Archiv des Autors: Peter Sutter

Ukrainekrieg: Schuldzuweisungen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen abzulenken…

 

Frontseite der “NZZ am Sonntag” vom 6. November 2022: Ein schwarzer Balken mit der Schlagzeile “Die Saat des Krieges”, links davon das Bild einer russischen Rakete in einem ukrainischen Kornfeld, rechts davon das Bild einer vom Hunger gezeichneten Frau mit ihrem Baby am Horn von Afrika, dazu der Kommentar: “Ein ukrainischer Bauer und eine Ziegenhirtin am Horn von Afrika: Sie sind einander nie begegnet, und doch sind ihre Leben verbunden durch den russischen Überfall auf das Nachbarland. Er kann seine Felder nicht bestellen, sie ihre Familie nicht ernähren.”

Endlich hat man einen Schuldigen gefunden! Russland also soll Schuld sein, dass die Menschen in Afrika oder anderswo an Hunger leiden, wer denn sonst. So schnell scheint vergessen gegangen zu sein, dass schon lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine weltweit Hunderte Millionen von Menschen an Hunger litten und jeden Tag über 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Ich kann mich nicht erinnern, dass dies in den westlichen Medien jemals so grosse Schlagzeilen gemacht hätte. Aber eben, daran waren ja auch nicht die Russen Schuld, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem, das immer noch auf kolonialer Ausbeutung beruht und in dem die Güter stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was einen stetig wachsenden Überfluss am einen Ort und einen stetig wachsenden Mangel an vielen anderen Orten zur Folge hat.

Wie einfach, wie bequem. Seit dem 24. Februar 2022 trägt an allen Übeln der Welt einzig und allein Russland die Schuld. So schnell wird alles vergessen gemacht, was zuvor gewesen war. Man spricht von einem der grössten Verbrechen seit Jahrzehnten und vergleicht das Vorgehen Russlands in der Ukraine sogar mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus – und niemand erinnert daran, dass es noch keine 20 Jahre her sind, als die USA einen völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak anzettelten, dem im Laufe der folgenden Jahre über eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Niemand erinnert an die unvorstellbaren Massaker und Kriegsverbrechen, die von den USA während des Vietnamkriegs begangen wurden. Und niemand zählt die über 40 Kriege und Militäroperationen auf, welche seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA verübt worden sind, mit insgesamt über 50 Millionen Todesopfern. 

Ja, die “Guten” und die “Bösen”. Das Bild, das uns jetzt täglich eingehämmert wird, bis es auch noch die Allerletzten glauben. Wie schön und wie einfach. Das Schlimme daran ist nicht nur, dass es eine grandiose Verfälschung der historischen Realität bedeutet. Das Schlimme ist vor allem, dass es uns, die “Guten”, blind macht für unsere eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen. Und sich alles nur noch zuspitzt auf die simple Botschaft, es ginge bloss darum, Russland so schnell wie möglich militärisch in die Knie zu zwingen, und dann wäre die Welt wieder in Ordnung.

Ich hätte mir auch eine andere Frontseite der “NZZ am Sonntag” vorstellen können. Im schwarzen Balken die Schlagzeile “Die Saat des Kapitalismus”. Links davon das Bild eines bis auf die Knochen abgemagerten afrikanischen Kleinkinds, rechts davon entweder ein von Nahrungsmitteln aus aller Welt überquellender westeuropäischer Supermarkt oder der Blick in ein Luxusrestaurant irgendwo in Berlin, Paris oder Zürich, wo üppigste Mahlzeiten zu horrenden Preisen aufgetischt werden, oder das Bild einer Mülltonne irgendwo in Spanien oder Grossbritannien, angefüllt mit Lebensmitteln, die weggeworfen worden sind, obwohl sie noch längst geniessbar gewesen wären. Dazu der Kommentar: “Ein zu Tode gehungertes Kind in Afrika und der Gast in einem europäischen Luxusrestaurant: Sie sind einander nie begegnet und doch sind ihre Leben verbunden durch das kapitalistische Weltwirtschaftssystem, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.” Oder man hätte in den schwarzen Balken ganz einfach auch folgendes Zitat von Papst Franziskus schreiben können: “Kapitalismus tötet.”

Doch nicht nur das hungernde Kind und der Gast im Luxusrestaurant sind sich noch nie begegnet. Auch der kongolesische Minenarbeiter, der unter unmenschlichen Bedingungen all jene für unsere Computer und Handys unentbehrlichen Metalle aus der Erde schürft, und jene Menschen in den reichen Ländern, welche diese Geräte tagtäglich benutzen, sind sich noch nie begegnet. Ebenso wenig wie sich Textilarbeiterinnen in Bangladesch, die zu Hungerlöhnen arbeiten müssen, und die Konsumentinnen und Konsumenten in den Boutiquen und Modegeschäften des Westens jemals begegnet sind. In einer so verrückten Welt, in der nicht einmal die drohende Klimakatastrophe und die drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen Anlass genug sind, um ein immer noch von endlosem Wachstumszwang getriebenes Wirtschaftssystem radikal zu hinterfragen.

Werden sich die Täter und Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems tatsächlich eines Tages begegnen, wäre das vielleicht der Anfang einer neuen Zeit. Die Hoffnung, dass die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden endlich Wirklichkeit werden könnte, die aber mit einem Ende des Ukrainekriegs noch längst nicht erfüllt wäre, sondern damit erst so richtig beginnen würde…

Von der deutschen Ampel über Georgia Meloni bis zu Biden und Trump: Die Regierungen kommen und gehen, doch der Kapitalismus bleibt

 

In der Schweiz stehen Ersatzwahlen in den Bundesrat an und kürzlich wurden die aktuellsten Meinungsumfragen für die kommenden Parlamentswahlen publik. In Deutschland steht die derzeitige “Ampelkoalition” in der Kritik, weil zahlreiche Wahlversprechen längst noch nicht eingelöst worden sind. In Italien steht mit der Postfaschistin Georgia Meloni zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Regierungsmacht. In Schweden regiert zukünftig eine Koalition von Christdemokraten, Liberalen und sogenannten “Moderaten”. In Grossbritannien ist nach nur 45 Tagen Amtszeit die Premierministerin Liz Truss zurückgetreten. In Israel konnte der Ex-Premier Netanjahu die Parlamentswahlen klar für sich entscheiden. In den USA stehen Demokraten und Republikaner für die Wahlen ins Repräsentantenhaus und in den Senat in den Startlöchern. Und in Brasilien hat Lula da Silva dank einer hauchdünnen Mehrheit die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden können.

Demokratie, wie sie leibt und lebt. Die schlechteste aller Staatsformen, wie Winston Churchill einmal scherzend meinte, aber immer noch besser als alle anderen. Und der deutsche Schriftsteller Heinrich Mann schrieb: “Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.” Schön und gut, und doch entbindet uns dies alles nicht davon, auf diese “am wenigsten schlechte” aller möglicher Staatsformen immer wieder einen kritischen Blick zu werfen und sie an den Resultaten zu messen, die sie tatsächlich hervorbringt.

Fragen wir nach der Effizienz der traditionellen, von unterschiedlichen Parteien und politischen Strömungen getragenen Demokratie westlicher Länder, so fällt sogleich ein eklatanter Widerspruch auf zwischen den jeweiligen Wahlversprechungen der einzelnen Parteien, Regierungskandidatinnen und Regierungskandidaten auf der einen Seite und dem, was sie dann, wenn sie erst einmal an der Macht sind, auch tatsächlich umsetzen und erreichen. So etwa gibt es wohl kaum ernsthafte Politikerinnen und Politiker, die ihren Wählerinnen und Wählern nicht alles Blaue vom Himmel herunter versprechen, von sozialer Gerechtigkeit und mehr Umweltschutz über faire Löhne, günstige Wohnungen, gerechte Bildungschancen bis zum Kampf gegen Korruption, Wohlstand und ganz allgemein einem guten Leben für alle. Doch schauen wir uns die Realität an, so scheinen die meisten der schönen Worte, sind erst einmal die Wahlen vorüber, schnell wieder in Vergessenheit geraten.

Die Erklärung ist einfach. Die tatsächlich entscheidende Macht ist eben sehr ungleich verteilt. Man bildet sich zwar ein, Politikerinnen und Politiker, Staatspräsidentinnen und Staatspräsidenten würden ihre Länder regieren. Tatsächlich aber ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, die Banken und die Konzerne, das Geld, welche den Takt vorgeben, nach dem sich alles auszurichten hat, jene heimliche Macht, die hinter und in allem steckt und unser Leben weit mehr bestimmt als jedes noch so schöne und wohlklingende Programm einer politischen Partei.

So etwa werden in allen kapitalistischen Ländern – egal, welche Partei gerade an der Macht gewesen ist oder sich gegenwärtig noch an der Macht befindet – die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser, selbst in so wohlhabenden Ländern wie der Schweiz sind mehr als ein Zehntel der Bevölkerung von Armut betroffen, während sich beispielweise nur schon die Vermögen der 300 Reichsten von Jahr zu Jahr um über 100 Milliarden Franken vermehren. Ebenso eklatant sind die Unterschiede zwischen tiefsten und höchsten Einkommen, die, wenn wir wiederum die Schweiz als Beispiel nehmen, in einem Verhältnis von 1 zu 300 stehen. Die Folge ist eine Klassengesellschaft, in der immer grössere Teile der Bevölkerung an den Rand gedrängt werden und von einer “Demokratie”, von der sie selber rein gar nichts profitieren, innerlich Abschied nehmen. Immer schmerzlicher auch, wie im gegenseitigen Wettbewerb und Verdrängungskampf zwischen den einzelnen Unternehmen wie auch zwischen ganzen Volkswirtschaften der Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, in möglichst kurzer Zeit eine möglichst grosse Leistung zu vollbringen, kontinuierlich zunimmt, mit verheerenden Folgen für die Gesundheit der Menschen. Auch schwebt die drohende Arbeitslosigkeit wie ein Damoklesschwert über den Menschen und treibt sie dazu, auch geradezu unmenschliche Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Produzieren und herausquetschen auf Teufel komm unter einem stets sich selber überbietenden Wachstumszwang hat auch zur Folge, dass die Warenberge immer höher anwachsen, wobei die Güter nicht zu denen fliessen, die sie am dringendsten bräuchten, sondern zu denen, die am meisten Geld haben, um sie kaufen zu können. Das heilige Prinzip des Kapitalismus, möglichst viel Arbeit und möglichst viele Rohstoffe in möglichst kurzer Zeit in möglichst viel Geld zu verwandeln, hat in letzter Konsequenz auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zur Folge.

So sehr alle diese von der kapitalistischen Wirtschaftsmacht verursachten und weiter vorangetriebenen Entwicklungen die Menschen immer stärker belasten und früher oder später sogar das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten in Frage stellen könnten, so wenig vermag die traditionelle Partei- und Regierungspolitik der kapitalistischen “Demokratien” daran grundlegend und wirkungsvoll etwas zu ändern. Anders gesagt: So lange sich “Demokratie” bloss innerhalb des vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmens bewegt und diesen nicht grundlegend in Frage stellt, müssten wir eigentlich von einer “Scheindemokratie” sprechen. Zwar gaukeln uns die “demokratischen” Parteien eine scheinbare Vielfalt vor, tatsächlich aber sind sie bloss einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei, zu der es weit und breit keine radikale Alternative gibt. Mit ihrem Fokus auf das “Tagesgeschäft” lenken Parteien und Regierungen von den tatsächlichen, grossen, wichtigen und letztlich lebensbedrohenden Probleme ab, werden zu reinen Handlangern des Kapitals, liefern sich bloss gegenseitige Scheingefechte und fressen die Energie und die Phantasie, die wir dringendst bräuchten, um den Kapitalismus nicht bloss ein wenig zu reformieren, sondern radikal zu überwinden. Mit anderen Worten: Regierungen kommen und gehen, aber der Kapitalismus bleibt.

Damit plädiere ich nicht für die Einführung einer Diktatur. Ganz im Gegenteil: Die “schlechteste” aller Staatsformen, die immer noch besser ist als alle anderen, muss mutig vorangetrieben werden. Sie darf keine Tabus kennen, auch nicht und ganz besonders nicht den Kapitalismus als die ganze, grosse, übermächtige “Religion” unserer Zeit. “Eine Demokratie”, sagte der ehemalige deutsche Bundespräsident Walter Scheel, “ist immer auf dem Weg zu sich selbst, sie ist nie fertig.” Dies bedeutet auch einen anderen Umgang mit Mehrheiten und Minderheiten. Die traditionelle “Mehrheitsdemokratie” geht davon aus, dass stets die Mehrheit Recht hat, auch wenn sie bloss 50,1 Prozent der Wahl- oder Stimmbevölkerung erreicht hat. “Der Fortschritt aber”, so der britische Schriftsteller Gilgert Chesterton, “zeigt, dass vielmehr die Minderheit immer Recht hat.” In den Minderheiten, die noch nicht mehrheitsfähig sind, schlummern die besten Ideen, die noch unverbrauchte Phantasie und das kritische Denken, die Welt könnte auch von Grund auf ganz anders sein als so, wie ist – eigentlich dieses unermessliche Potenzial, das Kinder und Jugendliche, die noch nicht gänzlich von der Erwachsenenwelt vereinnahmt sind, stets von Neuem von einer schöneren, friedlicheren und gerechteren Welt träumen lässt. 

Bis zu jener Demokratie, die sich nicht auf das gegenseitige Wetteifern um Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen beschränkt, sondern zur tatsächlichen Lösung unserer existenziellen Gegenwarts- und Zukunftsfragen aufbricht, ist wohl noch ein weiter Weg. Wahrscheinlich könnten uns all jene, die mit der heutigen Politik voller Oberflächlichkeit und Selbstdarstellung am wenigsten am Hut haben, am besten helfen, diesen Weg zu finden. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: “Die Demokratie muss den Schwächsten die gleichen Chancen zusichern wie den Stärksten.” Die Schwächsten, das sind nicht nur die Bedürftigen und all jene, die für wenig Lohn schwerste Arbeit verrichten müssen, es sind auch die Kinder und die Jugendlichen, es sind auch die Menschen im Süden, auf deren Kosten die nördlichen Länder ihren Reichtum aufgebaut haben, es ist auch die Natur, es sind auch die Tiere in den Schlachthöfen, es sind all die Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir heute so blindlings zerstören. Und deshalb lässt sich der Kapitalismus als Herrschaftsform der Reichen gegen die Armen, der Starken gegen die Schwächen nicht mit einer echten Demokratie gleicher Rechte für alle vereinbaren. Nur eine Überwindung des Kapitalismus kann den Weg freimachen für eine echte Demokratie anstelle der heutigen Scheindemokratie…  

Wettbewerb am falschen Ort: Der lange Leidensweg bis zur Einführung einer Einheitskrankenkasse…

 

“Nur auf den ersten Blick wäre eine Einheitskrankenkasse das günstigere Modell”, sagt Santésuisse-Direktorin Verena Nold in “20minuten” vom 4. November 2022, “die Verwaltungskosten machen lediglich fünf Prozent der Gesamtkosten aus. Eine Einheitskasse könnte bei den Verwaltungskosten fast in keinem Bereich Einsparungen erzielen, insgesamt würde es eher teurer werden – und zudem andere Nachteile bringen: So hätten wir keine freie Wahl des Krankenversicherers mehr.”

Eine Aussage, die sich nur schwer nachvollziehen lässt. Es liegt doch auf der Hand, dass eine Einheitskrankenkasse gegenüber 58 Einzelkassen, von denen jede ihren eigenen Verwaltungsapparat hat, weit geringere Verwaltungskosten hätte. Gut vergleichbar ist die AHV, welche mit Verwaltungskosten von 1,3 Prozent des Gesamtaufwands auskommt, also fast vier Mal weniger als sämtliche Krankenkassen. Zudem käme es zu einer massiven Reduktion bei den Managergehältern, von denen die zehn schweizweit am höchsten zwischen 480’000 und 955’000 Franken liegen. Ebenfalls würden all jene Werbekosten wegfallen, mit denen sich heute die einzelnen Krankenkassen ihre Kundschaft gegenseitig abspenstig zu machen versuchen. Auch die weitverbreitete Praxis, wegen der finanziellen Belastung keine Risikopatientinnen und Risikopatienten aufzunehmen, würde wegfallen, die Einheitskrankenkasse wäre offen für alle, ganz unabhängig von ihrem Gesundheitszustand . Schliesslich hätte eine Einheitskrankenkasse den immensen Vorteil, dass ihre Verhandlungsposition bei Tarifverhandlungen mit der Pharmaindustrie, der Ärzteschaft und den Spitälern viel stärker wäre, als dies beim heutigen Wildwuchs an sich gegenseitig konkurrenzierender Kassen der Fall ist. Zwar können sich Krankenversicherer heute schon zusammenschliessen und bei den Grundversicherungen gemeinsam verhandeln. Nur ist das mit einem riesigen Aufwand und vor allem erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden. Denn sie müssen in jedem Fall vorher bei der Rechtskommission der Wettbewerbskommission ein sogenanntes Widerspruchsverfahren anstrengen, um nicht gegen das Wettbewerbsrecht zu verstossen.

Ja, der “Wettbewerb” ist bei allem stets die höhere Instanz, die heilige Kuh, der alles andere untergeordnet wird. Dies zeigt sich auch in der Aussage von Santésuisse-Direktorin Verena Nold, wenn sie sagt, dass einer der grössten Nachteile einer Einheitskrankenkasse darin bestünde, dass “wir keine freie Wahl der Krankenversicherer mehr hätten.” Im Klartext: Wir leiden zwar immer stärker unter höheren Prämien, aber Hauptsache, es ist Wettbewerb. Ein Wettbewerb, der sich vor allem auch in der jährlichen Werbeschlacht manifestiert, mit der die einzelnen Versicherer ihren Konkurrenten möglichst viel Kundschaft abzujagen versuchen, mit möglichst tiefen Prämien, die oft nicht einmal kostendeckend sind – um dann später gezwungen zu sein, die Preise wieder hochzufahren. Ein reines Nullsummenspiel, das an einen Supermarkt erinnert, wo einzelne Produkte zu nicht einmal gewinnbringenden Preisen angeboten werden, nur um möglichst viele Kundinnen und Kunden anzulocken und damit den Gesamtumsatz zu steigern. Hauptsache, Wettbewerb herrscht, egal mithilfe welcher Opfer und Absurditäten auch immer…

Viermal hat die Schweizer Bevölkerung über die Einführung einer Einheitskrankenkasse abgestimmt, viermal sagte sie Nein: 1994 mit 77 Prozent, 2002 mit 73 Prozent, 2007 mit 71 Prozent und 2014 mit 61,5 Prozent. Rechnet man die Ja-Quote in der gleichen Tendenz weiter, so müsste eigentlich im Jahre 2023 eine Zustimmung von knapp über 50 Prozent erreicht sein. Diese Annahme wird auch durch eine von der “Handelszeitung” im Mai 2017 durchgeführte Umfrage bestätigt, wonach sich 62 Prozent der Befragten sowohl für eine Deckelung der Prämien bei zehn Prozent des Haushaltseinkommens wie auch für eine Einführung einkommensabhängiger Prämien, 55 Prozent für eine Gratisversicherung für Kinder und nicht weniger als 67 Prozent für die Einführung einer Einheitskrankenkasse in der Grundversicherung ausgesprochen haben. Dass Umfragen und Abstimmungsergebnisse so weit auseinanderliegen, hat wohl damit zu tun, dass bei Abstimmungen in der Regel von den betroffenen Interessenverbänden so viel grobes Geschütz aufgefahren wird, dass Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen geradezu zuwiderhandeln. Besonders eklatant zeigte sich dies bei der Abstimmung über die Vorlage “6 Wochen Ferien pro Jahr” im Jahre 2012, die von 66,5 Prozent der Stimmenden abgelehnt wurde. Im Falle der Abstimmungen über eine Einführung einer Einheitskrankenkasse ist dies sogar noch ganz besonders absurd, haben doch die Prämienzahlenden mit ihrem Geld genau jene Abstimmungskampagnen der Kassen finanziert, die dazu führen, dass am Ende die Prämien noch weiter steigern. Es ist eben offensichtlich doch so, wie es der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht dereinst sagte: “Die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.”

“Die Einführung einer Einheitskrankenkasse müsste heute neu diskutiert werden”, schreibt Alexander Däniken in der “Luzerner Zeitung” vom 20. Oktober 2022, “2014 scheiterte das Anliegen mit fast 62 Prozent Neinstimmen. Damals aber betrug eine Prämie für Erwachsene durchschnittlich 264 Franken, nächstes Jahr werden es 397 Franken sein.” Im Hinblick auf eine erneute Abstimmung dürfen wir also wohl aus gutem Grund optimistisch sein. Bei der Einführung des Frauenstimmrechts hatte es schliesslich auch nicht auf Anhieb geklappt. Und so wie wir uns heute eine Gesellschaft ohne gleichberechtigte Teilhabe der Frauen nicht mehr vorstellen können, so werden wir uns auch irgendwann ein Gesundheitswesen nicht mehr vorstellen können, in dem masslos Geld für Bürokratie, Werbekampagnen und Spitzenlöhne von Managern verpulvert wird, das am Ende denen, die es am dringendsten bräuchten, so schmerzhaft fehlt.   

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann nicht verstanden werden ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie geschieht…

 

Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erleben häusliche Gewalt – dies das Resultat einer kürzlich veröffentlichten Elternbefragung, welche durch die Universität Freiburg im Auftrag der Organisation “Kinderschutz Schweiz” durchgeführt wurde. Zehn Prozent der Kinder erleiden sogar überaus schwere Gewalt, jährlich kommt es zu rund 1600 Spitaleinweisungen, die Kinder müssen wegen Prellungen, Knochenbrüchen, Blutergüssen, Ohrverletzungen und weiteren Folgen von Faustschlägen und Gewaltanwendungen mit Schlagstöcken, Kabeln oder anderen schweren und harten Gegenständen behandelt werden. Aber auch psychische Gewalt in Form von Beschimpfungen, Strafandrohungen und Liebesentzug sind weit verbreitet.

Woher kommt diese Gewalt und wie kann sie möglichst wirksam bekämpft werden? Schauen wir uns bei öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen um, die sich für die Rechte der Kinder und ihren Schutz vor Gewalt einsetzen, dann stossen wir auf eine ganze Palette von Präventionsmassnahmen und Hilfsangeboten, von Elternkursen, Sensibilisierungskampagnen, Beratungsstellen bis hin zum Nottelefon und zur psychologischen Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher. Im Fokus steht dabei in der Regel die individuelle Situation innerhalb der einzelnen Familie.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat aber nicht nur eine private, individuelle, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Komponente. Nicht selten geben Eltern die Gewalt, die ihnen selber im Alltag widerfährt, an ihre Kinder weiter. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Kinder vor allem dort am meisten verbreitet ist, wo auch die Eltern unter einem besonders hohen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Druck stehen. Diese Rahmenbedingungen, die ebenfalls Formen von Gewalt darstellen, können, wenn es um das Phänomen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht, nicht einfach ausgeklammert werden. Auch Armut, Verschuldung, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Druck und Stress am Arbeitsplatz, Demütigungen durch Vorgesetzte und der Wettkampf um den sozialen Aufstieg sind Formen von Gewalt. Ein besonderes “Kampffeld” und eine häufige Quelle von Gewalt – vor allem in Form von Liebesentzug – bilden all die Orte von der Schule bis zum Sport und zum Musikunterricht, wo Eltern ihre eigenen Erwartungen in die Kinder hineinprojizieren, alles Erdenkliche zur Leistungsförderung unternehmen und dann zutiefst enttäuscht sind, wenn die Kinder die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen – die betroffenen Kinder fühlen sich dann in ihrem Selbstwert zutiefst verletzt und vermissen jene Zuwendung und Liebe, auf die sie gerade in so schwierigen Situationen umso mehr angewiesen wären. Tragischerweise sind von allen diesen Formen physischer und psychischer Gewalt stets die Schwächsten der Gesellschaft am meisten betroffen, die, welche sich am wenigsten dagegen wehren können und dem allem schutzlos ausgeliefert sind, die Kinder und Jugendlichen.

Deshalb genügen auch die ausgeklügeltsten Präventionsmassnahmen und Elternkurse nicht, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Betrachtungsweise muss tiefer greifen. Nicht nur die einzelnen betroffenen Eltern müssen sensibilisiert werden, die Gesellschaft als Ganzes muss sensibilisiert werden. Es geht darum, ob wir eine gewaltfreie Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn ja, hat dies weitreichende Konsequenzen und stellt unsere ganze kapitalistische Leistungsgesellschaft und das endlose Streben nach immer höheren Profitraten, um aus den Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herauszuquetschen, radikal in Frage. Denn es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die dafür büssen müssen, dass nicht Liebe und Respekt, sondern der Wettkampf aller gegen alle die oberste Maxime der Gesellschaft ist. Die Gewalt, unter der die Kinder leiden, ist die gleiche Gewalt, unter der auch die Natur leidet, die Tiere, die Erde, die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und weltweit alle Menschen, die von Armut, Hunger und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Je mehr wir uns einer egalitären Gesellschaft nähern, in der die materiellen Güter, die Lebensbedingungen, die Arbeit, die Einkommen und die Vermögen möglichst gleichmässig auf alle verteilt wären, umso mehr würde gewiss auch all jene Gewalt verschwinden, die, in welcher Form auch immer, unseren heutigen Kindern und Jugendlichen angetan wird. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Massive Verluste der Schweizerischen Nationalbank: Ein globales Finanzsystem wie das Kaninchen vor der Schlange von Krise zu Krise

 

142 Milliarden Franken: So viel Geld wie in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 hat die schweizerische Nationalbank SNB noch nie verloren. Zu spüren bekommen das vor allem auch die Kantone, welche letztes Jahr von der SNB 6 Milliarden Franken erhielten und dieses Jahr nun leer ausgehen werden. Dies bedeutet, dass einzelne Kantone gezwungen sein werden, Sparmassnahmen zu ergreifen oder Steuersenkungen zurückzustellen.

“Wer in hohem Masse den Launen des Finanzmarktes ausgesetzt ist”, so kommentierte die Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF am 31. Oktober 2022 das Finanzdebakel der SNB, “bekommt das derzeit empfindlich zu spüren. Es müsste ein kleines Wunder an den Finanzmärkten geschehen, damit die SNB bis Ende Jahr doch noch wenigstens 50 Milliarden Gewinn schreiben könnte. Das Problem liegt darin, dass die SNB mit ihren riesigen Devisenbergen den Stürmen an den Finanzmärkten dermassen ausgeliefert ist, dass schon kleinste Zuckungen zu riesigen Verlusten führen können. Zuckungen in die andere Richtung könnten allerdings schon im nächsten Jahr wieder für hohe Gewinne sorgen. Nur sind Börsenprognosen in diesen unsicheren Zeiten noch weniger aussagekräftig als sonst.”

Launen des Finanzmarkts. Ein mögliches Wunder. Stürme an den Finanzmärkten. Schon kleinste Zuckungen. Spontan kommt mir dabei das Bild eines Kaninchens in den Sinn, welches zu Tode erstarrt vor der Schlange sitzt, die jeden Moment blitzschnell zubeissen könnte. Oder das Bild eines Erfinders, der ein Monster geschaffen hat, das immer grösser geworden ist und ihn nun auf einmal aufzufressen droht. Denn das globale Finanzsystem ist nicht erst seit der Ukrainekrise ein riesiges Monster voller “Zuckungen”, “Stürmen” und “Wunder”, das hat sich schon seit Jahrzehnten in Form zyklisch auftretender Finanzkrisen, Börsenzusammenbrüchen, usw. immer wieder gezeigt. Laien haben schon längst keine Chance mehr, bezüglich globales Finanzsystem den Durchblick zu haben. Aber haben die Bankers, Ökonominnen und Börsenspekulanten einen so viel grösseren Durchblick? Hat sich da im Laufe von Jahrzehnten nicht ein so weit verzweigtes, weltumspannendes, komplexes und ineinander verflochtenes System herausgebildet, das niemand mehr, wenn er ehrlich ist, in seiner ganzen Tragweite noch zu verstehen vermag? “Weder ein Makler”, schrieb Bertolt Brecht, “der an der Chicagoer Börse ein Leben lang gearbeitet hat, noch Geschäftsleute von Wien bis Berlin konnten mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, dass dies alles schlechthin unerklärlich ist.” Das war vor 70 Jahren. Und trifft das nicht für heute, da virtuelles, erfundenes, spekulatives Geld in Sekundenbruchteilen um den Globus saust und schon weit höhere Ausmasse angenommen hat als alles “echte”, aus der Realwirtschaft gewonnene Geld, nicht erst recht zu?

Ganz laienhaft gefragt: Müsste Geld nicht vor allem den Bedürfnissen der Menschen dienen statt umgekehrt? Müsste Geld nicht vor allem ein Tauschmittel sein und nicht ein Machtmittel? Müssten nicht Börsengewinne, Spekulation und Devisengeschäfte sowie alle anderen Geschäfte, die das Geld von der Arbeit, von der Erde und von den Bedürftigen in die Taschen der Reichen und Mächtigen wandern lassen, schlicht und einfach verboten werden? Müssten nicht Banken, Finanzinstitute, Versicherungen und alle weiteren Unternehmen, die auf Kosten der Allgemeinheit Gewinne machen, vollumfänglich in den Dienst der Gesellschaft gestellt, verstaatlicht oder zumindest unter staatliche Aufsicht gestellt werden? Müsste man nicht auch den Sinn und Zweck von Zinsen, die stets zu einem Machtgefälle zwischen Schuldnern und Gläubigern führen, radikal in Frage stellen? Müsste nicht an die Stelle des Denkens und Handelns in Wachstumszahlen das Denken und Handeln in Kreisläufen treten? Müssten Banken nicht, statt Machtgebilde im Dienste der reichen Eliten, vielmehr ganz einfach Drehscheiben sein, um Geldflüsse stets dorthin zu lenken, wo sie einem guten Leben für alle, nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auch weltweit den grössten Nutzen bringen?

Meistens ist es nur die Macht der Gewohnheit, die uns davon abhält, neu zu denken. Wenn erst einmal das kapitalistische Wirtschaftssystem überwunden sein wird, werden sich spätere Generationen wohl höchst verwundert die Augen reiben, wenn sie die Bilder jener Banken sehen werden, die wie ägyptische Pyramiden, griechische Tempel oder mittelalterliche Kathedralen in den Himmel ragten als Zeichen einer Zeit, und in der das Geld mehr verehrt wurde und zugleich mehr Schaden anrichtete als alles andere in der Welt. “Die Leute”, sagte Bertolt Brecht, “glauben vor allem an Bestehendes und daran, dass wohl ein tieferer Grund vorhanden sein müsse, dass es noch bestehe, und dieser Grund ist doch oft nur der, dass alle daran glauben.” 

Übermässiger Reichtum, astronomische Kapitalgewinne, millionenschwere Erbschaften: Nicht nur ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit, sondern auch auf die Demokratie und die gesellschaftliche Teilhabe…

 

Die 30jährige österreichische Millionenerbin Marlene Engelhorn hat unlängst grosses Aufsehen erregt, weil sie ihre Erbschaft von mehreren Millionen Euro aus moralischen und sozialen Gründen nicht einfach für sich behalten, sondern in irgendeiner Form an die Gesellschaft zurückgeben möchte. Im Interview mit der “NZZ am Sonntag” vom 30. Oktober 2022 plädiert sie für eine radikale Reform des Erbrechts. Im Einzelnen fordert sie “eine umfassende Besteuerung von Überreichtum, etwa durch Steuern auf Erbschaften, Schenkungen, Vermögen und eine progressive Kapitalertragssteuer sowie eine bessere Ausstattung der Behörden, die sich um Steuerflucht und -hinterziehung kümmern.”

Zu Recht hat Marlene Engelhorn ein schlechtes Gewissen, wenn sie in den Genuss einer Erbschaft von mehreren Millionen Euro gelangen würde, für welche sie selber nie etwas geleistet hat. Ihre Forderungen nach einer umfassenden Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften sind daher nur allzu verständlich. Doch das eigentliche Problem liegt nicht bei einem unzulänglichen Steuersystem, sondern darin, dass überhaupt so viel Reichtum geschaffen werden kann, dem keine entsprechende Leistung gegenübersteht. Wäre der Reichtum von Anfang an gerecht verteilt, dann bräuchte es auch keine steuerlichen Instrumente aller Art, um diesen Missstand im Nachhinein einigermassen auszugleichen.

An dieser Stelle müssen wir uns fragen, wie übertriebener Reichtum denn überhaupt entsteht. Erstens durch die Einkommensunterschiede in der kapitalistischen Arbeitswelt. Hohe und niedrige Löhne sind nicht so sehr Ausdruck tatsächlich erbrachter Arbeitsleistungen, sondern definieren sich aus der Position in der Hierarchie von Berufen und Unternehmungen. Die besser Verdienenden verdanken ihren höheren Lohn nicht so sehr ihrer Arbeitsleistung, als vielmehr dem Umstand, dass viele andere weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Die zweite Quelle von übertriebenem Reichtum sind die Einkommen aus Kapitalbeteiligung. Auch hier sind es nicht echte Arbeitsleistungen, die Reichtum schaffen, im Gegenteil: Aktionärinnen und Aktionäre verdanken ihre Gewinne ausschliesslich der Arbeit anderer, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen. Wenn die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ihre Vermögen innerhalb eines einzigen Jahres um mehr als 100 Milliarden Franken vermehren, dann ist kein Rappen davon ehrlich verdient – und dieses Reichwerden auf Kosten anderer ist in der Schweiz mittlerweile dermassen weit verbreitet, dass die Einkommen aus Kapital jene aus Arbeit bereits weit übertreffen. Die dritte Quelle für übertriebenen Reichtum sind die Erbschaften: Der in der einen Generation angehäufte Reichtum, der sozusagen “überflüssig” war und für den eigentlichen Lebensunterhalt gar nicht gebraucht wurde, wird an die nächste Generation weitergereicht, ohne dass diese hierfür eine besondere Leistung erbringen muss.

Ob Reichtum aufgrund ausbeuterischer Lohnunterschiede, aufgrund von Kapitalgewinnen oder aufgrund von Erbschaften: Stets handelt es sich auf die eine oder andere Weise um “gestohlenes” Geld, das bei den ärmeren und weniger vermögenden Bevölkerungsschichten einzig und allein aus dem Grunde fehlt, weil es bei den reicheren Bevölkerungsschichten in dermassen sündhaftem Ausmass angesammelt wird. “Wärst du nicht reich”, sagte der arme Mann zum reichen in einer Parabel des deutschen Schriftstellers Bertolt Brecht, “dann wäre ich nicht arm.” Noch deutlicher der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: “Hinter jedem grossen Vermögen steckt ein grosses Verbrechen.” Erbschaftssteuern, Reichtumssteuern, Kapitalgewinnsteuern und dergleichen sind nicht mehr als winzige Trostpflaster, um das begangene Unrecht ein klein wenig zu minimieren: “Der Sozialstaat”, so der US-Ökonom Thomas Sowell, “ist der älteste Trickbetrug der Welt. Zuerst nimmst du den Menschen still und heimlich das Geld weg und dann gibst du ihnen einen Teil davon mit grossem Getöse wieder zurück.”

Marlene Engelhorns Bereitschaft, auf ihre Erbschaft zu verzichten, ist löblich. Auch ihren Forderungen nach einer stärkeren Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften kann nicht widersprochen werden. Doch dies allein kann nicht genügen. Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie Reichtum und Armut entstehen und wie beides gegenseitig voneinander abhängt. Und dass man nicht die Armut wirksam bekämpfen kann, solange man nicht auch den Reichtum bekämpft. Das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern vor allem auch eine Frage der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe. “Wir leben in einer Zeit”, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss, “in der die wachsende Ungleichheit die Gesellschaft zerreisst.” 

“Glücklicherweise”, so beschrieb Gottfried Keller die Schweiz um 1860, “gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben.” Manchmal kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sich das Rad der Geschichte in die falsche Richtung bewegt…

Wann endlich gibt es eine internationale Geberkonferenz nicht nur für den Wiederaufbau der Ukraine, sondern auch für die Bekämpfung des weltweiten Hungers?

 

“So viel Leid an einem Ort habe ich noch nie erlebt”, so der schweizerische Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis nach seinem Besuch in der Ukraine am 20. Oktober 2022. Und im Interview mit dem schweizerischen “Tagblatt” vom 29. Oktober sagt er: “Der Wiederaufbau ist die grösste Hoffnung, die wir den Menschen in der Ukraine geben können, er liefert eine Perspektive. Dafür müssen wir jetzt handeln: Bis Ende Jahr sollte die Plattform definiert werden, um die unmittelbare Hilfe für diesen Winter, aber auch die Finanzierung des Wiederaufbaus zu koordinieren und in die Tat umzusetzen. Es ist eine riesige Aufgabe: Damit die ukrainischen Behörden überhaupt weiter funktionieren können, sind Milliarden pro Monat nötig.”

Wenn Ignazio Cassis noch in keinem anderen Land so viel Leid gesehen hat, dann wäre ihm dringend anzuraten, auf einer seiner nächsten Auslandsreisen den Jemen, Afghanistan, Syrien, Äthiopien oder eines der anderen 39 Länder, wo derzeit schlimmste Bürgerkriege, verheerende Dürren und Hungersnöte herrschen, zu besuchen. In Jemen sind rund 20 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, 65 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden an Hunger und Mangelernährung. Besonders stark betroffen sind Kinder unter fünf Jahren: Insgesamt sind rund 2,2 Millionen Kinder akut unterernährt. Darüber hinaus sind rund 1,3 Millionen schwangere und stillende Mütter unterernährt. “Immer mehr Kinder gehen im Jemen hungrig zu Bett”, sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell, “dadurch besteht für sie ein erhöhtes Risiko für körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen oder sogar den Tod.” In etlichen Städten gibt es kein sauberes Trinkwasser mehr, denn es fehlt an Treibstoff für die Pumpen. Auch die Abwassersysteme sind zusammengebrochen. 15 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder einer Abwasserversorgung. Viele Krankenhäuser mussten schliessen oder wurden zerbombt. Ärztliche Hilfe ist vielerorts unerreichbar.

In Afghanistan ist rund die Hälfte der Bevölkerung von Hunger bedroht, 95 bis 97 Prozent der Bevölkerung leben in bitterer Armut, 30 Prozent der Kinder berichten, dass sie jeden Abend hungrig zu Bett gehen. In Syrien leben 90 Prozent der Bevölkerung in Armut, 12,4 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. In Äthiopien wissen 17 Millionen Menschen nicht, wann sie ihre nächste Mahlzeit haben werden, 13 Prozent der Kinder sind unterernährt, ebenso die Hälfte aller schwangeren und stillenden Frauen. Zehn Millionen Äthiopierinnen und Äthiopier haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Seit vier Jahren gab es keine Regenzeit, die Dürre hat den Menschen alles genommen, das Vieh, die Ernte, ihren Lebensunterhalt. Was trotz allem noch wächst, wird von millionenfachen Heuschreckenschwärmen weggefressen. Fast drei Millionen Menschen sind im eigenen Land auf der Flucht. Weltweit haben rund 811 Millionen Menschen nicht genug zu essen und 45 Millionen Menschen in 43 Ländern sind von Hungersnöten bedroht. Die Hauptursachen sind Bürgerkriege, fehlende Mittel für humanitäre Hilfe aufgrund von teilweise rigorosen Sparmassnahmen in den Geberländern und die Folgen des Klimawandels in Form von Dürren, Trockenzeiten, Hitze und Überschwemmungen. 

Und doch steht trotz dieser schier unbeschreiblichen Not kein einziges dieser Länder auch nur annähernd so stark im Fokus der westlichen Öffentlichkeit wie die Ukraine. Die jemenitischen, syrischen, afghanischen und äthiopischen Kinder sterben lautlos, ohne dass ihr qualvolles Sterben auch nur eine einzige Schlagzeile in einer westlichen Zeitung oder am Fernsehen zur Folge hätte, geschweige denn eine internationale Geberkonferenz auslösen würde, wie sie vom schweizerischen Bundespräsidenten zugunsten der Ukraine initiiert wurde und für den Wiederaufbau nach dem Krieg gigantische Summen in Aussicht stellt, von der die Menschen in Syrien oder dem Jemen nicht einmal zu träumen wagen.

“Solange der Krieg andauert”, so Wolodomir Selenski in den “Euronews” vom 9. Mai 2022, “braucht es monatlich eine Unterstützung von fünf bis sieben Milliarden Dollar. Später, für den Wiederaufbau, benötigen wir mehr als 600 Milliarden Dollar.” Gleichzeitig würden schon, wie eine Studie der UNO ergab, jährlich 14 Milliarden Euro zusätzlich an Geldern genügen, um den weltweiten Hunger bis 2030 wirkungsvoll eindämmen zu können.

So oft ist, im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, von “Solidarität” die Rede. Doch wo ist unsere Solidarität mit all jenen Millionen von Menschen in Dutzenden südlichen Ländern, die unverschuldet hungern, leiden und sterben aufgrund der Folgen jahrhundertelanger, bis in die Gegenwart reichender Folgen kolonialer Ausbeutung, aufgrund des hauptsächlich von den reichen Ländern des Nordens verursachten Klimawandels und aufgrund von Bürgerkriegen, in denen sowohl wirtschaftliche Interessen der Grossmächte wie auch Waffenlieferungen aus dem Ausland eine wichtige Rolle spielen. 

Nicht nur die “Solidarität”, sondern auch die “Wertegemeinschaft” ist im Zusammenhang mit finanzieller Unterstützung für die Ukraine ein gern benützter Begriff. Doch von einer echten Wertegemeinschaft sind wir wohl noch Lichtjahre entfernt, solange Solidarität nicht gleichbedeutend ist mit weltweiter Verantwortlichkeit gegenüber jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde über alle Grenzen hinweg. Denn ein Kind in Äthiopien hat genau das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Leben wie ein Kind in der Ukraine, in Russland oder in der Schweiz. Von “Wertegemeinschaft” zu sprechen und damit bloss einen Staatenbund zu meinen, der sich machtpolitisch gegenüber anderen Staaten abzugrenzen versucht, ist ein unverzeihlicher Hohn auf die Menschlichkeit.

Politiker und Politikerinnen, die in den letzten Wochen und Monate unter grossem Getöse und im grellen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zum ukrainischen Präsidenten Selenski gereist sind, um sich von den Kriegszerstörungen ein Bild zu machen, müssten ebenso andächtig und betroffen im Jemen oder in Afghanistan jenen Strassen entlang gehen, wo hungernde Kinder in zerlumpten Kleidern um einen Bissen Brot betteln, Bäuerinnen ihre vom Klimawandel zerstörten Getreidefelder zeigen und ihnen ein Mann von seiner Frau erzählt, die soeben verstarb, weil das nächste Krankenhaus durch einen Bombenangriff zerstört wurde.

Viel wahrscheinlich aber ist, dass keiner unserer Politiker und keine unserer Politikerinnen eine solche Reise unternehmen wird, weiterhin die Hälfte der Welt im Dunklen bleiben wird und die endlose Geschichte von Macht und Ohnmacht, Oben und Unten, Reichtum und Armut endlos weitergeht. Doch wie lange noch?

Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt: Drei Mal war das Fenster offen und drei Mal wurde es zugeschlagen – nicht von Russland…

 

Gemäss Medienmitteilungen vom 28. Oktober 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin seine Bereitschaft zu Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt bekräftigt. Allerdings, so Putin, hätte sich die Ukraine unter dem Einfluss der USA gegen solche Gespräche entschieden. Womit er recht haben dürfte, hat doch Selenski höchstpersönlich anfangs Oktober ein Dekret erlassen, wonach Verhandlungen mit Putin explizit verboten seien. “Damit”, so “Focus” am 13. Oktober, “scheinen alle Verhandlungen gesperrt.”

Dies ist das dritte Mal, dass sich im Ukrainekonflikt ein Fenster zu Friedensverhandlungen geöffnet hat – und es war nicht Russland, welches dieses Fenster immer wieder zugeschlagen hat. Bereits im Dezember 2021 suchte Putin aufgrund der Spannungen und Konflikte im Donbass sowie des drohenden NATO-Beitritts der Ukraine das Gespräch mit der US-Regierung. Die Antwort von Präsident Biden war kurz und unmissverständlich: Dies seien keine Themen, die zwischen dem Westen und Russland verhandelt würden. Der SPD-Politiker Klaus Dohnany vertritt heute noch die Ansicht, der Ukrainekrieg hätte verhindert werden können, wenn die US-Regierung auf diesen Diskussionsvorschlag eingegangen wäre.

Vom zweiten Fenster für mögliche Friedensgespräche spricht die US-Zeitschrift “Foreign Affairs” im März 2022. Die Zeitschrift zitiert Stellen aus der US-Administration, wonach es beinahe zu einem Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland gekommen wäre. Grundlage dieses Friedensschlusses wären ein Rückzug aus allen seit dem 24. Februar von Russland besetzten Gebieten und ein Verzicht der Ukraine auf einen NATO-Betritt gewesen. Diese Friedenslösung sei aber vom britischen Premierminister Boris Johnson, der zu diesem Zweck extra nach Kiew reiste, mit Rückendeckung der USA torpediert worden. Johnson hätte Selenski davor gewarnt, mit einem “Kriegsverbrecher” Verhandlungen zu führen, und gesagt, dass der Westen noch nicht bereit sei für ein Ende des Kriegs.

Nun also das dritte Fenster. Und zum dritten Mal wird es zugeschlagen und wieder nicht von Russland. Wie wenig Bereitschaft zu Friedensverhandlungen von der ukrainischen Seite her vorhanden ist, zeigt eine Aussage von Mykhailo Podolyak, dem einflussreichsten Berater von Präsident Selenski, Mitte Oktober 2022: “Zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kann es nur kommen, wenn eine andere Partei in Russland an die Macht kommt oder wenn die Ukraine Russland besiegt hat, sodass der Verhandlungsprozess von der Ukraine definiert und Russland als Ultimatum gestellt wird.” Dies passt haargenau zu Selenskis Position, wonach es früher noch um Frieden gegangen sei, jetzt aber nur noch um den Sieg. Wobei die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock sogar noch einen Schritt weitergeht und findet, dass es darum gehen müsse, Russland zu “ruinieren”. Doch wie stellen sich all die Hardliner, die einen Sieg des Westens über Russland einer Friedenslösung mit der Berücksichtigung gegenseitiger Interessen vorziehen, das denn vor? Wie wird sich Russland nach einer solchen totalen Niederlage und einer so grossen Schmach denn verhalten? Wird eine solche Demütigung nicht nach blinder Rache rufen, mit vielen, jetzt noch unabsehbaren Folgen? Wird Putin das überleben oder werden dann nicht erst recht jene Hardliner ans Ruder kommen, die Putin schon heute vorwerfen, er sei zu “weich”, und die am liebsten jetzt schon Atomwaffen ins Spiel bringen möchten. 

Westliche Politiker und Medien werden nicht müde, Putin als den alleinigen Bösewicht hinzustellen und ihm insbesondere auch vorzuwerfen, an einer Friedenslösung nicht interessiert zu sein – ein Vorwurf, der ganz offensichtlich viel mehr auf jene zurückfällt, die ihn so hartnäckig verbreiten. Dabei müsste man doch jeden noch so winzigen Zipfel, egal von welcher Seite er kommt, ergreifen, um dem Frieden und einem Ende sinnlosen Blutvergiessens und sinnloser Zerstörung so schnell wie möglich eine Chance zu geben. Ist doch, wie schon der römische Philosoph Cicero sagte, auch noch der “ungerechteste Frieden immer noch besser als der gerechteste Krieg.” Gewiss muss dann früher oder später aus dem “ungerechten Frieden” auch ein “gerechter Frieden” werden, aber ein Ende von Zerstörung und militärischer Gewalt wäre immerhin ein erster unentbehrlicher Schritt in die richtige Richtung…

Skandal: Arbeiterinnen und Arbeiter haben eine bis um fünf Jahre tiefere Lebenserwartung als Akademikerinnen und Akademiker…

 

Aufgrund von Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen (EES) lässt sich, wie das schweizerische “Tagblatt” am 26. Oktober 2022 berichtet, feststellen, dass Akademikerinnen und Akademiker eine um fünf Jahre (Männer) bzw. zweieinhalb Jahre (Frauen) höhere Lebenserwartung haben als Arbeiterinnen und Arbeiter. Zudem verfügen Arbeiterinnen und Arbeiter über eine schlechtere Gesundheit als Akademikerinnen und Akademiker: Diese leben 8,8 Jahre (Männer) bzw. 5 Jahre (Frauen) länger bei guter Gesundheit als Männer und Frauen, die nur über einen obligatorischen Schulabschluss verfügen. Die Schere zwischen tendenziell gesünderen Akademikerinnen und Akademiker und tendenziell kränkeren Arbeiterinnen und Arbeitern hat sich zudem im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre erheblich vergrössert, “Je nach Bildungsniveau”, so resümiert das “Tagblatt”, “variiert nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Gesundheit.”

Doch die geringere Lebenserwartung und die schlechtere Gesundheit im Alter sind längst nicht die einzigen Benachteiligungen von Menschen, die “nur” die Volksschule besucht haben, gegenüber jenen, die über einen akademischen Abschluss verfügen. Es beginnt nämlich schon ganz früh, spätestens in der Schule, wo Kinder, die weniger gut und schnell rechnen, lesen und schreiben können, die Erfahrung machen müssen, dass sie weniger “wertvoll” und “wichtig” sind als andere – auch wenn sie in anderen Bereichen über noch so viele Begabungen und Fähigkeiten verfügen. Der schon in frühem Alter aufgedrückte Stempel, weniger “wertvoll” oder gar weniger “intelligent” zu sein als andere, kann sich oft lebenslang negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein auswirken und demzufolge auch – weil psychische und physische Gesundheit eng zusammengehören – auf das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit.

Es geht weiter mit dem Einstieg in die Berufswelt. Während die zukünftigen Akademikerinnen und Akademiker noch gemütlich im Gymnasium sitzen, sind die Jugendlichen, die “nur” eine Berufslehre absolvieren, schon auf der Baustelle dem Wind und dem Wetter ausgesetzt, kümmern sich um alte und kranke Menschen oder füllen im Supermarkt Gestelle auf, bis sie vor lauter Rückenschmerzen kaum mehr richtig schlafen können. 

Ist erst einmal der Arbeiter im Strassengraben und der Akademiker auf seinem Lehrstuhl an der Universität, dann kommen diese unsäglichen Lohnunterschiede dazu, die alles noch weiter verschlimmern. Weniger verdienen heisst ja nicht nur, am Ende des Monats weniger Geld in der Lohntüte zu haben. Eine kleinerer Lohn wirkt sich auf das gesamte Leben aus, auf die Lebensweise, auf die Lebensqualität. Weniger Lohn heisst konkret: eine kleinere Wohnung, weniger Platz für die Kinder, kein Garten, dafür in unmittelbarer Nähe eine dichtbefahrene Strasse, Lärm und Abgase. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Freizeitaktivitäten wie Fitnesstraining, feines Essen im Restaurant, Ferien im Wellnesshotel oder am Meer – lauter Dinge, die für andere, besser Verdienende, selbstverständlich sind. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Geschenke, Spiel- und Sportgeräte, Freizeitkurse, Musikunterricht oder Ferienlager für die Kinder, was für die betroffenen Eltern ganz besonders schmerzlich ist und sich häufig mit dem Gefühl verbindet, im Kampf um den sozialen Aufstieg selbstverschuldet auf der Strecke geblieben zu sein. Auch dies eine überaus schlechte Voraussetzung für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Gesundheit. Umso mehr, als die unbefriedigende soziale Situation nicht selten Anlass für Ersatzbefriedigungen aller Art sein kann, von der Spielsucht über den Nikotinkonsum bis hin zum Alkohol. 

Kommt dazu, dass ausgerechnet geringer verdienende Arbeiterinnen und Arbeiter in hohem Masse von besonders schweren und oft auch gefährlichen Tätigkeiten betroffen sind, welche ihre Gesundheit zusätzlich belasten und nicht selten für lebenslange Gebrechen oder frühen Tod verantwortlich sind. Denken wir nur an Strassen- und Bauarbeiter, Maurer, Zimmerleute, Paketboten, Krankenpflegerinnen, Angestellte im Supermarkt, Malerinnen, Gerüstbauer, Fliessbandarbeiter, Friseusen, Köche oder Serviceangestellte – lauter Arbeiten, bei denen man übermässig schwere Lasten heben, Rücken und Arme viel zu stark belasten, überlang stehen muss oder mit Chemikalien und giftigen Substanzen zu tun hat, welche Haut und Atemwege gefährden. Auch von den schweizweit jährlich rund 170’000 Arbeitsunfällen sind fast ausschliesslich Arbeiterinnen und Arbeiter betroffen und höchst selten eine Akademikerin oder ein Akademiker.

Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, leiden Arbeiterinnen und Arbeiter und ganz generell Beschäftigte in untergeordneten Positionen erheblich darunter, dass sie auf ihre Arbeitssituation fast keinen Einfluss haben und den Anordnungen ihrer Vorgesetzten mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Meist arbeiten sie hart, nicht selten sind sie gezwungen, Überstunden zu leisten – und sehen am Ende des Tages dennoch nur wenig von dem, was sie geleistet haben, sondern müssen im Gegenteil mit ansehen, wie ihre Chefs oder die Aktionäre der Firma ein viel luxuriöseres Leben führen als sie selber, während sie selber sich nebst dem geringen Lohn auch noch mit viel geringerer Wertschätzung abfinden müssen. Keine Frage, dass Demütigungen dieser Art in der Seele tiefe Spuren hinterlassen und sich letztlich auch wieder auf die Gesundheit negativ auswirken.

“Klügere Menschen”, so die englische Philosophin Rosalind Arden in einem am 26. Oktober 2022 auf 3sat ausgestrahlten Dokumentarfilm über das Phänomen der Intelligenz, “leben länger und gesünder, werden besser bezahlt und haben sogar stabilere Partnerschaften.” Dies würde ja dann heissen, dass alle Menschen, welche schlechter bezahlt sind, daran selber Schuld wären, weil sie eben nicht so “klug” seien. Offensichtlich fühlen sich akademisch gebildete Menschen wie Rosalind Arden gescheiter als all die Menschen, welche für sie Häuser bauen oder Strassen, über die sie täglich fahren, und gescheiter als all die Menschen, die ihre Autos und ihre Heizungen reparieren, ihre Haare frisieren oder das Brot backen, das sie essen. Was für eine grenzenlose Überheblichkeit! Und was für eine masslose Beleidigung all jener Menschen, die mit grösstem Geschick, präzisester Fleissarbeit, unendlicher Hingabe und bewundernswertem Sachverstand Tag für Tag all jene Arbeiten verrichten, die so schlecht bezahlt sind und dennoch das Fundament bilden, ohne welches die ganze Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde.

Wundern wir uns bei so vielen seelischen Wunden, bei so viel Demütigung, bei so viel Missachtung existenzieller Lebensbedürfnisse immer noch darüber, dass Arbeiterinnen und Arbeiter weniger lange leben und schneller krank werden als Akademikerinnen und Akademiker? Kann eine Gesellschaft als Ganzes gesund sein, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nur deshalb länger gesund sein darf, weil ein anderer so viel früher von Krankheit und Tod betroffen ist? Lässt sich das mit der Grundidee der Demokratie und der gleichen Rechte für alle tatsächlich vereinbaren? Müsste nicht alles unternommen werden, um die Früchte der Arbeit, die gesamthaft geleistet wird, auch wieder auf alle möglichst gerecht zu verteilen?

“Es gibt viele Arten zu töten”, lesen wir beim deutschen Schriftsteller Bertolt Brecht, “man kann den Menschen das Brot entziehen, man kann sie in den Krieg führen oder man kann sie durch Arbeit zu Tode schinden.” Wie recht er hatte! Hier und heute, selbst im reichsten Land der Welt: Jahr für Jahr Tausende von Menschen, die frühzeitig krank werden und frühzeitig sterben. Nicht weil sie “dümmer” sind als andere. Sondern weil der gnadenlose Kampf um den sozialen Aufstieg, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit von Einkommen und Lebensbedingungen und die rücksichtslose Anhäufung von Reichtum auf Kosten anderer in unseren Köpfen immer noch so tief verwurzelt sind und als “normal” empfunden werden, dass zwar über jeden Verkehrsunfall, jeden Mord und jeden tödlichen Absturz eines Bergsteigers ausführlich berichtet wird, nicht aber über das lautlose Sterben all jener, die nichts anderes getan haben, als sich ein Leben lang unter grössten Entbehrungen für den Reichtum und die Interessen anderer abzurackern…

Serhij Zhadan: Friedenspreis für Kriegstreiber?

 

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Serhij Zhadan. In seiner im schweizerischen “Tagesanzeiger” vom 24. Oktober 2022 veröffentlichten Dankesrede plädiert Zhadan für den Krieg als bestes Mittel, um Frieden zu schaffen. Zudem äussert er sich ausführlich über die Funktion der Sprache in kriegerischen Zeiten. “Wir alle”, sagt er, “sind über unsere Sprache miteinander verbunden. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.”

Das muss hellhörig machen. Denn was Zhadan “Sprache” nennt, hat ganz offensichtlich zwei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten. Nicht umsonst erliess das ukrainische Parlament am 25. April 2019 ein neues Sprachengesetz. Demzufolge gilt das Ukrainische als alleinige Staatssprache. In den Schulen, der öffentlichen Verwaltung, unter leitenden Angestellten, in der Wissenschaft, in der Kulturszene, in Regierung und Parlament darf nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden 100 Millionen Bücher russischsprachiger Autorinnen und Autoren entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Ebenso dürfen Werke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Und dies, obwohl die Muttersprache von 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung das Russische ist. Das Sprachengesetz hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zutiefst in Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse gespalten. Was der ukrainischsprachigen Bevölkerungsmehrheit an Bedeutung, Einfluss und Macht in Gestalt ihrer Sprache zugesprochen wurde, ist der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in gleichem Masse abgesprochen, weggenommen und geraubt worden. 

Was also meint Zhadan, wenn er von der “verbindenden Kraft der Sprache” spricht? Obwohl er selber in der Ostukraine geboren wurde, ist die Sprache, die er meint, doch ganz offensichtlich das Ukrainische. In dieser Sprache, die ihm soviel “Kraft spendet”, die ihn mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern “verbindet” und in der er die “Wahrheit” verkünden kann, sagt er dann, beispielsweise in seinem jüngsten Werk, dem “Himmel über Charkiw”, so ungeheuerliche Dinge wie “Brennt in der Hölle, ihr Schweine!” Gemeint sind natürlich die Russen. Diese bezeichnet er, wie die Onlineausgabe der “Zeit” und das Internetportal “Telepolis” berichtet haben, nicht nur als “Schweine”, sondern auch als “Hunde”, “Verbrecher”, “Tiere” und “Unrat”. Auch bezeichnet er die Russen als “Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten.”

Ob die Jury des Deutschen Buchhandels Zhadans Bücher, bevor sie ihm den Friedenspreis verliehen hat, auch tatsächlich gelesen hat? Wenn nicht, wäre es schlimm. Wenn ja und sie ihm dennoch den Preis zugesprochen hätte, wäre es noch viel schlimmer. Denn das Schüren von Feindbildern und von Hass ist das Allerletzte, was dem Frieden dienlich ist, und das Allerletzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen können. Ja, Hass und Feindbilder sind gegenwärtig eine bittere Realität, leider. Aber Literatur, und erst recht eine preisgekrönte Literatur, sollte nicht einfach ein Abbild der Realität sein. Literatur und Kriegstreiberei müssten sich in ihrem tiefsten Wesen widersprechen. Literatur muss über die Realität hinausragen, neue Perspektiven der Menschlichkeit eröffnen, Brücken schlagen statt sie zu zerstören, dem Hass die Liebe entgegensetzen, der Intoleranz die Toleranz, dem Feindbilddenken die Feindesliebe. Dann, ja dann hätte sie einen Friedenspreis verdient.

Zurück zum “Tagesanzeiger” vom 24. Oktober 2022, der hier stellvertretend für wohl zahllose weitere westliche Medien steht, die über die Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan berichtet haben: Auf einer ganzen Zeitungsseite lang ist Zhadans Dankesrede abgedruckt worden, aber vergebens sucht man einen redaktionellen Kommentar, der auf die dunkle, hässliche, russenfeindliche, rassistische Seite des Preisträgers hätte hinweisen können. Im Gegenteil: Der Text trägt, in grossen Lettern, den Titel “Weil wir unbedingt Frieden wollen”. Und darunter das Bild von Zhadan, wie er mit gefalteten Händen dasteht, so als würde er für den Frieden beten. Wenn es stimmt, dass sich immer mehr Menschen nur noch aufgrund von Schlagzeilen und Bildern informieren, dann hat es wieder einmal funktioniert in diesen düsteren Zeiten, wo uns sogar übelste Kriegspropaganda in Form preisgekrönter Literatur schmackhaft gemacht wird. 

Wenn das, was russische Medien betreiben, Kriegspropaganda ist, was ist dann das, was westliche Medien betreiben, wenn sie uns Menschen, die einem ganzen Volk Hass und abgrundtiefe Verachtung entgegenbringen, als Friedensengel, Freiheitskämpfer und Helden verkaufen – und sich schon bald niemand mehr vorzustellen wagt, es könnte alles auch ganz anders sein?