Archiv des Autors: Peter Sutter

Hass, Intoleranz und Feindbilder sind keine Mittel, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen…

 

Am 29. Juli 2022 wird die 36jährige österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr tot in ihrer Praxis aufgefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin. Vorausgegangen ist dem Tod der Ärztin ein jahrelanger Zermürbungskrieg: auf der einen Seite die Ärztin, die sich bis zur Erschöpfung für ihre coronainfizierten Patientinnen und Patienten einsetzte, auf der anderen Seite militante “Coronaleugner”, denen jedes Mittel recht war, die Ärztin in einschlägigen Foren und persönlichen Nachrichten zu beleidigen und ihr mit dem Tod zu drohen. Bereits vor zwei Wochen unternahm sie einen ersten Suizidversuch, wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, dann wieder freigelassen. Jetzt ist sie tot. Doch Lisa-Maria Kellermayr ist kein Einzelfall. Im schweizerischen Spreitenbach musste der für eine Rede anlässlich des Nationalfeiertags eingeplante Nationalrat Roger Köppel kurzfristig wieder ausgeladen werden – aufgrund von Androhungen von Störaktionen und Gewalt von anonymer Seite. Köppel wird vorgeworfen, im Ukrainekonflikt gegenüber Russland eine zu wohlwollende Haltung einzunehmen. Mit wüsten Beschimpfungen und regelrechtem Niederschreien sind auch deutsche Politikerinnen und Politiker neuerdings bei öffentlichen Auftritten immer wieder konfrontiert, so unlängst Wirtschaftsminister Habeck in Bayreuth. Und der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach wäre um ein Haar im vergangenen April durch eine Gruppe sogenannter “Querdenker” entführt worden, wenn es den Behörden nicht gelungen wäre, das Komplott rechtzeitig auffliegen zu lassen. Vier Beispiele für so etwas wie eine “Zeitenwende” in der politischen Kultur. Ob Corona, der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, die “Genderdebatte” oder die Politik im Allgemeinen: Der Ton wird zusehends schärfer, an die Stelle des Dialogs treten die Konfrontation, blindes Feindbilddenken und die Einteilung der Welt in “Gut” und “Böse” mit unüberbrückbaren Gräben dazwischen. Zweifellos haben die “sozialen” Medien wesentlich zu dieser Verschärfung beigetragen, ist es doch allemal viel einfacher, einen Menschen oder eine Gruppe Andersdenkender zu beleidigen, wenn dies anonym geschieht und man diesen anderen Menschen nicht Auge in Auge gegenübersteht. Toleranz droht immer mehr ein Fremdwort zu werden. Dabei ist Toleranz eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Zu oft wird Toleranz mit Standpunktlosigkeit verwechselt, dabei ist sie doch gerade das Gegenteil: Wer einen klaren eigenen Standpunkt, eine klar eigene Meinung hat, muss keine Angst haben, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, ohne diese gleich zum Vornherein zu verurteilen. Wer dagegen in Bezug auf seine eigene Meinung unsicher ist, versteckt sich gerne hinter Intoleranz, baut Feindbilder auf oder flüchtet sich in eine möglichst grosse Masse Gleichdenkender. Und noch etwas ist typisch für die Toleranz: Auch in noch so heftigen kontroversen Auseinandersetzungen werden stets nur Meinungen und Ideen “angegriffen”, nie aber die Menschen, welche sie aussprechen. “Intellektuell sein heisst gerecht sein”, sagte der österreichische Schriftsteller Stephan Zweig, “heisst Verständnis aufbringen für sein Gegenüber, für die Oppositionellen, für die Gegner.” Eine Gesellschaft kann sich nur vorwärtsbewegen, wenn sich ihre Bürgerinnen und Bürger nicht hinter vermeintlichen “Wahrheiten” verkeilen, sondern bereit sind, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und aus vielen guten Ideen noch bessere entstehen zu lassen. “Ein gutes Gespräch”, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt stets voraus, dass der andere recht haben könnte.” Bei alledem geht es letztlich um die Frage, wie wir unsere Mitwelt und die Gesellschaft, in der wir leben, in eine positive Richtung bewegen können. Dies geht niemals mit Hass, sondern einzig und allein durch Liebe. “Wo Liebe wächst, gedeiht Leben”, sagte Mahatma Gandhi, “wo Hass wächst, droht Untergang.” Viel zu oft geht vergessen, dass es letztlich viel mehr gibt, was die Menschen miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Im echten Dialog, in der Toleranz, in der Menschenliebe wird dies sichtbar. Die Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, sind viel zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, unsere Zeit, unsere Energie und unsere Phantasie in gegenseitigen Zermürbungskämpfen zu vergeuden. “Solange die Menschlichkeit uns verbindet”, sagte der deutsche Komponist Erich Ferstl, “ist es völlig egal, was uns trennt.” Dies ist nicht mehr und nicht weniger eine Frage des gemeinsamen Überlebens, denn, wie Martin Luther King es so wunderbar für uns Nachgeborene gesagt hat: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.” 

Schwindendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik: Hintergründe und offene Fragen…

 

“Diejenigen, die zu klug sind, um sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selber.” Dies sagte nicht irgendein Wutbürger im Jahre 2022, sondern der griechische Philosoph Platon vor über 2000 Jahren. Können wir diese Aussage auf die heutige Zeit übertragen? Im ersten Moment sagt alles in uns: Nein, es sind ja die Bürgerinnen und Bürger, die mit dem Wahlzettel an der Urne darüber entscheiden, dass die intelligentesten und fähigsten Politikerinnen und Politiker an die Macht gelangen. Zumindest in einer Demokratie ist das so. Und davon sprechen wir hier. Und doch: Betrachtet man das Ganze aus einer etwas grösseren Distanz, gewinnen die Worte von Platon, obwohl sie über 2000 Jahre alt sind, eine überraschende Aktualität. Denn in Anbetracht der Zeitumstände, der wachsenden sozialen Ungleichheit, der weltweit kriegerischen Konflikte und insbesondere der drohenden Klimakatastrophe verhalten sich unsere Politikerinnen und Politiker tatsächlich nicht besonders intelligent: Statt die herrschenden Probleme und Bedrohungen an der Wurzel anzupacken, werfen sie immer noch mit den gleichen Worthülsen um sich wie eh und je, bewegen sich beinahe ungebrochen im kapitalistischen Denksystem und scheinen dem Vorhaben, möglichst lange an der Macht zu bleiben, weit stärker zugeneigt zu sein als der Idee, die herrschenden Verhältnisse von Grund auf zu verändern. Gleichzeitig hört und liest man, in Bezug auf Politikerinnen und Politiker, von ausschweifenden Partys und Hochzeitsfeiern und nimmt staunend zur Kenntnis, dass dieser oder jener Politiker, obwohl er den gleichen Weg auch zu Fuss oder per Fahrrad bewältigen könnte, auch für kürzeste Strecken mit einer auf Hochglanz polierten, sündhaft teuren Staatskarosse chauffiert oder gar im Flugzeug oder Helikopter zu einem Sitzungsort gebracht wird, der sich ebenso bequem mit der Eisenbahn erreichen liesse – ganz zu schweigen von Joe Bidens Air Force One, einem Flugzeug, das, wie die “NZZ” schreibt, “alles kann” und das “berühmteste und geheimnisvollste Flugzeug der Welt” ist. Ja, je länger wir es uns überlegen, umso stichhaltiger und nach wie vor höchst aktuell ist die Aussage von Platon. In einem ganz übergreifenden Sinne, nämlich in Bezug auf das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten, verhalten sich unsere Politikerinnen und Politiker tatsächlich “dumm”. Selbst Ameisen, Eichhörnchen und Elefanten, die alles tun, um das Überleben ihrer Nachfahren zu sichern, verhalten sich intelligenter. Kein Wunder, verlieren die Menschen immer mehr das Vertrauen in die Politik: Laut dem Standard Eurobarometer der Europäischen Kommission hatten Ende 2021 nur gerade 36 Prozent der deutschen Bevölkerung Vertrauen in die politischen Parteien, 58 Prozent vertrauen den Parteien nicht. Wie die Friedrich Ebert Stiftung in einer Studie feststellte, ist vor allem jener Teil der Bevölkerung, der am meisten von sozialer Ungleichheit betroffen ist, mit den Politikerinnen und Politikern unzufrieden. Und das ist nicht nur in Deutschland so: Aus einem Bericht des Centre for the Future of Democracy an der Universität Cambridge aus dem Jahre 2020 geht hervor, dass insbesondere bei den 18- bis 34Jährigen die Zufriedenheit mit der Demokratie in fast allen Regionen der Welt stark abnimmt. “Dies”, sagt Roberto Foa, Hauptautor dieses Berichts, “ist die erste Generation seit Menschengedenken, die weltweit mehrheitlich unzufrieden damit ist, wie die Demokratie funktioniert.” Nun könnte man einwenden, nicht nur Politikerinnen und Politiker seien “dumm”, sondern ebenso die Menschen, welche diese wählen. Nicht nur, weil sie offensichtlich die “falschen” Politiker und Politikerinnen wählen, sondern vor allem auch deshalb, weil sie sich selber durch ihre tägliche Lebensweise in Bezug auf aktuelle und zukünftige Bedrohungen auch nicht gerade besonders vorbildlich verhalten und in verantwortungsloser Weise Ressourcen verschwenden, die dadurch kommenden Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Dennoch darf man wohl an die Professionalität gewählter Politikerinnen und Politiker zu Recht einen besonders hohen Massstab legen und von ihnen erwarten, dass sie in vorbildlicher Weise vorausschauend, umsichtig und verantwortungsbewusst handeln. Der Bäcker hat genug damit zu tun, von früh bis spät Brot zu backen. Die alleinerziehende Mutter hat alle Hände voll zu tun, sowohl ihrer Erwerbsarbeit wie auch der Betreuung ihrer Kinder gerecht zu werden. Der Politiker, die Politikerin dagegen hat alle Zeit – und erst noch eine überdurchschnittliche Entschädigung -, um der Aufgabe gerecht zu werden, sich für die Sicherung eines guten Lebens für alle heute und in Zukunft zu engagieren. Doch genau dies ist der Knackpunkt: Zu vielen Politikerinnen und Politikern scheint es nicht so sehr um das Wohl der Menschen zu gehen als um ihre eigene Machtposition. Verfolgt man öffentliche politische Debatten, so ist es meistens ein Schlagabtausch zwischen Exponentinnen und Exponenten der einen Partei gegen die anderen, von denen jede und jeder alles daran setzt, Recht zu behalten, das eigene Tun in den Himmel zu loben und das Tun der anderen möglichst schlecht zu reden. Jedes Wort scheint schon darauf ausgerichtet zu sein, möglichst viele Punkte zu sammeln für die nächsten Wahlen. Von einem ernsthaften Bemühen, miteinander und nicht gegeneinander Probleme zu lösen, sind solche Debatten meist meilenweit entfernt. Machtgier und Idealismus – zwei Dinge, die sich gegenseitig auszuschliessen scheinen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz oder der schweizerische Bundesparlamentarier Fabian Molina – das sind nur drei Beispiele von Politikern, die in ihrer Jugendzeit alle einmal glühende Verfechter einer Überwindung der herrschenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gewesen waren. Darauf angesprochen, wollen sie heute, selber im Zentrum der Macht angekommen, nichts mehr davon wissen. Ganz so wie die deutschen Grünen, die sich unlängst noch als Antikriegspartei verstanden haben und nun an vorderster Front mit Waffenlieferungen an die Ukraine diesen Krieg zusätzlich befeuern. So bleiben genau jene Ideen und Visionen, die angesichts der heutigen Weltprobleme dringender nötig wären denn ja, auf der Strecke, geopfert einem Machtsystem, in dem die Politik kaum mehr ein Gegengewicht zu jenen Finanz- und Wirtschaftsmächten bildet, welche unsere Welt buchstäblich an die Wand zu fahren drohen, sondern selber zu einem Machtsystem im grossen Machtsystem geworden ist und eine grundlegende Erneuerung wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Denkens in weite Ferne gerückt ist. So gesehen handelt es sich bei unserer sogenannten “Demokratie” in Tat und Wahrheit um eine Scheindemokratie, denn keine einzige all jener Parteien, die heute in irgendeinem europäischen Land an der Macht sind, stellt die Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftsmodells grundsätzlich in Frage. Was nichts anderes bedeutet, als dass die scheinbar unterschiedlichen politischen Parteien tatsächlich nichts anderes sind als einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Doch sollte uns nichts davon abhalten, daran zu glauben, dass die Intelligenz allem zum Trotz eines Tages stärker sein wird als die Macht der Mächtigen. Gerade in dunklen Zeiten sollte diese Hoffnung nicht verloren gehen. Denn, wie ein weiteres Zitat von Platon sagt: “Besonders nachts ist es schön, ans Licht zu glauben.”

Die Welt profitiere von der Globalisierung – Doch welche Welt? Und welche Globalisierung?

 

“Es gab schon immer Leute, die das Aus der Globalisierung voraussagten”, meint ABB-Konzernchef Björn Rosengren im Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 28. Juli 2022, “aber ich glaube das nicht. Die Weltwirtschaft wird globalisiert bleiben, davon bin ich fest überzeugt, weil die Welt davon profitiert.” Wie oft habe ich das schon gehört: Die Welt profitiere von der Globalisierung, sie fördere den allgemeinen Wohlstand und den Fortschritt der Menschheit, jegliche Alternative dazu wäre zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Aussage, die “Welt” profitiere von der “Globalisierung”, ist indessen etwas so Ungeheuerliches, Anmassendes und offenbart sich in ihrer immensen Widersprüchlichkeit sogleich, wenn wir die Begriffe “Globalisierung” und “Welt” auch nur schon ein ganz klein wenig kritisch hinterfragen. Zunächst der Begriff “Globalisierung”: Er suggeriert ein Wirtschaftsmodell, das über alle Grenzen hinweg auf weltweiter Kooperation beruht. Was soll daran schlecht sein? Tatsache aber ist, dass sich im Laufe der Jahrhunderte, und in einem nie dagewesenen Schub vor allem in den vergangenen 30 Jahren, nicht “irgendetwas” globalisiert hat, sondern nichts anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nicht so sehr auf gleichberechtigter Zusammenarbeit beruht, sondern auf grösstmöglicher Gewinnmaximierung durch grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur, wodurch die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur weltweit, sondern auch in jedem einzelnen Land stets vergrössert wird und die natürlichen Ressourcen in einer Art und Weise übernutzt werden, dass ein Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren je länger je mehr in Frage gestellt zu werden droht. Ehrlicherweise müsste man also nicht von “Globalisierung” sprechen, sondern von einem Siegeszug des Kapitalismus – ganz im Sinne des US-Ökonomen Francis Fukuyama, der 1991, anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion, von einem endgültigen Sieg des Kapitalismus über alle ihn konkurrenzierenden Gegenmodelle gesprochen hatte und damit von nichts weniger als dem “Ende der Geschichte”. Und damit sind wir beim zweiten Begriff, der uns in die Irre führen will: die “Welt”. Woraus besteht die “Welt”, von welcher der ABB-Chef sagt, sie profitiere vom gegenwärtigen weltweit agierenden Wirtschaftssystem der “Globalisierung”? Ehrlicherweise müsste er von seiner Welt sprechen. Ja, er als Chef eines erfolgreichen Schweizer Industriekonzerns, kann gut reden. Wahrscheinlich lebt er mit seiner Familie nicht in einer winzigen Mietwohnung, wahrscheinlich fährt er nicht das billigste Auto, trägt nicht die billigsten Kleider, diniert nicht in den billigsten Kneipen und ist während seinen Ferien wohl kaum in einem billigen Hotelzimmer an einer lärmigen, dichtbefahrenen Strasse anzutreffen. Es gibt sie nicht, die “Welt”. Für jeden Menschen sieht die “Welt” gänzlich anders aus. Für den Chef eines grossen Industriekonzerns sieht sie gänzlich anders aus als für seine Angestellten und noch einmal gänzlich anders für die Minenarbeiter irgendwo im fernen Afrika, welche all die Rohstoffe zu Tage fördern, ohne welche auch der erfolgreichste Industriekonzern in Deutschland oder in der Schweiz keinen einzigen Tag lang seine Produktion aufrechterhalten könnte. Für den philippinischen Grossinvestor, der reiche Finanzspekulanten aus aller Welt an Land zieht, sieht die “Welt” gänzlich anders aus als für die philippinischen Hausmädchen, die in saudiarabischen Haushalten reicher Eliten wie Sklavinnen gehalten werden, den Launen ihrer Herrinnen und Herren 24 Stunden pro Tag schutzlos ausgeliefert sind und nach getaner Arbeit zu Tode erschöpft zum Dank noch auf bestialische Weise verprügelt oder missbraucht werden. Die “Welt” sieht gänzlich anders aus, ob man als ägyptischer oder libanesischer Milliardär in der Schweiz willkommen geheissen wird und gleichsam auf dem Silbertablett eine Villa am Genfersee serviert bekommt, oder ob man, als syrischer oder afghanischer Flüchtling, an der Grenze zu Polen von schwerbewaffneten Grenzpatrouillen in die bitterkalte Nacht hinausgeprügelt wird, voller schmerzhafter Wunden, ohne medizinische Hilfe und ohne jegliche Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. Auch sieht die “Welt” wohl gänzlich anders aus, je nachdem ob man in einem der reicheren Länder des Nordens sich den Luxus leisten kann, abends in einem feinen Restaurant zu essen, oder ob man eine afghanische oder jemenitische Mutter ist, die mit ansehen muss, wie eines um das andere ihrer Kinder qualvoll stirbt, weil es nicht genug zu essen hat. Und nicht zuletzt sieht die Welt auch ganz anders aus, wenn man sie, mit dem Sektglas in der Hand, auf einer Flugreise in den Süden durch das Fensterglas von oben betrachtet, oder ob man eines jener Millionen heute und morgen geborener Kinder ist, das auf diesem Planeten vielleicht keine Zukunft mehr hat. Ja, die “Welt” ist nicht die Welt. Oder, anders gesagt: So gänzlich anders, ja gegenteilig, sieht die Welt aus, je nachdem, ob man sie von “oben” erlebt”, aus der Warte der Mächtigen, Reichen, Privilegierten, Besitzenden, – oder von “unten”, aus der Sicht der Ohnmächtigen, der Armen, der Geknechteten, der Ausgebeuteten, der Opfer von Krieg, Verfolgung und politischer Unterdrückung. Damit fällt die Behauptung Björn Rosengrens, wonach die “Welt” von der Globalisierung profitiere, wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Richtig müsste es heissen: “Eine privilegierte und reiche Minderheit profitiert von der Globalisierung bzw. vom Kapitalismus.” Für alle anderen ist die “Welt” mehr oder weniger ein Armenhaus und für nicht wenige schlicht und einfach die Hölle. Und dass dies auch weiterhin so bleibt, dafür haben die Reichen reichlich vorgesorgt. Selbst in “demokratischen” und ganz besonders freilich in autokratisch regierten Staaten wird die Staatsmacht meistens durch Eliten verkörpert, man findet weltweit kein einziges Land, wo Angehörige der Arbeiterschaft und der Unterprivilegierten, auch wenn diese eine Bevölkerungsmehrheit bilden, in den Parlamenten auch nur annährend repräsentativ vertreten wären. Auch die Medien befinden sich weltweit zum allergrössten Teil im Besitz der Reichen und Mächtigen. Auch die Universitäten predigen unisono das Einmaleins des Kapitalismus, antikapitalistische Denkansätze sucht man in aller Regel vergebens. Und auch die Justiz befindet sich in der Hand der Reichen und Mächtigen und verfolgt in aller Härte Taschendiebe und gewalttätig gewordene Übeltäter, während wohl noch nie ein Politiker oder ein Wirtschaftsboss verurteilt worden ist, weil er wirtschaftliche Machtpolitik betreibt, welche das Leben unzähliger Menschen gefährdet. Doch es sind nicht nur die Regierungen, die Medien, die Universitäten und die Justiz. Der Kapitalismus hat sich auch bis in unsere Köpfe und unser Denken hineingefressen und die Lüge zur vermeintlichen Wahrheit gemacht, wonach jeder, der in diesem System erfolglos, arm und ausgebeutet bleibt, selber daran Schuld sei, denn er hätte sich eben ganz einfach zu wenig angestrengt. Diese Lüge ist gleich doppelt heimtückisch: Erstens, indem sie das Scheitern und den Misserfolg des Einzelnen individualisiert und das Opfer sozusagen zum Täter macht. Zweitens, indem sie die Menschen immer weiter dazu antreibt, in einem immer härter werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf ihre letzten Kräfte zu verausgaben. Der Kapitalismus kann deshalb nur überwunden werden, wenn wir ihn in unseren Köpfen überwinden und all die Lügen, in welche wir seit 500 Jahren verstrickt worden sind, schonungslos aufdecken. “Der Kapitalismus”, sagte der französische Philosoph Lucien Sève, “wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.” 

Afghanistan: eine der schlimmsten Hungerkatastrophen aller Zeiten – doch die humanitäre Hilfe bleibt aus!

 

Bilder, die man nicht so leicht vergessen kann: Weinende Kinder, verzweifelte Mütter. Afghanistan im Juli 2022. Im Bericht von SRF am 27. Juli 2022 ist die Rede von einer der verheerendsten Hungersnöte, die das Land je erleiden musste. Immer mehr Eltern sehen sich gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen, so auch die zehnjährige Amina, deren zukünftiger Mann 20 Jahre älter ist als sie. “Was soll ich tun?”, klagt Aminas Mutter, “wenn ich meine Kinder nicht verkaufe, müssen sie verhungern.” Viele Menschen haben sich zudem verschuldet und brauchen das Geld, um ihre Schulden abzuzahlen. Auch die fünfjährige Sabera wird weggeben, ihre Familie muss gerade mal mit 50 Rappen pro Tag zurechtkommen. Und auch für Saberas Mutter ist klar: Wenn sie das Kind nicht verkaufen kann, muss es verhungern. Immer mehr Familien in den ärmlichen Bergdörfern Afghanistans, wo ein grosser Teil der Bevölkerung in notdürftig gebauten Zelten haust, leiden unter dem gleichen Schicksal: Innerhalb von einem Jahr hat sich der Verkauf kleiner Mädchen verdoppelt. Als die Fernsehreporterin der zehnjährigen Amina die Frage stellt, wann sie ihre Eltern verlassen werde, bricht das Kind in heftiges Schluchzen aus, die ganze himmelschreiende Traurigkeit und Verzweiflung eines zehnjährigen Mädchens, das, wäre es nicht in Afghanistan, sondern hier in der Schweiz geboren worden, nun wohlbehütet aufwachsen, zur Schule gehen und mit anderen Kindern spielen könnte. Und dann wird mitten in die Sendung dieser Satz eingeblendet, der in mir nichts weniger als eine unbeschreibliche Wut auslöst: DIE HUMANITÄRE HILFE BLEIBT AUS. Wie bitte? Wo bleibt der vielgelobte Westen, der angebliche Garant für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte? 20 Jahre lang wurde Afghanistan von den USA und ihren Verbündeten mit Krieg überzogen, 850 Milliarden Dollar liess man sich Tod und Verwüstung kosten. Und jetzt? Einfach nichts? Einfach Funkstille? “Jede Kanone, die gebaut wird”, sagte Dwight D. Eisenhower, “jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.” Selten fand ich dieses Zitat eines kritischen Geistes, der immerhin als General und später als US-Präsident amtierte, so aktuell wie im Anblick dieses so bitterlich schluchzenden zehnjährigen afghanischen Mädchens. Ja, die buchstäblich verpulverte Hoffnung der Kinder. Hätten die USA jene 850 Milliarden Dollar nicht in Panzer, Raketen und Kampfflugzeuge investiert, sondern in den zivilen Aufbau des Landes, dann hätte genau diese Summe genügt, um jeder afghanischen Familie, die heute mit einem durchschnittlichen Prokopfeinkommen von 410 Dollar über die Runden kommen muss, 20 Jahre lang ihre täglichen Einkünfte mehr als zu verdoppeln. Und keine Mutter, kein Vater wären heute gezwungen, das eigene Kind, um es vor dem Hungertod zu bewahren, an fremde Leute zu verschachern. Und dann haben wir noch nicht einmal von Jemen gesprochen, von Somalia, von der Zentralafrikanischen Republik, vom Tschad, von der Demokratischen Republik Kongo, von Madagaskar – Länder, wo Väter und Mütter nicht einmal die Möglichkeit haben, ihre Kinder durch Verkauf vor dem Hungertod zu retten, weil es schlicht und einfach gar niemanden gibt, der genug Geld hätte, um ein Kind zu kaufen. Derweil die weltweiten Rüstungsausgaben gemäss dem neuesten Bericht des Friedensforschungsinstituts SIPRI das siebente Jahr in Folge gestiegen sind und 2021 ein Rekordhoch von 2113 Milliarden Dollar erreicht haben. Wie viele Mädchen müssen noch so bitterlich weinen wie die zehnjährige Amina oder die fünfjährige Sabera aus Afghanistan, bis endlich all die Energie, all die Kraft, all das Potenzial, all die Phantasie, all der Erfindergeist, all das Prestige und all das Geld, das heute in Tod, Verwüstung und Zerstörung investiert werden, dem Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt zugeführt werden, in der nie mehr eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind hergeben muss, bloss um es vor dem Hungertod zu bewahren?  

Dreadlocks und farbige Gewänder als “kulturelle Aneignung” – und was ist mit der ökonomischen Aneignung?

 

Am 18. Juli, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 27. Juli 2022, bricht die Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Band Lauwarm ab. Der Grund: Reklamationen aus dem Publikum, wonach es sich bei den Frisuren einzelner Bandmitglieder – Dreadlocks -, den Kleidern – farbige Gewänder aus Gambia und Senegal – sowie der Musik – Reggae bis Indie World – um “kulturelle Aneignung” handle. Mit der gleichen Begründung wurde unlängst auch in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn, welche ebenfalls mit Dreadlocks an einem Konzert auftreten wollte, von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wieder ausgeladen. “Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung”, so der “Tagesanzeiger”, “wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägerinnen und Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet.” Sozusagen ein Raubbau also an fremdem Kulturgut, was in den Augen der Gegnerinnen und Gegner einer kulturellen Aneignung verwerflich sei. Mit dieser Argumentation kann Dominik Plumettaz, Leadsänger von Lauwarm, nichts anfangen: “Wenn wir etwas aus einer anderen Kultur nutzen”, so begründet er seinen Standpunkt, “ist das etwas, was uns weiterträgt und auch bereichernd ist.” Und auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Kolonialismus und Imperialismus an der ETH Zürich, kann dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in Form musikalischer Ausdrucksformen nichts abgewinnen: “Würde man kulturelle Aneignung verbieten, dann wäre keine populäre Musikform mehr spielbar, weder Jazz noch Blues, Rock, Tango oder Hip-Hop. Popmusik beruht stets auf der Vermischung von unterschiedlichen musikalischen Traditionen, Stilen und Instrumentarien. Nur so kann letztlich Neues entstehen.” Man könnte in der Diskussion rund um “kulturelle Aneignung” sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob solche Diskussionen um Frisuren, Modestile und dergleichen nicht von einem ungleich viel grösseren Problem ablenken, nämlich von dem, was man als “ökonomische Aneignung” bezeichnen könnte. Höchstwahrscheinlich tragen viele der Frauen und Männer, die das Konzert der Gruppe Lauwarm besuchten, Kleider, die weit fort, in Bangladesch, Südkorea oder anderswo gefertigt wurden und hierzulande nur deshalb so billig sind, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter tausende von Kilometern von uns entfernt vierzehn Stunden pro Tag schuften müssen und erst noch kaum etwas verdienen. Die meisten Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher werden zweifellos auch ein Handy besitzen, mit dem sie Bilder vom Konzert an ihre Liebsten schicken können – Handys, die ebenfalls fernab dank billiger Arbeitskräfte gefertigt worden sind und die ohne seltene Metalle, tief aus afrikanischer Erde geschürft, nicht eine Sekunde lang funktionieren würden. Und wie ist es mit dem Kaffee, der nach dem Konzert genossen wird, wie ist es mit den tropischen Früchten, die man am späteren Abend verzehren wird, wie ist es mit dem E-Bike oder dem Automobil, mit dem man am nächsten Tag zur Arbeit fahren wird, wie ist es mit Sportgeräten, den Spielsachen und den Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum? In allem steckt billige Arbeit, Ausbeutung, “ökonomische Aneignung”. Und auch das ist längst noch nicht alles. Blenden wir um 500 Jahre zurück, dann sehen wir, dass der europäische Reichtum und damit das Fundament, auf dem der Kapitalismus und unser heutiger Wohlstand beruhen, nur möglich wurde durch millionenfache Sklavenarbeit auf den Feldern, den Plantagen und in den Minen Amerikas und durch die gnadenlose Ausbeutung Afrikas auf der unersättlichen Suche nach all jenen Rohstoffen, Bodenschätzen und Früchten, die sich nach und nach in die Goldberge und die unermesslichen Besitztümer des Nordens verwandelt haben bis zum heutigen Tag. Wer sich über “kulturelle Aneignung” empört, müsste sich über die “ökonomische Aneignung” um ein Vielfaches mehr empören, denn diese ist zwar viel weniger sichtbar, dafür aber viel umfassender, alles durchdringend. Die Brasserie Lorraine, wo das Konzert mit der Gruppe Lauwarm abgesagt wurde, plant nun eine Diskussionsrunde zum Thema. Das ist löblich. Noch löblicher wäre es, man würde eine solche Diskussionsrunde ausweiten und nicht nur von kultureller Aneignung sprechen, sondern auch von der ökonomischen bis hin zu den Grundlagen und Zusammenhängen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Solange aber sollen Musikerinnen und Musiker mit Frisuren und in Gewändern auftreten dürfen, so bunt, vielfältig und verwirrend sie auch sein mögen. Das Letzte, was wir brauchen, ist so etwas wie eine Sittenpolizei, das Beste, was wir brauchen, ist eine gründliche, systematische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, in die wir alle, ob wir wollen oder nicht und ganz unabhängig davon, wie wir uns kleiden und frisieren, verstrickt sind und die wir daher auch nur alle gemeinsam überwinden können.

Mit dem Blick in die Vergangenheit versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft

 

Nicht nur die Ukraine und Russland führen gegeneinander Krieg. Krieg, wenn auch nur mit Worten, herrscht auch zwischen all denen, welche Wladimir Putin bzw. Russland als Hauptschuldige betrachten, und denen, welche die Schuld an der kriegerischen Auseinandersetzung in erster Linie beim US-Imperialismus und der NATO-Osterweiterung sehen, von der sich Russland existenziell bedroht gefühlt hätte. Eine einzige, alleinige “Wahrheit” scheint es nicht zu geben, für jedes Argument wird eine Fülle von Gegenargumenten aus dem Hut gezaubert. Tatsache ist: Je nachdem, wie weit wir in die Vergangenheit zurückblicken, sieht das Ganze wieder anders aus. Blenden wir ins Jahr 1991 zurück, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, als führende westliche Politiker Russland gegenüber das Versprechen abgaben, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, dann müssten wir in Anbetracht der späteren Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands dem Westen eine wesentliche Mitschuld, wenn nicht Hauptschuld an der heutigen Situation anlasten. Betrachten wir dagegen nur die Zeitspanne zwischen Februar 2022 und heute, dann kommen wir wohl nicht umhin, Russland den völkerrechtswidrigen Einmarsch in ein souveränes Nachbarland zum Vorwurf zu machen. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Der Blick in die Vergangenheit ist alles andere als hilfreich, um diesen Konflikt zu lösen. Das Einzige, was etwas bringt, ist der Blick in die Zukunft. Nicht die Frage, wer woran Schuld gewesen ist und wie alles angefangen hat, bringt uns weiter. Weiter bringt uns nur die Frage, wie jene Zukunft aussehen könnte, in der die Bewohnerinnen und Bewohner dieser heute so verheerend und zerstörerisch umkämpften Gebiete friedlich und in Eintracht miteinander leben könnten und zwischen der Ukraine und Russland eine friedliche, auf Kooperation beruhende Partnerschaft entstehen könnte, in welche auch die europäischen Staaten konstruktiv eingebunden wären. “Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr will ich leben.” Verharren wir zur sehr beim Blick in die Vergangenheit, dann versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft, in das, was hinter der heutigen Realität als Utopie liegen könnte. “Eine
Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen
Blick”, sagte der irische Schriftsteller Oscar Wilde, “denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.
Und wenn die Menschheit dort angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren
Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von
Utopien.” Vieles deutet darauf hin, dass wir uns in einer Art “Zeitenwende” befinden. Die gegenwärtigen Probleme und Bedrohungen von weltweit kriegerischen Auseinandersetzungen bis hin zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs, von Armut, Hunger und sozialer Ungleichheit bis zum Klimawandel mit seinen unabsehbaren zerstörerischen Folgen für nachfolgende Generationen, alle die Probleme und Bedrohungen scheinen uns immer mehr über den Kopf hinauszuwachsen und es wird immer deutlicher, dass die bisherigen Lösungsversuche je länger je weniger genügen, um dies alles in den Griff zu bekommen. Oder, wie es Albert Einstein sagte: “Probleme lassen sich niemals durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Der Blick in die Vergangenheit hat endgültig ausgedient, es braucht den Blick in die Zukunft. Mehr denn je brauchen wir die Kraft der Vision, der Utopie, dieses fernen Landes, hinter dem stets wieder ein noch besseres, noch schöneres Land verborgen liegt, ein Land, in dem Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein gutes Leben für alle nicht mehr bloss schöne Worte sind, sondern Wirklichkeit. “Konzentriere nicht alleine deine ganze Kraft auf den Bekämpfen des Alten”, sagte schon der griechische Philosoph Sokrates, “sondern darauf, das Neue zu formen.” Und auch Albert Einstein sagte: 
„Was für eine Welt könnten
wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau
einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären
hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu
verhelfen.“ Wie tragisch, dass ausgerechnet in einer Zeit, da Visionen und positive Zukunftsvorstellungen wichtiger wären denn je, diese in der grossen öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielen oder oft sogar als “naiv” und “gutgläubig” ins Lächerliche gezogen werden. Kein Wunder, sehen wir an der Stelle hoffnungsvollen Zukunftsglaubens bei viel zu vielen Menschen Resignation, Verzweiflung, Rückzug aus allem, was mit Politik und Zukunftsarbeit zu tun hat. Doch in uns allen, die heute so oft einsam und verzweifelt sind, steckt, da bin ich mir ganz sicher, allem zum Trotz die unendliche Sehnsucht nach einer Welt, in der alles ganz anders ist. Vielleicht ist alles noch ein bisschen zu früh, aber irgendwann wird es kommen. 
“Wir
malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft
von der wir träumen, “so die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, “das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir
wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie
kommen.” Und wer erinnert sich an dieser Stelle nicht auch an das unvergessliche Zitat des brasilianischen Erzbischofs 
Dom Hélder Câmara: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein
Traum; wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ 

Die Behauptung, es gäbe nicht genug Geld, um Armut und Elend zu beseitigen, ist eine Lüge…

 

“Die Preise für Essen, Energie und andere lebensnotwendige Güter”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 17. Juli 2022, “steigen überall schmerzhaft an.” Und die Global Crisis Response Group der UNO spricht von einer “weltweiten Lebenskostenkrise”. Mit anderen Worten: Das Problem von Hunger und Armut in weiten Teilen des globalen Südens liegt nicht vor allem darin, dass zu wenige Güter für den täglichen Bedarf vorhanden wären, sondern dass zu viele Menschen nicht genug Geld haben, um sie kaufen zu können. Das ist ein himmelschreiendes Versagen des so genannten “Freien Marktes”, in dem angeblich Angebot und Nachfrage zum Wohle aller in einem permanenten Gleichgewicht stünden. Tatsächlich aber fliessen die Güter im “Freien Markt” nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie tatsächlich kaufen zu können. Dies führt zu dem eklatanten Ungleichgewicht, dass weltweit über 800 Millionen Menschen hungern, während in den reichen Ländern des Nordens zwei Fünftel der Lebensmittel ungebraucht im Müll landen. 

Das Versagen des “Freien Marktes” stellen wir aber nicht nur beim Vergleich zwischen reicheren und ärmeren Ländern fest, sondern auch innerhalb jedes einzelnen Landes. So gibt es wohl auch in den allerärmsten Ländern Luxusrestaurants für Reiche, Golfplätze und Fünfsternehotels für ausländische Touristinnen und Touristen und wohl nur selten ist bis heute in einem dieser Länder ein Mitglied der Regierung an Armut oder Hunger gestorben. Und während auch in diesen Ländern die Reichen und Privilegierten in Luxusvillen wohnen, lebt ein grosser Teil der armen Bevölkerung auf der Strasse oder in notdürftig zusammengebauten Wellblechhütten, dem Hunger, dem Elend und der Gewalt preisgegeben. Selbst wenn Eltern ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen und sie auf eine Schule schicken möchten, so ist ihnen auch das viel zu oft verwehrt, weil sie beispielsweise die Kosten für die Schulbücher oder die Schuluniform nicht aufbringen können. Nicht anders in den reichen Ländern. Selbst in einem so vermögenden Land wie der Schweiz gäbe es zwar auf dem Wohnungsmarkt ein genügend grosses Angebot, aber viele Wohnungen sind so teuer, dass ausgerechnet jene Familien, die am dringendsten darauf angewiesen wären, sich eine solche schlicht und einfach gar nicht leisten können. Insgesamt gibt es auch eine genügende Anzahl an Zahnärztinnen und Zahnärzten, aber ein grosser Teil der Bevölkerung muss auch bei gefährlichen Komplikationen und oft unerträglichen Schmerzen aus finanziellen Gründen auf eine Behandlung verzichten. Auch kulturelle Angebote wie Theater, Konzerte oder Ausstellungen, von denen es in der Schweiz eine grosse Vielzahl gibt, sind ausschliesslich denen vorbehalten, die hierfür über ein genug dickes Portemonnaie verfügen.

 “Jede und jeder”, so Artikel 25 der UNO-Menschenrechte, “hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Invalidität.” Und im Artikel 26 heisst es: “Jede und jeder hat das Recht auf Bildung.” Schliesslich Artikel 27: “Jede und jeder hat das Recht, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.” Begeht der Kapitalismus, aus dieser Sicht betrachtet, nicht eine tagtägliche millionenfache Verletzung von Menschenrechten? Mit welchem Recht stellen westlich-kapitalistische Politikerinnen und Politiker andere Gesellschaftssysteme an den Pranger, wenn sie selber so gravierend elementarste Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger missachten? Wären der Kapitalismus und der “Freie Markt” eine menschenfreundliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, dann müsste alles, aber auch alles unternommen werden, um die Grundbedürfnisse aller Menschen so, wie sie die UNO festgehalten hat, zu erfüllen, bevor man auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden könnte, Kreuzfahrtschiffe, Luxushotels, Überschallflugzeuge, Mondraketen oder Atombomben zu bauen. 

Wenn das Geld, das heute noch so unsäglich ungerecht verteilt ist, nicht mehr dazu dienen würde, denen, die es besitzen, zu Privilegien und Macht über andere zu verhelfen, sondern dazu, alles gerecht zu verteilen und auch nicht einen einzigen Menschen von den elementarsten Ansprüchen auf seine Bedürfnisse und Rechte auszuschliessen, dann hätten wir wohl in kürzester Zeit eine Welt, wo niemand mehr hungern müsste, niemand mehr auf der Strasse oder in einer Wellblechhütte leben müsste, niemand mehr auf eine lebensnotwendige Operation verzichten müsste, niemand mehr von kulturellen Anlässen ausgeschlossen wäre, niemand mehr unter Gewalt, Ausbeutung und Krieg leiden müsste. Denn alles Geld, das nicht zum Aufbau einer gerechten Welt verwendet wird, sondern für unnötigen Luxus und für Mittel der Zerstörung und der Vernichtung von Leben, ist verlorenes Geld. “Die Behauptung”, so der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, “es gäbe nicht genug Geld, um das Elend in der Welt zu beseitigen, ist eine Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es besitzen nur die falschen Leute.”

Von der Illusion, technische Probleme könnten allein durch technische Massnahmen gelöst werden…

 

“Im Süden Frankreichs”, so berichtet die “NZZ am Sonntag” vom 17. Juli 2022, “entsteht gegenwärtig der experimentelle Fusionsreaktor Iter.” Das Prinzip: Mittels Laserstrahlen werden die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium verdichtet und auf 100 Millionen Grad Celsius erhitzt, damit sie ihre Abstossung überwinden und verschmelzen. Doch es gibt nur langsame Fortschritte, erste Experimente mit der neuen Technologie zeigen, dass die Entwicklung voraussichtlich noch drei Jahrzehnte in Anspruch nehmen und Milliarden verschlingen wird. “Zwar ist es mittlerweile”, so die “NZZ am Sonntag”, “im Experiment gelungen, Kernfusionsreaktionen zu starten, doch die frei werdende Energie betrug nur einen Bruchteil dessen, was für den Betrieb des Reaktors aufgewendet wurde.” Ein weiteres Beispiel für die gigantische Illusion, technische Probleme – in diesem Falle Energie- und Stromknappheit – könnten durch technische Massnahmen – in diesem Falle eine neue Generation von Kernreaktoren – dauerhaft gelöst werden. Die gleiche Illusion lässt uns hoffen, der Umstieg von Benzinautos auf Elektromobile wäre ein wirksamer Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel – wohlweislich ausser Acht lassend, dass der hierfür benötigte Strombedarf alle derzeit zur Verfügung stehenden Quellen um ein Vielfaches übersteigen würde, ganz abgesehen von den seltenen Metallen und allen weiteren Rohstoffen, die für die Herstellung der Fahrzeuge und der Batterien erforderlich sind. Die gleiche Illusion lässt uns ebenfalls hoffen, neu entwickelte Wasserstoffflugzeuge wären die Lösung aller Probleme und würden es zukünftigen Touristinnen und Touristen möglich machen, wieder ohne schlechtes Gewissen durch die ganze Welt zu fliegen – doch niemand rechnet aus, wie viel Strom benötigt würde, um den Wasserstoff aufzubereiten, und wie viel Energie und Rohstoffe aufgewendet werden müssen, um die Werkhallen der neuen Flugzeuge aufzubauen. Es ist die gleiche Illusion, die uns glauben machen will, man könnte Maschinen konstruieren, welche CO2 aus der Luft absaugen und in den Erdboden versenken könnten – ohne zu bedenken, dass der Aufwand für den Bau solcher Anlagen immens wäre und dennoch nur eine verschwindend kleine Menge CO2 auf diese Weise unschädlich gemacht werden könnte. Es ist die gleiche Illusion, mit der neuerdings auch das Problem des immer dichteren Strassenverkehrs angepackt werden soll, indem noch mehr Autobahnen gebaut und Kreisel durch “intelligente” Signalanlagen ersetzt werden sollen – als würde nicht jeder neu gebaute Quadratmeter Strasse nur noch zusätzlichen Verkehr nach sich ziehen und als wären all die Materialien, all die Arbeit, all die Energie, all die Rohstoffe für den Umbau und den Ausbau von Strassen unerschöpflich zur Verfügung. Es ist die gleiche Illusion, mit der vorgegaukelt wird, es wäre ein wirkungsvolles Mittel gegen Energieverschwendung, wenn man ältere durch modernere Haushaltsgeräte, Computer oder Smartphones ersetzen würde – ohne daran zu denken, was mit all den nicht mehr benötigten Geräten geschieht und wie viele Rohstoffe und wie viel Energie gebraucht werden, um die “energiesparsameren” Geräte herzustellen. Und so weiter bis hin zur Illusion, die Menschheit könnte sich dereinst, wenn Leben auf der Erde nicht mehr möglich wäre, mittels Weltraumraketen auf den Planeten Mars absetzen, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Nein. Technische Probleme lassen sich nicht mit technischen Massnahmen lösen, sie werden dadurch nur noch schlimmer. Der ökologische Fussabdruck der Schweiz beträgt drei Erden, mit anderen Worten: Wir verbrauchen drei Mal mehr Ressourcen, Rohstoffe und Energie, als uns die Erde im gleichen Zeitraum wieder zur Verfügung stellt. Wir werden, früher oder später, durch Einsicht oder gezwungenermassen, nicht darum herumkommen, unseren Lebensstil und unsere Lebensgewohnheiten der Erde anzupassen. “Die Welt”, sagte Mahatma Gandhi, “hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.” Wir können aus der Zitrone nicht mehr herauspressen, als drin ist. Oder, wie es ein chinesisches Sprichwort sagt: “Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.” Der nächste Quantensprung, der unausweichlich auf uns zukommt, ist nicht der Quantensprung zu neuen Kernkraftwerken, nachdem sich schon die bisherigen mit der ganzen Problematik der Endlager für die radioaktiven Abfälle als bombastischer Fehlschlag erwiesen haben. Der nächste Quantensprung ist auch nicht das Elektromobil und schon gar nicht eine neue Zivilisation auf dem Mars. Der nächste Quantensprung ist die Besinnung auf das Wesentliche, auf eine Lebensweise, die im Einklang steht mit den Bedürfnissen der Natur und mit den Bedürfnissen zukünftiger Generationen. Der nächste Quantensprung ist die Überwindung des Kapitalismus und der selbstzerstörerischen Wahnidee, Wirtschaft und Technik müssten unaufhörlich wachsen, um nicht unterzugehen. Der nächste Quantensprung ist kein technischer, sondern ein geistiger, ein philosophischer, ein zutiefst kreativer im besten Sinne, wozu Menschen fähig sind. Denn man kann Probleme, wie schon Albert Einstein sagte, “nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”

Beizensterben – nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag

 

Jetzt hat auch noch die letzte Beiz in unserem Dorf dichtgemacht. Es sei einfach nicht mehr gegangen, klagte der Wirt: zu wenig Personal während der Stosszeiten, zu viel Personal während der übrigen Zeiten, zu hohe Miete, zu hohe Betriebskosten, und als er notgedrungen die Preise hätte erhöhen müssen, seien ihm die Gäste immer öfters ferngeblieben. Jetzt hat unser Dorf von immerhin über 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern kein einziges Restaurant mehr, keine einzige Beiz. Nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag, anders kann man es nicht sagen. Denn Restaurants und Beizen sind mehr als Orte, wo man etwas essen und trinken kann. Sie sind Begegnungsorte, Wohlfühloasen, ja so etwas wie Kulturzentren – fast die einzigen Schauplätze öffentlichen Lebens in einer kleinen Kommune, wo sonst nicht allzu viel los ist. Doch, und das ist das Übel, Restaurants und Beizen können fast nicht rentieren, zu gross ist die Diskrepanz zwischen den Betriebs- und Personalkosten auf der einen Seite, den Einnahmen auf der anderen. Rentieren können höchstens Restaurants, die sich voll und ganz auf ein Luxusangebot konzentrieren und wo genug gut betuchte Gäste bereit sind, für fingerhutgrosse Miniportionen, klitzekleine Salate und edle Weine noch so hohe Summen hinzublättern – und das ist dann genau das Gegenteil jenes Lokals, das angemessene Preise und gutes Essen auch für weniger gut Verdienende anzubieten vermag, Orte, wo sich Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten treffen und wo niemand ausgegrenzt wird, nur weil er weniger Geld in der Tasche hat als ein anderer. Die Lösung? Nun, ich sehe keinen anderen Ausweg als eine Subventionierung von Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand. Wir subventionieren ja auch die Schulen, die Museen, die Kirchen, die Bibliotheken, die Konzert- und Theaterhäuser, die Galerien. Restaurants und Beizen haben mindestens eine so wichtige soziale und kulturelle Funktion wie eine Bibliothek oder eine Kirche. Wer das nicht glaubt, soll sich mal in meinem Dorf umsehen. Seitdem auch noch die letzte Beiz dichtgemacht hat, scheint das Dorf wie ausgestorben zu sein, fast könnte man sagen, es fehle ihm die Seele. Denn Beizen und Restaurants sind auch Orte, wo man nach einem strengen Arbeitstag seine Kräfte wieder auftanken und sich etwas Feines gönnen kann, wo Freundschaften geschlossen oder vertieft werden, wo gelacht, gescherzt und geplaudert wird oder wo Geschäftsleute beim Arbeitslunch wichtige Angelegenheiten besprechen, Verträge abschliessen, sich von anderen inspirieren lassen – kurz: Das Restaurant und die Beiz haben eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und wirken sich auch positiv auf viele andere Arbeits- und Lebensbereiche aus. Doch von diesem Mehrwert, den sie schaffen, sehen sie selber keinen einzigen Rappen – höchstens das Trinkgeld, das der Kellnerin am Ende der Mahlzeit “grosszügigerweise” gegeben wird. Und es sind ja nicht nur die Restaurants und Beizen in den Dörfern und Städten. Es sind auch die Gaststätten hoch oben in den Bergen, wo die Diskrepanz zwischen den betriebswirtschaftlichen Aufwendungen und den zu erzielenden Einnahmen noch viel krasser ist: An einem schönen Wochenende wollen hundert Touristinnen und Touristen ihr Mittagessen möglichst gleichzeitig auf dem Tisch haben, das Personal in der Küche und im Service arbeitet bis zur Erschöpfung. Bei schlechtem Wetter bleiben die Gäste aus, das Personal muss trotzdem weiter entschädigt werden und eine Unmenge bereits eingekaufter, wertvollster Lebensmittel, die nun nicht gebraucht werden, landen im Müll. Und auch hier hat das Restaurant, obwohl es für die touristische Attraktivität einer Region unerlässlich ist, nicht den geringsten Anteil an jenen Profiten, mit denen sich andere eine goldene Nase verdienen. Zu alledem kommt der Konkurrenzkampf, dem die einzelnen Betriebe im Kampf um die Gunst der Gäste unterworfen sind. Öffnet ein neues Restaurant seine Pforten, stürzen sich die Menschen wie Fliegen darauf. Aber wehe, der Gast muss ein bisschen länger auf sein Essen warten, hat irgendetwas noch so Belangloses auszusetzen oder erscheint ihm die Rechnung überrissen – gleich wird er der neu eröffneten Gaststätte den Rücken kehren und sich im Internet auf die Suche nach einem “besseren” Angebot machen. Überhaupt, das Internet. Es befeuert die gegenseitige Konkurrenzierung zwischen den Gastronomiebetrieben um ein Vielfaches und leiht der gnadenlosen Jagd nach jenem Angebot, das sogleich das beste und billigste sein soll, unerbittlich Vorschub. Wer nicht rund um die Uhr 30 verschiedene Menus anbietet, kann gleich schon von Anfang an einpacken – und niemand fragt sich, was mit all den Lebensmitteln für jene Menus, die niemand bestellt, geschieht. Der Rentabilitätsdruck führt nicht zuletzt dazu, dass das Personal bis zum Gehtnichtmehr mit überlangen Arbeitszeiten und geringen Löhnen ausgepresst werden – ist es doch kein Zufall, dass die Löhne in der Gastronomie mit zu den tiefsten im Vergleich aller Branchen gehören. Logisch, wie sonst soll sich der Betrieb auch nur einigermassen über Wasser halten können. Was wiederum zur Folge hat, dass immer mehr in der Gastronomie Beschäftigte den Bettel hinschmeissen, sich einen leichteren und besser bezahlten Job suchen und die noch verbleibenden einem noch grösseren Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Aber auch die Wirte selber, ob sie nun Besitzer oder Pächter sind, stehen permanent unter Druck, müssen sich häufig verschulden und Existenzen, für die sie ein halbes Leben lang geschuftet haben, nicht selten von einem Tag auf den andern aufgeben. Eine Subventionierung der Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand gäbe allen einen festen Boden unter den Füssen, wäre eine faire Anerkennung des geleisteten gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Beitrags, würde den zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf beenden und liesse an vielen Orten weder jene Inseln purer Lebensfreude und Lebensqualität aus dem Boden spriessen, wo nicht nur die Gäste, sondern auch das Personal mit all seinen wunderbaren Begabungen des Kochens und der Gastfreundschaft voll und ganz auf ihre Rechnung kämen…

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu…

 

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu. Während gut verdienende Verwaltungsangestellte, Firmenchefs und IT-Spezialistinnen ihre Arbeit in vollklimatisierten Büros verrichten, sind Bauarbeiter, Landarbeiterinnen, Fassadenreiniger, Gärtnerinnen, Solarmonteure, Strassenarbeiter, Dachdeckerinnen und Geleisearbeiter, von denen die meisten mit eher kärglichen Löhnen Vorlieb nehmen müssen, schutzlos der knallenden Sonne ausgesetzt und dies, wie wenn das nicht schon genug wäre, bis zu neun oder gar zehn Stunden pro Tag, weil, wie die Arbeitgeberseite es begründet, der Termindruck geringere Arbeitszeiten nicht zulasse. Während auch der Koch im Speiserestaurant bei 50 Grad mit täglichen Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden rechnen muss, sitzen seine Gäste im schattigen Garten des Restaurants und geniessen das kühle Bier und die edlen Speisen. Und während gutverdienende Teilzeitangestellte es sich leisten können, schon um 17 Uhr das Büro zu verlassen, um sich ein erfrischendes Bad im städtischen Freibad zu genehmigen, haben die Arbeiter auf dem Bau zur gleichen Zeit immer noch zwei Stunden Schufterei vor sich, obwohl nicht nur die Hitze, sondern auch die Anstrengung der schweren körperlichen Arbeit tief in ihren Knochen steckt. Kapitalismus pur. Klassengesellschaft in Reinkultur. Was vorher schon krass war, erscheint jetzt, infolge der unbarmherzigen Hitze, in einem noch viel grelleren Licht. Da mag es wie ein schlechter Scherz klingen, wenn die Landesregierung, wie soeben in der Tagesschau berichtet wurde, im Hinblick auf den morgigen Rekordhitzetag mit zu erwartenden 37 Grad die Empfehlung herausgegeben hat, “sich vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen und Aktivitäten im Freien auf die Morgen- und Abendstunden zu verlegen.” Doch es ist nicht nur die Arbeit. Der Kapitalismus kennt keine Grenze. Er zieht sich durch alles hindurch, durch Arbeit und Freizeit, durch das öffentliche und das private Leben, durch alles, bis in den Schlaf. Der Hitze im Tal entfliehen durch eine Bergfahrt mit der Sesselbahn in die Höhe, wo es weniger heiss ist? Ins städtische Freibad gehen, die Kinder im Wasser planschen lassen? Einen Ausflug unternehmen zum idyllischen Caumasee in der Nähe des bündnerischen Flims? Oder gar Sommerferien in Norwegen oder Island, um der gröbsten Hitze zu entfliehen? Alles Fehlanzeige für mindestens eine Million von Menschen hierzulande, für die weder die Bergfahrt mit der Sesselbahn, noch der Eintritt ins städtische Freibad, noch das Baden im Caumasee und erst nicht die Ferienreise in den Norden bezahlbar sind. Alles, alles nur denen vorbehalten, die es bezahlen können. Und während sich Einfamilienhausbesitzer in ihrem Garten schattige Plätzchen einrichten und vielleicht sogar eine Dusche oder gar einen Swimmingpool aufstellen, müssen sich Abertausende Wenigverdienende in enge Mietwohnungen zwängen, wo sie vielleicht nicht einmal über einen Balkon verfügen, um in lauem Lüftchen ihr Abendessen zu geniessen. Noch krasser wird es, wenn wir über die Landesgrenze hinausschauen: In welcher Hitze wurden wohl die Trauben geerntet, aus denen der kühle Weisswein, denn wir so gerne als Aperitif geniessen, gemacht worden ist? Wie heiss war es wohl auf den Plantagen, wo all die tropischen Früchte geerntet worden sind, die uns in unserem angenehm klimatisierten Supermarkt angeboten werden? Und welche höllischen Temperaturen mussten wohl all die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Kongo über Brasilien bis nach Bangladesch ertragen, welche all die Rohstoffe und Bestandteile zu Tage gefördert haben, ohne die wir keine Kleider und keine Schuhe hätten und ohne die weder unsere Computer, noch unsere Autos und unsere Klimaanlagen auch nur einen einzigen Tag lang funktionieren würden? Und auch damit noch lange nicht genug. Denn der Klimawandel, welcher die weltweit zunehmenden Hitzewellen zur Folge hat, wird gerade nicht hauptsächlich von denen verursacht, welche am meisten unter ihnen leiden, sondern ausgerechnet von denen, die gegenüber anderen unzählige Privilegien geniessen: die reichen Länder des Nordens als Ganzes und innerhalb der reichen Länder wiederum vor allem die besonders Wohlhabenden, die mit ihrem überbordenden Lebensstil am meisten zur Klimaerwärmung beitragen und gleichzeitig alle möglichen Wege finden, um sich selber vor jeglichem Ungemach zu schützen. Eine Lösung innerhalb des kapitalistischen Systems ist daher kaum in Sicht und daher die Forderung der Klimabewegung nach einem “System Change”, nach einem von Grund auf anderen Wirtschaftssystem, aktueller denn je…