Archiv des Autors: Peter Sutter

Nach der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative: “SP zurück auf dem Boden der Realität” – auf dem Boden welcher Realität?

Mit der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative, so lese ich im “Tagblatt” vom 10. Juni, habe die SP „einen Wirkungstreffer kassiert“. Als „Wirkungstreffer“ bezeichnet man gemäss Wikipedia „insbesondere beim Boxen Schläge, deren Wirkung den Gegner körperlich und geistig sichtbar beeinträchtigen“. Ist es also den Gegnern der Prämienentlastungsinitiative bloss darum gegangen, der Linken eine vernichtende Niederlage zuzufügen? Fast scheint es so, wenn man jetzt überall die triumphierenden Kommentare der „Sieger“ vom vergangenen Wochenende sieht und hört.

Ein Sieg aber mit überaus bitterem Nachgeschmack. Denn „gesiegt“ haben vor allem all jene Gutverdienenden, für die eine Deckelung der Krankenkassenprämie auf zehn Prozent des Einkommens kaum einen Vorteil bringt, da sie sowieso einen viel kleineren Prozentsatz ihres Einkommens für die Prämie aufbringen müssen. Verloren haben dagegen all jene, die so wenig verdienen, dass sie bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie hinblättern müssen. Die Abstimmungsanalyse zeigt daher auch deutlich: Je höher das Einkommen, umso geringer die Zustimmung zur Initiative. So funktioniert eine „Demokratie“, die nicht auf Solidarität und Gemeinsinn gegründet ist, sondern auf purem Egoismus.

Einmal mehr ist die Rechnung jener, welche immer wieder Initiativen von grösster gesellschaftspolitischer Dringlichkeit mit allen Mitteln bodigen wollen, aufgegangen: Betrug die Zustimmung zur Initiative in den ersten Meinungsumfragen noch rund 60 Prozent, was ihre breite Akzeptanz bei der Bevölkerung bewies, so nahm sie darnach kontinuierlich ab, bloss weil von ihren Gegnern Angst geschürt wurde, man könnte die entstehenden Mehrkosten nicht bezahlen. Wenn man aber in Betracht zieht, dass diese Mehrkosten 18 Mal geringer gewesen wären als die Gesamtheit aller jährlichen, unversteuerten Erbschaften, dann wird deutlich, wie weit hergeholt diese Argumentation gewesen ist.

„SP zurück auf dem Boden der Realität“ – so lautet der Titel des erwähnten Artikels im W&O. Lieber wäre mir, die FDP und alle anderen, welche die Initiative erfolgreich gebodigt haben, würden endlich auf dem Boden der Realität ankommen. Auf jenem Boden der Realität nämlich, auf der sich, zusammen mit Abertausenden anderen, jene 20Jährige befindet, die mir just dieser Tage erzählte, sie könne sich nach ihrem schweren Autounfall die dringend nötige Rückenoperation nicht leisten, da sie, weil sie die Krankenkassenprämie nicht mehr hätte bezahlen können, auf eine schwarze Liste gesetzt worden sei und deshalb nur noch bei Notfallbehandlungen finanzielle Unterstützung bekomme. So wird sie wohl zeitlebens unter Schmerzen leiden und in ihrer beruflichen Tätigkeit stark eingeschränkt bleiben. Der „Wirkungstreffer“ hat voll ins Schwarze getroffen!

Sevim Dagdelen: Die NATO – eine Abrechnung mit dem Wertebündnis

75 Jahre nach ihrer Gründung scheint die NATO auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Eine blutige Spur sowie drei grosse Mythen ziehen sich durch die Geschichte des “Wertebündnisses” von seiner Gründung bis in die Gegenwart. Die NATO setzt auf Eskalation, vom Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine über soziale Verwerfungen durch exzessives Hochrüsten bis zur Einkreisung Chinas. Mit ihrer expansiven Geopolitik treibt die NATO die Welt näher an den Rand eines dritten Weltkriegs als jemals zuvor. Es ist Zeit für eine Abrechnung. ISBN 978-3-86489-467-1.

Gut und Böse

Blumen. Bäume. Regenwürmer. Kolibris. Kinder. Sterne. Wind. Regen. Wasser. Kunstwerke. Musik. Die Liebe. Alles Wahre ist weder gut noch böse, es ist einfach. Braucht es überhaupt die Kategorien von „gut“ und „böse“ und was bewirken sie?

Ukraine-“Friedenskonferenz” auf dem schweizerischen Bürgenstock: Die Tischordnung und das leibliche Wohl der Gäste als die wichtigsten Knackpunkte…

Der grösste Knackpunkt bei den Vorbereitungen zu der am 15. Juni beginnenden Ukraine-Friedenskonferenz auf dem schweizerischen Bürgenstock, so Protokollchef Terence Billeter, sei derzeit die Tischordnung beim gemeinsamen Abendessen der rund 70 Delegationen, so berichtete das “Tagblatt” am 3. Juni 2024. Man wisse nämlich wahrscheinlich bis zuletzt nicht genau, welchen Rang die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter der teilnehmenden Staaten bekleiden würden, und genau dies sei eben massgebend für die Tischordnung. Das Menu hingegen stehe mittlerweile fest. Man habe sich für ein saisongerechtes Essen mit lokalen Zutaten entschieden, mit einem “Swiss Touch”. Das Dinner, so Billeter, sei für die Atmosphäre einer Konferenz “extrem wichtig”, denn es bilde für die Staats- und Regierungschefs die einmalige Chance, einmal “unter sich” zu sein und sich “ungestört auszutauschen”. Die Stimmung sei dabei meistens “erstaunlich herzlich”. Und das sei wichtig. Denn wenn man sich über schlechtes Essen ärgern müsse, sei man “nicht fokussiert auf den Inhalt der Konferenz”. Deshalb habe er, Billeter, höchstpersönlich am Testessen teilgenommen, “eine der schönen Seiten des Jobs”, es sei “fein” gewesen. Auch hätte man bereits anlässlich eines Rundgangs mit den Botschafterinnen und Botschaftern der Teilnehmerstaaten durch die Konferenzräume und Hotelanlagen des Resorts sämtliche Spezialwünsche der Gäste entgegengenommen – welche das seien, könne Billeter allerdings aus “Sicherheitsgründen” nicht verraten. Nur eines könne er sagen: Auf keinen Fall dürfe es vorkommen, dass irgendwo eines der mitgebrachten Gepäckstücke verloren gehen würde, das würde die Stimmung zu stark beeinträchtigen.

Doch nicht nur um das Wohlbefinden der Gäste kümmert man sich akribisch, sondern auch um deren Sicherheit. US-Vizepräsidentin Kemala Harris, welche ihr Land an der Bürgenstockkonferenz vertreten wird, geniesst dabei ganz besondere Beachtung. Sie steht unter dem Schutz des Secret Service, dessen Agenten schon mehrere Tage vor dem Konferenzbeginn eine Delegation entsenden werden, um alles vorzubereiten. Unter anderem werden die Agenten Fluchtrouten und Zufluchtsgelegenheiten vorbereiten, die im Notfall zur Evakuation dienen. Das Essen für die amerikanische Aussenministerin wird eingeflogen, die Zubereitung weiterer Mahlzeiten, die nicht eingeflogen werden können, wird von amerikanischen Sicherheitsleuten überwacht werden, diese werden sie auch auftragen. Anreisen wird Kemala Harris in einer Spezialversion der Boeing 747, ausgerüstet mit speziellen Kommunikations- und Abwehrtechnologien. Sollte Harris mit Helikoptern in der Schweiz unterwegs sein, werden diese von einer Eliteeinheit der US-Marines eingeflogen. Dasselbe gilt für alle Motorfahrzeuge, welche die Vizepräsidentin transportieren. Dem Tross der Vizepräsidentin, welcher rund ein Dutzend Fahrzeuge zählt, fahren stets Pilotfahrzeuge und Motorräder lokaler Sicherheitskräfte voraus. Ihnen folgt eine Reihe von schwarzen SUVs mit Autonummern des “US Government”. Zwei der Autos sind jeweils identische schwarze Geländewagen des Typs Chevrolet Suburban mit dem Emblem der Vizepräsidentin, damit nicht klar ist, in welchem der zwei Wagen sie selbst sitzt. Zum Tross gehören auch Geländewagen mit Geheimdienstagenten der National Security Agency. Dieser führt eine Reihe von gesicherten Kommunikationskanälen und Störsendern, etwa für Handynetze, mit, um allfällige Versuche von Angriffen auf die Vizepräsidentin zu erkennen und zu verhindern. Auch ein bis zwei Ambulanzfahrzeuge fahren mit. Stets dabei ist auch ein Bus mit Journalisten, Fotografen und Kameraleuten, die über alle Amtshandlungen Bericht erstatten.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, viele von ihnen, ohne jemals eine Pause gehabt zu haben, fern ihrer Liebsten, schlecht ausgerüstet und insbesondere über die Wintermonate extrem tiefen Temperaturen beinahe schutzlos ausgeliefert, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt, während ihre Angehörigen Tag und Nacht zittern müssen, ob sie den geliebten Bruder, die geliebte Schwester oder den geliebten Sohn jemals wieder in die Arme schliessen können. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt, selbst nach der Amputation eines Körperteils. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet. Was für Gedanken würden ihnen allen wohl durch den Kopf gehen, wenn sie hören würden, dass der grösste Knackpunkt an einer internationalen Konferenz in der Schweiz, bei der es angeblich um Krieg und Frieden in der Ukraine gehe, die Tischordnung beim abendlichen Festessen sei? Man fühlt sich unwillkürlich an jene Zeiten erinnert, vor vielen hundert Jahren, als in sicherer Distanz zu den kämpfenden, niedergemetzelten und auf dem Schlachtfeld verblutenden Soldaten die prunkvoll beflaggten Zelte der Feldherren und ihrer Entourage aufgepflanzt waren, in denen auf mit schneeweissen Tüchern gedeckten Tischen die erlesensten Speisen angerichtet wurden, meist von ehemaligen Soldaten gekocht und serviert, die dermassen übel zugerichtet waren, dass man sie auf dem Schlachtfeld schlicht und einfach nicht mehr brauchen konnte. Nur dass sich die prassenden Herren und die verzweifelt um ihr Überleben Kämpfenden wenigstens noch einigermassen in Sichtweite befanden, während die nun schon bald auf dem Bürgenstock Tagenden auch nicht das Geringste vom Leiden, von den Schmerzen, von der Angst, von der Verzweiflung und von der Trauer der Überlebenden im Kriegsgebiet mitbekommen werden und auch nie Angst zu haben brauchen, jemals selber an die Front gehen zu müssen. Denn, wie Jean-Paul Sartre sagte: “Wenn die Reichen Krieg führen, dann sterben die Armen.”

Die zweifellos lächerlichste Rolle in dieser Tragödie spielt die Schweiz. Dieses Land, das weltweit dank einer Vielzahl von Spitzendiplomatinnen und Spitzendiplomaten über Jahrzehnte höchsten Weltruhm genoss und als neutrales Land in vielen Konflikten die letzte Hoffnung war für friedliche Lösungen, bei denen jeweils die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt und miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Auch im Ukrainekonflikt hätte die Schweiz in Anbetracht ihrer humanitären Tradition eine vielleicht sogar historisch einmalige Rolle übernehmen können. Aber nein, über Nacht wurde alles über Bord geworfen und die vielbewährte Neutralität einfach so, ohne dass sich das Volk jemals demokratisch dazu hätte äussern können, ausgehebelt. Nahezu euphorisch begrüsste Aussenminister Cassis schon gleich zu Beginn des Kriegs vor einer vieltausendköpfigen Menge auf dem Bundesplatz in Bern inmitten eines Meers ukrainischer Flaggen den auf einer Riesenleinwand erscheinenden ukrainischen Präsidenten Selenski herzlichst als “my Dear Friend”, während Putin schon von Anfang an, nicht nur von den meisten Spitzenpolitikern, sondern auch von den allermeisten Medien, als Inbegriff des Bösen in Szene gesetzt und die Vorgeschichte des Konflikts mit sämtlichen Verwicklungen, Machtinteressen und der Mitverantwortung von NATO und US-Imperialismus systematisch ausgeblendet wurden. Die prachtvolle Vase von Neutralität, Diplomatie und Friedensstiftung war in tausend Stücke zersplittert und fast alle klatschten eifrig mit.

Dennoch hätte, als Selenski am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2024 die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd mit der Idee einer in der Schweiz zur Durchführung gelangenden Ukraine-Friedenskonferenz überraschte, die Möglichkeit bestanden, dieses Ansinnen, bei dem es für Selenski von Anfang an einzig und allein um die Durchsetzung seiner bzw. der US- und NATO-Interessen und nicht um eine gemeinsame Lösung mit möglichen beiderseitigen Kompromissen ging, entweder zurückzuweisen oder aber an die Bedingung zu knüpfen, Russland als gleichberechtigten Verhandlungspartner einzubeziehen. Doch nichts dergleichen geschah. Offensichtlich gebauchpinselt nahm Viola Amherd Selenskis Charmeoffensive auf und zerbrach auch noch die letzten verbliebenen Scherben von Neutralität und Friedensstiftung in weitere tausend Stücke. Jetzt war die Schweiz endgültig vor den Karren der einen der beiden Konfliktparteien gespannt und das Gegenteil dessen war geschaffen, was die Vorbedingung für eine echte Friedenslösung sein müsste, in der nicht die eine Seite der anderen schon von Anfang die Lösung diktiert. Die Folge: Eine gespaltene Welt und eine Vertiefung und gefährliche Zuspitzung des Konflikts, Aufrüstung statt Abrüstung, gegenseitige Drohgebärden und Beschuldigungen anstelle des Versuchs, wenigstens zaghafte Schritte in Richtung einer gemeinsamen Konfliktlösung zu wagen. Und so ist nun halt notgedrungen auf dem Bürgenstock bereits im Vorfeld weit und breit nicht mehr die Rede davon, welche Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenslösung am geeignetsten wären, sondern nur, welche Voraussetzungen nötig sind, damit sich die anwesenden Gäste möglichst wohl fühlen, sich nicht über schlechtes Essen oder verlorenes Gepäck ärgern müssen, in herzlicher Atmosphäre Smalltalk mit möglichst wenigen kontroversen Themen betrieben werden kann, und ja, vor allem, dass bei der Tischordnung keiner der Gäste in seiner Würde verletzt wird. Kostenpunkt dieser Selbstinszenierung: Rund 15 Millionen Franken.

Dabei wäre sogar in diesen Tagen noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, eine echte Friedenslösung in Griffweite gelegen. Doch Putins Vorschlag, den Konflikt “einzufrieren” und Verhandlungen aufzunehmen, wurde vom Westen in Bausch und Bogen verworfen und als reiner Propagandatrick abgetan. Dabei wäre “Einfrieren” in Anbetracht eines so gefährlichen Flächenbrands doch gar keine so schlechte Idee. Wenigstens hätte dann das sinnlose gegenseitige Morden endlich ein Ende gehabt und es hätte die Chance zu einer Denkpause möglich gemacht, um im besten Fall tatsächlich Verhandlungen aufzunehmen. Doch lieber betonen die westlichen Regierungen die “Kriegstüchtigkeit” ihrer Länder, stecken noch mehr Geld in die Rüstung und halten blindlings am Ziel einer Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete fest, was sich, wenn überhaupt, nur durch eine derart massive Intensivierung der Kampfmassnahmen bis hin zum Einsatz von NATO-Truppen verschiedener Länder erreichen lassen würde, welche unweigerlich eine Reaktion Russlands zur Folge haben muss, deren schlimmstmögliches Ausmass bis hin zu einem dritten Weltkrieg man sich gar nicht vorzustellen wagt. Und dies alles aufgrund der einmal in die Welt gesetzten und seither nicht mehr hinterfragten Behauptung westlicher Regierungen, wonach die Ukraine für Putin nur der erste Schritt sei, und er, sollte er die Ukraine erobert haben, dann unweigerlich zur Eroberung weiterer europäischer Länder übergehen würde. Eine Vorstellung, die begreiflicherweise bei den betroffenen Bevölkerungen genug Angst auslöst, um damit jegliche Erhöhungen von Militärbudgets mehrheitsfähig und “demokratisch” abzusichern – obwohl alles auf einer reinen Fiktion basiert, sagte doch, wie die “Berliner Zeitung” am 31. März berichtete, NATO-Admiral Rob Bauer, immerhin Vorsitzender des NATO-Militärausschusses: “Es gibt keine Anzeichen, dass Russland eine Invasion in ein NATO-Land plant.” Doch wer liest schon die “Berliner Zeitung”. Und in welcher anderen Zeitung wäre so etwas, was die alles beherrschende Fiktion augenblicklich entlarven würde, schon zu lesen…

Blenden wir ins Jahr 1999 zurück. Aufgrund anhaltender ethnischer Spannungen und Machtkämpfe in der serbischen Provinz Kosovo schalteten sich die USA und weitere NATO-Staaten in den Konflikt ein und ergriffen einseitig Partei für die antiserbische Befreiungsarmee UCK – nichts anderes als das, was Russland ab 2014 in Anbetracht der zunehmenden Spannungen zwischen der ukrainischen Staatsmacht und Autonomiebestrebungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine tat. Schliesslich erfolgte am 24. März 1999 der völkerrechtswidrige militärische Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien – wiederum absolut vergleichbar mit dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriff Russlands am 24. Februar 2022 auf die Ukraine. 78 Tage und Nächte lang bombardierte die NATO Ziele in Serbien, bis die jugoslawische Regierung in den Abzug ihrer Truppen aus dem Kosovo einwilligte, um eine weitere Zerstörung ihres Landes zu verhindern. Die ehemals serbische Provinz Kosovo erklärte sich sodann zur unabhängigen Republik und Jugoslawien hatte auf einen Schlag rund einen Zehntel seines Territoriums verloren – absolut vergleichbar damit, dass sich die Ostukraine zur unabhängigen Republik erklären würde und die Ukraine dadurch etwa einen Fünftel ihres Territoriums verlieren würde. Mit anderen Worten: Würde der Westen den Ukrainekonflikt mit dem gleichen Massstab messen, mit dem er den Kosovokonflikt 1999 gemessen hatte, dann müsste er einer Loslösung der Ostukraine ebenso zustimmen, wie er einer Loslösung Kosovos von Jugoslawien 1999 nicht nur zugestimmt, sondern diese sogar durch einen völkerrechtswidrigen Krieg erzwungen hatte. Doch Logik scheint nicht die besondere Stärke des westlichen Militärbündnisses zu sein. Diese besteht offensichtlich viel mehr darin, unter dem Deckmantel von “Demokratie” und “Menschenrechten” eine Politik der Expansion, der Aggression, des Machtstrebens, des Schürens von Feindbildern und des Spiels mit dem Feuer eines alles vernichtenden Weltkriegs zu betreiben und damit ausgerechnet all das zu tun, was man dem vermeintlich “bösen” und “teuflischen” Gegner in die Schuhe schiebt.

Und wie wenn mit dem Ende der humanitären Tradition und den Scherben zersplitterter Neutralität nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre, beschloss der Schweizer Ständerat vor wenigen Tagen eine Erhöhung des Militärbudgets bis 2030 um vier Milliarden Franken, ein Betrag, der ausgerechnet bei der Entwicklungshilfe für die am meisten unter Hunger und den Folgen des Klimawandels leidenden Länder des Südens eingespart werden soll. Aber selbst damit noch nicht genug: Am 5. Juni, zehn Tage vor dem Beginn der Bürgenstockkonferenz, wurde eine Militärübung ganz besonderer Art durchgeführt: Auf einem Autobahnabschnitt zwischen Payerne und Avenches, der zu diesem Zweck für einen ganzen Tag lang für den Autoverkehr gesperrt wurde und wo 860 Pfosten sowie unzählige Mittelleitplanken entfernt, schadhafte Stellen im Strassenbelag repariert und Teile des nahe gelegenen Militärflugplatzes auf die Autobahn hatten gezügelt werden müssen, landeten Schweizer Kampfjets des Typs F/A-18, eine Aktion, die in dieser Form letztmals vor 33 Jahren, unmittelbar am Ende des Kalten Kriegs, durchgeführt worden war. Die Luftwaffenshow wurde live vom Fernsehen übertragen, ohne jeglichen kritischen Kommentar. Und die Tageszeitungen übersprudelten sich am folgenden Tag gegenseitig mit seitenlangen Berichten und riesigen Schlagzeilen über das Ereignis, das offensichtlich ganz besonders auch dem Zweck diente, potentielle militärische Gegner der Schweiz zu beindrucken. “Ein Helikopter fliegt über die Autobahnstrecke”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 6. Juni, “kontrolliert, ob auch wirklich keine Gegenstände im Weg stehen. Und noch mal. Und nochmal. Bis – WRUUMMM!!!! – der erste Jet aus Osten angedüst kommt und über die Menge fliegt. Die Kameras klicken wie wild, die ersten Ellbögen werden ausgefahren, denn der spannende Teil kommt erst noch: Gleich landet die F/A-18 auf der Autobahn. Zehn Minuten später landet der zweite Kampfjet, dann der nächste und schliesslich der vierte. Den Hintergrund der Übung erklärt Christian Oppliger, stellvertretender Kommandant der Luftwaffe, damit, dass Russland mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine die Grundlage für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört, sich die Sicherheitslage insgesamt verschlechtert habe und ganz Europa nun seine Verteidigung hochfahre, darum müsse auch die Schweiz für den Ernstfall üben.” Im gleichen Artikel des “Tagesanzeigers” erfährt man auch, dass die Idee, Autobahnen als Landepisten für Kampfflugzeuge zu brauchen, ursprünglich von den Nazis gekommen sei: “Weil ihre Flugpisten im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden waren, funktionierten sie Auto- zu Flugbahnen um. Mehrere Staaten, darunter die Schweiz, übernahmen diese Idee. Als in den 60er-Jahren ein flächendeckendes Autobahnnetz gebaut wurde, nahm die Armee direkt Einfluss auf die Planung. Deshalb verwendete man panzerfeste Beläge und sorgte für möglichst viele schnurgerade Abschnitte.” Auch das “Tagblatt” ist des Lobes voll und insbesondere von der Idee begeistert, dass die an der Übung beteiligten Armeeangehörigen für diese “einzigartige Mission” eine Extra-Autobahnvignette als Badge bekommen hätten. Unter den geladenen Gästen auf der Ehrentribüne, so das “Tagblatt”, seien zahlreiche Verteidigungsattachés und hochrangige Offiziere von anderen Ländern gewesen, unter ihnen auch der US-amerikanische Colonel Gonzales, der für seine Begeisterung fast keine Worte gefunden hätte. “That’s insane”, schwärmte Gonzales, “everything in Switzerland is so small and tiny und you still land the jets on this small highway.”

Die immer weiter um sich greifende Kriegseuphorie macht auch nicht vor der kleinen Stadt Halt, in der ich wohne. Morgen Samstag wird im Rahmen eines Strassenfests, zu dem die ganze Bevölkerung eingeladen ist, unter anderem ein Piranha-Panzer zur Schau gestellt, um Jung und Alt einen Einblick in die “Wehrhaftigkeit” unseres Landes zu vermitteln. Der Protest gegen diese Aktion aus Teilen der Bevölkerung, der sich in gut einem Dutzend Leserbriefen manifestierte, wurde schlicht und einfach ignoriert, die Organisatoren befanden es nicht einmal für nötig, offiziell dazu Stellung zu nehmen. Der Initiant der Aktion weigert sich bis heute, seinen Namen bekannt zu geben. Er möchte nicht ins Schussfeld der Diskussion geraten. Als einer jener, die bei jeder Gelegenheit von der Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit unseres Landes schwärmen und von der Notwendigkeit, sich im Falle eines Krieges dem Feind mutig entgegenzustellen, bringt er selber nicht einmal den minimalen Mut auf, sich öffentlich zu seinem Ansinnen zu bekennen. Aber das scheint in so kriegsbegeisterten Zeiten wie der jetzigen ja auch gar nicht nötig zu sein, ist doch der Panzer offensichtlich in den Köpfen vieler Menschen schon fast so etwas Normales und Alltägliches wie das Kinderkarussell und der Zuckerwattenstand, die links und rechts von ihm für ein vergnügliches Fest für Gross und Klein sorgen werden.

Als Ali aus Afghanistan, seit einer Woche mein neuer Mitbewohner hier in der Schweiz, aus seiner Heimat fliehen musste, war sein zweiter Sohn noch nicht geboren. Als nun Alis Frau und die beiden Buben, nachdem sie eine Zeitlang im Iran Unterschlupf gefunden hatten, letzte Woche ebenfalls in der Schweiz eintrafen, sah Ali seinen inzwischen eineinhalbjährigen jüngeren Sohn zum ersten Mal. Wenn Ali vom Krieg in Afghanistan erzählt, von der Flucht vor den Taliban zusammen mit seinem Vater in einem Auto und sie so schnell fahren mussten, dass das Auto schliesslich an einer Felswand zerschellte und sie zu Fuss weiter in den Iran fliehen mussten, wo sein Vater wenig später, geschwächt durch all die Strapazen, im Alter von 55 Jahren verstarb, wenn er davon erzählt, wie viele gute Freunde und Verwandte er durch den Krieg verloren hat und wenn ihn dann immer wieder die Trauer darüber überkommt, dass er seine Mutter und seine drei Geschwister, die immer noch im Iran leben, vielleicht nie mehr sehen wird, dann wird mir so richtig bewusst, wie unendlich wertvoll Frieden ist und dass wir alles, aber auch alles Erdenklich daran setzen müssen, ihn nicht zu verlieren und ihn unter gar keinen Umständen einem unsichtbaren und anonymen Kriegsgott, der sich immer wieder in unser Denken einzumischen versucht, zu opfern. Er sei zu 100’000 Prozent Pazifist, sagt Ali, und er muss es wissen. Es ist zu befürchten, dass solche Stimmen, und sie wären die allerwichtigsten überhaupt, im zunehmenden Lärm der Kriegstrommeln unserer Tage kaum mehr zu hören sein werden. Offensichtlich unternimmt man lieber alles, um die bestehenden, kriegsschürenden Feindbilder am Leben zu erhalten und sich in erster Linie um das seelische und körperliche Wohl der Gäste auf einer “Friedenskonferenz” fern aller Realität zu kümmern, statt ernsthaft über eine Welt nachzudenken, in der Waffen und Kriege für immer geächtet sind und nie mehr Menschen ohne Mitgefühl so viel Macht erringen können, dass sie nicht nur Millionen andere, Unschuldige, sondern in letzter Konsequenz auch sich selber dem Untergang zu weihen vermögen. “Sieger”, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, “wird man nicht auf dem Schlachtfeld, sondern dadurch, dass man Frieden schafft.”

(Nachtrag am 11. Juni: “Wer in Obbürgen wohnt, das direkt unter dem Hotel liegt”, so “20 Minuten” am 11. Juni, “muss sich bei jeder Rückkehr nach Hause ausweisen. Jeder Bürger und jede Bürgerin müssen sich bis Donnerstagmittag im Akkreditierungszentrum in der Sporthalle von Obbürgen melden und mit einem Ausweis eine Zugangskarte abholen. Ausgenommen sind lediglich Kinder unter 12 Jahren. Auch Autos müssen akkreditiert werden. Jedes Auto und jeder Lastwagen wird komplett durchleuchtet. Und auf dem nahen Heliport wird mit sogenannten Abrollstrassen, die aus Metallplatten bestehen, auf einer Wiese unterhalb des Bürgenstocks ein temporärer Flugplatz mit fünf Start- und Landepisten eingerichtet. Rund um den Bürgenstock wird zudem eine grossräumige Flugverbotszone eingerichtet. Diese gilt auch für die Drohnen, welche von Landwirten eingesetzt werden, die dringend ihre Wiesen mähen müssen und sie zuvor jeweils mit Drohnen abfliegen, um Rehkitze zu finden, die sich im Gras verstecken. Eine Ausnahmebewilligung für die Drohnen wurde von Bundesrätin Viola Amherd ausgeschlossen.”)

“Friedenskonferenz” auf dem Bürgenstock: Die lächerlichste Rolle in der ganzen Tragödie spielt die Schweiz…

Bei den Vorbereitungen der Ukraine-Konferenz gehe es, so Protokollchef Billeter, darum, die vielen Spezialwünsche der Delegationen zu erfüllen, damit sich alle möglichst „wohlfühlen“ könnten. Für das Abendessen sei ein reichhaltiges Menu mit lokalen Spezialitäten geplant. Billeter sei beim Testessen dabei gewesen, „eine der schönen Seiten meines Jobs“, wie er meint.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, fern ihrer Liebsten, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet.

Es gehe bei der Ukraine-Konferenz um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Ginge es tatsächlich darum, müsste man den Krieg so schnell wie möglich beenden und die betroffene Bevölkerung in eine demokratisch abgestimmte zukünftige Friedenslösung einbeziehen. Das würde sogar weniger kosten als die 15 Millionen Franken, welche das Stelldichein der internationalen Politprominenz auf dem Bürgenstock verschlingt, und zudem all jenen, die unter den Folgen dieses Konflikts schon mehr als genug gelitten haben, jenes „Wohlbefinden“ verschaffen, das jetzt nur einigen wenigen sowieso schon im Übermass Privilegierten vorbehalten ist.

Im Alter von acht Jahren veröffentlichte ich meine erste kleine, selbergeschriebene Zeitung. Niemand hatte sie lektoriert. Und das war gut so.

Die kleine Zeitschrift, die ich im Alter von 8 Jahren zu schreiben begann und bis zum 16. Lebensjahr einmal pro Monat herausgab, hiess zunächst „Famo-Cini“ – keine Ahnung, wie ich auf diesen Namen gekommen war. Später benannte ich sie in „Ihr Lesekameraden“ um. Da ich die Hefte bis heute aufbewahrt habe und gelegentlich mal jemandem zeige, ist mir kürzlich aufgefallen, dass ich den Titel im Alter von neun Jahren korrekt schrieb: „Ihr Lesekameraden“. Aus irgendwelchen, mir unerfindlichen Gründen hiess sie dann aber etwa ein halbes Jahr später plötzlich „Ihr Lesekamerate“. Und ein paar weitere Monate später sogar: „Ihr Lessekameratte“ – nicht wie man erwarten könnte, hatte sich in diesem Zeitraum meine Rechtschreibung verbessert, im Gegenteil, sie hatte sich massiv verschlechtert, es waren immer mehr Fehler dazu gekommen.

Es brauchte fast ein weiteres halbes Jahr, bis meine Zeitschrift dann wieder korrekt „Ihr Lesekameraden“ hiess. Seither habe ich das Wort nie mehr „falsch“ geschrieben. Natürliche Lernprozesse brauchen Zeit, aber früher oder später setzt sich das Richtige durch, wie bei den kleinen Kindern, die im Alter von zwei oder drei Jahren ein Wort zuerst tausendmal „falsch“ sagen, bis es dann eines Tages plötzlich richtig ist. So entsteht die Perfektion nach und nach auf natürliche Weise. Die erste Ausgabe meiner Zeitung im Alter von acht Jahren war voller Fehler, in der letzten Ausgabe, die ich im Alter von 16 Jahren schrieb, findet sich kein einziger Fehler mehr. Learning by Doing. Lernen durch Versuch und Irrtum. Niemand hatte jemals meine kleine Zeitschrift lektoriert, im Gegenteil, die meisten Leserinnen und Leser fanden die Fehler geradezu amüsant. Auch heute noch, wenn ich die frühen Ausgaben meiner Zeitschrift lese, sind die „Fehler“ das Lustigste, das, worüber ich am meisten schmunzeln muss – das Salz in der Suppe, die sonst fad und eintönig wäre. Fehler sollte man möglichst lange machen dürfen und nicht so früh wie möglich auszumerzen versuchen. Und schon gar nicht bekämpfen. Und erst recht nicht Kinder dafür bestrafen, wenn sie Fehler machen. Denn, wie ein uraltes afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Ich bin fast ganz sicher: Würden wir diese Geduld, diese Gelassenheit und die Zuversicht, dass es am Ende schon gut herauskommt, in genügendem Masse aufbringen, dann würde kein Erwachsener jemals auch nur noch einen einzigen Rechtschreibefehler machen, ebenso wenig, wie er auch beim Sprechen und in der mündlichen Kommunikation irgendwelche „Fehler“ macht, ganz einfach deshalb, weil er genug lange so viele Fehler wie nur möglich machen durfte, um dann eines Tages zur höchsten Perfektion zu gelangen.

Da würde selbst die 68Jährige noch ein Gewehr packen und an die Front gehen: Wenn Feindbilder auch noch den letzten Rest Verstand rauben…

Selbstverständlich ist jedes ukrainische Kind, das von einer russischen Bombe getötet wird, eines zu viel. Und selbstverständlich gibt es auch für alle anderen Formen von Gewalt, die im Verlaufe eines Krieges verübt werden, egal von welcher der Kriegsparteien, nicht die geringste Rechtfertigung, wie auch nicht für alle anderen Formen von Gewalt, die nicht nur zu Kriegszeiten verübt werden. Aber wenn man sich dann die Empörung westlicher Politiker und Medien über die von russischer Seite im Ukrainekrieg begangenen Gewalttaten vor Augen führt und dieses bis auf die äusserste Spitze getriebene Feindbild in Gestalt des russischen Präsidenten Putin, der nicht selten sogar mit Hitler oder gar mit dem Teufel verglichen wird, dann muss man sich schon fragen: Wo war denn diese Empörung, als US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfiel, aufgrund einer reinen Lügenpropaganda, mit welcher der Welt weisgemacht werden sollte, dass es im Interesse der gesamten Menschheit liege, diesem gefährlichen Diktator Saddam Hussein so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, und so ein Krieg in Gang gesetzt wurde, dem schliesslich über eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen sollten. Wo ist die Empörung über das unbeschreibliche Leiden jener Tag für Tag zehntausend Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Lebensjahr qualvoll sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – als unmittelbare Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt, was eigentlich bedeutet, dass man all die Nutzniesser dieses Geschäfts von den Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen bis zu jedem einzelnen ihrer Aktionäre und Aktionärinnen mit gutem Recht ebenso an den Pranger stellen müsste wie irgendeinen diktatorischen Machthaber, der sich auf Kosten seines Volks masslos bereichert. Wo ist die Empörung über all jene Politiker und Ökonomen, die blindlings am kapitalistischen Wachstumswahn festhalten und dadurch unmittelbar verantwortlich sind für Klimawandel, Umweltzerstörung und die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Und wo ist die Empörung über all die unsägliche Gewalt, die täglich von Männern an Frauen verübt wird, mitten in den “freiesten” und “demokratischsten” Ländern der Welt.

Die Empörung, die uns von den Medien in Gestalt von hochgeschaukelten Prototypen wie Strack-Zimmermann, Röttgen, Kiesewetter, Roth, Baerbock, Gabriel, Hofreiter, Pistorius, Cameron, Stoltenberg und all ihren kleineren und grösseren Nachahmungstätern tagtäglich entgegengeschleudert wird, muss daher noch einen anderen Grund haben als bloss ihr ehrliches Mitfühlen mit dem Leiden anderer – sonst müsste sich, wie gesagt, ihre Empörung auch angesichts zahlreicher anderer, mindestens so schlimmer Verbrechen ebenso wutschnaubend manifestieren. Dieser andere Grund ist wohl unverkennbar ein gezieltes Schüren von Hass auf ein ganz bestimmtes und definierbares Feindbild, das sich in diesem Falle – in der Gestalt von Putin – mit einfachsten Mitteln der Propaganda zurechtzimmern lässt und leicht eine Massenwirkung erzeugen kann, indem nämlich die in den meisten Menschen schlummernde Tendenz, für alles Üble und Schlimme einen Hauptschuldigen zu suchen und sich selber, im Gegensatz zu einer Welt des “Bösen”, als Teil der Welt des “Guten” zu fühlen, wirksam angefacht und vervielfacht werden kann. Weil das alleine aber noch nicht genügt und von zu vielen durchschaut werden könnte, wird dann kräftig nachgeholfen, indem man zum Beispiel Begriffe wie “Putler” erfindet, auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen fratzenhaft entstellte Porträts dieses Inbegriffs alles Bösen erscheinen lässt und fast ausschliesslich nur solche Fakten, Aussagen oder Zitate weiterverbreitet, die dem gewünschten Feindbild dienen, alle anderen aber, die es in Frage stellen könnten, entweder verschweigt oder als “Lügen” oder “Propaganda” zu diffamieren versucht. Vielleicht ist es den “Feindbildschürern” nicht einmal bewusst, was sie in letzter Konsequenz damit bewirken. Tatsache aber ist, wie es der Buchautor Thomas Pfitzer so treffend formuliert: “Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.”

Das höchst Gefährliche am Aufbau von Feindbildern ist, dass sie nach und nach den Verstand zu verdrängen oder gar auszulöschen drohen. Offenbar lösen sie in den tieferen Schichten der Psyche so urgewaltige Reaktionen aus, dass diese immer um einen Tick schneller sind als das vernünftige und logische Denken. Um es an ein paar konkreten Beispielen, die ich im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt habe, zu verdeutlichen: Jemand verglich Putin mit Hitler. Dann müsste man aber ehrlicherweise, so meine Gegenfrage, auch all jene US-Präsidenten, die für den Vietnamkrieg, für die verdeckten Militäroperationen und unterirdischen Folterzentren in Zentralamerika mit Zehntausenden Toten oder für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak verantwortlich waren, mit Hitler vergleichen. Noch nie hat jemand dieser Gegenfrage widersprochen, alle haben gesagt: Eigentlich hast du Recht. Schnell haben sie die Denkschlaufe wieder hingekriegt, wären alleine aber offensichtlich nicht darauf gekommen, so tief hatte das Feindbild Putin bereits von ihrem Denken Besitz ergriffen und alles andere ausgelöscht. Ähnliche Reaktionen zeigen sich jeweils bei der Gegenfrage, weshalb man denn konsequenterweise, analog zum Boykott einer russischen Opernsängerin am KKL Luzern, nicht anlässlich völkerrechtswidriger Kriege in früheren Jahren auch eine amerikanische Opernsängerin hätte boykottieren müssen, oder, wenn es um die Osterweiterung der NATO geht und ich die Frage stelle, wie wohl die USA reagieren würden, wenn sich Kanada oder Mexiko einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden. Immer ist die Reaktion: Ja, eigentlich hast du Recht, das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ein weiteres Beispiel betrifft einen Zeitungsartikel über das Referat eines in Gaza gebürtigen und heute in der Schweiz lebenden Kinderarztes, den ich kürzlich für die Lokalzeitung geschrieben habe. In seinem Referat hatte er die Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit klaren Worten verurteilt, was ich im betreffenden Artikel auch erwähnte, und zwar gleich an zwei Stellen. Allen Ernstes meldete sich ein Leser dieses Artikel bei mir und teilte mir sein Befremden darüber mit, dass sich der palästinensische Kinderarzt nicht eindeutig von den Hamasattacken distanziert hätte. Als ich ihm vorschlug, den Artikel noch einmal zu lesen, musste er feststellen, dass er die betreffende Stelle offensichtlich schlicht und einfach überlesen hatte, und dies sogar zwei Mal. Hat sich das Feindbild erst einmal festgesetzt, scheint es also sogar die Lese- und Aufnahmefähigkeit zu beeinträchtigen. Ein besonders krasses Beispiel war die Diskussion mit einer 68jährigen Bekannten, die auf meine vorsichtigen Relativierungen des Putin-Feindbildes dermassen enerviert reagierte, dass sie allen Ernstes beteuerte, eigenhändig zum Gewehr zu greifen und an die Front zu gehen, sollte sich Putin getrauen, auch nur einen Schritt in Richtung unserer Grenze zu wagen – Feindbild und Wut im tiefsten Inneren müssen so stark gewesen sein, dass sie ihr auch noch den letzten Rest Verstand geraubt hatten.

Und das hat schon eine ziemlich lange Vorgeschichte. Die Geschichte der “Russophobie”. Die Geschichte, dass alles, was aus dem Osten kommt, des Teufels ist. Als Ronald Reagan die Sowjetunion als das “Reich des Bösen” zu bezeichnen pflegte, ging es vor allem noch um den Kommunismus – das Feindbild war perfekt. Schwieriger wurde es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und damit dem Verschwinden dieses Feindbilds. Rasch musste ein neues Feindbild her. Vorübergehend sprang der sogenannte islamische Terrorismus in die Lücke. Doch mit dem Ukrainekrieg bot sich die Gelegenheit, das alte Russland-Feindbild neu aufzuwärmen. Nun ist es nicht mehr der “böse” Kommunismus, sondern der “böse” Putin – und die Welt ist wieder in Ordnung. Wie sehr dieser latente Rassismus gegenüber “östlichen” Völkern immer noch wirksam ist, zeigt sich auch darin, wie – gerade auch in der Schweiz – mit Flüchtlingen umgegangen wird: Sind es, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 2022 in der Ukraine, Opfer des “bösen” Ostens bzw. Russlands, werden sie mit weit offenen Armen empfangen, landesweit werden eifrigst Kleider und Lebensmittelpakete gesammelt. Sind es hingegen Opfer des eigenen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Nordafrika, dann schmilzt die Grosszügigkeit und Aufnahmebereitschaft schon schnell einmal gegen Null, und dies erst noch trotz einer ungleich viel grösseren Mitschuld an den Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Latenter Rassimus gegenüber denen “aus dem Osten” zeigt sich auch besonders drastisch, wiederum nicht zuletzt in der Schweiz, im Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus den Balkanländern, die gerne abfällig als “Jugos” bezeichnet werden und bis heute – ganz im Gegensatz etwa zu den Expats aus den USA oder westeuropäischen Ländern – vielfach politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. In noch schärferem Ausmass zeigt sich dieser latente Rassismus etwa auch im Verhalten gegenüber Sinti, Roma und anderen Völkern “aus dem Osten”. Unweigerlich erinnert man sich an den von Hitler geprägten Begriff der “Untermenschen”. Hitler hätte wohl seine helle Freude daran, dass wir sein Gedankengut auch heute noch, 90 Jahre später, nicht aus unseren Köpfen verloren haben…

Zurück zum Feindbild Putin. “Die Entbindung vom Nachdenken”, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, “ist der erste, gefährlichste Schritt in den Totalitarismus.” Und im “Netzwerk der Friedenskooperative” lesen wir: “Der Abbau von Feindbildern ist die unerlässliche Voraussetzung für Frieden. Denn Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem vermeintlichen Feind in die Schuhe schieben. Indem der Feind als minderwertig oder gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. Die Feindbilder können zur Eskalation eines Konflikts führen bis hin zu einem Krieg.”

Es ist die alles entscheidende Frage über Leben oder Tod. Ob die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Rassismus und Feindbilddenken verharren und ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen will. Oder ob wir es schaffen, einen nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen, uns von Rassismus und Feindbilddenken zu befreien, unseren Verstand zu gebrauchen und damit den Weg zu öffnen hin zu einer Welt, in der nicht mehr das Gegeneinander dominiert, sondern das Miteinander, und in der dann in letzter Konsequenz auch alle Waffen und Armeen überflüssig geworden sein werden.

SP-Prämieninitiative auf des Messers Schneide: “Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwächsten”…

Gemäss einer Umfrage von „20 Minuten“ und Tamedia würden derzeit 50% der Befragten Ja oder eher Ja sagen zur SP-Prämieninitiative, die eine Begrenzung der Belastung durch die Krankenkassenprämien auf zehn Prozent des Einkommens vorsieht. 48 Prozent würden Nein oder eher Nein stimmen. Nach dem Einkommen der Befragten abgestuft, würden von den am schlechtesten Verdienenden 67% der Initiative zustimmen, der Ja-Anteil geht dann mit steigendem Einkommen kontinuierlich zurück bis zu den am besten Verdienenden, von denen noch 27% zur Prämieninitiative Ja oder eher Ja sagen.

Sehen die, denen es besser geht, es denn nicht als ihre Pflicht an, sich um jene zu kümmern, denen es schlechter geht? Stört es all jene, die nur gerade mal 3 oder 4 Prozent ihres Einkommens für ihre Krankenkassenprämie aufbringen müssen, nicht, dass Schlechtverdienende, die bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie bezahlen müssen, unter dieser Last fast zerbrechen?

Zahlen der Schuldenberatung Schweiz zeigen, dass der Anteil der Krankenkassenschulden an den Gesamtschulden in den letzten 8 Jahren von 8 auf 15 Prozent gestiegen ist und diese damit innerhalb sämtlicher Schuldenarten den zweiten Platz einnehmen, unmittelbar nach den Steuerschulden. Die hohen Prämien führen auch dazu, dass viele Armutsbetroffene die höhere Franchise wählen, für den hohen Selbstbehalt dann aber nicht aufkommen können und selbst auf dringend nötige ärztliche Behandlungen verzichten müssen. In einzelnen Kantonen gibt es sogar schwarze Listen, auf denen all jene landen, die ihre Prämien nicht bezahlen können – für diese werden nur noch Notfallbehandlungen von der Krankenversicherung übernommen. Die Verzweiflung vieler ist schon so gross, dass immer mehr Armutsbetroffene zur Kreditkarte greifen und damit die Schuldenlast so lange wie möglich hinausschieben. „Ich habe über 30‘000 Franken Schulden bei meiner Krankenkasse“, klagte kürzlich ein 35Jähriger, „mein Leben ist ruiniert und ich kann mir keinen normalen Lebensstil mehr leisten.“

Die FDP, welche an vorderster Front gegen die SP-Prämieninitiative kämpft, begründet dies damit, dass dadurch Mehrkosten von 6,5 Milliarden Franken anfallen würden. Gleichzeitig werden jährlich 90 Milliarden Franken Erbschaften steuerfrei weitergegeben, besitzen allein die 300 Reichsten des Landes über 800 Milliarden Franken und könnte man durch ein verschärftes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung jährlich bis zu 15 Milliarden Franken einsparen. Die durch die Annahme der SP-Prämieninitiative verursachten Mehrkosten liessen sich, fair verteilt, spielend bewältigen.

„Denn die Stärke des Volkes“, so heisst es in der Präambel der schweizerischen Bundesverfassung, „misst sich am Wohl der Schwächsten.“ Denken wir daran, wenn wir den Abstimmungszettel zur SP-Prämieninitiative ausfüllen, dieser hoffentlich mit deutlichem Mehr zustimmen und damit ein Zeichen setzen, dass die Idee einer solidarischen Schweiz auch heute noch und mehr denn je ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren darf.

9. Montagsgespräch vom 25. Mai 2024: Für eine gewaltfreie Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts

Im Rahmen der Buchser Montagsgespräche war am 25. Mai Jasr Kawkby, ein in Gaza geborener und heute in Zürich lebender palästinensischer Kinderarzt, im Buchserhof zu Gast. Er zeichnete die Vorgeschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts auf und verlieh seiner Hoffnung auf ein zukünftiges friedliches Miteinander der beiden Völker Ausdruck.

In den Medien, so Kawkby, sei ausführlich über die Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 berichtet worden, ein Verbrechen, das auch er klar verurteile. Weitaus weniger aber erfahre man über die Vorgeschichte des Konflikts. Damit wolle er, so hielt Kawkby fest, auf keinen Fall die Attacke der Hamas billigen oder rechtfertigen, denn das Töten unschuldiger Menschen sei immer ein Verbrechen, unabhängig davon, von welcher Seite es begangen werde.

Zur Vorgeschichte des Konflikts gehöre ganz wesentlich, so Kawkby, die gewaltsame Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina durch jüdische Siedler ab 1947. Die Sehnsucht nach einem eigenen jüdischen Staat sei nach den Grausamkeiten des Holocaust zwar verständlich gewesen, jedoch hätte dies tragischerweise zu einem erneuten Verbrechen geführt, dieses Mal am arabisch-palästinensischen Volk. Über 700‘000 Menschen seien gewaltsam vertrieben und 530 Dörfer in Schutt und Asche gelegt worden, aufgrund der Forderung des israelischen Staatsgründers David Ben Gurion, wonach in Palästina ein „rein jüdischer Staat“ errichtet worden sollte. Noch heute würden im Westjordanland täglich Menschen aus ihren Häusern vertrieben und an deren Stelle, in Verletzung internationalen Völkerrechts, jüdische Siedlungen erbaut. Und unter den derzeitigen Bombardierungen des Gazastreifens durch die israelische Armee mit bereits über 35‘000 Todesopfern leide das palästinensische Volk in einem noch weitaus grösseren Ausmass denn je zuvor.

In der nachfolgenden Diskussion wies ein Zuhörer darauf hin, dass sowohl die PLO wie auch die Hamas in ihrer Charta die Vernichtung Israels forderten. Selbstverständlich, so Kawkby, sei eine solche extremistische Haltung klar abzulehnen. Aber man dürfe deswegen nicht aus dem Blick verlieren, wie das Ganze angefangen hätte, und da sei nun mal die gewaltsame Vertreibung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat ab 1947 eine historische Tatsache. Seither hätte sich die Gewalt immer weiter gegenseitig aufgeschaukelt. Doch eine Lösung des Konflikts könne nur auf einem gewaltfreien Weg erreicht werden, durch Dialog, aber auch durch internationalen politischen Druck. Wenn dies alles nichts nütze, käme man wohl nicht darum herum, als Druckmittel auch Wirtschaftsboykotte in Erwägung zu ziehen. Auf keinen Fall aber dürfe zu militärischer Gewalt gegriffen werden. Dass dies keine Lösung sei, hätte die Vergangenheit mehr als deutlich gezeigt, es sei höchste Zeit für die langfristige Vision eines friedlichen Miteinanders der beiden Völker.

Jean-Daniel Ruch: Frieden und Gerechtigkeit

Der Schweizer Spitzendiplomat Jean-Daniel Ruch schreibt in seinen Memoiren, dass ein Waffenstillstand kurz nach Beginn des Ukrainekriegs in Griffweite lag, aber vom Westen vereitelt wurde. Der ukrainische Präsident Selenski sei insbesondere vom US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zurückgehalten worden, der erklärt habe, es sei Washingtons Ziel, “Russland zu schwächen”. Damit erweist sich das, was vom Westen bisher als russische Propaganda abgetan wurde, im Nachhinein als Wahrheit. Ruch bedauert in seinem Buch auch die aktuelle Tendenz, die Welt in gut und böse zu unterteilen und jeglichen Austausch mit der “falschen” Seite zu delegitimieren: “Die Tugend des Dialogs wird lächerlich gemacht. Man muss parteiisch sein, sonst wird man bezichtigt, den Terrorismus zu befürworten oder ein Putin-Versteher zu sein.” Erscheint am 12. Juni 2024 im Weltwoche-Verlag. Mit einem Geleitwort von Micheline Calmy-Rey.