Archiv des Autors: Peter Sutter

Die Blaue Moschee in Hamburg: Der “Terrorismus” in unseren Köpfen und die Frage, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte…

“Der Aussenposten des Iran muss schliessen”, so berichtet der schweizerische “Tagesanzeiger” vom 25. Juli 2024. Gemeint ist das vom deutschen Innenministerium erlassene Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg, welches nach Ansicht der deutschen Behörden “Terror und Islamismus” propagiere. Vermummte und bewaffnete Beamte seien um 6 Uhr früh vorgefahren, mit Trennschleifern und einer Ramme, zur Razzia in der Imam-Ali-Moschee, auch genannt “Blaue Moschee”, Sitz des Trägervereins Islamisches Zentrums Hamburg (IZH). Wenig später hätten Polizisten die ersten “Kartons mit Beweismaterial” herausgetragen, darunter “einen Sack voller Geldmünzen”. Ebenso seien fünf weitere Vereine verboten worden, die “teilweise oder komplett unter der Kontrolle des IZH” stünden. Die Polizisten hätten zudem insgesamt weitere 53 “dem IZH ideologisch nahestehende Einrichtungen in acht deutschen Bundesländern” untersucht. Das deutsche Innenministerium begründe das Verbot damit, dass das IZH “gegen die verfassungsmässige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet” sei und ausserdem “gegen Strafgesetze” verstosse. Dem IZH werde “Terrorunterstützung” vorgeworfen, insbesondere die Unterstützung der in Deutschland verbotenen libanesischen Hizbollah. Das IZH, so die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, propagiere eine “islamistische, totalitäre Ideologie”, die sich “gegen die Menschenwürde, gegen Frauenrechte, gegen eine unabhängige Justiz und gegen unseren demokratischen Staat” richte. Dazu käme ein “aggressiver Antisemitismus”. Als weiterer zentraler Grund für das Verbot wird ins Feld geführt, dass das IZH den deutschen Behörden als “Aussenposten des iranischen Regimes” gelte, das “unter dem Deckmantel einer ganz normalen Moscheegemeinschaft und Bildungsinstitution” agiere.

Auch das schweizerische “Tagblatt” vom 25. Juli spricht vom IZH als “Irans Vorposten in Europa”, als “Spionagenest” und “Propagandazentrale der Mullahs”, welche “totalitäre Herrschaftsmodelle” propagiere, “gegen Juden und gegen Israel” hetze und die in Deutschland verbotene “Terrororganisation” Hizbollah unterstütze. Der Hamburger Verfassungsschutz beobachte das IZH bereits seit 1993. Anfang 2020 sei in der Blauen Moschee eine Trauerfeier für Qassem Soleimani abgehalten worden, den General der iranischen Revolutionsgarden, den das amerikanische Militär auf Befehl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump getötet hatte. Lange Zeit aber sei das IZH zumindest von Teilen der Hamburger Politik “als Partner betrachtet” worden, bis 2022 hätte das IHZ der Schura angehört, einem Rat islamischer Gemeinschaften, mit denen Hamburg einen Staatsvertrag abgeschlossen hatte, um Fragen von beiderseitigem Interesse, wie etwa den Religionsunterricht, zu regeln. Erst 2022 seien das IZH und einige kleinere Organisationen aus der Schura ausgetreten, nachdem “Politiker von CDU und Grünen ihren Rauswurf gefordert” hätten.

Beim Lesen der beiden Artikel macht mich einiges stutzig: Wenn das IZH bereits seit 1993 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand, also seit über 30 Jahren, dann können ja die Gründe für das jetzt vollzogene Verbot nicht allzu schwergewichtig gewesen sein, sonst hätte man ja dieses Verbot schon viel früher erlassen. Völlig befremdlich erscheint mir auch, dass ausgerechnet die Trauerfeier für Qassem Soleimani anstössig gewesen sein soll, während das wirklich Anstössige daran wohl eher darin bestehen dürfte, dass dieser Repräsentant der iranischen Revolutionsgarden auf Befehl der US-Regierung umgebracht worden war – man stelle sich einmal vor, die iranische Regierung würde die Ermordung des deutschen Bundespräsidenten in Auftrag geben! Ebenfalls zu denken geben muss die Tatsache, dass das IZH bis 2022 bei der Schura mitmachte und sich somit einem interreligiösen Dialog verpflichtet hatte, der erst durch die Initiative deutscher Politiker zerstört wurde. Vielsagend erscheint mir auch, dass zwar immer wieder von “totalitärer Ideologie”, “Antisemitismus”, “Verstössen gegen Menschenwürde und Demokratie”, “Verletzung der verfassungsmässigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland” und dergleichen die Rede ist, es sich dabei aber offensichtlich bloss um Unterstellungen und Vermutungen zu handeln scheint, während sich die tatsächlichen “Beweise” für all das vorerst auf einen “Karton mit Beweismaterial” und einen “Sack voller Geldmünzen” beschränken.

Etwas differenzierter wird das Verbot der IZH in der “Zeit online” vom 24. Juli dargestellt: “Die Blaue Moschee”, so ist zu lesen, “ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser Ort. Das, was Gläubige dort vom Imam zu hören bekommen, ist laut dem Bundesinnenministerium nicht verbotswürdig. In Verlautbarungen treten die Verantwortlichen gemässigt auf. Die Predigten lassen sich sogar auf dem YouTube-Kanal des Islamischen Zentrums abrufen. Zum Gebet kommen nicht nur Radikale, viele Besucherinnen und Besucher sind konservativ oder moderat. Man kann das Islamische Zentrum deshalb nicht verbieten, ohne einen Plan zu entwickeln, wie man die Lücke schliesst, die man damit in das religiöse Gefüge und die Glaubenspraxis von 30’000 Menschen reisst. Sollte sich bei diesen der Eindruck verfestigen, ein Verbot des IZH sei ein Angriff auf ihre Religion als Ganzes, dann könnten sich Teile der schiitischen Gemeinde radikalisieren. Die Hamburger Innenbehörde hat sich mit dem Szenario noch nicht auseinandergesetzt, wie Insider aus Behördenkreisen sagen. Das sollte sie aber – eine mögliche Radikalisierung einzelner Schiiten abseits der Blauen Moschee würde nicht vor den Augen der Sicherheitsbehörden ablaufen, sondern verdeckt in Hinterzimmern.”

Könnte es sein, dass das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg nicht nur mit diesem selber bzw. seiner ihm unterstellten zunehmenden Radikalisierung zu tun hat, sondern ebenso auch mit einer zunehmenden Radikalisierung deutscher bzw. westlicher Regierungspolitik, verstärkt durch eine zunehmend polarisierte, auf das Schüren von Feindbildern ausgerichtete und von den Medien systematisch geschürte öffentliche Meinungsbildung? Vieles deutet darauf hin. Es ist wohl kein Zufall, dass zum Beispiel auch die Tageszeitung “Junge Welt” seit 1998 regelmässig im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Ihr wird zur Last gelegt, sich an marxistischen Gesellschaftsanalysen zu orientieren, eine Überwindung des Kapitalismus zu fordern und eine sozialistische Gesellschaftsordnung anzustreben, was angeblich gegen eine “freiheitliche demokratische Grundordnung” verstosse und deshalb als “linksextremistisch” einzustufen sei. Vergeblich klagte die “Junge Welt” unlängst gegen diese Diffamierung, welche sie sowohl bei ihrer redaktionellen Meinungsfreiheit, bei der Suche nach Autorinnen und Autoren wie auch beim Gewinnen von Werbepartnern stark einschränke: Am 18. Juli 2024 wies das Verwaltungsgericht Berlin die Klage ab und beurteilte die Beobachtung der “Jungen Welt” durch den Verfassungsschutz als gerechtfertigt, Differenzierungen zwischen Marxismus, Leninismus und Stalinismus, wie sie der “Jungen Welt” bei ihrer redaktionellen Arbeit wichtig sind, liess das Gericht nicht gelten. Ebenso, wie ganz allgemein Differenzierungen in der öffentlichen Meinungsbildung eine zunehmend schwindende Bedeutung haben: Beinahe unterschiedslos werden immer öfters Begriffe wie Islam, Islamismus und Terrorismus in den gleichen Topf geworfen, auch zwischen “links” und “linksextrem” wird kaum mehr ein Unterschied gemacht, mit dem Begriff “Nazi” wird immer inflationärer um sich geworfen und jeder, der es auch nur ansatzweise wagt, den von der israelischen Regierung im Gazastreifen begangenen Völkermord anzuprangern, wird sogleich als “Antisemit” abgestempelt. Hauptsache, wir sind die Guten und alle anderen sind die Bösen. Bezeichnend ist auch, dass die kürzlich erfolgte Zusicherung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian, sein Land werde keine Atombomben bauen, keinerlei Eingang fand in die westlichen Mainstreammedien. Dies, nachdem die Atombombengefahr durch Iran seit Jahrzehnten von westlichen Politikern und Medien an die Wand gemalt wurde und auch als Grund für harte wirtschaftliche Sanktionen diente. Aber einer Mitteilung wert ist offensichtlich nur das, was möglichst haargenau ins bestehende Feindbild hineinpasst.

Auch der Begriff des “Terrorismus” ist, aus westlich-kapitalistischer Warte, so klar und eindeutig besetzt, definiert und tief in den Köpfen verankert, dass man sich gegenteilige Interpretationen schon gar nicht mehr zu denken wagt. Einfach gesagt: Das “Gute” ist die “demokratisch-freiheitliche” Ordnung des Westens und ihrer Wertewelt, angeführt von den USA als Weltmacht Nummer eins. Alles, was sich gegen diese Wertewelt auflehnt, ob die iranischen Revolutionsgarden, Putin, die libanesische Hizbollah, ewiggestrige Marxisten und Kommunisten oder die Blaue Moschee in Hamburg ist “Terrorismus” und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Doch könnte man das Ganze nicht auch in der genau entgegengesetzten Richtung sehen? Wo, wie und weshalb entsteht denn überhaupt “Terrorismus”? Weshalb lebten in Palästina alle Menschen friedlich miteinander und gab es dort keine “Terroristen”, bevor die jüdischen Siedler ins Land kamen und die arabische Bevölkerung aus ihren Wohngebieten zu verdrängen begannen? Entstanden “terroristische” Volksbefreiungsbewegungen in südamerikanischen Ländern nicht ausgerechnet immer gerade dort, wo Militärdiktaturen am verheerendsten wüteten? War die libanesische Hizbollah nicht eine militante Antwort auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch israelischer Truppen in den Süden Libanons im Jahre 1982? Sind “terroristische” Verbände wie die ISIS nicht letztlich eine Folge des völkerrechtswidrigen Kriegs der USA gegen den Irak im Jahr 2003? “Terrorismus” ist die Waffe in der Hand der Ohnmächtigen, der Ausgestossenen, der Ungeliebten, der Gedemütigten, derer, die so verzweifelt sind, dass sie am Ende sogar bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, bloss um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält”, sagte Nelson Mandela, “hat er keine andere Wahl, als zum Rebell zu werden.”

Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist nicht Al-Qaida, IS oder andere “islamistische” Gruppierungen. Auch nicht die Hizbollah oder die Hamas. Auch nicht die Farc oder andere lateinamerikanische Widerstandsbewegungen. Auch nicht die Blaue Moschee in Hamburg. Und schon gar nicht linke Zeitungen wie die “Junge Welt”. Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist das zunächst von Grossbritannien, später von den USA angeführte kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das beinahe die gesamte indigene Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht, rund 15 Millionen afrikanische Kinder, Frauen und Männer als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika deportiert, den amerikanischen wie auch den afrikanischen Kontinent innerhalb weniger hundert Jahre seiner sämtlichen Reichtümer beraubt und die Früchte und Bodenschätze des Südens in den Luxus des Nordens verwandelt hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das mit seiner Speerspitze in Form des US-Imperialismus verantwortlich ist für über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge allein seit 1945, denen insgesamt rund 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind und das 500 Millionen verletzte, verstümmelte und traumatisierte Menschen zurückgelassen hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das bis heute Tag still und heimlich jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor ihrem fünften Lebensjahr ermordet, weil all die Lebensmittel, mit denen diese Kinder ernährt werden könnten, in ferne Länder geschafft werden, wo sie möglichst gewinnbringend verkauft werden. Und es ist dieses kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das unbeirrt am Dogma eines endlosen Wachstums festhält und aus reiner Profitgier die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen systematisch zerstört.

Wenn der Kapitalismus ins Gesicht des vermeintlichen “Terrorismus” schaut, dann schaut er ins Spiegelbild seines eigenen Gesichts. Damit aber kann er sich gleichzeitig aller seiner Verbrechen entschuldigen und entledigen, denn wenn das andere das “Böse” ist, dann muss er selber logischerweise das “Gute” sein. Und er wird, mit jeder Polizeitruppe, die frühmorgens um sechs Uhr ausrückt, mit jeder Drohne, die irgendwo über “Feindesland” abgeworfen wird, mit jeder Zeitung, die verboten wird, mit jeder Nachricht, die gezielt verschwiegen wird, mit jeder Zahl, die ins Gegenteil verdreht wird, und mit jedem Satz und jeder Schuldzuschreibung, mit der Wörter zusammengeworfen werden, die nichts miteinander zu tun haben, alles daran setzen, dass die Wahrheit so lange wie nur irgend möglich nicht ans Licht kommt.

(Dies alles soll freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass auch im Islam – wie übrigens in jeder anderen Religion ebenso – extremistische Tendenzen oder Bewegungen nie ganz ausgeschlossen werden können und fanatische oder gar Hass predigende Wortführer durchaus eine höchst gefährliche und schädliche Wirkung entfalten können. Deswegen aber gleich ganze Kirchenhäuser zu schliessen, den Dialog abzubrechen und Beschuldigungen auf ganze Religionsgemeinschaften auszudehnen, ist zweifellos der genau falsche Weg und führt in aller Regel zu Radikalisierungen, Abspaltungen und all dem, was man eigentlich verhindern möchte. Der seit Jahrzehnten an vielen Orten der Welt höchst erfolgreich geführte interreligiöse Dialog, um sich gegenseitig besser zu verstehen und voneinander zu lernen, ist wohl eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit und darf auf keinen Fall leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.)

Topmodel Bella Hadid eine Antisemitin? Höchst tendenziöse Berichterstattung in der “Sonntagszeitung” vom 21. Juli 2024…

Unter dem Titel “Noch jemand wach im Marketing?” wirft Marlene Knobloch in der “Sonntagszeitung” vom 21. Juni Bella Hadid, mit der Adidas seine neuen Sneaker bewirbt, „Antisemitismus“ vor, weil sie auf Demos den Slogan „From the River to the Sea, Palestine will be free“ brülle. Knobloch wirft die Frage auf, ob es wohl “eine gute Idee” gewesen sei, als “Gesicht für diese Werbekampagne” eine “palästinensische Aktivistin” zu wählen, die “regelmässig gegen den israelischen Staat austeilt”. Ohne auch nur einen einzigen weiteren Beleg für die angeblich antisemitische Haltung von Bella Hadid anzuführen, vergleicht Knobloch im gleichen Atemzug diese Werbekampagne mit jener aus dem Jahre 2013, als das damalige Adidas-Markengesicht Kanye West ein Hakenkreuz auf eine Schuhskizze gekritzelt und einem Adidas-Mitarbeiter geraten haben solle, jeden Tag ein Bild von Hitler zu küssen.

Warum verschweigt Knobloch, dass man den erwähnten Slogan auch ganz anders interpretieren kann? So versteht ihn der amerikanische Historiker Robin D.G. Kelley als „Forderung nach einem einheitlichen, demokratischen und säkularen Staat, in dem die Juden volle Gleichberechtigung geniessen sollten.“ Die israelischen Historiker Amos Goldberg und Alon Confino weisen darauf hin, dass man, wenn man den Slogan als Forderung nach der Zerstörung Israels interpretiert, dann konsequenterweise auch die israelische Forderung nach einem „Gross-Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan“ als Aufruf zur Vernichtung des palästinensischen Volkes ansehen müsste. Und Ruth Dreifuss, ehemalige Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln, sagt: “Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Das wäre eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.”

Wozu eine so tendenziöse Berichterstattung? Wird nicht ohnehin schon genug Öl ständig von allen Seiten ins Feuer gegossen? Seriöser, nicht aufs sensationslüsterne Zuspitzung bedachter Journalismus müsste doch bestehende Feindbilder durch möglichst sachliche Informationsvermittlung abbauen, statt sie zusätzlich zu schüren.

Ferienbeginn: Vom ersten Hamsterrad ins zweite Hamsterrad…

48 Wochen lang warten wir auf ihn, träumen wir von ihm, nehmen ihm zuliebe alle Mühsal in Kauf, haben ihn uns im Innersten, in schlaflosen Nächten, schon in den schönsten Farben ausgemalt, ihn minutiös vorausgeplant, sein Reiseziel in wochenlangen Preis- und Qualitätsvergleichen auserkoren und in den letzten Tagen zuvor in Erwartung auf ihn den Sekundenzeiger auf unserer Uhr kaum mehr aus den Augen gelassen: Es ist der erste Tag der Ferien, der erste Tag, an dem das Leben so richtig beginnen kann und all die so lange aufgestauten und nicht ausgelebten Träume endlich Wirklichkeit werden dürfen…

Und dann, kaum zwei, drei Mal durchgeatmet, stieben wir, nachdem alle Koffer gepackt, das Auto auf Hochglanz poliert und die Nachbarin organisiert ist, welche in der Zwischenzeit den Briefkasten leeren und die Blumen tränken wird, in alle Richtungen davon, die einen nach Norwegen oder Island, die anderen auf die Kanarischen Inseln, wieder andere in die Toscana oder an die portugiesische Atlantikküste und noch einmal andere nach Bali oder auf die Malediven…

Bis dann so oft die Ernüchterung bald schon einmal auf dem Fuss folgt, spätestens beim stundenlangen Warten in endlosen Autokolonnen oder bei der Ankunft im Hotelzimmer, das so ganz anders aussieht als auf den schönen Bildern auf der Homepage oder im Hochglanzprospekt, oder am total überfüllten Badestrand, wo wir kaum einen Platz finden, um uns noch irgendwo dazwischen hinein zu quetschen, oder auf einem Zeltplatz, wo Mücken und das Schnarchen des Nachbarn uns immer und immer wieder den Schlaf verderben, oder in einer Garage, wo erst nach stundenlangem Warten jemand auftaucht, um unser kaputtes Auto zu reparieren, oder auf einem Tourismusbüro, wo wir alles daran setzen, ein besseres Hotel zu bekommen, bis wir uns, genervt und mit durchgeschwitzten Kleidern, damit abfinden müssen, dass die ganze Destination bis auf das letzte Bett ausgebucht ist. Windeln wechseln im Sand, Wandern unter stechender Sonne mit quengelnden Kindern, viel zu schwere Rucksäcke, endloses Suchen nach einem Parkplatz, zermürbende, ellenlange Diskussionen darüber, welches Restaurant zum Abendessen aufgesucht werden soll, kein frisches Brot im Campingladen, unterschiedlichste, nie unter einen Hut zu bringende Erwartungen an den nächsten Tag – selten wird so viel gestritten wie in den Ferien, zu keiner anderen Zeit gehen in so kurzer Zeit so viele Beziehungen in die Brüche…

Nur zu oft wird die Ferienreise, statt zum so sehnlich erhofften Ausbruch aus dem Hamsterrad, bloss zu einem zweiten Hamsterrad, das sich fast noch schneller dreht als das erste. Statt uns von Fremdbestimmung und Ausbeutung erholen zu können, unterwerfen wir uns bloss neuer Fremdbestimmung und Ausbeutung, lassen uns mithilfe raffiniertester Propagandatricks mit Spezialrabatten, Sonderangeboten, Vergünstigungen und Billigflügen an die entferntesten Destinationen verführen, nehmen längste Reisen in Kauf, stehen stundenlang in der prallen Sonne, bloss um ein paar Überbleibsel längst untergegangener Kulturen zu bestaunen, ertragen Hitze und Lärm, die uns, wären wir zu Hause geblieben, ganz und gar erspart gewesen wären, kaufen für die jammernden Kinder im Souvenirladen Spielsachen, die schon bald wieder kaputt sein oder in unserer Wohnung sinnlos herumliegen werden, lesen Bücher, die wir ebenso gut auch zu Hause lesen könnten, und bezahlen für einen Teller Pommes das Zwanzigfache dessen, was sie gekostet hätten, wenn wir sie daheim im Supermarkt gekauft hätten. Bis wir dann zwei oder drei Wochen später, nicht selten erschöpfter als zuvor, wieder nach Hause zurückkehren, wo uns alles zuvor Aufgestaute und Verdrängte, all die nicht gelösten Konflikte doppelt und dreifach wieder einholen, Berge von Wäsche, Hunderte von Emails, die abgearbeitet werden müssen, und Dutzende von Rechnungen, die zu bezahlen sind. “Ich brauche”, sagte mir unlängst eine Bekannte, “meistens mindestens zwei Wochen, um mich von den Ferien wieder ganz zu erholen.” Und es ist kein Zufall, dass es eine Frau war. Die Doppelt- und Dreifachbelastungen, denen so viele Frauen schon übers ganze Jahr ausgesetzt sind, erreichen zu Ferienzeiten geradezu weitere Rekordwerte.

Das kapitalistische Spiel mit dem Zuckerbrot und der Peitsche. Wenn du nur genug hart arbeitest, darfst du dafür drei Wochen lang am Strand liegen und dich rund um die Uhr bedienen lassen. Wie die Wurst an der Schnur, die man dem Hund stets eine Nasenlänge und in immer schnellerem Tempo vor seinem weit offenen Maul herzieht und ihm erst zu fressen gibt, wenn ihn schon fast all seine Kräfte verlassen haben. Wie die Strafe, mit der König Tantalos in Homers Odyssee gepeinigt wurde: Jedes Mal, wenn er sich nach dem Wasser zu seinen Füssen bückte, entwich es ein wenig tiefer nach unten, jedes Mal, wenn er seine Hand zu den Früchten emporreckte, die über ihm an den Zweigen baumelten, wurden diese wie durch Zauberhand ein wenig weiter in die Höhe gehoben. Und auch genau so, wie die Priester von der hohen Kanzel über Jahrhunderte zum “gewöhnlichen” Volk predigten: Wenn du dein Leben lang nur genug hart arbeitest und auf möglichst viel verzichtest, kommst du dann wenigstens als Lohn dafür nach deinem Tod in den Himmel…

An fünf Tagen pro Woche und während 48 Wochen pro Jahr wird alles daran gesetzt, möglichst viel Arbeit in möglichst viel Kapital zu verwandeln, indem Menschen für ihre Plackerei von früh bis spät viel weniger Geld bekommen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. An den übrigen zwei Tagen pro Woche und während der übrigen vier oder fünf Wochen pro Jahr wird sodann alles daran gesetzt, den gleichen Menschen mithilfe einer in solcher Fülle noch nie dagewesenen Freizeit- und Tourismusindustrie möglichst viel von dem Geld, das nach all der Aussaugerei noch übrig geblieben ist, wieder abzuknöpfen. Denn auch das Buchen von Hotelzimmern, das ermüdende Autofahren oder qualvolle Warten in stehenden Kolonnen, das Besänftigen meckernder Kinder, das Aufbauen eines Zeltes bei Wind und Wetter, das improvisierte Kochen, Putzen und Waschen mit einfachsten Mitteln auf dem Campingplatz, Fussmärsche und Radtouren in Lärm und Abgasen – auch dies alles sind, fern aller Musse, Formen von Arbeit, die sich beständig in den Reichtum anderer verwandelt, unsichtbar und an unzähligen anderen Orten, hinter dicksten Mauern versteckt.

Doch was bleibt, nach allem, übrig? Was suchen wir in der Ferne, was uns in der Nähe scheinbar so schmerzlich fehlt? Was wissen wir nachher, was wir vorher nicht gewusst haben? Zu wie vielen tiefen Begegnungen ist es tatsächlich gekommen? War es die Reise wirklich wert, der ganze Aufwand, das ganze Geld? Sind nicht die Reisen ins Innere die schönsten Reisen, die wertvollste Bereicherung des Lebens – und erst noch, ohne dass wir dafür etwas bezahlen müssen? Dieser Sommermorgen, an dem ich noch vor den Vögeln erwachte und drei Stunden lang an einem Artikel weiterschrieb, bevor ich mich noch einmal zur Ruhe legte, während es allmählich hell wurde. Diese Wolkengebilde drüben über dem Berg nach einem Gewitter, die sich gegenseitig auftürmen, ineinander verquirlend und immer wieder neue kunstvollste Bilder kreierend, die mich unlängst derartig in Bann zogen, dass ich sogar Angst hatte, viel zu viel zu verpassen, wenn ich sie nicht stundenlang bestaunen würde, Bilder, die es nur ein einziges Mal gibt und die sich niemals mehr in der gleichen Weise wiederholen werden. Dieser Sommertag, an dem ich an der Blumenwiese beim Bahnhof vorbeischlenderte und dachte, keine Blumenwiese in Mexiko, Namibia oder Vietnam kann schöner sein. Dieser Regentag, an dem ich zwei Stunden bei einer ehemaligen Schülerin verbrachte, die gerade ihre über alles geliebte Katze verloren hatte und der zu allem Überdruss infolge eines dummen Zwischenfalls mit ihrem Vermieter auch noch die Wohnung gekündigt worden war. Die Spaziergänge mit dem 95jährigen Pierre, der seit einem halben Jahr an den Rollstuhl gefesselt ist und sich immer schon eine ganze Woche lang auf diese Spaziergänge freut wie ein kleines Kind, besonders auf all die Rosen in den Gärten auf unserem Weg, an denen er so genüsslich schnuppert – ohne diese Spaziergänge würde er den ganzen Sommer lang einsam und traurig in seinem Zimmer sitzen wie in einem Gefängnis. Und dann dieser Sommerabend mit Amin, dem Papa der vierköpfigen afghanischen Flüchtlingsfamilie, die seit zwei Monaten in meinem Haus lebt. Diese unfassbaren Geschichten, die sich kaum in Worte fassen lassen…

Und jetzt, plötzlich, prallen die eine Geschichte, die Geschichte der Luxusreisen der reichen Menschen aus dem Norden in den Süden, und die andere Geschichte, die Geschichte der Flüchtlinge, die so verzweifelt und mit Todesmut einen Weg zu finden suchen aus dem Süden in den Norden, auf geradezu gespenstische Weise aufeinander: Wenn an den Badestränden von Teneriffa, wo sich die sonnenhungrigen Menschen aus Deutschland, Schweden oder der Schweiz ihre Cocktails servieren lassen, immer wieder mal die Leiche eines afrikanischen Kindes an Land geschwemmt wird und sich die riesigen Kreuzfahrtschiffe des Nordens, vollgespickt mit erlesensten Köstlichkeiten aus aller Welt, und die winzigen, ganz und gar nicht gegen die hohen Wellen gewappneten Boote der Flüchtlinge geradezu auf Augenhöhe begegnen. Noch nie waren weltweit so viele Menschen aus reichen Ländern oder aus den reichen Oberschichten armer Länder weltweit unterwegs. Und noch nie gab es, gleichzeitig, weltweit so viele Flüchtlinge aus Krisen-. Kriegs- und Hungergebieten und aus Ländern, die vom zunehmenden Klimawandel immer stärker betroffen sind. Nur dass für die Menschen aus den Zonen des Reichtums alle Grenzen geöffnet sind und sie sogar mit allen Mitteln dazu angespornt werden, diese Grenzen zu überschreiten, um sich mehr denn je all die Annehmlichkeiten der von ihnen besuchten Länder einzuverleiben und sich von den dort lebenden Menschen auch noch die absurdesten Luxusbedürfnisse befriedigen zu lassen. Während den Menschen, die auf dem umgekehrten Weg auf der Reise sind, immer höhere Mauern entgegengebaut werden, Grenzen immer dichter und mit immer tödlicheren Mitteln befestigt werden und man ihnen keine Blumen und keine Willkommensgrüsse entgegenschickt, sondern nur Bluthunde auf sie hetzt, ihnen die Kleider vom Leibe reisst, sie vergewaltigt und zu Tode prügelt.

Doch ebenso wenig, wie die reicheren Menschen der Welt ihren Alltagssorgen dadurch entfliehen können, indem sie immer längere Reisen unternehmen, so wenig können sie dabei auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen, selbst wenn sie es noch so zu verdrängen versuchen. Zwar werden die Fluchtwege aus den reichen in die ärmeren Zonen der Welt von den in die Gegenrichtung laufenden Fluchtwegen geradezu chirurgisch voneinander getrennt, sodass es möglichst selten zu so unliebsamen Begegnungen kommt wie jenen paar wenigen auf den Kanarischen Inseln, welche die ganze aufgeladene Ferienfreude auf einen Schlag vernichten würden. Doch im Allerinnersten wird es auf die Dauer wohl niemanden wirklich in Ruhe lassen, da können wir eine noch so grosse Hektik entfalten, uns mit noch so vielen künstlichen Verlockungen abzulenken versuchen und noch so viele Schlaf- und Beruhigungsmittel in uns hineinpumpen. Haben wir auch nur ein einziges dieser Bilder gesehen, auch nur eine einzige dieser Geschichten gehört, werden wir sie zeitlebens nie mehr wirklich vergessen können, tief in unserem Innersten werden sie uns nie mehr in Ruhe lassen.

Menschen auf der Flucht. Noch nie in so grosser und immer weiter wachsender Zahl. Die einen im Kampf ums nackte Überleben. Die anderen auf der Jagd nach nie wirklich erfüllbaren Illusionen. Und manchmal kommt es mir vor, als seien sie letztlich auf der Flucht vor sich selber, verzweifelt in der Aussenwelt etwas suchend, was sie in ihrer Innenwelt immer noch nicht gefunden haben und auf diese Weise auch niemals finden werden. In der berühmten Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry steht der kleine Prinz an einem Bahngeleise, auf dem ein Zug pfeilschnell in die eine Richtung donnert und ein anderer kurz darauf in die entgegengesetzte Richtung. Und der kleine Prinz fragt höchst verwundert: “Warum kommen sie denn so schnell wieder zurück, waren sie dort, wo sie waren, nicht zufrieden gewesen?”

Der erste Ferientag. Die Koffer sind zwar schon gepackt, doch die Reise wird erst übermorgen beginnen. Der viereinhalbjährige Bosni und Luca, der gleichaltrige Nachbarsbub, haben mich zum nahegelegenen Schulhausplatz mitgenommen. Das Ziel ihrer Reise: Ein Brunnen in Form eines etwa drei Meter langen, zwei Meter breiten und einen Meter hohen Steins, aus dem an der obersten Stelle Wasser heraussprudelt, das dann durch eine schmale Rinne bis zum Boden hinunterfliesst. Die beiden Buben klettern auf den Stein, benetzen ihn mit dem Wasser aus dem Rinnsal, bis er an einigen Stellen ganz dunkel geworden ist. Dann versuchen sie, das Wasser an einer etwas schmaleren Stelle aufzuhalten, sodass sich oberhalb davon ein kleiner Stausee zu bilden beginnt. Verschieden grosse Steine, aufgelesen aus dem Untergrund rund um den Brunnen, sollen das bewerkstelligen, die schwereren muss ich ihnen hinaufreichen. Mit Holzschnitzeln werden sodann die Ritzen zwischen den Steinen solange vollgestopft und akribisch beobachtet, wie viel Wasser immer noch durch die Sperre hindurchläuft, bis es endlich fast nur noch ein paar Tropfen sind. Ich bin fast ganz sicher, das Spiel würde endlos weitergehen und die beiden Buben kämen noch auf tausend andere Ideen, wenn jetzt nicht Zeit um Abendessen wäre.

Auch bei der viereinhalbjährigen Fatima und ihrem zweieinhalbjährigen Bruder Nic sind am nächsten Tag die Koffer schon gepackt, aber auch bei ihnen geht die Reise erst am Tag darauf los. Heute spielen die beiden Kinder im Stadtpark. Fatima hat mich zu einem Wäldchen mit dichtem Gebüsch geführt, durch welches, wie in einem Labyrinth, kleine Wege kreuz und quer hindurch gehen. “Komm!”, ruft sie, und ist schon hinter einem kleinen Strauch verschwunden, huscht wie ein Wiesel über die kleinen Wege und am liebsten immer dort, wo es am engsten ist und ich mich wegen der tief hängenden Zweige am meisten bücken muss, was sie besonders lustig findet. Kurz darauf plantschen die Kinder im knöcheltiefen Wasser des Baches, der sich durch das Wäldchen hindurchschlängelt. An einer Stelle, wo das Wasser etwas tiefer ist, hat Nic augenblicklich ein lustiges Spiel herausgefunden: Er wirft einen graugrünen runden Stein mit feinen schwarzen Linien, der ganz genau in seine kleine Hand passt, ins Wasser, worauf Sand und Erde aufgewirbelt werden, sodass man wegen der Trübung des Wassers den Stein nicht mehr sehen kann. Dann sucht er mit seiner Hand den Stein an der Stelle, wo er ihn vermutet. Manchmal ist es schon beim ersten Versuch der richtige, manchmal ein ganz anderer, was dem kleinen Nic jedes Mal ein so fröhliches Lachen entlockt, dass man allein darüber schon lange philosophieren könnte, was denn daran so lustig ist, aber wahrscheinlich ist es einfach der Moment, da der Stein in seiner Hand so ganz anders aussieht, als er eigentlich erwartet hätte. Manchmal aber ist es auch ein Stein, der fast gleich aussieht wie der richtige, aber doch nicht der richtige ist. Dann schaut Nic ihn lange und gründlich an, bis er dann aufgrund eines winzigen Merkmals zu erkennen vermag, ob es der richtige ist oder nicht. Einmal gleicht ein vermeintlich falscher dem richtigen Stein so sehr, dass wir auf einmal beide nicht mehr sicher sind, welcher es nun ist, und da muss auch ich laut herauslachen. Und auch dieses Spiel würde wahrscheinlich noch stundenlang weitergehen, wenn nicht die Mama inzwischen das Abendessen gekocht hätte und auf uns warten würde.

Eines Tages werden die Menschen nicht mehr auf der Flucht sein. Weder vom Norden nach dem Süden, noch vom Süden in den Norden. Weder aus dem Reichtum in vermeintliche Paradiese früherer Jahrtausende, noch aus Armut, Hunger und Verzweiflung in eine ersehnte glücklichere Zukunft. Weder auf der Flucht vor anderen, noch auf der Flucht vor sich selber. Wenn alles wieder im Lot ist. Wenn Arbeit, Freizeit, Lebensfreude, Spiel und Genuss nicht mehr verschiedene, voneinander getrennte Dinge sind, sondern alles nur einzelne Facetten eines grossen Ganzen. Wenn sich jeder Mensch in seiner täglichen Arbeit leidenschaftlich, selbstbestimmt und ohne äussere Zwänge so verwirklichen kann, dass er seine Träume und Sehnsüchte nicht mehr länger in andere Zeiten und andere Welten hinausschieben muss. Wenn alles weltweit unter alle so gerecht verteilt ist, dass nicht die einen so viel Geld haben, dass sie damit gar nicht genug lange und weit reisen können, während andere im gleichen Land selbst in der Ferienzeit in kleinen, stickigen Wohnungen ausharren müssen und sich nicht einmal einen Ausflug zur Grossmutter leisten können, die hundert Kilometer weit von ihnen entfernt wohnt, und wieder andere nicht einmal dort, wo sie geboren wurden, ein gutes und schönes Leben für sich und ihre Kinder und ihre Zukunft haben können. Wenn alle Grenzen offen sind, die Menschen aber dennoch nicht wie wildgewordene Wespen quer über alle Kontinente rasen, sondern Reisen wieder etwas Langsames, Behutsames, Sanftes, Genussvolles geworden ist, alle Wunder der Natur in ihrer Einmaligkeit, Schönheit und Unversehrtheit so heilig haltend, dass sie auch noch in hundert oder tausend Jahren die Augen und die Seelen der Menschen erfreuen werden. Wenn wir alle, alles miteinander teilend, ohne schlechtes Gewissen und ohne immer und immer wieder verdrängte und hinausgeschobene Sehnsüchte jeden Tag des Lebens so geniessen können wie die Kinder, die soeben zur Welt gekommen sind. Wenn es keine Ferien mehr braucht, weil das ganze Leben nichts anderes ist als eine einzige grosse, genussvolle und sinnerfüllte Ferienzeit.

Gesperrte UNRWA-Gelder: Was auf den ersten Blick nach einem gutschweizerischen Kompromiss aussieht, ist in Tat und Wahrheit nichts anderes als eine jeglicher Verhältnismässigkeit spottende Absage an die jahrhundertealte demokratische, humanitäre und neutralitätspolitische Tradition unseres Landes…

Der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier möchte, wie der “Tagesanzeiger” am 12. Juli 2024 berichtet, mittels eines Postulats an den Stadtrat bewirken, dass “die Stadt Zürich angesichts der humanitären Situation in Gaza prüfen soll, wie schnellstmöglich ein substanzieller Betrag zugunsten des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA getätigt werden könnte”. Denn die Lage in Gaza sei, so Meier, “verheerend”: 81 Prozent der Haushalte hätten keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen hätten ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot stehe kurz bevor. Da der Bundesrat nur einen kleinen Teil der ursprünglich vorgesehenen Mittel von 20 Millionen Franken der UNWRA zur Verfügung stellen möchte, müssten nun halt, so Meier, die Städte einspringen, um Schlimmeres zu verhindern. Doch die Vertreterinnen und Vertreter der Mitte und der FDP halten dagegen: Beide Parteien sehen es ausschliesslich als Aufgabe des Bundes, Aussenpolitik zu betreiben. FDP-Gemeinderat Michael Schmid meinte sogar, die Stadt würde durch eine Zustimmung zu diesem Postulat ihre Kompetenzen überschreiten und die Aussenpolitik der Schweiz “übersteuern”. Der Stadtrat hat nun theoretisch zwei Jahre Zeit, um sich des Anliegens des Postulats anzunehmen. Meier und seine Mitunterzeichnenden hoffen indessen, dass der Stadtrat entgegen dieser Bedenken das Postulat aufgrund der Notlage in Gaza rascher umsetzen werde.

Blenden wir zurück: Ende Januar 2024 erhebt die israelische Regierung den Vorwurf, zwölf Mitarbeiter der UNRWA seien an den von der Hamas verübten Terrorattacken gegen israelische Zivilpersonen am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen, ohne allerdings hierfür Beweise vorzulegen. Der Vorwurf wird unmittelbar von zahlreichen westlichen Regierungen, inklusive der Schweiz, übernommen und eine Streichung bzw. Kürzung der finanziellen Unterstützung der UNRWA beschlossen. Die bürgerliche Mehrheit in der Aussenpolitischen Kommission des schweizerischen Nationalrats entscheidet, dass vorerst kein Geld aus der Schweiz an die UNRWA fliessen soll. Man wolle zuerst mit “anderen Partnern” sprechen – gemeint ist unter anderem die rechte israelische Lobbyorganisation UN Watch, die schon seit längerem gegen die UNWRA agiert.

Am 28. März 2024 erklärt der Schweizer Diplomat Philippe Lazzarini, langjähriger Chef der UNRWA, in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.”

Am 24. April berichtet Radio SRF, Beweise für eine Verwicklung der UNWRA in die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 würden nach wie vor fehlen, doch dies hätte bislang keine Sinnesänderung bei den bürgerlichen Politikern bewirkt. Auch wird im Bericht darauf hingewiesen, dass Bundesrat Ignazio Cassis schon immer ein UNRWA-Kritiker gewesen sei. So hätte er auf einer Reise nach Jordanien im Jahre 2018 die UNRWA als Teil, nicht aber als Lösung des Nahostproblems bezeichnet, worauf es internationale Kritik gehagelt hätte.

Am 30. April weist der “Tagesanzeiger” auf die zentrale Figur hin, welche zur negativen Haltung der bürgerlichen Parteien gegenüber der UNRWA entscheidend beigetragen hätte. Es handelt sich um Hilel Neuer, einen kanadischen Anwalt, der alles daran setze, sein Publikum davon zu überzeugen, dass die UNRWA zerschlagen gehöre, weil sie von der radikalislamischen Hamas unterwandert sei. Von Genf aus steuert Neuer, der auch Direktor der rechten Nichtregierungsorganisation UN Watch ist, die Kampagne gegen das Hilfswerk. In der Budgetdebatte der letzten Wintersession hätte sich SVP-Nationalrat David Zuberbühler explizit auf Recherchen von UN Watch berufen, um für das Ende der UNRWA-Gelder zu weibeln.

Im gleichen “Tagesanzeiger”-Artikel vom 30. April lesen wir, dass Schweizer Entwicklungs- und Hilfsorganisationen zwei Petitionen mit über 45’000 Unterschriften an den Bundesrat eingereicht hätten, welche einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza und die Freigabe der UNRWA-Gelder forderten. Auch wird darauf hingewiesen, dass keine andere Organisation auch nur annähernd über jene Logistik verfüge, welche von der UNRWA über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden ist, um Hungerhilfe wie auch Bildungs- und Schulprogramme für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen effizient umzusetzen. Auch in einem Untersuchungsbericht der UNO werde die Tätigkeit der UNRWA als “unersetzlich” und “unverzichtbar” beschrieben.

Am 1. Mai schreibt der “Tagesanzeiger”: “Das Ausmass der Verzweiflung in Gaza ist unvorstellbar. Nach Angaben der UNO sind mehr als eine Million Menschen vom Hungertod bedroht, und die medizinische Versorgung steht vor dem Kollaps. Ohne rasche Hilfslieferungen droht eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses.” Etwas überraschend habe nun die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats beschlossen, “der Organisation nicht komplett den Stecker zu ziehen”. Konkret verlangt sie, dass der Bundesrat einen Teil der Gelder für humanitäre Hilfe an die UNRWA freigeben soll. Allerdings dürften die Mittel nur für Nothilfe und humanitäre Hilfe eingesetzt werden, nicht aber für längerfristige Aufbauprojekte. Mittelfristig solle die UNRWA nicht mehr direkt finanziert werden.

Am 8. Mai beschliesst der Bundesrat, einen Beitrag von 10 Millionen – also die Hälfte der ursprünglich budgetierten 20 Millionen – an die UNRWA zu leisten. Der Beitrag ist auf reine Nothilfe zwischen Mai und Dezember 2024 beschränkt. Für die definitive Freigabe der Mittel brauche es aber noch die Zustimmung der Aussenpolitischen Kommissionen der beiden Räte, die etwa Mitte Juni zu erwarten sei.

In der “New York Times”, auf welche ein Artikel der “NZZ” vom 30. Mai Bezug nimmt, wirft UNRWA-Chef Lazzarini Israel vor, Zivilpersonen verfolgt, gefoltert und getötet zu haben, um falsche Zeugenaussagen zu erzwingen, mit denen die UNRWA belastet werden sollte. Israel, so Lazzarini, betreibe die systematische Zerschlagung der UNRWA. Seit dem 7. Oktober 2023 seien mindestens 192 UNRWA-Mitarbeiter in Gaza getötet und mehr als 170 UNRWA-Gebäude beschädigt oder zerstört worden, darunter auch Schulen. Etwa 450 Vertriebene hätten den Tod gefunden, als sie in Schulhäusern und anderen Einrichtungen der UNRWA Schutz gesucht hätten. Zudem würden israelische Streitkräfte Angestellte des Hilfswerks regelmässig schikanieren und jeden inhaftieren lassen, der sich über Folter und Misshandlungen in israelischem Gewahrsam beklage. Mittlerweile hätten die gezielten Aktionen gegen die UNRWA auch Ost-Jerusalem erreicht. Immer wieder komme es zu gewalttätigen Demonstrationen gegen das Hilfswerk. Unter dem Beifall eines Mitglieds des Bürgermeisteramts seien mindestens zwei Brandanschläge auf ein Gebäude der UNRWA verübt worden. Ungewöhnlich scharf attackiert Lazzarini auch den Bundesrat und das Parlament: In Bern habe “«”jede Menge Lobbying zugunsten Israels” stattgefunden. Bei der Entscheidung, der UNRWA die Gelder zu kürzen, habe sich die Politik einseitig von Israel beeinflussen lassen. Mit Neutralität habe das nichts mehr zu tun. Mit einer solchen Politik untergrabe man die Politik der Guten Dienste.

Man kann Lazzarini nur zustimmen. Gerade mal zwölf (!) von insgesamt 13’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UNRWA sollen in die Terrorattacken vom 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen sein, und nicht einmal das konnte die israelische Regierung bis zur Stunde beweisen. Wären es mehr als zwölf gewesen, hätte die israelische Regierung wohl kaum davor zurückgeschreckt, eine auch weitaus höhere Zahl zu nennen. Zudem wurden neun dieser zwölf Angestellten unverzüglich entlassen und Untersuchungen gegen sie eingeleitet. Alles steht auf dermassen fadenscheinigen Behauptungen, dass es ausserordentlich schwerfällt, zu glauben, Israel ginge es auch nur im Entferntesten um so etwas wie “Gerechtigkeit”. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass es der Regierung Israels einzig und allein darum geht, die UNRWA als wichtigste Organisation für die humanitäre Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung – mit Nahrungsmittelhilfe für 830’000 Menschen, Schulbildung für eine halbe Million Kinder und grundlegende medizinische Versorgung für 3,5 Millionen Menschen – systematisch zu schwächen oder gar zu zerstören. Dass die offizielle Schweiz dieses Spiel mit dem Leben und Tod von Millionen Menschen mitspielt und – im Gegensatz etwa zu Norwegen, Schweden, Spanien, Irland, Belgien, Österreich, Deutschland und Kanada – die Zahlungen an die UNRWA nach wie vor aussetzt, spottet jeglicher Vernunft, jeglichem Augenmass und jeglicher Solidarität mit Millionen von unschuldigen Menschen, die von unvorstellbarer Not betroffen sind. Und ausgerechnet die SVP, welche sich, wenn es ihr nicht in den Kram passt, stets mit Händen und Füssen gegen eine Einmischung des “Auslandes” in die “inneren Angelegenheiten” der Schweiz zur Wehr setzt, schenkt einem einzigen aus Kanada herbeigeflogenen und für seine engen Verbindungen zur israelischen Militärregierung bestens bekannten Anwalt mehr Gehör als einer von über 45’000 Schweizerinnen und Schweizern unterzeichneten Petition sowie ihrem eigenen Landsmann Philippe Lazzarini, der das UNRWA-Hilfswerk seit vier Jahren mit grosser Umsicht, grossem Engagement und Sachverständnis führt. Dass die Zahlungen an die UNRWA um die Hälfte gekürzt wurden und selbst dies noch am Widerstand bürgerlicher Politikerinnen und Politiker scheitern könnte, sieht nur auf den ersten Blick nach einem gutschweizerischen Kompromiss aus. In Tat und Wahrheit ist es eine jeglicher Verhältnismässigkeit spottende Absage an die jahrhundertealte demokratische, humanitäre und neutralitätspolitische Tradition unseres Landes. Denn, wie auch Lazzarini sagt: “Wenn wir die UNRWA in einer solchen Krise wie der heutigen abschaffen, werden wir die Verzweiflung der Menschen nur noch vergrössern, die Saat für künftige Ressentiments, Rache und Gewalt nur noch weiter säen und jeden zukunftsgerichteten politischen Prozess schon zum Vornherein untergraben.”

10. Montagsgespräch vom 1. Juli 2024: Bezahlbarer Wohnraum – zunehmend Mangelware?

„Bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper. Besonders hart trifft es ärmere Haushalte, bei denen die Miete oft das Einkommen bis zur Hälfte auffrisst. Es ist höchste Zeit, dass Bund, Kantone und Gemeinden den Ernst der Lage erkennen.“ Diese Aussage des Caritas-Direktors Peter Lack sowie die Tatsache, dass sich seit den Börsengängen der grossen Immobilienkonzerne vor rund 20 Jahren die Mieten überproportional erhöht haben, bildeten den Ausgangspunkt des 10. Buchser Montagsgesprächs vom 1. Juli, zu dem als Fachpersonen Andreas Schwarz, Buchser Stadtrat und Leiter des Ressorts Bau/Umwelt, Andreas Rohrer, Buchser Ortsgemeindepräsident, Max Altherr, Präsident einer Wohnbaugenossenschaft, sowie die beiden Architekten Timothy Allen und Ronan Crippa eingeladen waren.

Andreas Schwarz betonte, dass trotz anhaltend starken Wachstums im Werdenberg zurzeit noch immer genügend Wohnraum vorhanden sei. Dies aber, so gab Max Altherr zu bedenken, könnte sich schon bald ändern, denn die sich in Zürich abzeichnende Tendenz zu immer stärkerer Verknappung bezahlbaren Wohnraums werde sich früher oder später auch in anderen Regionen der Schweiz zeigen. Altherr habe daher grosse Sympathien für die Haltung der SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, welche fordert, dass der Boden, wie früher die Allmende, der Allgemeinheit gehören sollte und alles andere nur „Flickwerk“ sei. Er brachte an, dass die Kommunen aktiver in die Bodenpolitik eingreifen sollten. Mit Vorkaufsrechten und der Abgabe des Bodens im Baurecht könnte gezielt auf die Entwicklung Einfluss genommen werden.

Als weitere Lösungsvorschläge wurden genannt: Einfache Sanierungen anstelle von Luxuslösungen, Einbezug der Bevölkerung in die Ortsplanung, Quersubventionierung von teureren und günstigeren Mieten innerhalb einer Überbauung, Beschränkung der Nutzung eines Einfamilienhauses auf die Zeit, da die Kinder noch zuhause sind.

Im Verlauf der Diskussion wurde immer deutlicher, dass nicht nur Gesetze und Vorschriften angepasst werden müssten, sondern auch das gesellschaftliche Bewusstsein gestärkt werden müsste. Es sollte nicht nur das Individuum im Vordergrund stehen, sondern genauso die Bedürfnisse der Allgemeinheit. So könnte der Fokus auf das gemeinsame Planen von Nachbarschaften gelegt werden, anstatt auf einzelne Bauten. Ob die heutige Gesetzgebung dieser Herausforderung gerecht werden kann, wurde jedoch infrage gestellt. Am Schluss rief Stadtrat Andreas Schwarz die Buchser Bevölkerung auf, sich unbedingt an der E-Mitwirkung zur Revision der Ortsplanung zu beteiligen, die 2027 in Kraft gesetzt werden soll. Auch dieses Montagsgespräch zeigte, wie bereichernd es sein kann, wenn Menschen zusammenkommen, die normalerweise nicht miteinander am gleichen Tisch sitzen, was allen Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, neue, bisher noch wenig bekannte Sichtweisen kennenzulernen.

Die russische “Kriegspropaganda” und die Schweiz: Wenn man auf dem einen Auge so scharf sieht, dass man auf dem anderen schon fast blind ist…

“Putins Propaganda-Sender fährt Kampagne gegen die Schweiz” – so die Hauptschlagzeile auf der Titelseite des “Tagesanzeigers” vom 22. Juni 2024. SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, so lesen wir im Folgenden, sei vom russischen Staatssender RT (Russian Today) als “Kriegstreiberin” bezeichnet worden, Viola Amherd als “KIndermörderin”, die Bürgenstock-Konferenz als “Kriegsgipfel” und “Lachnummer”. Besonders befremdlich sei, so der “Tagesanzeiger”, dass die russische “Anti-Schweiz-Propaganda” bei immer mehr Menschen in der Schweiz Anklang finde, so sei die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer der deutschsprachigen RT-Seite jüngst um rund 50 Prozent gestiegen. Ziel von RT sei ganz offensichtlich die “Spaltung der westlichen Gesellschaften”. Die Stimmen derer, die ein Verbot von RT für die Schweiz fordern, so wie es in der EU bereits in Kraft gesetzt worden ist, würden daher immer lauter. Auch Seiler Graf sei der Meinung, dass die Schweiz ein Verbot von RT mindestens prüfen müsse, handle es sich hier doch um “übelste Propaganda”. Die Artikel seien “so perfide konstruiert”, dass “viele Schweizerinnen und Schweizer das offenbar glauben”. Auch Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun äussert sich dahingehend, dass “vielen schweizerischen Bürgerinnen und Bürgern offenbar die Fähigkeit oder der Wille fehlt, solche Falschinformationen als Propaganda zu erkennen”.

Bin ich auch einer von denen, der dieser “perfiden russischen Anti-Schweiz-Propaganda” auf den Leim gegangen ist? Auch in meinen Augen nämlich ist Priska Seiler Graf, neben vielen anderen, eine “Kriegstreiberin”. Auch ich könnte, wenn dies auf den ersten Blick auch etwas gar weit hergeholt zu sein scheint, Viola Amherd als “Kindermörderin” bezeichnen, hat sie doch mit ihrem total einseitigen Engagement für die Ukraine der schweizerischen Neutralität und damit einer der letzten Chancen für eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts das Grab geschaufelt und damit fahrlässig Tausende weiterer Kriegsopfer in Kauf genommen, auch zahllose Kinder, und dies, ohne je das schweizerische Volk gefragt zu haben, ob es damit auch tatsächlich einverstanden sei. Auch ich würde die Bürgenstock-Konferenz als “Kriegsgipfel” und “Lachnummer” bezeichnen. Bloss: Ich bin ganz alleine zu diesem Schluss gekommen, ohne auch nur eine Sekunde lang von der russischen “Anti-Schweiz-Propaganda” beeinflusst worden zu sein oder zu diesem Thema einen Artikel auf RT gelesen zu haben.

Denn die Fakten als solche sprechen eine genug deutliche Sprache: Russland wurde ja von Viola Amherd und Ignazio Cassis hauptsächlich deshalb nicht zur Bürgenstock-Konferenz eingeladen, weil Selenski eine Teilnahme sonst verweigert hätte – man hat sich also, fern jeglicher neutral- und friedenspolitischer Tradition, klar für die Ukraine und gegen Russland entschieden und damit die Aussicht auf eine echte Friedenslösung zum Vornherein bewusst verbaut. Dies kommt auch im Kommentar des “Tagesanzeigers” vom 17. Juni zum Ausdruck, der das Abschlusspapier der Bürgenstock-Konferenz vor allem deshalb so “bemerkenswert” findet, weil es “ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist”, das Resultat der Konferenz daher als “frischen Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine” bezeichnet und den Erfolg des Gipfels vor allem darin sieht, dass es “nicht in erster Linie um den Frieden” gegangen sei, sondern “um die Ukraine”, um abschliessend festzuhalten, dass damit nun die “Zeit reif geworden” sei, dass “die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.” Und wenn dies alles noch nicht genug gewesen wäre, um in meinen Augen die vermeintliche “Friedenskonferenz” als eigentliche Kriegskonferenz zu sehen, hätte es, als Tüpfelchen auf dem i, eigentlich nur noch die Aussage der US-Vizepräsidentin Kamala Harris gebraucht, die ganz unverblümt erklärte, Amerika stehe “nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine”, sondern nur, “weil es in unserem strategischen Interesse liegt.”

Auch die “unsägliche” und angeblich völlig aus der Luft gegriffene Behauptung von RT, SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf sei eine “Kriegstreiberin”, hat mehr als einen wahren Kern. Sie war es schliesslich, die, entgegen der ureigenen friedenspolitischen und pazifistischen Tradition ihrer eigenen Partei, mit ihrem Stichentscheid als Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats dafür die Verantwortung trägt, dass entgegen aller bisheriger neutralitätsrechtlicher Bedenken nun doch Schweizer Waffen an die Ukraine geliefert werden können. Dass Seiler Graf in diesem Zusammenhang gar noch von einer “Koalition der Willigen” sprach, schlägt dem Fass endgültig den Boden aus, war dies doch zuletzt der Begriff für die mit den USA verbündeten westlichen Militärmächte, die 2003 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak lancierten, welchem in der Folge über eine halbe Million unschuldiger Menschen zum Opfer fallen sollten. Zum Glück gibt es noch die SVP, die gegen diesen Entscheid bereits das Referendum angekündigt hat…

Eigentlich fallen all die Vorwürfe an die Adresse Russlands, einseitig und tendenziös zu informieren und “Kriegspropaganda” zu betreiben, bei Lichte besehen auf den Westen selber zurück, und insbesondere auch auf die Schweiz. Denn die Einseitigkeit, mit der unsere Mainstreammedien zum Thema Ukraine und Russland berichten, lässt sich wohl kaum überbieten. So etwa wird die ganze Vorgeschichte des Ukrainekriegs von der seit Jahrzehnten seitens namhafter US-Politiker immer wieder erhobenen Forderung nach einer “Zerstückelung” Russlands über die entgegen sämtlicher früherer Zusagen kontinuierlich vorangetriebene NATO-Osterweiterung, die Verwicklungen der CIA in den Maidanputsch 2014 und die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine bis zum Konfliktlösungsvorschlag Putins im Dezember 2021, der von der US-Regierung kommentarlos zurückgewiesen wurde, in sämtlicher Berichterstattung systematisch ausgeklammert und mit allen Mitteln die Fiktion aufrechterhalten, wonach der Ukrainekrieg genau am 22. Februar 2022 angefangen hätte und keinen einzigen Tag zuvor. Auch werden sämtliche Themen, die auf die westliche Seite ein schlechtes Licht werfen könnten, systematisch unterdrückt bzw. verschwiegen: Bis heute gilt das “Massaker von Butscha” als eigentliches Mahnmal für die Brutalität und Grausamkeit der russischen Kriegsführung, obwohl nie eine unabhängige Untersuchung dieses Ereignisses stattgefunden hat. Ebenso liegt über den Hintergründen der Anschläge auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee nach wie vor ein Deckel der Verschwiegenheit. Auch darüber, dass bereits Tausende von russischsprachigen Lettinnen und Letten, die sich weigerten, lettische Sprachkurse zu besuchen, inzwischen ausgebürgert wurden, konnte man in den allermeisten westlichen Medien nie etwas lesen. Auch dass Alexei Nawalny, der in den westlichen Medien durchwegs zum Repräsentanten für Demokratie und Menschenrechte im Kampf gegen den brutalen Diktator Putin emporstilisiert wurde, in Tat und Wahrheit ein Rassist übelster Sorte war, ethnische Minderheiten als “Kakerlaken” bezeichnete, ihre Deportation forderte oder gar ihre Vernichtung mithilfe von Marschflugkörpern, all dies fand nie Platz in der Berichterstattung der westlichen Mainstream-Medien. Da beispielsweise im “Tagesanzeiger” über Wochen ausschliesslich positive und in höchstem Masse lobende, geradezu glorifizierende Berichte über Nawalny erschienen, sah ich mich zu einem Leserbrief veranlasst, in dem ich auf die negativen Seiten Nawalnys hinzuweisen versuchte. Der Leserbrief wurde nicht veröffentlicht. Auf meine Nachfrage an die Chefredaktion, ob es nicht im Sinne demokratischer Meinungsbildung liegen müsste, auch alternative Sichtweisen zu verbreiten, erhielt ich nie eine Antwort. Zwar heisst es in einem kürzlich vom Bundesrat veröffentlichten Bericht zur Informationspolitik, das Bundesgericht vertrete in seiner Rechtsprechung die “Grundannahme, dass die Individuen jede Meinung und Information sollen hören können, um sich im freien Austausch aller Äusserungen selbst eine Meinung bilden zu können”, doch Theorie und Praxis scheinen mittlerweile erschreckend weit auseinanderzuklaffen.

Wie tendenziös, ja geradezu militarisiert die ganz “gewöhnliche” Sprache in den meisten Medien schon geworden ist, kann man auf Schritt und Tritt bei der täglichen Zeitungslektüre feststellen. So etwa war im “Tagblatt” vom 22. Juni 2024 Folgendes zu lesen: “Russlands revanchistischer Imperialismus bedroht die europäische Sicherheitsordnung”, “Links- und rechtsaussen werden unter dem Deckmantel einer rigid ausgelegten Neutralität pazifistische Lieder angestimmt, eine gefährliche, den Interessen eines kleinen, auf die Respektierung des Völkerrechts angewiesenen Landes kaum dienende Grundhaltung”, “Unverständlich ist das antiamerikanische Grundrauschen”, “Im Umfeld von Roger Köppel kommen offen prorussische und reaktionäre Anwandlungen an die Oberfläche, die mitunter an der demokratischen Gesinnung zweifeln lassen”, “Im Nationalrat sind die als Pazifisten und Neutralisten verkleideten Antiamerikaner in der Mehrheit, sie verhindern eine längst angezeigte Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato”. Und nicht anders tönt es in der “NZZ am Sonntag”, so etwa am 23. Juni: “”Als Botschafter des globalen Chaos ist Putin nach Osten gereist und hat dort mit vagen Drohungen Amerikas Verbündete aufgebracht” und “Russland hat einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, doch global ist es in der Defensive”. Beliebig viele weitere Beispiele liessen sich anfügen.

Dass bei soviel einseitiger und tendenziöser Berichterstattung, bei der fast alle Medien das Feld von Objektivität, Ausgewogenheit und journalistischer Sorgfaltspflicht schon längst weit hinter sich gelassen haben, eine zunehmende Anzahl von Schweizerinnen und Schweizern in “Versuchung” gerät, sich alternative Informationen zu beschaffen und diese dann unter anderem bei RT findet, ist ja nun wirklich nicht verwunderlich. Auch ich habe mir unlängst kurz überlegt, den RT-Newsletter zu abonnieren, habe es dann aber unterlassen. Eigentlich brauche ich die Propaganda von der anderen Seite gar nicht, um all die Einseitigkeiten, Widersprüchlichkeiten, subtilen Unterstellungen bis hin zu geradezu unverfrorenen Lügen unserer eigenen, westlichen Propaganda zu durchschauen.

Als Gipfel aller dieser Versuche, die Öffentlichkeit bewusst hinters Licht zu führen, hat nun, wie “Fricktal24”, die Online-Zeitung für das aargauische Fricktal, am 20. Juni berichtete, der Bundesrat in seiner Sitzung vom 19. Juni einen umfassenden Bericht unter dem Titel “Auslegeordnung zur Bedrohung der Schweiz durch Desinformationskampagnen” gutgeheissen, in dem ausschliesslich, wie “Fricktal24” schreibt, “staatliche Beeinflussungsakteure, die offensiv andere Werte, Normen und politische Systeme propagieren und demokratische Institutionen untergraben wollen”, thematisiert werden. Im Klartext: Desinformation erfolgt ausschliesslich durch das “böse” und “andersartige” Russland – dass in kriegerischen Zeiten wie der unseren auch die vermeintlich lupenreine eigene Seite in nicht weniger grossem Umfang Propaganda und Desinformation betreibt, wird zum Vornherein ausgeschlossen…

So etwa ist im besagten Bericht des Bundesrates über “Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation” vom 19. Juni Folgendes zu lesen: “Mit Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine ist Krieg zurück in Europa und die Sicherheitsordnung des Kontinents nachhaltig erschüttert.. die Aktivitäten Russlands, aber auch Chinas, dürften mittel- und langfristig die grösste Relevanz für die Sicherheit der Schweiz behalten… einem globalen Publikum bieten russische Kanäle in sozialen und Online-Medien Desinformation und die gezielte Verfälschung der Realität in der Ukraine… es besteht zudem das Risiko, dass das Territorium der Schweiz als Drehscheibe missbraucht wird, um Beeinflussungsaktivitäten gegen Drittstaaten oder gegen internationale Organisationen durchzuführen oder zu finanzieren… zur Verbreitung seiner Sicht nutzt Russland beispielsweise oft betont apolitische Tarninstitutionen und Vereine als Fassade sowie gewisse russlandfreundliche Parteien und Politiker in westlichen Staaten, wobei die Verbindung und Finanzierung durch den russischen Staat nicht offensichtlich sein muss… der Kreml schuf mittels Parteispenden, Konferenzen und Einladungen nach Russland ein wohlgesinntes Netzwerk aus europäischen Politikerinnen und Politikern aus dem ganzen politischen Spektrum… Russland nutzt digitale Informations- und Kommunikationsmittel rege, um Desinformation zu streuen… seit Beginn des Kriegs in der Ukraine ist ein Zuwachs russischer Propagandainhalte in europäischen Sprachen auf kaum regulierten, nichtwestlichen Plattformen wie Tiktok und Telegram festzustellen… die Schweiz ist als Teil der westlichen Wertegemeinschaft schon länger Ziel von allgemeinen, auf westliche Staaten abzielenden Beeinflussungsaktivitäten… Für die Schweiz stehen im Zusammenhang mit Beeinflussungsaktivitäten Russland, aber auch China als mutmassliche Urheber im Vordergrund.”

Aber auch, was mögliche Massnahmen gegen die angeblich zunehmende russische und chinesische Propagandalawine betrifft, wird alles, was aus dem Westen kommt, ohne kritisches Hinterfragen als “gut” und “richtig” dargestellt. So etwa ist zu lesen: “Die demokratischen Staaten entwickeln unterschiedliche Instrumentarien zur Bekämpfung ausländischer Einflussnahme, in den USA zum Beispiel beobachtet das Global Engagement Center die Lage und stellt durch Russland verbreiteten Narrativen Fakten gegenüber… das European Digital Media Observatory ist ein von der EU finanziertes Netzwerk, das Desinformationskampagnen analysiert und die Medienkompetenz der Bevölkerung stärkt… führende westliche Social-Media-Unternehmen wie Facebook, Youtube und X schränkten in unterschiedlichem Ausmass den Zugang zu Inhalten aus staatsnahen russischen Quellen ein… die Nato wird in ihren Bemühungen gegen Desinformation durch ein unabhängiges Kompetenzzentrum unterstützt… Bemühungen der USA und der EU, Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation durch den Einsatz von KI zunehmend aufzudecken, bieten der Schweiz Möglichkeiten der Übernahme und können als Vorbild dienen.”

Im Weiteren fordert der Bericht weitergehende Kompetenzen für all jene Institutionen, welche Beeinflussungsversuche ausländischer Mächte analysieren, kontrollieren und bei Bedarf weiter einschränken sollten: “Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) kann Beeinflussungsaktivitäten im Ausland bearbeiten, wenn diese für die sicherheitspolitische Lage der Schweiz von Bedeutung sind… der NDB kann auch einem schweizerischen Provider empfehlen, eine ausländische Website zu sperren, insbesondere wenn staatliche russische Akteure nachweislich kriminelle Organisationen für ihre Zwecke einspannen… Fedpol kann Einreiseverbote und Ausweisungen verfügen, wenn eine Person mit ihren Beeinflussungsaktivitäten die innere und die äussere Sicherheit der Schweiz gefährdet… der NDB hat die mit der hybriden Konfliktführung einhergehenden Beeinflussungsmöglichkeiten insbesondere Russlands und Chinas aufzuklären… Desinformation kann Armeeangehörige bereits vor dem Eintritt in den Dienst oder während ihrer Auftragserfüllung beeinflussen, die Armee beobachtet deshalb den Informationsraum im Alltag, insbesondere aber im Rahmen von Einsätzen und Operationen, entsprechende Erkenntnisse fliessen in einen wöchentlichen Lagerapport des Kommandos Operationen ein… derzeit konzipiert die Bundeskanzlei eine Informations-App für die Kommunikation des Bundesrates als direkten Kanal zur Bevölkerung, dieser könnte im Krisenfall wie auch im Fall von Beeinflussungsaktivitäten, bei denen eine Reaktion des Bundesrates erforderlich ist, durch Push-Benachrichtigung eingesetzt werden… künftig soll die Kerngruppe Sicherheit regelmässig die Thematik Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation traktandieren, ebenso soll das Potenzial zum Ausbau und zur Institutionalisierung des internationalen Austauschs und der Zusammenarbeit geprüft werden, namentlich bezüglich des Zugangs zu Datenbanken und Analysen des Europäischen Auswärtigen Diensts.”

Beim genaueren Lesen des Berichts fallen seine inneren Widersprüchlichkeiten auf. So wird zwar einerseits ein krasses Bedrohungsbild durch russische und chinesische Desinformationspropaganda an die Wand gemalt, dann aber heisst es, der Bundesrat beurteile “deren Reichweite aber letztlich als gering”. Zudem bedient sich der Bericht höchst manipulativer Aussagen, obwohl er ja genau dies dem politischen Gegner unterstellt: So ist zu lesen, dass eine im Jahre 2021 durchgeführte Internetnutzungsumfrage durch das Bundesamt für Statistik ergeben hätte, dass “45 Prozent der Bevölkerung angibt, auf Nachrichtenseiten oder in sozialen Netzwerken fragwürdige Informationen gesehen zu haben”. Weil aber im ganzen Bericht stets nur die Rede von russischen und chinesischen Beeinflussungsversuchen die Rede ist, wird auch diese Aussage in den gleichen Kontext gestellt, obwohl die Umfrage aus dem Jahr 2021 höchstwahrscheinlich viel mehr mit der Coronakrise zu tun hatte und der Ukrainekrieg ja noch gar nicht begonnen hatte. Weiter steht im Bericht, das “Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Medien sowie das Mehrparteiensystem mit seiner auf Konsens basierenden Politik stärken im internationalen Vergleich die Widerstandsfähigkeit der Schweiz gegen Polarisierung und Populismus” – wiederum aber geht es bei dieser Aussage ausschliesslich um die Widerstandsfähigkeit gegen Einflussnahme von ausserhalb der Schweiz, nicht aber um Widerstandsfähigkeit gegenüber der Einseitigkeit und zunehmend tendenziösen Ausrichtung der eigenen, offensichtlich über sämtliche Zweifel erhabenen Medien. Wenngleich dann aber ein paar Seiten später eingeräumt wird, das allgemeine Vertrauen in die Schweizer Medien sei “von 50 Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Jahr 2023 gesunken” – ohne dass aber auch nur mit einem Wort auf mögliche Ursachen dieser Entwicklung eingegangen wird. Im Bericht wird auch das für Radio und Fernsehen geltende “Sachgerechtigkeitsgebot” erwähnt, welches dann verletzt sei, “wenn Informationsinhalte so manipuliert werden, dass sich das Publikum kein persönliches Bild mehr machen kann” – dieses Sachgerechtigkeitsgebot wird aber heute in weit grösserem Ausmass dadurch verletzt, dass auch schweizerische Radio- und Fernsehprogramme viel zu häufig unhinterfragt die westliche bzw. US-Optik übernehmen und viel weniger oder sogar gar nicht dadurch, dass russische oder chinesische Propaganda in Nachrichtensendungen einfliessen würde.

Beim Lesen des bundesrätlichen Berichts fühlt man sich unwillkürlich in die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges zwischen 1945 und 1991 zurückversetzt. Die Wortführer von damals scheinen aus ihren Schlupflöchern wieder herausgekrochen zu sein und ein richtiges Comeback zu feiern. Nur dass es diesmal nicht gegen den “bösen” Kommunismus in Gestalt der Sowjetunion geht, sondern um Putin und das heutige Russland, das zwar längst nichts mehr mit Kommunismus zu tun hat, sondern im Gegenteil ein durch und durch kapitalistisches Land ist, aber egal, Hauptsache, man hat wieder ein Feindbild, auf das man mit allen Rohren schiessen kann. Es scheint eben doch trotz aller gegenteiligen Behauptungen so zu sein, dass der Westen zu seiner eigenen Legitimierung unbedingt auf ein Feindbild angewiesen ist, ob das nun die Sowjetunion, Russland, der Terrorismus oder ganz allgemein der Islam ist. Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, dass der Westen das Ansinnen Russlands im Mai 1997, der Nato beizutreten, mit der Begründung ausschlug, dass ja dann die Nato ihren Sinn verlieren würde.

Ein dermassen aufgebauschtes Feindbild, das offensichtlich darin besteht, mit dem einen Auge so scharf zu sehen, dass das andere schon fast gänzlich blind geworden zu sein scheint. Denn “Manipulation”, “Desinformation” und “Beeinflussungsaktivitäten” gibt es nicht nur seitens Russlands und Chinas, sondern ebenso, und möglicherweise sogar noch in höherem Ausmass , seitens des Westens und insbesondere der Nato, wie folgender in der “Wochenzeitung” vom 16. September 1999 veröffentlichter Artikel von Andreas Zumach, UNO-Korrespondent der “tageszeitung” von 1988 bis 2020, über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999, den sogenannten “Kosovokrieg”, zeigt.

“Für die Informationsarbeit der Nato-Staaten vor, während und nach dem Kosovokrieg”, so Zumach, “waren vor allem zwei Erfahrungen der Vergangenheit von Bedeutung: der Vietnamkrieg der USA in den sechziger und siebziger Jahren sowie der Golfkrieg einer US-geführten Allianz gegen den Irak im Frühjahr 1991. Der Vietnamkrieg wurde für Washington zu einem innenpolitischen Debakel, als die drei grossen Fernsehnetzwerke der USA (CBS, NBC und ABC) begannen, ihre eigenen, vom Pentagon weitgehend unabhängigen Bilder und Berichte vom Kriegsschauplatz zu verbreiten. Das wollten die Militärs nicht noch einmal erleben. Bereits im Vorfeld des Golfkriegs wurden deshalb 95 Prozent der US-Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten vom Pentagon vertraglich zur Selbstzensur verpflichtet. Nur wer diese Verträge unterschrieb, erhielt beschränkten, vom US-Militär auf Schritt und Tritt kontrollierten Zugang zur Kriegsregion. Als zentrale Informationsquellen wurden das Verteidigungsministerium in Washington und sein damaliges Kriegshauptquartier in Saudi-Arabien vorgegeben. Die Medien und JournalistInnen aus dem ‘Rest der Welt’, obwohl nicht Partner dieser Selbstzensurverträge, hielten sich fast alle daran. Die perfekte Informationssteuerung im Golfkrieg des Frühjahrs 1991 wurde noch erleichtert durch die zentrale Rolle, die erstmals der – weitgehend an den Vorgaben Washingtons orientierte – US-Kabelsender CNN spielte. Von ihm übernahmen die Fernsehanstalten fast der ganzen Welt ihre Bilder – zumeist ohne weitere Überprüfung. Und auch im Kosovokrieg, dem völkerrechtswidrigen Angriff der Nato gegen Jugoslawien im Frühling 1999, verfing die Strategie. Die von der Allianz unter Führung der USA vorgegebenen Begriffe, Sprachregelungen und Interpretationen wurden in 90 Prozent aller US-amerikanischen Medienberichte umstandslos übernommen, wie inzwischen vorliegende Untersuchungen zeigen. So war in den Medien fast immer nur von der ‘Luftkampagne’ der Nato die Rede, seltener von ‘Luftangriffen’ und fast nie von ‘Krieg’ (genau das, was Russland im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg vorgeworfen wird, wenn Putin nicht von einem ‘Krieg’ spricht, sondern von einer ‘Militäroperation’!). Von 291 Quellen, die zwei der einflussreichsten Fernseh-Abendnachrichtenprogramme in den USA in ihrer Berichterstattung zitierten, waren lediglich acht kritisch gegenüber dem Nato-Luftkrieg. Über den – inzwischen bestätigten – vielfachen Einsatz von Splitterbomben und von Granaten mit uraniumgehärteten Sprengköpfen wurde während des Krieges im Deutschen Fernsehen bloss ein einziges Mal berichtet. Alle anderen Medien gaben sich offenbar mit Dementis aus Brüssel zufrieden. Und dies trotz massiver Indizien und der seit einigen Jahren wohl bekannten, verheerenden Folgen, die der Einsatz derartiger Waffen im Golfkrieg von 1991 unter der irakischen Zivilbevölkerung verursacht hat.
Am politisch folgenreichsten aber war das Versagen der meisten Medien und JournalistInnen in den Wochen vor Beginn des Nato-Krieges – insbesondere während und nach den Verhandlungen zwischen Serbien und Vertretern der Kosovo-Albaner in Rambouillet und Paris unter Federführung der ‘Balkan-Kontaktgruppe’, den Aussenministern der USA, Russlands, Grossbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Italiens. Das von Mitgliedsstaaten dieser Gruppe seinerzeit öffentlich verkündete Ziel der Verhandlungen – ein Statut für eine autonome jugoslawische Provinz Kosovo – wurde umstandslos weiterverbreitet, der Entwurf der Kontaktgruppe für ein Abkommen hingegen zunächst gar nicht oder nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen wurde die Darstellung der Aussenminister, ‘alle politischen und diplomatischen Möglichkeiten’ für eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts seien ausgeschöpft worden, von den meisten Medien übernommen. Ohne weiteres geschluckt wurde auch die nachweislich falsche Darstellung, Russland habe während der Verhandlungen die Position der westlichen Staaten mitgetragen. Als Mitte April der inzwischen berühmt gewordene Annex B des Vertragsentwurfs über die Rechte der Kosovo-Besatzungsmacht durch einen Artikel in der Berliner ‘tageszeitung’ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und damit die Darstellungen des deutschen Aussenministers Joschka Fischer und seiner Kollegen ernsthaft in Frage gestellt wurden, reagierte das deutsche Bundesaussenministerium bloss mit heftigen Angriffen auf den verantwortlichen Journalisten.”

Es ist kaum davon auszugehen, dass die Propagandamethoden der Nato heute viel anders sind als vor 25 Jahren, zur Zeit des Kosovokriegs. Im Gegenteil, höchst wahrscheinlich sind sie heute noch viel raffinierter und noch viel weniger durchschaubar. So raffiniert und undurchschaubar, dass sich die Mehrheit auch der Schweizer Bevölkerung noch immer in den guten alten Zeiten von Demokratie, Selbstbestimmung und Neutralität wähnt, während wir in Tat und Wahrheit doch schon längst, heimlich, schleichend und ohne dass dies auch nur im Entferntesten demokratisch abgestützt worden wäre, zum integralen Bestandteil der westlichen, von den USA angeführten Kriegsmacht geworden sind und damit die historische Chance, als echte, neutrale Friedensmacht durch diplomatische Vermittlung zu einer gewaltfreien Lösung des Ukrainekonflikts und damit zur Verhinderung eines allesvernichtenden dritten Weltkriegs entscheidend beitragen zu können, längst vertan wurde – genau das, was uns die vermeintliche russische “Kriegspropaganda” heute so gnadenlos vor Augen hält. Und wir, von allen guten Geistern verlassen, alles, was unsere Weltsicht in Frage stellen könnte, in Bausch und Bogen verwerfen, statt es zum Anlass einer Denkpause zu nutzen und noch einmal auf das Feld Null zurückzukehren…

Amin, Ela, Baran und Aziz: Eine afghanische Flüchtlingsfamilie und wie sich mein Leben in so kurzer Zeit so tiefgreifend verändert hat…

Amin und Ela mit ihren beiden Buben, dem viereinhalbjährigen Baran und dem eineinhalbjährigen Aziz, sind vor drei Wochen bei mir eingezogen. Seither ist mein Haus, das nach dem Auszug unserer drei Kinder und dem Tod meiner Frau vor fünfeinhalb Jahren für mich alleine viel zu gross gewesen war, zum ersten Mal wieder voller Leben. Aziz kann von den Kirschen, die jetzt nach und nach reif werden, gar nicht genug bekommen. Baran spielt am liebsten mit dem roten Spielzeugferrari und hat schon einen Riesenturm aus Legosteinen gebaut. Ela hat die paar wenigen Kleidungsstücke und den Schmuck, den sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen und nun auf die Reise in die Schweiz mitgenommen hat, fein säuberlich in ihrem neuen Zuhause eingeräumt. Die grosse Schiefertafel beim hinteren Hauseingang ist voll mit von Amin gezeichneten persischen Schriftzügen, ein richtiges kleines Kunstwerk. Und auf dem Küchentisch steht ein noch warmer afghanischer Kuchen, dessen Duft das ganze Haus durchströmt. Schon lange nicht mehr hat sich mein Leben in so kurzer Zeit so stark verändert.

Obwohl sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im Juli 2021 weiter verschlechtert hat, weisen die Schweizer Behörden, wie “Swissinfo” am 6. April 2023 berichtete, weiterhin die überwiegende Mehrheit der schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen ab – eine Politik, die in krassem Gegensatz zur grosszügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge steht. Wer eine Chance haben will, aus Afghanistan in ein europäisches Aufnahmeland zu gelangen, muss zunächst, wie das inzwischen über 1,6 Millionen Menschen getan haben, über die Grenze in den Iran oder nach Pakistan fliehen und dort ein humanitäres Visum beantragen. Doch die Hürden sind hoch. So wurden im Jahr 2022 von sämtlichen von Afghaninnen und Afghanen für die Einreise in die Schweiz beantragten humanitären Visa gerade mal 5,5 Prozent bewilligt. Antragstellende müssen eine unmittelbare, individuelle, konkrete und ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben nachweisen, die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe wie Frauen oder Mädchen reicht nicht. Zudem müssen sie einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben, etwa durch Verwandte oder einen früheren Aufenthalt im Land. Doch auch für all jene, welche es nach Überwindung aller dieser Hürden schliesslich bis in die Schweiz geschafft haben, ist die Zukunft immer noch ungewiss: Im Jahre 2022 erhielten von sämtlichen in der Schweiz Asyl suchenden Afghaninnen und Afghanen nur 533 eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), 2’274 eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung (Ausweis F) und 1’231 Anträge wurden abgewiesen. Personen mit einer F-Bewilligung sind mit Einschränkungen bei Reisen ins Ausland, bei der Sozialhilfe und bei der Familienzusammenführung konfrontiert, zudem schreckt der Status der befristeten Bewilligung potenzielle Arbeitgeber ab. Eine F-Bewilligung bedeutet, nie sicher zu sein, dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können.

Amin, Ela, Baran und Aziz gehören zu den wenigen Glücklichen, die es geschafft haben, eine B-Aufenthaltsbewilligung zu bekommen und dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Doch auch ihr Weg war steinig. Auch sie tragen schwere Wunden. Amin musste mit ansehen, wie Elas Eltern beim Verlassen einer Moschee, wo er auf sie gewartet hatte, vor seinen Augen von Talibankämpfern niedergeschossen wurden, seine geliebten Schwiegereltern, einfach so beide innerhalb einer Sekunde tot. Alle, so Amin, hätten vor allen anderen Angst, keiner traue einem andern über den Weg – ein permanenter Schockzustand. Käme einem jemand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entgegen, wisse man nie, ob der nicht schon im nächsten Augenblick eine Waffe zücken werde. Auch wenn man zum Mitfahren in ein fremdes Auto steige, müsse man stets damit rechnen, vom Fahrer mit einem Messer attackiert zu werden. Das Schrecklichste sei jene Nacht gewesen, in der Amin bei einer Tante, die in einem kleinen Bergtal lebt, auf Besuch war und dort übernachtete. Das Raketenfeuer von den beiden gegenüberliegenden Seiten des Tales hätte den Himmel taghell erleuchtet, dazu ein ohrenbetäubender Höllenlärm, die Kinder der Tante, zitternd vor Angst, hätten während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Als er die Tante gefragt hätte, weshalb sie immer noch dort wohne, hätte sie ihm erklärt, dass sie gar keine andere Wahl hätte, weil ihr winziges Guthaben niemals ausreichen würde, um eine andere Wohnung oder ein anderes Haus zu kaufen. In jenem Bergtal war es auch, wo Amin im Garten eines Nachbarhauses ein etwa fünfjähriges Mädchen erblickte, das auf ihn einen besonders erbärmlichen Eindruck machte. Als er es fragte, welches sein grösster Wunsch sei, gab das Mädchen zur Antwort: Wenigstens einmal pro Tag Essen zu bekommen…

Als die Angriffe der Taliban immer heftiger wurden, hätten Amin und sein Vater, der Soldat bei den Regierungstruppen war, beschlossen, das Land zu verlassen. Als sie mit dem Auto in Richtung der iranischen Grenze fuhren, seien plötzlich von allen Seiten Talibankämpfer aufgetaucht, der Vater hätte das Auto dermassen beschleunigen müssen, dass es schliesslich mit voller Wucht in eine Felswand geprallt sei, Amin mit gebrochenem Unterarm und seinem glücklicherweise unverletzt gebliebenen Vater gelang es nur um Haaresbreite, den Angreifern zu entkommen und schliesslich, grösstenteils zu Fuss, in den Iran zu gelangen, wo sie Arbeit in einer Textilwerkstatt gefunden hätten, der Vater aber nach all den Strapazen so geschwächt gewesen sei, dass er schon nach kurzer Zeit im Alter von 55 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Doch nicht nur seinen Vater und seine Schwiegereltern hat Amin verloren, sondern auch noch viele weitere Verwandte, Nachbarn, Schulkollegen und mehrere seiner allerbesten Freunde.

Zu diesem Zeitpunkt war Ela mit Baran und Amins Mutter, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern noch in Kabul verblieben. Aziz kam erst zur Welt, als Amin seine Familie schon längst hatte verlassen müssen. Später flohen die anderen Familienmitglieder ebenfalls in den Iran, Ela und die beiden Buben erhielten nach längerer Zeit die sehnlichst erwarteten Reisedokumente und durften in die Schweiz einreisen, wo Amin vor drei Wochen auf dem Zürcher Flughafen seinen inzwischen eineinhalbjährigen zweiten Sohn zum ersten Mal sah. Alles, was Ela und die beiden Buben besassen, hatte in einem einzigen Koffer Platz. Amins Mutter, seine Schwester und seine beiden Brüder leben weiterhin im Iran, höchstwahrscheinlich wird Amin sie zeitlebens nie wieder sehen.

Aber Amin kennt auch all die Geschichten der sogenannten “Illegalen”, von denen einer seiner besten Freunde buchstäblich den ganzen Weg von Afghanistan bis in die Schweiz zu Fuss zurücklegte, zwei Mal im Gefängnis landete, doch meist nach kurzer Zeit wieder entlassen wurde. Er kennt auch die Geschichte jener schwangeren Frau, die sich mit letzter Kraft im Schnee und in der Kälte über das dreitausend Meter hohe Elbrusgebirge quälte und im kärglichen Schutz einer kleinen Felshöhle ihr Kind zur Welt brachte. Er kennt auch die Geschichte jener Familie, deren Vater unterwegs gestorben war und den sie einfach so schutzlos liegen lassen mussten, um, vom Hunger getrieben, nicht zu viel Zeit zu verlieren. Er hat auch Kenntnis von Vorfällen an der bulgarisch-türkischen Grenze, Frauen, die von bulgarischen Polizisten vergewaltigt wurden und deren blutige Kleider später im Wald gefunden wurden. Man hat ihm auch davon erzählt, dass auf Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze Bluthunde gehetzt werden, Männer und Frauen verprügelt, ihnen ihr Geld abgenommen und ihre Kleider vom Leibe gerissen werden. Und er weiss auch, dass von den 18’000 Flüchtlingen, welche zwischen Januar und Mai 2024 die Fluchtroute über Westafrika zu den Kanarischen Inseln gewählt hatten, 4808 unterwegs auf dem Weg über den Atlantik ihr Leben verloren, unter ihnen viele Afghaninnen und Afghanen.

Unweigerlich kommen mir die im Vorfeld der schweizerischen Parlamentswahlen letzten Herbst bis zum Überdruss wiederholten Worte des damaligen SVP-Präsidenten Marco Chiesa in den Sinn, es kämen “zu viele Ausländer” in die Schweiz und vor allem die “Falschen”. Doch welches sind die “Richtigen” und welches sind die “Falschen”? Und wer entscheidet das? Sind die Multimillionäre aus Kuweit, die an bester Lage am Genfersee ihre Luxusvillen bauen lassen, die “Richtigen”? Und wäre die Frau aus Afghanistan, die im Schnee und in der Kälte des iranischen Elbrusgebirges ihr Kind zur Welt brachte, eine der “Falschen”? Wie viel Herzlosigkeit bräuchte es, wenn man einen Abend lang solche Geschichten zu hören bekommen hätte und dann dennoch immer wieder so viel blinden Hass verbreiten würde? Und wenn Chiesa sagte, es kämen “zu viele”: Ich habe mal nachgerechnet, auf 100 Menschen in der Schweiz kommt ein einziger Flüchtling! Sind wir nicht genug stark und reich, um dies zu verkraften, und vielleicht sogar noch einiges mehr? Muss es uns nicht zu denken geben, wenn wir das beispielsweise mit einem wirtschaftlich ungleich viel schwächeren Land wie dem Libanon vergleichen, wo auf 100 Einheimische nicht nur einer, auch nicht nur zwei, nicht einmal zwanzig, sondern sage und schreibe 100 Flüchtlinge kommen?

Amin zeigt mir auf seinem Smartphone ein Schwarzweiss-Foto. Kabul 1954. Kaum zu glauben: Durch die afghanische Hauptstadt rollen Trolleybusse! Afghanistan war zu jener Zeit ein relativ wohlhabendes Land mit moderner Infrastruktur, einem Zweikammerparlament im Rahmen eines konstitutionellen Königtums, mit Meinungs- und Pressefreiheit sowie Frauenwahlrecht, und dies bereits 40 Jahre, bevor es in der Schweiz eingeführt wurde. Heute, so Amin, ist alles kaputt. Seit 1978, im permanenten Strudel wechselnder Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Warlords und den sich von aussen einmischenden Grossmächten Sowjetunion und USA, ist Krieg der ganz “normale” Alltag in Afghanistan. Nach rund 300’000 Kriegsopfern, Millionen Geflüchteter und der weitgehenden Zerstörung von Wirtschaft, Infrastruktur und zivilen Einrichtungen und Institutionen zählt Afghanistan heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Millionen von Afghaninnen und Afghanen, sagt Amin, sind im Krieg geboren, sind im Krieg aufgewachsen, haben im Krieg geheiratet, haben im Krieg gearbeitet und sind im Krieg gestorben. Nie haben sie etwas anderes gekannt als Krieg.

„Wer hat, dem wird gegeben“, „Es regnet immer dorthin, wo es schon nass ist“, „Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen“ – diese bekannten Redewendungen, in Anlehnung an ein Bibelzitat auch als “Matthäus-Effekt” bekannt, sind wohl für wenige Länder so zutreffend wie für Afghanistan. Das kriegsgeplagte, von himmelschreiender Armut betroffene Land wurde, wie die “Wochenzeitung” vom 23. Mai 2024 berichtete, anfangs Mai Opfer sintflutartiger Überschwemmungen. “Der Fluss war voll mit allem, was man sich vorstellen kann”, erzählt ein im betroffenen Gebiet im Norden Afghanistans lebender Arzt, “Lehm, Holz, Metall, Stein, Menschen und Tiere – ein Anblick des Grauens.” Den offiziellen Zahlen der Taliban zufolge wurden 420 Menschen getötet, die Dunkelziffer dürfte freilich viel höher liegen. Viele Menschen gelten weiterhin als vermisst, die Rettungstrupps müssen sich durch zwei Meter dicke Schlammschichten kämpfen. Ganze Dörfer wurden mitgerissen. Auch ist die Rede von 10’000 ertrunkenen Rindern und Schafen, 6000 zerstörten Häusern und vielen unbrauchbar gewordenen Ackerfeldern. “Die Menschen”, so der Arzt, “werden sich kaum von dieser Katastrophe erholen können, doch schon steht die nächste an, denn auf die Flut wird der Hunger folgen und dieser wird wahrscheinlich abermals unzählige Afghaninnen und Afghanen zur Flucht zwingen.” Man stelle sich einmal ein derartiges Ereignis mitten in Europa vor – alle Zeitungen, Radio und Fernsehen würden tage-, wenn nicht wochenlang über nichts anderes mehr berichten. Dass in unseren Medien kaum etwas von dieser verheerenden Flutkatastrophe in Afghanistan zu hören oder zu sehen war – auch das ist eine schreiende Form von Rassismus und Menschenverachtung.

Laut “Tagesanzeiger” vom 20. Juni 2024 ist Afghanistan “ein Land im Dauernotstand”. Nebst den Repressalien der Taliban und den wirtschaftlichen Problemen wird das Land auch immer wieder von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht, nicht zuletzt als Folge des Klimawandels – jetzt gerade ist es in der Gegend, wo Amin aufwuchs, 51 Grad heiss! Zu alledem hat sich die humanitäre Krise durch die erzwungene Rückkehr von rund 650’000 Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan weiter zugespitzt. Über drei Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Allein in den vergangenen drei Jahren flohen 1,6 Millionen aus Afghanistan. Die Zahl der weltweit gemeldeten afghanischen Flüchtlinge liegt bei 6,4 Millionen. Amin meint, tatsächlich sei die Zahl um ein Vielfaches höher, weil es sich bei den meisten um “Illegale” handle, und die kämen in den Statistiken gar nicht vor. Von den 43 Millionen Menschen, die noch in Afghanistan leben, bräuchten über 23 Millionen humanitäre Hilfe, 6 Millionen Menschen leben in totaler Verzweiflung. Doch die den Hilfsorganisationen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus. Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR hat für das laufende Jahr einen Finanzbedarf von rund 480 Millionen Dollar, doch erst 30 Prozent davon sind gesichert. Der Gesamtbedarf aller Hilfsorganisationen für Afghanistan beläuft sich zurzeit auf 3 Milliarden, auch das ist nur zu 20 Prozent gedeckt. Die fehlenden 2,4 Milliarden wären ein winziger Bruchteil jener rund 640 Milliarden, welche die USA im Verlaufe des 20jährigen Afghanistankriegs für ihre Armee, für Waffen und andere Rüstungsgüter verpulvert hat. Offensichtlich war dafür, ganze Landstriche in Wüsten zu verwandeln, ganze Wohnquartiere dem Boden gleichzumachen, in der gesamten Bevölkerung pausenlos Angst und Schrecken zu verbreiten und friedliche Hochzeitsfeiern in die Luft zu sprengen, so viel Geld nötig, dass jetzt, um wenigstens einen kleinen Teil des angerichteten Schadens wieder gutzumachen, nichts mehr übrig geblieben ist bzw. für andere, neue Kriege gebraucht wird. Zweifellos verfolgten die USA schon im Afghanistankrieg wie auch in allen anderen der über 40 seit 1945 angezettelten Militärschläge, Regierungsputschs und Kriege die gleiche Strategie, die sie aktuell auch jetzt wieder im Ukrainekrieg verfolgen und die von der US-Vizepräsidentin Kamala Harris anlässlich der Bürgenstock-“Friedenskonferenz” so treffend auf den Punkt gebracht wurde, als sie sagte: „Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“

Und auch die Schweiz. Anfang Juni entschied der Ständerat, das Militärbudget in den nächsten vier Jahren um 4 Milliarden zu erhöhen und die Hälfte davon bei der Entwicklungshilfe zu sparen. Bei der humanitären Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit würden 470 Millionen Franken gestrichen, Hier geht es um Gelder zur Linderung der Not der Menschen in Krisengebieten oder nach Naturkatastrophen. Betroffen werden unter anderem Afghanistan, Syrien, der Jemen und der Sudan sein. Zudem steht die Unterstützung der Flüchtlingsorganisation UNHCR zur Disposition. Und dem Beitrag des internationalen Komitees vom Roten Kreuz droht eine Kürzung von 20 Prozent. Bei der Entwicklungszusammenarbeit der Deza würde am meisten gespart: 1,2 Milliarden Franken. Dies hätte den Rückzug aus sechs bis acht Schwerpunktländern zur Folge, unter anderem Albanien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Tunesien, Ägypten, Myanmar und Mali. Zudem sind die Beiträge an die fünf grössten Schweizer Nichtregierungsorganisationen in der Höhe von 90 Millionen in Gefahr. Weitere 450 Millionen könnten bei der Unterstützung des Kinderhilfswerks Unicef, des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria sowie des Afrikanischen Entwicklungsfonds gespart werden. Die Abteilung für Frieden und Menschenrechte des EDA müsste Einsparungen von weiteren 330 Millionen beisteuern, hier käme es zu einem Rückzug aus mehreren Schwerpunktländern sowie Kürzungen in den Bereichen Klima, Migration und Menschenrechten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass hier gerade systematisch ein Massenmord geplant wird. Doch Mitte-Ständerat Beat Rieder kann allen Ernstes sagen, es sei “gut, wenn die Schweiz die Demokratie fördern will”, es “bringt aber nichts, Geld in Länder wie Afghanistan zu investieren.” Und FDP-Ständerat Benjamin Mühlemann, der die Sparanträge eingebracht hat, kann sogar in aller Öffentlichkeit die schier unfassbare Aussage machen, dass Entwicklungshilfe zwar “zweifellos wichtig”, die “Wehrhaftigkeit der Schweiz in der gegenwärtigen Situation aber noch viel wichtiger” sei – ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch unser Land geht…

Und dies in einer Welt, in der sich im Jahr 2023 jeder 69. Mensch auf der Flucht befand, total fast 120 Millionen, mehr als je zuvor. “Als wäre das nicht schon tragisch genug”, schreibt Chefredaktorin Melanie Steiger in der “Liechtensteiner Woche” vom 23. Juni, “kommt ein weiterer Rekord hinzu: Noch nie waren so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht wie heute – mehr als 50 Millionen.” Die grössten Fluchtbewegungen kommen aus Afghanistan, Syrien, der Ukraine, Venezuela, Honduras, Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo und dem Sudan. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser Flüchtlinge würden nach Europa kommen, zeigen Daten des Kinderhilfswerks Unicef, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge innerhalb des Globalen Südens in anderen Ländern Zuflucht suchen, drei Viertel sämtlicher weltweit registrierter Flüchtlinge sogar in sichereren Regionen ihres eigenen Landes. “Kaum vorstellbar”, so Melanie Steiger, “was die Menschen auf der Flucht auf sich nehmen und welchen Gefahren sie sich aussetzen, schliesslich durchqueren sie andere Konfliktgebiete, die Wüste, das Meer. Und dann stecken sie in Flüchtlingslagern fest und müssen dort erneut unter widrigsten Umständen leben.”

In der Nacht, als mir Amin erklärte, weshalb er ein tausendprozentiger Pazifist geworden sei, wäre in mir auch noch der letzte Rest an Rassismus oder westlicher Überheblichkeit zerplatzt, falls es ihn überhaupt noch gegeben hätte. Stärker denn je zuvor wurde mir bewusst, dass das Gerede von den “kulturellen Unterschieden” und dass der “demokratische” Westen den sogenannten “unterentwickelten” Völkern zum Vorbild dienen müsste und dass insbesondere “bildungsferne” Menschen mit den zivilisatorischen Errungenschaften unserer “hochentwickelten” europäischen Gesellschaften vertraut gemacht werden müssten, dass dies alles bloss Lügen sind, mit denen man die Menschen verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen auseinanderzuspalten versucht, während der einzig wesentliche Unterschied tatsächlich nicht darin besteht, wo auf diesem Planeten wir geboren wurden, sondern einzig und allein nur darin, ob wir den Krieg wollen oder den Frieden, ob wir andere Menschen hassen oder ob wir sie lieben, ob wir das, was wir besitzen, dazu benützen, immer noch mehr und mehr davon zusammenzuraffen, oder dazu, es möglichst gerecht mit vielen anderen zu teilen, ob wir Türen dazu benützen, sie zu schliessen, oder dazu, sie für andere zu öffnen. Dass Amin und Ela trotz allem, was sie an Schrecklichem erleben mussten, dennoch so liebenswürdige, sanfte, friedfertige Menschen geblieben sind, und ihre beiden Kinder genau so liebevoll und sorgfältig die Bauklötze aufeinanderschichten wie meine in der Schweiz geborenen Enkelkinder, müsste uns allen doch endgültig die Augen dafür öffnen, wie stark das Gute in jedem Menschen über alle Grenzen hinweg sein muss und dass bei Weitem nicht alle, sondern höchstens ein winziger Teil all jener, denen auf irgendwelche Weise Gewalt angetan wurde, selber wieder zu Menschen werden, die anderen Menschen Gewalt antun. Was für eine Hoffnung trotz allem…

Freilich kann die Lösung des weltweiten Migrationsproblems nicht darin bestehen, alle Grenzen zu öffnen und sämtliche aus den armen in die reichen Länder Drängenden hier aufzunehmen. Doch werden auch die dicksten Mauern und die tiefsten Gräben die Millionen Verzweifelter nicht daran hindern, für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu erkämpfen, genau so, wie auch unsere europäischen Vorfahren in Zeiten von Armut oder Verfolgung ihr Glück in fernen Ländern suchten, wo sie sich eine glücklichere Zukunft erhofften. Flüchtlinge wird es erst dann nicht mehr geben, wenn alle Güter weltweit auf alle Menschen und alle Länder gerecht verteilt sind. Solange dies aber nicht der Fall ist, können wir Reichen, die über Jahrhunderte von der Ausplünderung und Verelendung des Südens profitiert haben, uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gilt, alles daran zu setzen, um eine neue, gerechte zukünftige Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch, unsere Türen so weit als irgend möglich zu öffnen und uns mit so viel Aufwand und Verzicht auf eigene Privilegien wie nur irgend möglich um all jene Menschen zu kümmern, die im weltweiten Kampf ums Überleben ihr Dasein auf der Schattenseite fristen.

Nach allem, was Amin erlebt habe, sagt er, sei er zu tausend Prozent Pazifist geworden, jeder Dollar, der für Waffen ausgegeben werde, sei einer zu viel. Er muss es wissen. Wenn wir herausfinden wollen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte, müssen wir nicht Spitzenpolitiker, Politikwissenschaftler, Militär- oder gar Rüstungsexperten fragen, sondern Menschen wie Amin, Ela, Baran und den kleinen Aziz. Heute Nachmittag hat er mir lange zugeschaut, als ich Schachtelhalme aus dem Kiesboden zupfte. Bis er selber einen aus der Erde zog und in den Kübel mit den Gartenabfällen warf. Wir haben uns verstanden, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Baran und Aziz nennen mich übrigens in ihrer Muttersprache, dem Persischen, “Opa”. So habe ich, ohne es beabsichtigt zu haben, sozusagen über Nacht zwei neue Enkelkinder bekommen…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

Veringenstadt, 8. Juni 1680: Kommunistinnen ihrer Zeit

Dies ist das 6. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Die 1619 im deutschen Liesen geborene Anna Kramer war in zweiter Ehe mit einem 24 Jahre älteren Mann verheiratet, der sie dermassen grob behandelte, oft verprügelte und sie täglich zusätzlich zur Hausarbeit schwere Feldarbeiten verrichten liess, dass es immer wieder zu heftigen Streitigkeiten kam, selbst auf der Strasse, was Leute in der Nachbarschaft dazu veranlasste, beim städtischen Schultheiss Klage gegen das «Höllenspektakel» einzureichen. Als Ermahnungen, Arrest- und Geldstrafen nichts bewirkten, wandten sich der Schulthess, der Bürgermeister und der Stadtrat an die fürstliche Oberbehörde in Sigmaringen, die aber vorläufig untätig blieb.

Als die häuslichen Streitereien im Laufe der Zeit immer heftiger wurden, verliess Anna des Öftern das Haus und streifte in den benachbarten Orten umher, wo sie kranke Kinder und Frauen besuchte und ihnen mit Kräutern und Heilgetränken zur Genesung verhalf. Dies führte zur Verbreitung von Gerüchten, Anna verfüge über gefährliche Zauberkräfte. Einige behaupteten sogar, wegen ihr eine tödliche Krankheit bekommen zu haben. Anzeigen häuften sich und der Druck auf die Behörden, eine umfassende Untersuchung einzuleiten, wurde immer grösser. Am 15. Juni 1676 fand eine Anhörung sämtlicher Personen statt, die gegen Anna Vorwürfe erhoben hatten. Dabei wurden die bereits bekannten Vorwürfe wiederholt, ohne dass aber stichhaltige Beweise vorgelegt werden konnten. Trotzdem trat niemand für ihre Schuldlosigkeit ein, nicht einmal ihr Mann und der eigene Sohn.

Im April 1680 behauptete Annas nächster Nachbar, der bis anhin stets gesagt hatte, er wisse nichts Unrechtes von ihr, nun auf einmal, Anna hätte seine im März verstorbene Frau und seinen Sohn, der Ende März schwer erkrankt war, verhext. Die Sache ging bis zum Vizekanzler Johannes Kirsinger in Sigmaringen, der schliesslich am 9. Mai kurz nach Mitternacht Anna Kramer festnehmen liess. 

Die Protokolle des Hexenprozesses von Anna Kramer liegen noch heute im Stadtarchiv von Veringenstadt und vermitteln einen erschütternden Einblick in eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Diesen Protokollen zufolge begannen die Verhöre am 11. Mai 1680. Am ersten Tag wurde Anna während vier Stunden mit Fragen durchlöchert, mit wem sie wann Kontakt gehabt hätte, ob sie an Gott glaube, ob sie die heiligen Sakramente erhalten hätte und anderes mehr. Ein Stallknecht, der als Zeuge zugegen war, beteuerte, über Anna nur Gutes gehört zu haben, fügte aber hinzu, er hätte, als Anna gefangen genommen worden sei, beim Hauseingang eine Kröte und eine schwarze Katze gesehen.

Am zweiten Verhörtag, dem 15. Mai, wurden zehn Personen, die gegen Anna Anschuldigungen erhoben hatten, befragt. Sie berichteten von allerlei Krankheiten, Beschwerden und seltsamen Vorfällen, die immer dann aufgetreten seien, wenn sie mit Anna Kontakt gehabt hätten: Atemnot, Fieberkrämpfe, Herzbeschwerden, Schwellungen am Hals, schwarze Hautflecken, Lähmungen. Auch Pferde und Kühe seien auf unerklärliche Weise plötzlich verstorben. Anna bekräftigte ihre Unschuld, was aber vom Vorsitzenden zurückgewiesen und worauf sie wieder ins Gefängnis gebracht wurde. Am dritten Verhörtag, dem 16. Mai, wurde ihr Ehemann befragt. Er sagte, Anna sei eine unausstehliche, unverträgliche Person, die ihm immer wieder entlaufen sei und die er deshalb auch immer wieder «wie einen Ochsen» geschlagen habe. Etwas anderes Unrechtes oder Verdächtiges hätte er aber nie bemerkt. Anna wies alle bisher gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück, worauf der vorsitzende Richter die beiden Scharfrichter rufen liess und ihnen befahl, Anna in die Folterkammer zu führen und ihr sämtliche Folterwerkzeuge zu zeigen und deren Gebrauch zu erklären. Dennoch beharrte Anna darauf, keine Hexe zu sein.

17. Mai 1680, der vierte Tag des Verhörs. Nachdem Anna erneut ihre Unschuld beteuert hatte, wurde sie von den Scharfrichtern in die Folterkammer geführt, wo ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden, um sie daran in die Höhe zu ziehen. Zu diesem Zweck befand sich an der Decke über dem Folterstuhl ein Flaschenzug, über den ein Seil lief, an welchem ein eiserner Haken befestigt war und das am anderen Ende auf einer mit einer Kurbel versehenen Walze aufgerollt werden konnte. Nachdem der eine der beiden Scharfrichter den Haken zwischen den zusammengebundenen Händen befestigt hatte, rollte der andere das Seil durch Drehung der Kurbel auf der Walze auf. Dadurch wurde sie an den verdrehten Armen in die Höhe gezogen. Als «sich die Hände auf der Höhe des Kopfes befanden, sich die Schultern abwärts drehten und die Gelenke knackten, stiess sie, noch bevor sie frei in der Luft hing, einen entsetzlichen Schrei aus». Anna flehte die Scharfrichter an, von einem weiteren Hochziehen abzulassen, und sagte: «Ich will eine Hexe sein, wie ihr verlangt». Die Folter wurde unterbrochen, die Schultergelenke wieder eingerenkt und Anna mit Weihwasser besprengt. Als sie zugab, das Schuldbekenntnis nur wegen der unerträglichen Schmerzen abgegeben zu haben, wurde sie sogleich erneut in die Höhe gezogen und «trotz markerschütterndem Schreien drei Vaterunser lang» frei in der Luft hängen gelassen. Wieder unten auf dem Stuhl, wiederholte Anna die vorangegangene Aussage, sie sei tatsächlich eine Hexe und hätte dem Teufel versprochen, ihm zu dienen und dafür Geld zu bekommen. Auf die Frage, wie oft sie es mit dem Teufel getrieben habe, gab sie keine Antwort und wurde sogleich wieder in die Höhe gezogen, dieses Mal «sechs Vaterunser lang». Erst als sie bekannte, es mit dem Teufel getrieben zu haben, wurde sie wieder heruntergelassen. Es folgte eine «höchst schamlose» Untersuchung, mit der die Scharfrichter «diese Unzucht nach allem Detail zu erforschen trachteten». Anna war so verwirrt, dass sie sich bei der folgenden Befragung über die Details der «Unzucht» dermassen in Widersprüche verwickelte, dass sie erneut hochgezogen wurde, diesmal für «eine halbe Viertelstunde». Ohnmächtig geworden, wurde sie für kurze Zeit in Ruhe gelassen. Dann erklärte sie, zu allem bereit zu sein und nur noch sterben zu wollen. Schliesslich wurde sie wieder ins Gefängnis gebracht.

Es folgten zehn weitere Verhörtage, an denen sie wiederum abwechslungsweise gefoltert wurde, Schuldbekenntnisse abgab und diese stets erneut widerrief. Die Zeiten, während denen man sie am Seil hängen liess, wurden von Tag zu Tag verlängert. Am achten Verhörtag band man ihr zusätzlich einen Steinblock von 20 Pfund an beide grossen Zehen und zog sie dann wieder mehrmals hintereinander für längere Zeit in die Höhe.

Unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf, wandte sich der vorsitzende Richter sodann an einen auswärtigen Rechtsgelehrten und stellte ihm das gesamte Aktenmaterial zu, um auf diesem Weg zu einem endgültigen und unwiderruflichen Schuldbekenntnis zu gelangen. Am 1. Juni war das Gutachten erstellt. Es besagte, Anna Kramer sei eine «wahre und recht verhärtete Hexe», welche die bisherigen Torturen nur deshalb überlebt hätte, weil sie mit dem Teufel im Bunde stünde. Das Gutachten empfahl, nun «schärfere Torturen» anzuwenden: Schlafberaubung während der Nacht, Aufziehen mit noch schwereren Gewichten, Daumenstock, Beinschrauben, ins Fleisch eindringende Spiesse und Zangen und «Bockspannen», um den Gliedern «unglaubliche» Schmerzen zuzufügen, ohne diese aber auszurenken. Am neunten Verhörtag legte Anna Kramer aufgrund der Androhungen durch diese zusätzlichen und weitergehenden Folterungen ein umfassendes Schuldbekenntnis ab. Den zehnten Verhörtag hält das Protokoll mit folgenden Worten fest: « Heute hat sich die Malefikantin ganz schwach erzeigt; Hunger und Angst während einer vierwöchentlichen strengen Gefangenschaft, die brennenden Schmerzen der verrenkten Glieder und überspannten Sehnen, die quälende Gewalt des zurückgehaltenen Schlafbedürfnisses, die Gewissheit eines baldigen ehrlosen, schmachvollen Todes haben alle Kräfte der 61jährigen Frau gebrochen und sie einer Sterbenden gleichgemacht.»

Am 5. Juni erfolgte die Schlussverhandlung. Hierzu wurden sieben «ehrenhafte und unparteiische» Bürger eingeladen, die mit ihren Unterschriften bestätigten, dass die Angeklagte sämtliche Bekenntnisse des vorangegangenen Verhörtags freiwillig abgegeben hätte, den Pakt mit dem Teufel, das Töten von Vieh mit der Hexensalbe, die Zerstörung von Feldfrüchten durch ein Hagelgewitter, das Verhexen und Ermorden von Kindern, Hexentänze auf Pferden und Kühen. Nach diesem Akt wurde Anna Kramer zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, ihr aber «gnädigerweise» das Verbrennen bei lebendigem Leibe durch eine vorgängige Enthauptung erlassen.

Am 8. Juni 1680, morgens um acht Uhr, wurde die «Malefikantin» in Begleitung mehrerer Geistlicher, Richter, Schützen, Wächter und einer grossen Volksmenge unter dem Geläute der Kirchenglocken zur Gerichtsstätte geführt. Nach einem gemeinsamen Vaterunser wurde Anna vom Scharfrichter enthauptet, der Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Augenzeugen berichteten später, eine «abscheulich dicke Kröte» sei aus dem Haufen herausgekrochen und «sieben Raben» hätten den Ort des Geschehens mehrmals umkreist, bevor sie weiter geflogen seien.

Schätzungsweise gab es, zur Hauptsache zwischen 1450 und 1750, in Europa insgesamt rund drei Millionen Hexenprozesse, die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten belief sich auf 40‘000 bis 60‘000, drei Viertel davon waren Frauen, nicht selten schon 14- oder 15Jährige. Meistens wurden sie, wie Anna Kramer, so lange gefoltert, bis sie, um den unsäglichen Leiden ein Ende zu setzen, zugaben, eine «Hexe» bzw., wenn es sich um Männer handelte, ein «Hexerich» zu sein.

Eine wesentliche Ursache der Hexenverfolgungen findet man wohl bei den Zeitumständen, die von Krieg – vor allem dem Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 –, extremen Unwettern, Hagelstürmen, Missernten, Inflation, Seuchen wie der Pest und apokalyptischen Zukunftsängsten geprägt waren. Nur zu schnell sind in solchen Zeiten Sündenböcke für jedes und alles ausgemacht. Oft genügten, wie auch im Falle von Anna Kramer, schon kleinste Gerüchte, die dann weitererzählt, immer mehr aufgebauscht und mit Legenden aus früheren Zeiten über sündiges Treiben von Hexen im Bunde mit dem Teufel vermischt wurden, sodass auf einmal ganz gewöhnliche Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung zu höchst gefährlichen, bedrohlichen und teuflischen Wesen wurden. Die «geistige» Grundlage für die Hexenprozesse bildete der im Jahre 1486 vom deutschen Theologen Heinrich Kramer verfasste und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in rund 30‘000 Exemplaren verbreitete «Hexenhammer», in dem Frauen als Wesen beschrieben wurden, welche von «sexueller Unersättlichkeit» und einem «Zauber» erfüllt seien, dem Männer meist leichtfertig «zum Opfer» fielen. Weiter beschrieb der «Hexenhammer» im Einzelnen, wie eine Angeklagte zu verhören und unter welchen Voraussetzungen welche Folterpraktiken anzuwenden seien. Eine der häufig angewandten Methoden bestand in der sogenannten «Wasserprobe»: Das Opfer wurde entkleidet, darauf kreuzweise gefesselt, sodass die rechte Hand an die grosse Zehe des linken Fusses und die linke Hand an die grosse Zehe des rechten Fusses so fest geknüpft war, dass es sich nicht rühren konnte. Daraufhin wurde das Opfer an einem Seil in einen Fluss oder Teich bis zu drei Mal hinabgelassen. Wenn es an der Oberfläche blieb – angeblich infolge der ihm vom Teufel verliehenen Leichtigkeit –, wurde es für eine Hexe gehalten, wenn nicht – was in aller Regel den Tod durch Ertrinken zur Folge hatte –, galt es als unschuldig.

Wo es Opfer gibt, da gibt es immer auch Profiteure. Was für die betroffenen Frauen ein Weg durch die Hölle war, verschaffte anderen – bezeichnenderweise ausschliesslich Männern – unverhofften Reichtum. «Eine ganze Schar von Rechtsgelehrten, Advokaten, Richtern und Räten», so Maria Mies in ihrem 1986 erschienenen und 2015 neu aufgelegten Buch «Patriarchat und Kapital», «kamen zu viel Geld. Sie waren durch ihre komplizierten und gelehrten Textinterpretationen in der Lage, die Prozesse so zu verlängern, dass die Kosten dafür stiegen. Es gab auch eine enge Beziehung zwischen den weltlichen Autoritäten, der Kirche, den Herrschern der kleinen Feudalstaaten und den Rechtsanwälten. Die Tatsache, dass die Hexenjagd eine so lukrative Geldquelle war, führte in gewissen Gebieten sogar zur Einrichtung besonderer Kommissionen, die die Aufgabe hatten, noch mehr Menschen als Hexen oder Zauberer zu denunzieren. Wenn die Angeklagten für schuldig befunden wurden, mussten sie und ihre Familien sämtliche Prozesskosten tragen, angefangen bei den Rechnungen für Speise und Alkohol für die Hexenkommission bis zu den Kosten des Holzes für den Scheiterhaufen. Eine weitere Geldquelle waren die Summen, welche reichere Familien den gelehrten Richtern und Anwälten bezahlten, um eines ihrer Mitglieder von der Verfolgung zu befreien, deshalb gab es unter den Hexen fast nur arme und nur selten reiche Frauen. Im Weiteren zogen auch die sich bekriegenden europäischen Fürsten, vor allem zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648, finanziellen Nutzen aus den Hexenverfolgungen, um ihre Kriege zu finanzieren. Gewisse Fürsten organisierten sogar gezielt Hexenjagden, um den Besitz ihrer Untertanen konfiszieren zu können.»

Entgegen der landläufig weit verbreiteten Meinung, Hexenverfolgungen seien vor allem durch die von traditioneller Frauenfeindlichkeit geprägte katholische Kirche vorangetrieben worden, waren die Hexenverfolgungen in protestantischen Gebieten mindestens so, wenn nicht sogar noch weiter verbreitet. Die meisten Hexenprozesse fanden in Deutschland statt, in ausschliesslich katholischen Ländern wie Spanien und Portugal gab es fast keine Fälle, viel weniger als etwa in der Schweiz. Männer, die als heldenhafte Erneuerer eines erstarrten kirchlichen Machtsystems in die Geschichte eingegangen sind, gehörten sogar zu den vehementesten Befürwortern der Hexenverfolgungen. So etwa der deutsche Reformator Martin Luther, der von der Möglichkeit eines Teufelspaktes überzeugt war und in einer Predigt am 6. Mai 1526 unter anderem folgende Äusserungen von sich gab: Es sei ein «überaus gerechtes Gesetz, Zauberinnen zu töten», denn sie «richten viel Schaden an», können «Kinder verzaubern», «geheimnisvolle Krankheiten» erzeugen und stünden oft «im Bunde mit dem Teufel». Auch der Genfer Reformator Johannes Calvin befürwortete die Verfolgung und Hinrichtung von Hexen, behauptete, Gott selber hätte die Todesstrafe für Hexen festgesetzt und war davon überzeugt, die Pest, von der Genf drei Jahre lang schwer befallen war, sei von «Zauberkünsten» ausgelöst worden, in der Folge kam es in Genf zwischen 1520 und 1660 zu insgesamt 65 Hexenverbrennungen. Auch in Zürich: Ein Jahr nach dem Amtsantritt des Reformators Huldrych Zwingli als Pfarrer am Grossmünster wurde im Jahre 1520 auch in der für die damaligen Verhältnisse als «modern» geltenden Stadt erstmals eine «Hexe» zum Tode verurteilt. Protestanten, welche sich offen gegen die Hexenverfolgungen ausgesprochen hätten, so der Zürcher «Kirchenbote» am 4. Oktober 2018, «muss man mit der Lupe suchen». Auch Anna Göldi, die «letzte Hexe Europas», wurde im Jahre 1782 in Glarus nicht von einem katholischen Gremium, sondern vom kantonalen Evangelischen Landrat zum Tode verurteilt. Und es war auch ein reformierter Pfarrer, nämlich Johannes Zollikofer aus dem appenzellischen Herisau, der Ende 17. Jahrhundert nach der Hinrichtung dreier Frauen in seiner Predigt die Frage aufwarf, ob man nicht vorsichtshalber auch die Kinder der drei Frauen hätte töten sollen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Hexenverfolgungen nicht nur oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie eine Folge von Aberglauben und religiösem Fanatismus waren, sondern mindestens so sehr eine Folge der aufkommenden Neuzeit und damit auch der sich immer stärker durchsetzenden Prinzipien kapitalistischen Fortschrittsglaubens. Die Hexenverfolgungen fanden ja nicht im «dumpfen» Mittelalter statt, sondern in einer Zeit der «Aufklärung», der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaften und bahnbrechender Erfindungen wie dem Buchdruck durch Johannes Gutenberg im Jahre 1450. Auch gab es offensichtlich Bezüge zwischen der mit Puritanismus und strenger Arbeitsmoral verbundenen Ausrichtung der Reformation, insbesondere des Calvinismus, und den Grundprinzipien des Kapitalismus. Bezeichnend ist auch, dass es innerhalb der orthodoxen Kirche Osteuropas praktisch keine Hexenverfolgungen gab, ausser in Russland, und dies erst im Zuge einer von Zar Peter vorangetriebenen und auf Zentraleuropa ausgerichteten «Modernisierung» nach kapitalistischem Muster. Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass die Hexenprozesse grösstenteils nicht von kirchlichen, sondern von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden und die weltlichen Gerichte meist viel schärfere Urteile fällten als die kirchlichen. In höchstem Grade kapitalistisch war auch die Praxis der weltlichen Gerichte, Zeugen für ihre Aussagen Geld zu geben – man kann sich vorstellen, wie viele Falschaussagen dies zur Folge hatte.  

Und damit sind wir bei Silvia Federici, Professorin für Philosophie und internationale feministische Studien sowie Autorin mehrerer Bücher zu den historischen Hintergründen der Hexenverfolgungen. Der Kapitalismus, so argumentiert Federici, konnte sich als Produktionsweise, welche die Industrie als Hauptquelle der Akkumulation etablierte, nur durchsetzen, wenn es gelingen würde, eine neue gesellschaftliche Disziplin zu schaffen, mit der die produktive Kapazität der Arbeitskraft massiv erhöht werden konnte. Das bedeutete, dass alles, was der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen setzte, ausgetilgt werden musste, und damit eben auch die Macht der Frauen mit ihrem Bezug zu den Geheimnissen der Natur und ihrer Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt aus eigenen, «nichtkapitalistischen» Kräften zu bestreiten, so wie Anna Kramer dies tat, indem sie sich nicht von ihrem Mann unterkriegen liess, nicht davor zurückschreckte, sich ihm selbst im öffentlichen Raum offen entgegenzustellen und, ausserhalb des Hauses und der ehelichen Gewalt, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, also genau das zu verkörpern, was wir heute unter einer «emanzipierten» Frau verstehen.

«Die Rationalisierung der Welt», so Federici, «vollzog sich durch die Zerstörung der Hexe. Die unaussprechlichen Qualen, denen die angeklagten Frauen ausgesetzt waren, bildeten nichts anderes als eine Form von Exorzismus gegen ihre natürlichen Kräfte. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität als etwas Teuflisches war für die Definition von Hexerei zentral. Denn aus der Sicht der neuen kapitalistischen Elite war die weibliche Sexualität eine eigenständige, mächtige wirtschaftliche Gegenkraft». Deshalb musste die weibliche Sexualität und alles, was an Eros, Lust und Anziehungskraft mit ihr verbunden war, verteufelt und bekämpft werden. Die weibliche Sexualität sollte fortan nur noch der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse des Mannes und der Erzeugung eines möglichst reichlichen Nachschubs an Arbeitskräften dienen. «Jenseits der Ehe», so Federici, «stellte die weibliche Sexualität für die Kapitalisten nichts anderes dar als eine Bedrohung der Arbeiterdisziplin, eine unheimliche Macht über andere und ein Hindernis für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien und insgesamt der Klassengesellschaft. Die Hexenjagd als extremste Form dieser Gewalt war ein eigentliches Terrorregime gegen alle Frauen, für die es nun keinen anderen Weg mehr gab, als sich gehorsam und unterwürfig der männlichen Ordnung anzupassen. Die Hexe war die Kommunistin ihrer Zeit, die Hexenjagd das Mittel, mit dem die Frauen in Europa für ihre neue soziale Rolle im Dienste der kapitalistischen Gesellschaft erzogen wurden. Auf dem Scheiterhaufen wurden nicht nur die Körper dieser Frauen vernichtet, sondern auch eine ganze Welt sozialer Beziehungen und ein riesiger Wissensschatz über Kräuter, Magie oder Mittel zur Empfängnisverhütung, den Frauen im Laufe der Generationen von den Müttern zu den Töchtern weitergegeben hatten.»

Doch Frauen wurden nicht nur als Hexen beschuldigt, verfolgt, gefoltert und verbrannt, sondern auch auf vielerlei andere Weise unterjocht, gedemütigt und zu willfährigen Dienerinnen ihrer Männer erzogen. So etwa war in den meisten französischen Städten des 14. Jahrhunderts die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen weit verbreitet. Oft brachen die Vergewaltiger in Gruppen von zwei bis fünfzehn Männern mitten in der Nacht in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die Frauen durch die Strasse, ohne jeglichen Versuch, sich zu verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Unter den Tätern befanden sich oft junge Handwerksgesellen, bessergestellte Hausdiener oder Söhne wohlhabender Familien, die Opfer waren meist Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Einmal vergewaltigt, blieben sie meist lebenslang stigmatisiert und landeten oft in der Prostitution. Im 16. Jahrhundert wurden, insbesondere in Spanien und England, Prostituierte, die auf der Strasse arbeiteten, durch Verbannung, Prügelstrafe oder andere grausame Formen der Züchtigung bestraft, so etwa mittels des berüchtigten «Tauchstuhls»: Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank. In Madrid war es Vagabundinnen und Prostituierten nicht erlaubt, auf der Strasse oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie dort aufgefunden, gab es zur Strafe hundert Peitschenhiebe und die Verbannung aus der Stadt für sechs Jahre, ausserdem wurden ihre Kopfhaare und Augenbrauen geschoren. Die zunehmende Diskriminierung der Frau als «minderwertiges» Wesen nahm sogar – um nur ein Beispiel zu nennen – in England ein derart extremes Mass an, dass dort im 17. Jahrhundert Gesetze eingeführt wurden, wonach sich Frauen nicht alleine im öffentlichen Raum bewegen durften und solche, die man der «Zankhaftigkeit» beschuldigte, mit Maulkörben durch die Strassen geführt wurden.

Massiv veränderte sich auch der Zugang der Frauen zur Arbeitswelt. Waren sie im Mittelalter noch in zahlreichen handwerklichen Berufen tätig gewesen und hatten ihr eigenes Geld verdienen können, so wurde ihnen nun um aufkommenden kapitalistischen Zeitalter der Zugang zu einer wachsenden Zahl von Berufen verwehrt und sie dadurch immer weiter in die Abhängigkeit von ihren Ehemännern gebracht, es begann die bis in unsere Tage bestehende zunehmende Feminisierung der Armut und die Reduktion der Frau auf nichtbezahlte Haus- und Familienarbeit.

Bürgenstock am 15. und 16. Juni 2024: Die “Friedenskonferenz”, die in Tat und Wahrheit eine Kriegskonferenz gewesen ist…

Schon ist sie wieder Geschichte, die Bürgenstock-“Friedenskonferenz”. Alle Gäste, Sicherheitsleute, Bedienstete, Journalistinnen und Journalisten wieder in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben, viele von ihnen bereits vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung, mitsamt allen extra aus den USA angeflogenen Luxuslimousinen und den von der CIA hochgerüsteten Spezialhelikoptern zum Schutz der Sicherheit von Vizepräsidentin Kamala Harris, die Flugverbotszone wieder aufgehoben, die Absperrgitter entfernt, die Spazierwege rund um das Konferenzgelände wieder freigegeben, Dutzende von Bühnen und Hunderte von Scheinwerfern wieder abgebaut, die mit erlesensten Speisen vollbefrachteten Tische abgeräumt und tonnenweise Abfall entsorgt. Der Spuk ist vorbei, alles nimmt wieder seinen gewohnten Lauf…

Beim folgenden kritischen Rückblick nehme ich Bezug auf die Berichterstattung des schweizerischen “Tagesanzeigers” vom 17. und 18. Juni, stellvertretend für viele andere westliche Medien, die den Anlass wohl in ähnlicher Weise kommentiert und beurteilt haben.

Am 17. Juni sind drei volle Zeitungsseiten der Bürgenstock-Konferenz gewidmet. Auf der Titelseite prangt das legendäre Gruppenbild, wohl das weltweit am meisten verbreitete Foto der Bürgenstock-Konferenz, auf dem die Vertreterinnen und Vertreter der 92 beteiligten Länder zu sehen sind, im Hintergrund die märchenhafte Landschaft im Herzen der Schweiz, dichtbewaldete Hügel, sanfte Gebirgszüge, darüber ein wolkenverhangener Himmel, im Vordergrund, halbkreisförmig angeordnet, Hunderte von Presseleuten, alle Kameras und Mikrofone auf die Prominentenbühne gerichtet, als stünde dort die weltbeste Rockband oder als handle es sich beim Ganzen um so etwas wie einen Gottesdienst, nur dass dort, wo normalerweise ein Altar oder ein anderes religiöses Symbol steht, jetzt jene Politprominenz versammelt ist, die sich in den folgenden Tagen unablässig als die “Welt” bezeichnen wird. Was für ein Kontrast zwischen dieser Wohlfühloase in der innerschweizerischen Traumlandschaft und den Schlachtfeldern über 2000 Kilometer östlich davon, wo zur gleichen Zeit, während auf dem Bürgenstock getafelt und gesmalltalkt wurde, wieder ein paar Hundert ukrainische und russische Frauen und Männer getötet oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt wurden. Müssten nicht eigentlich sie, die Hauptbetroffenen, auf dem Bürgenstock an den Konferenztischen sitzen und über Krieg oder Frieden verhandeln? Und müsste man nicht eigentlich ehrlicherweise statt dem Gruppenfoto mit der westlichen Politprominenz ein “Gruppenbild” veröffentlichen, auf dem alle jene ukrainischen und russischen Männer und Frauen zu sehen wären, die jetzt gerade noch leben, aber vielleicht schon in wenigen Tagen oder Wochen tot sein werden?

Ich beneide die Mitarbeitenden der “Tagesanzeiger”-Redaktion ja nicht, welche die Aufgabe hatten, das Nullergebnis der Konferenz zu einem derart langen Artikel über drei Seiten hinweg aufzublasen. Wahrscheinlich wurde deshalb auch mehr als ein Viertel der zur Verfügung stehenden Fläche auf den Seiten zwei und drei für die Veröffentlichung eines weiteren Fotos verwendet, auf dem zwölf der standeshöchsten Vertreterinnen und Vertreter der insgesamt 92 beteiligten Nationen zu sehen sind. Was auffällt: Alle von ihnen, vom lettischen Präsidenten Edgars Rinkevics bis zu Hakan Fidan, dem Aussenminister der Türkei, vom griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda bis zu Vjosa Osmani, der Präsidentin Kosovos, strahlen übers ganze Gesicht. Was ist wohl der tiefere Grund dieser fröhlichen Überschwänglichkeit inmitten einer Konferenz, bei der es um nicht weniger geht als um Leben oder Tod? Vermutlich liegt er darin, dass sich die teilnehmenden Politiker und Politikerinnen durch das gemeinsame Wohlfühlerlebnis an einem so weit von aller Kriegsrealität abgehobenen Ort, durch das Aneinanderkuscheln, Händedrücken, sich liebevoll freundschaftlich Zulächeln und miteinander verbunden Fühlen, durch gemeinsames Essen und Trinken, stets im Bewusstsein, dass all die anderen genau gleich denken wie sie selber, sich sozusagen gegenseitig immunisieren gegenüber allen unangenehmen Tatsachen und irgendwelchen unbequemen Fragen, die dieses so angenehme gegenseitige Einvernehmen nur unnötig stören würden, vergleichbar mit Priestern, die mit dem Wohlgeruch von Weihrauch und Myrrhe all die bösen Geister zu vertreiben versuchen, die ihr religiös überhöhtes Selbstverständnis in Frage stellen könnten.

Viola Amherd, so lese ich, hätte eine positive Bilanz der Bürgenstock-Konferenz gezogen. Zum ersten Mal, so sagte sie, habe die Weltöffentlichkeit derart intensiv über einen Frieden in der Ukraine diskutiert. Was für eine Anmassung und was für eine Verlogenheit! Wenn zum ersten Mal ernsthaft über einen Frieden diskutiert wurde, dann war das nicht auf dem Bürgenstock im Juni 2024, sondern bereits viel früher, und zwar im März 2022, als durch die türkische Regierung vermittelte Gespräche zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation beinahe zu einem Friedensvertrag geführt hätten, wenn dieser nicht von westlicher Seite, und insbesondere durch eine Intervention des britischen Premiers Boris Johnson, vereitelt worden wäre. Wie viele Hunderttausende Tote und Verletzte hätten mit diesem Friedensvertrag verhindert werden können! Aber freilich finden solche Fakten keinerlei Eingang in die auf dem Bürgenstock mit allen Mitteln zementierte westliche Sicht, die nicht den geringsten Spielraum offenlässt für irgendwelche ihr widersprechende Tatsachen. Und von wegen “ernsthaft”! Wenn etwas ernsthaft war, dann wohl eher die erwähnten Gespräche zwischen den direkt Betroffenen im März 2022, in kleinen Gruppen und über mehrere Wochen hinweg, aber wohl kaum die Mammutveranstaltung auf dem Bürgenstock, wo pro Votum maximal drei Minuten zur Verfügung standen, Essen und Trinken, Händeschütteln, Smalltalk und gegenseitiges Schulterklopfen den grössten Teil der Zeit in Anspruch nahmen und zahlreiche Delegationen bereits vor dem Abschluss der “Verhandlungen” wieder abreisten.

“China fehlt. Indien fehlt. Brasilien fehlt. Saudiarabien fehlt. Mexiko ebenfalls. Südafrika auch.” So der “Tagesanzeiger”. Aber mit keinem Wort wird die Frage aufgeworfen, weshalb sich diese Länder an der Konferenz nicht beteiligt haben. Meist wird einfach unterstellt, diese Länder hätten sich dem Druck Russlands gebeugt und deshalb nicht mitgemacht. Was für eine Arroganz westlicher Sichtweise! Als könnten die Regierungsmitglieder dieser Länder nicht selber denken und nicht aus eigenen, ganz vernünftigen Gründen zum Schluss gekommen sein, bei einer derartig einseitig aufgezogenen Propagandashow nicht mitzumachen.

“Das Papier ist deshalb so bemerkenswert, weil es ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist”, so schreibt der “Tagesanzeiger”. Er hätte auch schreiben können, das Papier sei genau deshalb so “einseitig” und verbaue gerade deshalb zum Vornherein jeglichen Zugang zu einer echten Friedenslösung. Es braucht schon ein schier unglaubliches Mass an Unverfrorenheit und Geschichtsblindheit, zu behaupten, Russland trage die alleinige Schuld an diesem Konflikt. Jeder auch nur bruchstückhaft informierte Zeitgenosse weiss heute, dass die NATO-Osterweiterung, die über Jahrzehnte von namhaften US-Politikern geforderte “Zerstückelung Russlands”, der Putsch auf dem Maidan 2014, die anhaltende Verfolgung und Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine sowie die Zurückweisung einer von Russland im Dezember 2021 vorgeschlagenen friedlichen Lösung des Konflikts durch die US-Regierung entscheidende Ursachen der heutigen Kriegssituation gewesen sind. Die absolut minimale Voraussetzung für eine echte Friedenslösung bestünde darin, von einseitigen Schuldzuweisungen wegzukommen und auch eigene Schwächen, Irrtümer und Fehlentscheide einzugestehen, um auf diese Weise gemeinsam, und nicht gegeneinander, grundlegend neue, zukunftsgerichtete Wege der Verständigung und der Konfliktlösung zu suchen.

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz eine einseitige Propagandashow war, bei der sich, man kann es nicht anders sagen, Viola Amherd und Ignazio Cassis von dem mit allen Wassern gewaschenen ukrainischen Präsidenten Selenski förmlich über den Tisch ziehen liessen, zeigt sich auch darin, dass Selenski auf dem Bürgenstock eine eigene Pressekonferenz abhielt. Auf dieser “geisselte er”, so der “Tagesanzeiger”, “auf Englisch und Ukrainisch Putins Attacken und warnte vor einer Eskalation des Kriegs, wenn Russland nicht gestoppt werde.” Einmal mehr wurde das Schreckgespenst einer Eroberung ganz Europas durch Russland an die Wand gemalt, obwohl höchste NATO-Generäle wiederholt zum Schluss gelangt sind, dass es derzeit nicht die geringsten Anzeichen für einen geplanten russischen Angriff auf eines der NATO-Länder gäbe, und selbst der als Hardliner bekannte lettische Präsident Rinkevics einräumt, dass zurzeit “keine direkte militärische Bedrohung durch Russland” zu erkennen sei. Im Gegensatz zu den Putin unterstellten Provokationen ist es zurzeit vielmehr die westliche Seite, die an allen Ecken und Enden unablässig provoziert: durch eine drohende – selbst von Angela Merkel noch 2008 als “fahrlässige Provokation Russlands” vehement zurückgewiesene – Aufnahme der Ukraine in die NATO, durch die unlängst mit 90’000 Beteiligten in Nordeuropa durchgeführten grössten NATO-Manöver aller Zeiten, durch die massive Aufrüstung der meisten NATO-Staaten, obwohl deren Gesamtbudget jetzt schon das Zwanzigfache des russischen Militärbudgets beträgt, sowie nicht zuletzt durch die laufende Ausbürgerung Tausender russischsprachiger Bewohnerinnen und Bewohnern aus den baltischen Staaten, die sich weigern, die jeweilige Landessprache zu übernehmen. Doch, wen wunderts, war auf dem Bürgenstock weder vom einen noch vom andern auch nur ansatzweise etwas zu hören…

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz einmal mehr eine von Selenski inszenierte Einmann-Show war, geht auch aus dem Leitartikel von Christof Münger hervor, der unter dem Titel “Frischer Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine” Folgendes schreibt: “Der Gipfel wurde deshalb zum Erfolg, weil es nicht in erster Linie um Frieden ging, sondern um die Ukraine. Je länger ein Krieg dauert, desto mehr verschwimmen die Konturen der einfachen Fakten im Nebel des Kriegs aus Propaganda, Täuschung und Fehlinformationen. Selenskis Worte haben gewirkt: Russland sei der Aggressor, die Ukraine das Opfer, sekundierten auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris und der französische Präsident Macron. So erhielt die etwas ermattete Solidarität mit der Ukraine in den Schweizer Alpen eine Zufuhr frischen Sauerstoffs, das eindrückliche Gruppenfoto mit den Köpfen aus 92 Ländern zeugt davon. Jetzt ist die Zeit reif, dass die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.” Bedarf es hier noch irgendeines Kommentars? Wohl kaum…

Am folgenden Tag, dem 18. Juni, kippt die “Tagesanzeiger”-Berichterstattung dann vollends in die Welt der Groteske: Wieder ein Gruppenbild, fast den Drittel einer Zeitungsseite einnehmend. Diesmal sind drei hintereinander stehende Reihen von – bis auf zwei Ausnahmen – männlichen Konferenzteilnehmern zu sehen, alle in blauen oder schwarzen Anzügen. Und wieder scheinen die meisten bester Laune zu sein. Ganz besonders Viola Amherd, die, in der Mitte der vordersten Reihe stehend, ihren Kopf frech nach vorne reckt und ihren Blick über die links von ihr stehende Reihe schweifen lässt., wie der Kasperle, der zu Beginn der Vorstellung die Kinder fragt: “Seid ihr alle da? Juhui, dann kann es ja losgehen.” Dazu die Bildunterschrift: “Der Moment, der bleibt: Viola Amherd während des Family-Fotos auf der Bürgenstock-Konferenz”. Und in fetten Lettern die Überschrift über dem Ganzen: “Sie war die, die den Kopf herausstreckte”. Im nebenstehenden Text erfahren wir dann noch, dass “dieses Bild das Potenzial zur Ikone hat”. Wenigstens das, wenn schon nichts Wesentlicheres, soll also in die Geschichtsbücher eingehen…

In die Geschichtsbücher, in denen, wenn es sie dannzumal überhaupt noch gibt, in 20 oder 50 Jahren zu lesen sein wird, dass am 15. und 16. Juni 2024 im Herzen der Schweiz eine sogenannte “Friedenskonferenz” stattgefunden hätte, die sich allerdings im Nachhinein als “Kriegskonferenz” entpuppt hätte, weil die eine Konfliktpartei sich erfolgreich dafür eingesetzt hatte, die andere Konfliktpartei gar nicht erst einzuladen. Dass nicht einmal das absolute Minimalziel, nämlich, Datum und Ort für eine Folgekonferenz unter Beteiligung beider Konfliktparteien zu vereinbaren, erreicht worden war und dass sich sogar später nicht einmal mehr irgendwer daran noch zu erinnern vermochte. Dass dabei, durch unbeirrtes, über Jahrzehnte aufgebautes Festhalten am Zerrbild eines “guten” Westens und eines “bösen” Ostens, die vielleicht letzte Chance verpasst und das vielleicht letzte rote Signal für wenigstens einen zaghaften kleinen Friedensversuch überfahren worden war, indem man sich standhaft geweigert hatte, auf einen Vorschlag des russischen Präsidenten zur Einfrierung des Ukrainekonflikts mit nachfolgenden Friedensverhandlungen einzugehen. Dass man unter gar keinen Umständen, und nicht einmal mit dem Ziel, Hunderttausende von Menschenleben zu retten, der Ukraine zumuten wollte, einen Fünftel ihres Territoriums preiszugeben, obwohl man genau das Gleiche 33 Jahre zuvor der Sowjetunion ohne geringstes Zögern und ohne jegliche Bedenken zugemutet hatte, indem sie nämlich ebenfalls einen Fünftel ihres früheren Territoriums aufgeben musste. In diesen zukünftigen Geschichtsbüchern wird dann auch nicht mehr von “Verteidigungsministern” die Rede sein, sondern nur noch von “Kriegsministern”, und die schweizerische Bundespräsidentin Viola Amherd wird zweifellos als eine ihrer hervorstechendsten Vertreterinnen Erwähnung finden. Denn zwar hatte es niemand wirklich gewollt, aber auch hatte niemand tatsächlich ernsthaft etwas dagegen unternommen. Denn so wenig Krieg einfach “von selber” geschieht, so wenig auch der Frieden. Man wird beklagen, dass es damals fast keine charismatischen Staatsführer und Staatsführerinnen mehr gab, keine wirklich zutiefst überzeugten Pazifistinnen und Pazifisten, keinen Mahatma Gandhi, keinen Nelson Mandela, keinen Martin Luther King, keinen Michail Gorbatschow – obwohl Persönlichkeiten von ihrem Format in diesen so gefährlichen Zeiten dringender nötig gewesen wären denn je. Und wenn es solche Persönlichkeiten dennoch gab, dann befanden sie sich schon längst nicht mehr an den Schaltheben der wirklichen Macht, von wo sie an allen Ecken und Enden von jenen Kriegstreiberinnen und Kriegstreibern verdrängt worden waren, die den Krieg so lange unbeirrt herbeiredeten, bis er tatsächlich geschah.

Es sei denn, das böse Spiel werde noch rechtzeitig durchschaut und immer mehr Menschen würden sich dafür entscheiden, es nicht mehr mitzumachen. Nie mehr für fremde Herren in den Krieg ziehen. Nie mehr sich mit verkrüppeltem, halbwegs zusammengeflicktem Körper ein zweites oder drittes Mal aufs Schlachtfeld schicken lassen. Nie mehr Bühnen bauen, auf denen sie selber nie stehen und immer nur die anderen reden und sich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit sonnen werden. Nie mehr Essen kochen, das nur den Reichen und Mächtigen vorbehalten ist. Nie mehr mit hungrigem Magen auf jenen Böden, die früher ihrer eigenen Ernährung dienten, Nahrungsmittel anbauen müssen, mit denen multinationale Konzerne Milliardengewinne scheffeln. Bis nur noch ein winziges, erbärmliches Häufchen ewiggestriger Menschenhasser und Kriegstreiber übrig geblieben ist, das dann seine Machtkämpfe ganz alleine austragen darf, ohne Milliarden andere mit in den Abgrund zu reissen. Das wäre dann aber tatsächlich das Gruppenfoto des Jahrtausends, das selbst in einer noch so dicken Zeitung keinen Platz mehr fände, weil auf ihm Milliarden Menschen über alle Grenzen hinweg versammelt wären, die sich für das Leben und gegen den Tod entschieden haben. Denn, wie der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King so eindringlich sagte: “Entweder werden wir lernen, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber wir werden als Narren miteinander untergehen.”

Kantersieg der AfD in den deutschen Europawahlen vom 9. Juni 2024 und die Hoffnungen von Jamie, Lucas und Anke…

Grosse Siegerin der Europawahl in Deutschland ist mit 17 Prozent der Wählerstimmen, auf Platz zwei nach CDU/CSU, die AfD. Insbesondere bei den Jungen – die erstmals schon ab 16 Jahren stimmberechtigt waren – hat sie höchst erfolgreich abgeschnitten: 16 Prozent der bis 24Jährigen, 11 Prozent mehr als 2019, gaben ihr ihre Stimme, während die Grünen in der gleichen Altersgruppe 23 Prozent Wählerstimmen verloren. “Das Kalkül der AfD”, so das schweizerische Nachrichtenmagazin SRF vom 10. Juni, “scheint aufgegangen zu sein. Das Kalkül, konsequent die sozialen Medien mit plakativen, populistischen Schnipseln zu bedienen. AfD-Videos werden auf Tiktok hunderttausendfach angeklickt, die Hälfte der reichweitenstärksten Persönlichkeiten sind AfD-Leute.” Nicht einmal die ganze Serie von Skandalen, von welchen die Partei in jüngster Zeit erschüttert worden sei, hätten erstaunlicherweise, so SRF, eine erhebliche abschreckende Wirkung erzeugt: “Dass sich die AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron wegen Spionage, Betrug und Korruption verantworten müssen und von der Parteileitung praktisch versteckt werden mussten – geschenkt. Dass Bystron für seine Russland-PR Geld genommen haben soll – unwichtig. Dass Krah die Waffen-SS verharmlost – wurscht.”

Doch vielleicht sind es ja nicht nur die Tiktok-Videos, welche so viele deutsche Jugendliche dazu “verführt” haben, die AfD zu wählen. “Wenn ich an früher denke”, so die 17jährige Jamie in einem Interview mit “20 Minuten” vom 11. Juni, “wird mir bewusst, wie viel sich durch die Ampelkoalition verschlechtert hat. Wir versinken in einer Wirtschaftskrise. So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Besonders kritisch sehe ich die Migrationspolitik. Viele Migranten bekommen mehr Geld als deutsche Rentner.” Der 22jährige Lucas sagt: “Viele meiner Kollegen haben die AfD gewählt. Die CDU/CSU oder die SPD sind Altparteien – wählt man die, geht es weiter wie bisher.” Und auch für die 23jährige Anke ist die AfD jene Partei, die “genau die Themen anspricht, die mich bewegen: Unsere Eltern finden kaum noch eine Arbeit. Das deutsche Volk bekommt viel zu wenig Wertschätzung. Nur die AfD gibt mir Hoffnung für die Zukunft.”

Wirtschaftskrise. Migration. CDU, CSU und SPD als “Altparteien”. Arbeitslosigkeit. Fehlende Wertschätzung für die arbeitende Bevölkerung. Viel präziser kann man die heutigen Probleme nicht mehr beschreiben. Statt junge Menschen, die “rechtem” oder gar “rechtsextremem” Gedankengut folgen, zu verunglimpfen, zu verurteilen oder ihnen bloss naive Manipulierbarkeit zu unterstellen, täten wir wohl besser daran, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu erfahren, wie sie sich eine schönere und bessere Zukunft vorstellen. Denn die allermeisten Jugendlichen sind wohl viel besser informiert, als wir Älteren meinen. Sie sind weit neugieriger, kommunikativer und gerechtigkeitsliebender als ein grosser Teil der älteren Generation, Seismographen, die noch feinfühliger vorausspüren, wohin sich die Gesellschaft bewegt. Sie haben noch ein ganzes langes Leben vor sich, nicht so wie all jene, die nichts anderes mehr im Kopf haben, als den Rest ihres Lebens im Stil von “Nach mir die Sintflut” irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff, an einem fernen Meeresstrand oder auf einer Safari in Südafrika zu verprassen.

Das Grundübel ist nicht die AfD. Das Grundübel ist auch nicht eine “fehlgeleitete” Jugend, die sich ausschliesslich in den sozialen Medien bewegt und jeglichen Kontakt zur Realität verloren hätte. Das eigentliche Grundübel ist der Kapitalismus. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich nicht am Wohl der Menschen orientiert, sondern am Wohl der unaufhörlichen Geldvermehrung in den Händen jener, die sowieso schon viel zu viel davon haben. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das unaufhörlich Arbeit in Kapital verwandelt, durch unendliche Profitgier die Lebensgrundlagen aller zukünftiger Generationen systematisch zerstört und das durch jahrhundertelange und bis in die Gegenwart andauernde Ausbeutung der Länder des Südens durch die Länder des Nordens sowie durch den gleichzeitig dadurch angeheizten Klimawandel auch die Hauptursache bildet für die Flucht einer immer weiter millionenfach wachsenden Zahl von Menschen aus den Zonen des sich immer weiter ausdehnenden Elends in die immer schneller schrumpfenden, noch verbliebenen Zonen des vermeintlichen Paradieses.

Männer und Frauen in Deutschland oder einem anderen europäischen Land, die keine ausreichend entlohnte Arbeit mehr finden und in Armut versinken. Jugendliche, die alle Hoffnung verloren haben und sich nur mit irgendwelchen künstlichen Aufputschmitteln noch einigermassen über Wasser halten. Krankenpflegerinnen, die sich ein Leben lang ihre Rücken kaputtarbeiten müssen und sich dennoch nicht einmal auf einen genussvollen Lebensabend freuen dürfen. Junge Männer aus Tunesien oder Marokko, welche die gefahrvolle Fahrt übers Mittelmeer knapp überlebt haben und nun irgendwo an einem deutschen oder französischen Bahnhof oder in einem Stadtpark fern ihrer Heimat anderen Menschen, die sich wiederum ihrer eigenen Heimat beraubt fühlen, zur Last fallen. Kinder und Jugendliche, die sich gegenseitig verprügeln. Nachbarinnen und Nachbarn, die sich Seite an Seite mit immer mehr Menschen aus anderen Ländern an viel zu dicht befahrenen und viel zu lauten Strassen mit immer mehr Verkehr in viel zu enge Wohnungen zwängen müssen. Von Gewalt oder Armut Vertriebene, fünfzehn Stunden am Tag auf einer Baustelle oder in einem Schlachthof sich Abrackernde, deren fast einziger Lohn darin besteht, von ihren Vorgesetzten von früh bis spät herumgehetzt und beschimpft zu werden. Alleinerziehende Mütter, die bloss für das nackte Überleben Tag und Nacht schuften muss, während ihre Kinder alleine vor dem Fernseher sitzen und mit allem Elend der Welt, ohne mit irgendwem darüber sprechen zu können, bombardiert werden. Sie alle und Abermillionen andere sind Opfer des gleichen weltweit herrschenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem, das sich nur deshalb immer noch an der Macht zu halten vermag, weil die Lüge, dass all die leidenden, kaputtgearbeiteten, verzweifelten und aller Hoffnung beraubten Menschen an ihrem Elend selber schuld seien, immer noch nicht aufgedeckt ist. Sodass die Menschen, statt sich als Opfer des gleichen Systems zu erkennen und sich im gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu solidarisieren, alles Üble und Böse bloss in jedem einzelnen anderen Menschen sehen, von dem sie gerade unmittelbar bedroht sind, der ihnen das Leben schwer macht, ihnen im Weg steht oder ihnen etwas vorenthält, worauf sie vermeintlich einen Anspruch haben.

“Was alle angeht”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.” Reine Symptombekämpfung bringt nichts. Es braucht so etwas wie eine neue Aufklärung. Die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass das “Böse” nicht im einzelnen Menschen liegt, sondern in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtsystem, welches es den Menschen verunmöglicht, so gut zu sein, wie sie von Natur aus eigentlich gedacht wären. Denn, wie der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor 250 Jahren so treffend sagte: “Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.”

Es braucht die Aufklärung. Das Wissen, dass dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns allen das Leben so schwer macht und uns dazu bringt, uns gegenseitig zu hassen statt zu lieben, nicht eines Tages vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen aufgrund ganz bestimmter Interessen genau so aufgebaut wurde und deshalb auch jederzeit von Menschen wieder umgebaut, abgebaut und durch etwas radikal anderes ersetzt werden kann. Das wäre eigentlich gar nicht so schwierig, denn die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt, in der alles unter alle gerecht verteilt ist, liegt im tiefsten Inneren jedes Menschen verborgen. Es wäre das Paradies auf Erden. Und es ist machbar. Würde es Wirklichkeit, dann würden auch Wut, Hass, Gewalt, künstlich aufgebaute Feindbilder und Kriegstreiberei für immer der Vergangenheit angehören.

Mehr denn je brauchen gerade in so schweren Zeiten wie der unseren insbesondere junge Menschen mit ihrem unermesslichen Potenzial an Lebenshunger, Kreativität, Phantasie und Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit glaubwürdige Visionen und den Glauben an eine Zukunft, die so ganz anderes aussehen würde als unsere Gegenwart. Doch die Gefahr ist gross, dass sich gerade die Hoffnung vieler, die jetzt aus jener Motivation, welche die 23jährige Anke als “Hoffnung für die Zukunft” bezeichnet hat, ihre Stimme der AfD gegeben haben, schon sehr bald als Illusion erweisen und wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Denn natürlich ist die AfD nur ein vermeintlicher Hoffnungsträger und verdankt ihren Erfolg wiederum bloss der Tatsache, dass sich die “Altparteien” schon längst von der Idee verabschiedet haben, eine von Grund auf “neue Welt” zu bauen. Viel näher an der Hoffnung auf etwas echt Neues ist da schon das Bündnis Sahra Wagenknecht. Doch gerade Wagenknechts Position zur Migrationspolitik, welche Hardlinerpositionen anderer Parteien aufgreift, zeigt, dass auch diese Partei weit weg ist von einer radikalen Kapitalismuskritik, würde eine solche doch bedeuten, die Migrationsfrage in einen viel grösseren Zusammenhang zu stellen und demzufolge deren Grundursachen – Kolonialismus, Ausbeutung bis in die Gegenwart, Reichtum der Reichen auf Kosten der Armut der Armen, usw. – ins Zentrum zu stellen und demzufolge nicht reine Symptombekämpfung , etwa durch verschärfte Asylverfahren, sondern einen grundlegenden Systemwandel zu fordern, in dem kein Land ein anderes, kein Kontinent einen anderen wirtschaftlich ausbeuten darf.

Aber wahrscheinlich müssen wir noch ein paar Schritte weitergehen und eine grundlegende Überwindung der “Parteiendemokratie” andenken. Eine solche ähnelt nämlich in fataler Weise dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip: Jede Partei versucht mit ihrem Programm, in permanenter Konkurrenz und im Machtkampf gegen die anderen Parteien, möglichst viele Anhängerinnen und Anhänger bzw. “Konsumentinnen” und “Konsumenten” anzulocken. Wem dies am besten gelingt, hat das Spiel “gewonnen”, alle anderen haben es “verloren”. Dabei geht es zwangsläufig nicht in erster Linie um Inhalte, und schon gar nicht um solche, die unbequem sind, mit denen man anecken und mit denen man zu viele potenzielle Wählerinnen und Wähler vergraulen könnte. Somit erscheinen wertvolle, notwendige, aber im Moment noch nicht mehrheitsfähige Ideen und innovative Zukunftslösungen schon gar nicht erst auf dem Tapet – so wie es die 17jährige Jamie meinte, als sie sagte: “So wie jetzt kann es nicht weitergehen.” Es geht eben immer so weiter, wenn nicht radikal Sand ins Getriebe kommt und sich nicht nur einzelne Rädchen, sondern die ganze Maschine in eine andere Richtung zu bewegen beginnt.

Meine beste Zeit als Politiker hatte ich in der siebenköpfigen Exekutive meiner Stadt. Nur selten gab es eine Abstimmung. In der Regel wurde so lange diskutiert, bis man sich einig war und im besten Falle ein jedes Mitglied einen eigenen Teil zur Lösung beitragen konnte. Oft gab es erstaunliche Überraschungen, zum Beispiel, wenn ein Ratsmitglied eine Idee einbrachte, die bei den anderen zunächst nur Kopfschütteln bewirkte. Dann aber begann der eigentliche Denkprozess, durch Fragen, Einwände, Kritik, Einbringen anderer Lösungen, bis man am Schluss oft dann ganz nahe wieder bei jener Lösung, nun aber im Konsens, angelangt war, die am Anfang nur Kopfschütteln ausgelöst hatte. Übrigens ein uraltes, vorkapitalistisches Demokratiemodell, das schon vor Jahrhunderten in den Dorfgemeinschaften Afrikas praktiziert wurde, in der Form des “Palavers”, das so lange dauerte, bis sich alle einig waren – Demokratie durch gegenseitiges Zuhören, durch Versuch und Irrtum, durch Vertiefung, durch Respekt gegenüber Andersdenkenden, durch gemeinsames sich Bemühen um die beste Lösung für alle.

Wie erbärmlich dagegen die Parteiendemokratie, die ich während meiner schlechtesten Zeit als Politiker erlebte: In einem 200köpfigen Parlament, wo man nur zusammenkam, um sich gegenseitig bereits bis ins Letzte vorbereitete Positionen um die Köpfe zu schlagen. Bevor der nächste Redner ans Pult trat, brach die gegnerische Partei schon in höhnendes Gelächter aus. Niemand hörte einem anderen zu, alle wussten schon von Anfang an, was richtig war und was falsch. Nicht wenige versteckten sich hinter einer Zeitung, hackten pausenlos auf ihrem Handy herum oder verliessen sogar den Saal, nur um nicht andere, ihnen widersprechende Meinungen anhören zu müssen. Null Neugierde, null Zuhören, null Respekt gegenüber Andersdenkenden, null echte Fortschritte, null Lernen. Fast wie im Krieg, wo sich jeder möglichst tief in die Erde eingräbt und der Gegner bloss der ist, den man zu zerstören versucht.

Die “Parteiendemokratie” ist auch deshalb so fortschrittsfeindlich, weil sie davon ausgeht, dass die Mehrheit immer Recht hat. Dabei läge das grösste Potenzial für echten Fortschritt und gesellschaftliche Weiterentwicklung doch gerade in all jenen neuen, unkonventionellen, noch nie gedachten Ideen, die längst noch nicht mehrheitsfähig sind, aber die grosse Chance bieten, die Dinge ganz neu und anders zu sehen, als man sie bisher gesehen hatte. Auf diesem Weg einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen, würde aber auch bedeuten, die verhängnisvolle Spaltung in sogenannte “Profis” und “Experten” auf der einen Seite und das gewöhnliche “Volk” auf der anderen Seite, das angeblich sowieso von allem nichts versteht, zu überwinden. Echte Demokratie ist entweder Basisdemokratie oder sonst gar nichts. Denn Jamie, Lucas und Anke haben nicht schlechtere Ideen und sind nicht weniger gescheit als all die sich selber gegenseitig hochgezüchteten und von der tatsächlichen Lebensrealität der meisten Menschen unendlich weit abgehobenen Kaste bestbezahlter und mehr oder weniger machtbesessener “Expertinnen” und “Experten”, die trotz einem Riesenaufwand an Zeit und Geld bisher noch erschreckend wenig wirklich Brauchbares zustand gebracht haben.

Wenn Rechthaberei, Intoleranz, Feindbilder und gegenseitige Beschimpfungen in der heutigen Zeit immer krassere Formen annehmen, dann ist das auf den ersten Blick zwar höchst erschreckend und desillusionierend. Auf den zweiten Blick aber ist es nur ein Zeichen dafür, dass sich ein Zeitalter mehr und mehr seinem Ende entgegen neigt. Unter den zerfallenden Trümmern des Bisherigen wartet schon das Neue, voller Ungeduld. Vielleicht Jamie, Lucas und Anke. Und wahrscheinlich noch viele Millionen andere, die es kaum erwarten können…