-Osterweiterung ein grosses Konfliktpotenzial: “Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.” Der französische Staatspräsident François Mitterand plädierte schon aus diesem Grunde anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion sogar für eine ersatzlose Auflösung der NATO. Was die Ukraine betrifft, so prophezeite schon 1997 der frühere US-Politberater Zbignew Brzezinski, dass hier dereinst der entscheidende Machtkampf zwischen Ost und West um die Vormachtstellung im eurasischen Raum erfolgen würde. In weiser Voraussicht, dass ein solcher Machtkampf auf beiden Seiten nur Verlierer hervorbringen würde, schlug daher der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger im Jahre 2014 folgerichtig vor, dass die Ukraine nicht der “Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen” sein sollte, sondern eine “Brücke zwischen beiden Seiten”. Hart ins Gericht mit der westlichen Ukrainepolitik geht auch der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen: “Historiker künftiger Generationen werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass Europas schwerste Ost-West-Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Entscheidung der Europäischen Union ausgelöst wurde, die Ukraine auf die Seite des Westens zu ziehen. Nein, der Westen kann in Bezug auf die Ukrainekrise nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden.” Nicht viel anders tönt es bei Catherine Belton, Moskauer Korrespondentin der “Financial Times” von 2006 bis 2013: Obwohl der NATO-Beitritt der Ukraine noch nicht spruchreif gewesen sei, hätte das westliche Verteidigungsbündnis bereits die ukrainische Armee vor Ort trainiert, westliche Waffen wären ins Land geströmt und die ukrainische Armee sei auf NATO-Standards umgestellt worden – man sei, so Belton, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so euphorisch gewesen, dass man geglaubt habe, den Russen bliebe gar nichts anderes übrig als sich anzupassen und sich in die vom Westen geführte Welt zu integrieren. Auch um gegenüber dem Verhängen von Wirtschaftssanktionen eine kritische Haltung einzunehmen, muss man sich nicht von “russischer Propaganda” verführen lassen. Es genügt, den “Tagesanzeiger” vom 22. Februar 2022 zu lesen, die gleiche Zeitung also, die jetzt, am 20. April 2022, offensichtlich felsenfest von der Notwendigkeit und der Wirksamkeit von Sanktionen überzeugt ist: “Sanktionen”, schrieb die Zeitung am 22. Februar, “wirken ähnlich wie gewaltsame Konflikte oder Naturkatastrophen. Sie treffen vor allem die Benachteiligten. In der Regel verstärken sie die Repression im betroffenen Land, zu einem Nachgeben oder einem Regimewechsel kommt es selten.” Wenn jenem Drittel der jüngeren Altersgruppe, welche gegenüber Putin gewisse Sympathien an den Tag legen und gegenüber der Politik des Westens, der USA und der NATO eine kritische Handlung einnehmen, vorgeworfen wird, sie hätten sich von der russischen “Lügenpropaganda” übers Ohr hauen lassen, dann müsste man diesen Ball eigentlich in aller Deutlichkeit und Entschiedenheit wieder zurückspielen. Propaganda ist nämlich nicht nur das, was zum Beispiel russische Nachrichtensender wie “Russia Today” betreiben. Auch westliche Medien betreiben Propaganda: Wenn historische Zusammenhänge und Hintergründe bewusst verschwiegen werden, selber verschuldete und mitverantwortete Ursachen des Konflikts konsequent ausgeklammert werden, selbstkritische Stimmen in Zeitungen und am Fernsehen kaum noch zu hören sind und jeder, der nur die leiseste Kritik an der westlichen Politik zu äussern wagt, sogleich als “Putinversteher” abgestempelt und mundtot gemacht wird. Ältere Menschen, so meint der Politologe Michael Hermann im vorliegenden Artikel des “Tagesanzeigers”, seien grundsätzlich besser informiert und in ihrem Urteil “weniger wankelmütig”. Ich glaube, eher ist das Gegenteil der Fall. Interessanterweise herrscht ja in der westlichen Mainstreamoptik die Meinung, dass in Russland die jungen Menschen besser informiert seien als die ältere Bevölkerung, welche sich nur über das Staatsfernsehen informiere. Weshalb sollte es in den westlichen Ländern anders sein? Ich jedenfalls habe in der allabendlichen Tagesschau – und diese ist wohl eine unserer wichtigsten Informationsinstrumente zur öffentlichen Meinungsbildung – noch nie etwas gehört über die Gräueltaten des ukrainischen Asow-Regiments, über die jahrzehntelange Lobbyarbeit amerikanischer Rüstungskonzerne in den potenzielle NATO-Staaten, über die zahlreichen Benachteiligungen und Diskriminierungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, über die vielen Verletzungen des Waffenstillstands in der Ostukraine durch ukrainische Militäreinheiten seit 2014, über die russischfeindlichen Brandreden nationalsozialistischer Volksaufhetzer auf dem Kiewer Maidan anfangs 2014, über die Verfolgung, Folterung und Hinrichtung politischer Oppositioneller, darüber, dass Wolodomir Selenski elf politische Parteien, drei regierungskritische Nachrichtensender sowie mehrere Zeitungen verboten hat, darüber, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder der Welt ist, und darüber, dass die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland. “Das eine Glas der Brille”, sagt der eine der beiden “Putinversteher” im Artikel des “Tagesanzeigers” so treffend, “ist die westliche Sicht, das andere die östliche. Und man braucht beide, um den Konflikt zu verstehen.” Wie viel wäre doch gewonnen, wenn wir uns alle dies zum Vorbild nähmen!

Chefkoch S.: “Der schlimmste Tag meines bisherigen Lebens”

 

Meistens, so berichtet die “Sonntagszeitung” am 17. April 2022, steht S., ein 48jähriger Türke, allein in der Küche eines grossen Restaurants im Berner Oberland. Nur an einzelnen Tagen wird er von einem Hilfskoch unterstützt. Am Mittag wird für 300 Ausflüglerinnen und Ausflügler gekocht, abends sind es 70 Gäste, die ein exquisites Fünfgangmenu erwarten. Dazwischen muss die Küche aufgeräumt, ein Grossteil des Abwaschs erledigt, müssen Lieferungen eingeräumt und muss das Fünfgangmenu vorbereitet werden. Am schlimmsten, so S., sei es an Silvester gewesen: “Ich habe derart geschwitzt, dass es in meinen Schuhen nass wurde. Meine Füsse haben geblutet. Ich hatte starke Schmerzen. Es war der schlimmste Tag meines bisherigen Lebens.” 18 Stunden hat er an diesem Tag ohne Pause durchgearbeitet. Zuvor hatte er während zwei Wochen keinen einzigen freien Tag, die tägliche Arbeitszeit beträgt meist über elf Stunden, manchmal arbeitet er bis über 80 Stunden pro Woche. Die Arbeit sei so schwer, dass er im Verlaufe der letzten zwei Monate 15 Kilo abgenommen habe. Nicht viel besser ergeht es B. und M., die in einer Zürcher Bäckerei arbeiten. Besonders schlimm sei Weihnachten gewesen: Als die beiden Konditoren morgens um drei Uhr die Backstube betraten, lag auf dem Tisch eine Tasche, prall gefüllt mit Bestellzetteln für aufwendige Torten. Die Kundinnen und Kunden wünschten sie zu Weihnachten spezielle Schriftzüge, Blumen, Schleifen, alles Mögliche. “Es wäre Arbeit für mindestens sechs Personen gewesen”, sagt B., “doch wir waren nur zu zweit.” Zu den aufwendigen Torten kam das normale Tagesgeschäft dazu, also Gipfeli, Vermicelles oder Focaccia. B. und M. arbeiteten an diesem Vorweihnachtstag ganze 34 Stunden durch. Auch in “gewöhnlichen” Wochen sind Arbeitszeiten von bis zu 90 Stunden keine Seltenheit. Kein Wunder, fühlt sich B. an solchen Tagen “wie ein Sklave”. – Der türkische Chefkoch und die beiden Konditoren in der Zürcher Backstube: Drei von unzähligen Beispielen für prekärste, unmenschlichste Arbeitsbedingungen mitten in einem Land, wo Abertausende andere viel weniger hart arbeiten und sich dennoch um vieles mehr leisten können. Drastischer kann sich die kapitalistische Klassengesellschaft nicht mehr offenbaren: Hier der türkische Koch, seit 18 Stunden auf den Beinen, mit blutenden Füssen – dort, nur wenige Meter entfernt, in gemütlichem Ambiente mit Kerzenlicht, die Gäste, die ihr Fünfgangmenu geniessen, welches er, der Koch, sich niemals leisten könnte. Hier zwei Konditoren, die morgens um drei Uhr fast der Schlag trifft, als sie die Tasche mit den Bestellzetteln für Torten und unzählige Extrawünsche öffnen – dort die Feiern und die Partys, wo die Torten genüsslich verzehrt werden. Würde Karl Marx noch leben, er sähe sich in allen seinen Analysen und Prognosen tausendfach bestätigt. Klassengesellschaft pur. Ausbeutung pur. Ein Gesamtsystem, in dem permanent ein mindestens doppelter Diebstahl stattfindet: Der erste Diebstahl, dass in gewissen beruflichen Tätigkeiten und gesellschaftlichen Positionen weit mehr verdient wird, als man eigentlich zum Leben bräuchte, während es wiederum in vielen anderen beruflichen Tätigkeiten genau umgekehrt ist und man nicht einmal genug verdient, um einigermassen anständig davon leben zu können. Der zweite Diebstahl, dass all jene, die schon bezüglich ihres Einkommens auf der Verliererseite stehen und um eine faire Entlohnung betrogen worden sind, nun ein zweites Mal beraubt werden, indem sie gezwungen sind, ihre Arbeitskraft in Form einer Dienstleistung ausgerechnet jenen zur Verfügung zu stellen, von denen sie bereits ein erstes Mal bestohlen worden sind. Verschleiert werden alle diese Ausbeutungsverhältnisse, indem “Täter” und “Opfer” fein säuberlich voneinander getrennt sind: Liegt das wohlschmeckende Gericht auf dem Teller vor dem Gast, so erinnert es nicht im Entferntesten an die Schmerzen, unter denen es zubereitet worden ist. Keine Torte erzählt die Geschichte eines Bäckers, der sich frühmorgens um zwei aus dem Bett quälen und dann ohne Pause 34 Stunden lang arbeiten musste. Die Spielzeugpuppe unter dem Weihnachtsbaum weiss nichts von den Tränen der kaputtgearbeiteten Fabrikarbeiterin in Bangladesch, in deren Händen sie entstanden ist. Und nirgendwo im Werbeprospekt oder der Betriebsanleitung des auf Hochglanz polierten SUV, den sich mein Nachbar stolz erworben hat, gibt es auch nur den geringsten Hinweis auf die Arbeitsbedingungen, unter denen Rohstoffe und seltene Metalle für das Fahrzeug aus gefährlichen Minen im fernen Afrika herausbefördert wurden. Auf Selbsttäuschung, Illusionen und dem Unsichtbarmachen der tatsächlichen Ausbeutungsverhältnisse beruht aber auch all das, was wir “sozialen Aufstieg” nennen. Sozial aufsteigen kann man nämlich immer nur auf Kosten anderer. Feiert sich der Bankdirektor als Krönung seiner Karriere, so ist dies nur deshalb möglich, weil genug andere nicht Bankdirektor geworden sind. Er könnte diesen Job nämlich nicht ausüben, wenn es nicht genügend Arbeiterinnen und Arbeiter gäbe, die sich um die tägliche Nahrung kümmern, die Kleider nähen, Häuser und Strassen bauen, kranke Menschen pflegen und noch vieles, vieles mehr. Dennoch wird der Bankdirektor, obwohl er auf alle diese Arbeiterinnen und Arbeiter existenziell angewiesen ist, einen um ein Vielfaches höheren Lohn erhalten als jene. Dass so viel Ungerechtigkeit, so viel Ausbeutung, eine so knallharte Klassengesellschaft immer noch Wirklichkeit sind, kann wohl nur damit erklärt werden, dass im Laufe von 500 Jahren Kapitalismus in unseren Köpfen das Verrückte immer mehr zum Normalen geworden ist und wir uns etwas anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Wie viele Leiden, wie viele Verrücktheiten, wie viele blutende Füsse eines türkischen Chefkochs und wie viele krankgearbeitete Bäckerinnen und Bäcker braucht es wohl noch, bis sich vielleicht doch noch etwas zu ändern beginnt? 

 

 

 

Höchste Zeit für einen UNO-Friedensrat und für globale Friedenskonferenzen

 

Wenn ein Ehepaar zerstritten ist, zieht man eine Mediatorin oder einen Mediator bei. Für Unstimmigkeiten zwischen Mieterinnen und Vermietern gibt es spezielle Schlichtungsstellen. Auch für Streitigkeiten zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen kann man in vielen Ländern auf hierfür spezialisierte Vermittlungsstellen zurückgreifen. Nur beim Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der an Tragweite, Gefährlichkeit und Zerstörungspotenzial alle anderen gegenwärtigen Konflikte um ein Vielfaches in den Schatten stellt, gibt man sich der Illusion hin, die Konfliktparteien könnten das Problem alleine lösen. Dies ist schlicht und einfach unmöglich, haben sich doch beide Seiten mittlerweile dermassen gegenseitig ineinander festgefahren, dass jede Seite befürchtet, auch nur das kleinste Nachgeben ihrerseits würde von der Gegenseite als Schwäche wahrgenommen und schamlos ausgenutzt. Spätestens jetzt erweist sich eine supranationale Organisation zur Konfliktbewältigung und Friedensvermittlung als dringendste, längst fällige Notwendigkeit. Von ihrem Grundsatz her wären das eigentlich die Vereinten Nationen. Diese haben ja im Völkerbund, der nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ziel “Nie wieder Krieg!” gegründet wurde, ihren Ursprung. Heute, hundert Jahre später, zeigt sich, dass die UNO dieser Grundidee offensichtlich nicht mehr im Entferntesten zu genügen vermag. Doch ohne eine starke Hand, die über und zwischen den Konfliktparteien steht, werden sich die Kriegsparteien nur immer weiter in ihr Unheil verrennen. Weshalb wird nicht eiligst ein UNO-Friedensrat einberufen, dem zum Beispiel der UNO-Generalsekretär sowie Vertreterinnen und Vertreter von neutralen Staaten und von Menschenrechtsorganisationen angehören würden? Ein solcher Friedensrat hätte die Aufgabe, den Konfliktparteien jene Kompromisse abzuringen, die notwendig wären, um eine einvernehmliche friedliche Lösung zu ermöglichen, bei der weder die eine noch die andere Seite ihr Gesicht verlieren würde. Ein solcher Friedensrat würde zugleich all jene Millionen Menschen auf beiden Seiten der Frontlinien repräsentieren, die unter diesem Krieg so unsäglich leiden, ohne dass sie jemals irgendwer um ihre Meinung, ihre Ängste oder ihre Hoffnungen gefragt hätte. Und ein solcher Friedensrat könnte ein neuer Anfang, ein neuer Kern einer viel grösseren, umfassenderen Bewegung sein, die wieder an die ursprünglichen Ziele des Völkerbunds anknüpfen würde. Denn das ist unabdingbar: Auch wenn es zwischen Russland und der Ukraine zu einem Friedensschluss kommen sollte, ist das nur eines von zahllosen Mosaiksteinen. Denn es brennt an allen Ecken und Enden. Schon erscheint der nächste höchst gefährliche Konflikt am Horizont: der Machtkampf zwischen China und den USA um Taiwan und um die Vorherrschaft im pazifischen Raum. Damit nicht genug: Auch Hunger, Armut, soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Rassismus, Kolonialismus und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen sind Formen von Krieg und müssten in einer internationalen Friedensordnung ebenso thematisiert werden wie die militärische Aufrüstung und die Gewalt durch Waffen und Armeen. Der internationale Friedensrat und die aus ihm wachsenden globalen Friedenskonferenzen hätten alle Hände voll zu tun. Die Widerstände, die sich ihnen entgegenstellen würden, wären zweifellos immens, umso stärker aber auch die Wirkung, die sie entfalten würden, wenn es ihnen gelänge, Ängste in Vertrauen zu verwandeln, Gewalt in Gewaltlosigkeit, Krieg in Frieden, Hass in Liebe. Alles hängt mit allem zusammen in einer Welt, in der die Menschen noch nie voneinander so abhängig waren und so aufeinander angewiesen wie heute. Und vielleicht waren wir noch nie so nahe an dem Punkt, wo alles in die eine oder die andere Richtung kippen könnte – von der blindwütigen Selbstvernichtung bis zu einer Zukunft in einer globalen Friedensordnung. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.”

Ukraine: Jeder Tag, der uns auseinanderbringt, ist ein verlorener Tag. Jeder Tag, der uns zusammenbringt, ist ein gewonnener Tag.

 

Nun also auch der schweizerische Fussballverband: Alle Spiele gegen Russland sollen boykottiert werden. Das betrifft auch das erste EM-Spiel der Frauen in England. Gemäss Nils Nielsen, Trainer des Frauenteams, würde man deswegen sogar eine Forfait-Niederlage in Kauf nehmen…

Überall das Gleiche: Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler aus internationalen Wettkämpfen, Absage von Theater- und Konzertveranstaltungen mit russischen Künstlerinnen und Künstlern, Sperrung internationaler Gremien und Konferenzen, Ausweisung russischer Diplomatinnen und Diplomaten, Verweigerung der Zusammenarbeit in Forschung und Wissenschaft. Und mitten zur besten Sendezeit sagt eine “Sicherheitsexpertin” in der Sendung “Markus Lanz” am deutschen Fernsehen, Russinnen und Russinnen sähen nur so aus wie Europäerinnen und Europäer, seien tatsächlich aber ganz anders. 

Wie dumm. Statt all die Millionen von Russinnen und Russen, die mit dem Krieg in der Ukraine nichts am Hut haben, zu unseren Komplizinnen und Komplizen zu machen, verstärken wir das “russenfeindliche” Image des Westens, treiben wir sie in die Arme Putins und machen sie zu unseren Feindinnen und Feinden. Viel gescheiter würden wir doch alle noch bestehenden Fäden, statt sie abzureissen, noch viel enger knüpfen, um über die Grenzen hinweg eine breite, auf Aussöhnung und Völkerverständigung beruhende Zivilgesellschaft aufzubauen, die Putin und seinen Machtapparat isolieren könnten. Dem alten, kriegerischen Denken Putins müssen wir, statt es ihm blindlings gleichzutun, ein modernes, friedliches Denken entgegenstellen. Denn Hass erzeugt nichts anderes als Hass, Gewalt nichts anderes als Gegengewalt. 

Ins gleiche Kapitel gehen die Wirtschaftssanktionen. Auch sie dienen nur dazu, Öl ins Feuer zu giessen. Denn die Menschen in Russland, die jetzt am meisten darunter leiden, werden sich nicht von Putin abwenden, sondern sich im Gegenteil noch stärker um ihn scharen und nur noch mehr Wut und Hass entwickeln gegen den “bösen” Westen, der an allem Schuld sei. “Es wird in dem Masse Frieden herrschen”, sagte Papst Johannes Paul II anlässlich des Weltfriedenstages vom 1. Januar 2000, “indem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.” Jeder Tag, der uns auseinanderbringt, ist ein verlorener Tag. Jeder Tag, der uns zusammenbringt, ist ein gewonnener Tag.

Ukraine: Am Ende sind wir alle mitverantwortlich

 

“Seit seinem Überraschungsbesuch in Kiew”, schreibt der “Tagesanzeiger” vom 12. April 2022, “kann sich der britische Regierungschef Boris Johnson im Glanz seiner Reise sonnen.” Die ukrainische Führung, so heisst es, wünschte sich, alle Welt wäre “mutig wie Boris”, der keinen Augenblick gezögert hätte, der Ukraine zu helfen. Und ja: Knausrig war Johnson nicht, hat er der Ukraine doch die Lieferung von 120 gepanzerten Fahrzeugen und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen zugesichert. Bestens dazu passen die Bilder von seinem Kiew-Besuch, wo er zusammen mit Selenski und schwer bewaffneten Begleitern eine Inspektionsrunde absolvierte. Auch die “Sunday Times” ist voll des Lobes und feiert Johnson als “Waffenbruder” und “Kampfgefährten” des ukrainischen Präsidenten. “Die Ukrainer”, so Johnson, “haben den Mut eines Löwen. Und Präsident Selenski hat für das Brüllen des Löwen gesorgt.” Zurück in London, sind alle Zweifel an der politischen Zukunft Johnsons, die eben noch die Medien beherrschten, im Nichts verflogen. “Indem er der Ukraine so tatkräftig zur Seite steht”, so der “Tagesanzeiger”, “hat Johnson auch seine eigene politische Karriere gerettet. Niemand in seiner Partei wird es wagen, unter den jetzigen Umständen die Ablösung Johnsons zu verlangen.” Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Während sich Boris Johnson auf seinem Ukrainetrip Ruhm und Ehre geholt hat, hagelte es für den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer, der gleichentags nach Moskau reiste, Kritik von allen Seiten. Er habe, so Nehammer, nichts unversucht lassen wollen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen oder zumindest humanitäre Fortschritte für die notleidende Bevölkerung in der Ukraine zu erwirken, um auf diese Weise die “Brückenbauerfunktion” als neutrales Land wahrzunehmen. Dieser Besuch, so der ORF-Russlandexperte Gerhard Margott, “ist keine gute Entscheidung”, biete er doch Putin bloss eine Bühne für das internationale Ansehen Russlands, sei “sinnlos”, ein “Fehler” und eine “Selbstdemütigung Österreichs”. So weit also sind wir schon: Der mutige Waffenbruder aus London, der dazu beiträgt, mit massiven Waffenlieferungen einen Krieg, der schon viel zu viele Opfer gefordert hat, sinnlos weiter in die Länge zu ziehen, wird selbst von seinen politischen Gegnern gefeiert und umjubelt. Und der Bundeskanzler aus Wien, der nicht das Scheinwerferlicht sucht, sondern einfach seinem Herzen und seinem politischen Gewissen folgt, wird von allen Seiten dermassen mit Kritik eingedeckt, dass man sich schon wundern muss, dass nicht bereits die ersten Rücktrittsforderungen gegen ihn erhoben werden. Ja, wer zeigt hier eigentlich mehr Mut? Der Kampfgefährte oder der Friedenssucher? Braucht es denn so viel Mut, 120 gepanzerte Fahrzeuge und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen in den Krieg zu schicken? Oder müsste man nicht viel eher den österreichischen Friedenssucher als den tatsächlich Mutigen bezeichnen, der entgegen aller auf ihn eingeprasselter Kritik nichts unversucht lassen wollte, um vielleicht trotz allem doch noch eine friedliche Lösung des Konflikts hinzukriegen? Wenn Kriegstreiber wie Boris Johnson gefeiert werden und Friedenssucher wie Karl Nehammer der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegeben werden, wenn Pazifismus als naiv und realitätsfremd belächelt und wenn behauptet wird, Krieg sei nur mit Krieg zu bezwingen, dann leben wir in einer höchst gefährlichen Zeit. Verantwortung tragen dabei nicht nur die Politikerinnen und Politiker. Verantwortung tragen in ganz besonders hohem Masse auch die Medien mit ihren hochgeschaukelten, zugespitzten, vereinfachenden Bildern und Meldungen, mit denen sämtliche historische Hintergründe ausgeblendet werden und immer nur gerade der aktuelle Moment ins Scheinwerferlicht gestellt wird. Verantwortung aber tragen auch wir alle, wenn wir entweder schweigen oder aber ins Kriegsgeheul auf der einen oder andern Seite einfallen, statt unsere Stimmen zu erheben für das Kostbarste und Schützenswerteste, was man sich nur vorstellen kann: den Frieden, die Aussöhnung, das Ende von Hass, Feindbildern, Gewalt und Krieg im Zusammenleben von Völkern und Staaten. Allen mutigen Löwen, aller Kriegstreiberei, aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.   

Die gemeinsame Wurzel von Armut, Hunger, Ausbeutung, Pandemie, Klimawandel und Krieg

 

Armut und Hunger weltweit. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Der Klimawandel. Die Coronapandemie. Der Krieg in der Ukraine. Auf den ersten Blick lauter Zufälligkeiten, die nichts miteinander zu tun haben. Tatsächlich aber haben alle diese Bedrohungen eine gemeinsame Ursache: ein auf endloses Wachstum, auf Profitgier und Gewinnsteigerung fixiertes Wirtschaftssystem, die schrankenlose Ausbeutung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, die unaufhörliche Umverteilung von Gütern und Reichtümern von den Arbeitenden zu den Besitzenden. Von welcher Seite wir auch das Ganze betrachten, die Wurzel aller Übel ist der Kapitalismus… 

Erstens: Armut und Hunger weltweit. Wenn heute eine Milliarde Menschen weltweit nicht genug zu essen haben, so ist das eine Folge von 500 Jahren kolonialistischer Ausbeutung der armen Agrarländer durch die reichen Industrieländer, eine Ausbeutung, die bis heute unvermindert weitergeht und dazu führt, dass weltweit nicht nur auf der einen Seite die Armut, sondern gleichzeitig auch auf der anderen Seite der Reichtum immer weiter in die Höhe wächst, weil das kapitalistische Weltwirtschaftssystem darauf beruht, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Doch nicht nur zwischen dem nördlichen und den südlichen Ländern wächst die soziale Kluft unaufhörlich, sondern innerhalb jedes einzelnen Landes zwischen den Armen und den Reichen – eine soziale Kluft, die sich wechselseitig bedingt, ist doch der Reichtum der einen eine unmittelbare Folge der Armut der anderen und umgekehrt. 

Zweitens: Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Das kapitalistische Grundprinzip ist die stetige Gewinnsteigerung. Die Arbeitskraft ist dazu da, innerhalb der kürzest möglichen Zeitspanne zu kleinstmöglichem Lohn die grösstmögliche Arbeitsleistung zu erbringen. Weil sich aber im kapitalistischen Wirtschaftssystem die Unternehmen in einem permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf befinden, bedeutet dies, dass der Druck auf die arbeitenden Menschen, immer mehr und immer schneller zu produzieren, laufend zunimmt. So wie die Rohstoffe und die natürlichen Ressourcen, so wird auch der arbeitende Mensch der grösstmöglichen Profitmaximierung zuliebe ausgebeutet. Am härtesten betrifft dies wiederum die Menschen in den armen Ländern, wo keine Arbeitsgesetze und gewerkschaftliche Organisationen vorhanden sind, um dem menschenfeindlichen Treiben ein Ende zu setzen. 

Drittens: Der Klimawandel. Wieder ist das kapitalistische Prinzip des endlosen Wachstums und der endlosen Profitmaximierung die Hauptursache dafür, dass die natürlichen Lebensgrundlagen, die Biodiversität und die Atmosphäre so sehr belastet und zerstört werden, dass bereits heute 3,5 Milliarden Menschen davon existenziell bedroht sind und das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten in 20 oder 50 Jahren mehr und mehr in Frage gestellt ist. 

Viertens: Die Coronapandemie. Wieder ist kapitalistische Profitgier eine der wesentlichen Ursachen: “In den letzten 20 Jahren”, so Gertraud Schüpbach, Epidemiologin an der Universität Bern, “hat der Handel mit Tieren und Wildtieren stark zugenommen und der Mensch ist immer weiter in unberührte Lebensräume der Natur vorgedrungen, so dass es zu immer häufigeren Kontakten zwischen Mensch, exotischen Tieren und Viren kommt.” Damit nicht genug: Bei der Weiterverbreitung des Virus spielte der die ganze Welt wie ein Spinnennetz umfassende Flugverkehr eine wichtige Rolle, eine Reiseform, die nur deshalb möglich ist, weil es genug Menschen gibt, die es sich aufgrund der kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen leisten können, per Flugzeug zu reisen. 

Fünftens: Der Krieg in der Ukraine. So wie das kapitalistische Wirtschaftssystem auf Wachstum und Profitmaximierung ausgerichtet ist, so eng ist damit auch die machtpolitische und geografische Expansion verbunden. Kommen sich dabei zwei Kontrahenten ins Gehege, wie dies heute zwischen der Ukraine und dem Westblock auf der einen Seite, Russland auf der anderen Seite der Fall ist, kommt es zum Krieg. “Kapitalismus und Krieg”, schreibt die deutsche Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht, “sind zwei Seiten einer Medaille. Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der Profitmaximierung mit militärischen Mitteln.” Ähnlich formuliert es der französische Sozialist Jean Jaurès: “Der Kapitalismus birgt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.” Und Rosa Luxemburg schrieb: “Solange das Kapital herrscht, wird der Krieg nicht aufhören.” Selbst Papst Franziskus sieht es nicht anders: “Der Kapitalismus braucht den Krieg.” 

Armut und Hunger. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Der Klimawandel. Die Coronapandemie. Der Krieg in der Ukraine. Alles hängt mit allem zusammen und hat seine Wurzeln in der kapitalistischen Ideologie von Profitmaximierung, Wachstum und Expansion. Eine Hydra, bei der, wenn wir nur einen Arm abschlagen, sogleich zwei neue nachwachsen. Es geht um das Ganze. Es geht um das, was die Klimabewegung den “System Change” nennt, nicht mehr und nicht weniger als eine neue Weltordnung, deren Verwirklichung umso dringlicher erscheint, je grösser die Bedrohungen sind, die wir gegenwärtig erleben und die möglicherweise noch auf uns zukommen werden. “Der Kapitalismus”, sagt der französische Philosoph Lucien Sève, “wird nicht von selbst zusammenbrechen. Er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Abgrund zu reissen, wie der lebensmüde Pilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.”