Archiv des Autors: Peter Sutter

“Neue Autorität”: Ein neuer Begriff geistert durch die pädagogische Landschaft – doch was steckt dahinter?

Voll des Lobes ist Thomas Minder, Präsident des Verbands der schweizerischen Schulleiterinnen und Schulleiter, in einem im Elternmagazin “Fritz und Fränzi” vom 17. April 2024 veröffentlichten Artikel über die sogenannte “Neue Autorität”, mit der sich, wie es der Titel des Artikels besagt, Eltern, Lehrkräfte und ganz allgemein Erziehungspersonen wieder “Respekt” verschaffen können, ohne sich deswegen dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, “autoritär” zu sein. Die “Neue Autorität” ist ein pädagogisches Konzept, das in den 1980er Jahren vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt wurde und sich seither in der pädagogischen Fachwelt und bei zahlreichen Erziehungspersonen grosser Beliebtheit erfreut. Ein Konzept, auf das wohl all jene, die schon seit Jahren bedauern, Erwachsene verfügten, im Gegensatz zu früher, nicht mehr über genügend Wirksamkeit, um sich gegen rebellische, widerspenstige oder sonstwie “schwierige” Kinder und Jugendliche durchzusetzen, lange schon sehnlichst gewartet hatten. Doch je näher man sich mit den Hintergründen dieser Theorie auseinandersetzt, umso erstaunter muss man feststellen, dass sich dahinter uralte, längst überholte Muster im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen verbergen und bloss, in ein “modernes” Kleid verpackt, dadurch etwas harmloser erscheinen sollen. Alter Wein in neuen Schläuchen…

“Oft ist zu hören, dass Kinder den Erwachsenen nicht den nötigen Respekt zollen”, so ist im ersten Abschnitt des Artikels zu lesen. Und damit ist von Anfang an schon die falsche Spur gelegt und man wird wieder gedanklich in frühere, angeblich bessere Zeiten zurück katapultiert, als die Welt eben noch in “Ordnung” war und Erwachsene über genügend Respekt verfügten, um ihre Vorstellungen von Moral und “richtigem” Verhalten bei ihren Kindern bzw. Schülerinnen und Schülern durchzusetzen. Doch müsste es eigentlich schon längst allgemeines Gedankengut sein, dass man so etwas wie Respekt nur erwarten darf, wenn man ihn gegenüber anderen ebenso konsequent an den Tag legt. Respekt darf nie etwas Einseitiges sein, und schon gar nicht so etwas wie ein “Recht”, über das ältere Menschen gegenüber jüngeren verfügen, bloss weil sie älter sind. Es gibt keinen einsichtigen Grund dafür, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen nicht genau den gleichen Respekt entgegen bringen sollten, den sie auch von diesen gegenüber ihnen erwarten. Im Gegenteil: Etwas glaubwürdig vertreten kann man nur, wenn man es mit dem eigenen Beispiel vorlebt. Nicht nur Kinder und Jugendliche können von Erwachsenen etwas lernen, genau so vieles und genau so Wichtiges können auch Erwachsene von Kindern und Jugendlichen lernen. Wo immer der Altersunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen dazu missbraucht wird, dass die einen über die anderen Macht ausüben, dadurch besondere Privilegien geniessen und im Zweifelsfall immer Recht haben, ist es eine Verletzung elementarer Menschenrechte. Nähme man das ernst, müsste kein Mensch mehr von “neuer Autorität” sprechen, man könnte sich diesen ganzen Artikel ersparen und auch die gesamte dahinter steckende Theorie.

“Man kann nur auf Menschen einwirken”, so ist im Weiteren zu lesen, “mit denen man eine Beziehung pflegt.” Darum sei es so schwierig, einer unbekannten Person, die sich im öffentlichen Raum nicht gebührend verhält, zu sagen, sie solle mit dem störenden Verhalten aufhören: “Folglich müssen wir in den Schulen stetig an der Beziehung zu unseren Schützlingen arbeiten.” Wieder wird unhinterfragt davon ausgegangen, “nicht gebührendes und störendes Verhalten” sei ausschliesslich den jüngeren Menschen, in diesem Falle den Schülerinnen und Schülern, zuzuschreiben, und es sei deshalb ausschliesslich die Pflicht der Erwachsenen bzw. der Lehrpersonen, gegen solches “Fehlverhalten” einzuschreiten. Kein Wort davon, dass auch Erwachsene und selbst Lehrpersonen durchaus in gewissen Situationen “ungebührendes und störendes” Verhalten an den Tag legen können, und zwar immer dann, wenn sie die Kinder und Jugendlichen nicht respektvoll behandeln bzw. ihre Privilegien als sozusagen öffentliche “Erziehungspersonen” in Form von Zurechtweisungen, Moralisieren oder gar irgendwelchen Strafmassnahmen missbrauchen. Und ebenfalls kein Wort davon, dass die sogenannte “Widerspenstigkeit” oder das sogenannte “Fehlverhalten” von Kindern und Jugendlichen meist nichts anderes ist als eine natürliche Reaktion auf Bevormundung, Fremdbestimmung oder Machtdemonstration seitens der Erwachsenen, gegen die sich die jungen Menschen gar nicht anders wehren können als durch “Frechheit” oder “Ungehorsam”. Trügerisch ist auch die Verknüpfung mit dem Begriff der “Beziehung”. Persönliche “Beziehung” soll also dazu dienen, dem jungen Menschen das “richtige” Verhalten beizubringen. Dabei beruhen echte menschliche Beziehungen stets auf Gegenseitigkeit und schliessen das Durchsetzen von Machtinteressen der einen gegen die andere Seite zum Vornherein aus. Ins Auge sticht auch das Wort “Schützling”, das man früher meist im Zusammenhang mit “Mündel” und “Schutzbefohlenen” verwendete und damit meinte, einzig die für sie verantwortliche Erziehungs- bzw. Autoritätsperson wisse, was für diese gut sei und was nicht.

Einen wichtigen Teil der Zielsetzungen der “Neuen Autorität” bildet die Forderung nach dem Aufbau von Netzwerken, in denen sich Lehrpersonen und Eltern verbinden und gegenseitig unterstützen sollten, um geeint auftreten und die “notwendigen Veränderungen so lange einfordern zu können, bis die Veränderung eintritt”, denn als “Einzelperson” sei man meistens überfordert. “Ein starkes Team”, so Minder, “ist hilfreich, die gemeinsame Haltung und die verbindenden Werte sind ein starkes Signal, das nach aussen wirkt, uns als Lehrerteam aber auch intern stärkt.” Kein Wort davon, dass eigentlich vor allem auch die Kinder und Jugendlichen auf Netzwerke und gegenseitige Unterstützung angewiesen wären, da ja gerade sie als “Einzelpersonen” möglichem Machtmissbrauch seitens von Erwachsenen in hohem Masse schutzlos ausgeliefert sind – man denke nur an die immer noch in vielen Schulen weit verbreiteten, oft völlig überrissenen Strafmassnahmen nur schon wegen geringster “Vergehen”, an das totale Ausgeliefertsein der Kinder und Jugendlichen an ausschliesslich von Erwachsenen vorgegebene Lehrpläne und schulische Inhalte oder, als besonders krasses Beispiel, an den schon fast als “normal” akzeptierten Machtmissbrauch seitens von Trainerinnen und Trainern im Spitzensport. Nicht nur im Zusammenhang mit der “Neuen Autorität”, sondern ganz allgemein ist gerade aus Lehrerteams immer wieder zu hören, es sei wünschbar, dass “alle am gleichen Strick ziehen.” Wenn man sich das dann aber konkret vorstellt, gibt das kein schönes Bild. Denn der “Strick”, an dem Lehr- und Erziehungspersonen gemeinsam ziehen, wird nicht selten zu einem Strick, dessen anderes Ende sich um den Hals der Kinder legt, und je fester das “Erziehungsteam” daran zieht, desto grösser ist die Gefahr, dass die Kinder dadurch in ihrer Gedanken- und Bewegungsfreiheit unnötig eingeschränkt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein Lehrerteam, bei dem alle gleich denken und handeln, nicht gerade das adäquate Abbild einer demokratischen Gesellschaft ist, in der es nun mal ganz unterschiedliche, sich gelegentlich auch gegenseitig widersprechende Ansichten über Erziehung, Moral und Wertesysteme gibt, die man nicht unterdrücken oder gar ausschliessen, sondern vielmehr in einen gemeinsamen fruchtbaren Dialog bringen sollte.

Geradezu zynisch wird es, wenn sich die “Neue Autorität” auf den sogenannten “gewaltfreien Widerstand” und dessen berühmtesten Repräsentanten, nämlich Mahatma Gandhi, beruft. Es braucht schon ein ungeheures Mass an Geschichtsblindheit, den “Kampf” von Erziehungspersonen für das moralische “Wohlverhalten” von Kindern und Jugendlichen auch nur im Entferntesten mit dem Kampf Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft zu vergleichen. Als wären Kinder und Jugendliche Inbegriffe des Bösen oder geradezu Monster, die man nicht anders bezwingen kann als durch beharrliche “Befehlsverweigerung” und zivilen Ungehorsam oder, wie es im vorliegenden Artikel von Thomas Minder auf den Punkt gebracht wird: “Wir geben nicht auf, wir sind da und gehen nicht weg, selbst dann nicht, wenn es schwierig wird.” Auf diese Weise wird die Realität nicht nur ausgeblendet, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Der “passive Widerstand” von Lehrpersonen gegenüber Kindern dient ja nicht dazu, bestehende Machtverhältnisse zu beseitigen, sondern, im Gegenteil, dazu, sie zu verfestigen, zu zementieren und obendrein zu legitimieren, nur eben mit “moderneren” Mitteln, die in der heutigen Zeit eher akzeptiert werden als der frühere Prügelstock und die frühere Schamecke. Für die Kinder aber wird es dadurch noch schwieriger, sich gegen ungerechtfertigten Machtmissbrauch seitens der Erwachsenen zu wehren: Es ist viel einfacher, sich gegen einen Lehrer zu wehren, der Ohrfeigen verteilt, weil das Kind da nämlich in aller Regel die Eltern und sogar das Gesetz auf seiner Seite hat. Ungleich aber viel schwieriger ist es, sich gegen den Machtmissbrauch eines sanft lächelnden und scheinbar “liebevollen” Lehrers zu wehren, der seine Machtstellung auf ganz feine, subtile, geradezu unsichtbare Weise ausübt, nur schon dadurch, dass er den umfassenden Repressionsapparat des bestehenden Schulsystems nie grundsätzlich in Frage stellt und damit das pure Gegenteil dessen verkörpert, wofür Mahatma Gandhi ein Leben lang kämpfte.

Man hätte es eigentlich viel einfacher haben können als durch diesen Rückgriff auf die scheinbar “zeitgemässen” Theorien eines israelischen Psychologen, hinter denen sich nun all jene bequem verstecken können, die immer noch nicht eingesehen haben, dass “Erziehung”, auch wenn sie noch so gut gemeint ist, nie etwas zu tun haben darf mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse seitens Erwachsener gegenüber Kindern und Jugendlichen, auch und gerade wenn diese noch so subtil und scheinbar “liebevoll” daherkommen. Statt Haim Omer würde man gescheiter wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen. Der wusste nämlich schon vor über 250 Jahren, dass nur die echte, bedingungslose und zweckfreie Liebe zählt und dass die Aufgabe der Erwachsenen nicht darin bestehen darf, die Kinder auf irgendeinen scheinbar “richtigen” Weg zu ziehen, sondern einzig und allein darin, mit ihnen gemeinsam diesen Weg zu gehen, beständig gegenseitig voneinander zu lernen und, statt “widerspenstige”, “ungehorsame” oder “freche” Kinder mit allen Mitteln anpassen und zurechtbiegen zu versuchen, gerade sie in ganz besonderem Masse als Chance zu erkennen, Seite an Seite mit ihnen die Welt jeden Tag ein bisschen neu kennenzulernen und ein bisschen besser, schöner und friedlicher zu gestalten…

18. August 2024: Viel Raum in der Sonntagspresse für die verschrobenen und altertümlichen Ideen eines Zürcher Pädagogikprofessors…

Gleich zwei Mal kommt der an der Universität Zürich lehrende Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach heute Sonntag, 18. August 2024, zu Wort. Einmal mit einem ganzseitigen Interview in der “Sonntagszeitung”, zum andern mit einem weiteren Interview in der “NZZ am Sonntag”, das sich über fast zwei Zeitungsseiten hinweg erstreckt. Ich frage mich, welches wohl die Beweggründe sind, weshalb dieser bisher eher unbekannte Pädagogikprofessor auf einmal eine so grosse Plattform bekommt, um seine verschrobenen und altertümlichen Ideen kundzutun.

Das Interview in der “Sonntagszeitung” steht unter dem Titel “Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht.” Zwar räumt Reichenbach ein, Noten seien “problematisch” und “weder objektiv noch gerecht”, um dann aber entgegenzuhalten: “Zu behaupten, dass die Leistungen nicht sinken würden, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm.” Hausaufgaben abzuschaffen findet er “eine schlechte Idee”, denn sie “geben die Möglichkeit, Gelerntes zu konsolidieren und Lerninhalte besser zu verstehen.” Dass “alle Lehrkräfte der Idee zunicken”, man müsse die Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit entsprechend “unterschiedlich behandeln”, bezeichnet er als “pädagogischen Gottesdienst”, denn Lernen, so sagt er, “lässt sich nicht selbstbestimmt und individuell organisieren.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “SONNTAGSZEITUNG”:

Schule ohne Noten funktioniere nicht, behauptet der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Hat er keine eigenen Kinder gehabt? Sonst müsste er nämlich wissen, wie unglaublich viel höchst Komplexes Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen, ohne je dafür eine Note zu bekommen. Mir wurde schon vor über 50 Jahren während meiner Ausbildung zum Sekundarlehrer an der Uni Zürich der Unterschied zwischen „intrinsischer“ und „extrinsischer“ Motivation beigebracht und dass natürliche, intrinsische Motivation aus Neugierde und echtem Interesse stets zu besseren Lernleistungen führe als all jene Formen von extrinsischer Motivation, die künstliche Anreize schaffen, von Fremdbestimmung, Druck und oft auch von Angstmacherei bestimmt sind und keinen logischen Zusammenhang aufweisen mit dem betreffenden Lerninhalt. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren ganz einfach sagte: „Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert.“ Echtes Lernen braucht keinen Quervergleich mit anderen Kindern und daher auch keine Prüfungen und Noten. Wenn Schule davon ausgeht, dass Kinder ohne Noten nichts lernen würden, dann ist dies bloss das Eingeständnis der Schule, dass die von ihr vermittelten Lerninhalte offensichtlich viel zu wenig zu tun haben mit den echten Lern- und Lebensbedürfnissen der Kinder, zu deren Erfüllung man kein einziges von ihnen mit irgendwelchen künstlichen Mitteln „motivieren“ müsste, weil sie es nämlich noch so gerne freiwillig und ohne äusseren Druck täten.

Das Interview in der “NZZ am Sonntag” steht unter dem Titel “Viele Kinder wollen nicht mehr leisten”. Reichenbach sieht als eines der Hauptprobleme die “Krise der Autorität”, die den Lehrerberuf “im Kern” treffe: “Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungs- und Lernbereitschaft ist.” In welcher pädagogischen Mottenkiste hat Reichenbach wohl diese “Weisheiten” entdeckt? Und wo, um Himmelswillen, ist er wohl auf folgendes Konstrukt gestossen, das man mindestens zwei Mal lesen muss, um dann immer noch nicht zu begreifen, was er damit wohl gemeint haben könnte: “Natürlich könnten manche Kinder den Schulstoff zu Hause gezielter und schneller lernen als in der Schule. Aber ohne Klassenzimmer, ohne Schulgemeinschaft und die damit verbundenen Rituale und auch individuellen Opfer, ohne die zahlreichen Erfahrungen mit den teilweise störenden Eigenarten der Lehrpersonen hätten diese Kinder am Ende sehr wenig vom Leben verstanden, also von sich und der Welt.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “NZZ AM SONNTAG”:

„Viele Kinder wollen nicht mehr leisten“ – schon der Titel des Interviews mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach ist ein Schlag ins Gesicht des Kindes, das in seinen ersten Lebensjahren so komplexe Lernleistungen vollbringt wie das Erlernen der Muttersprache, und dies ohne eine einzige Schulstunde, ohne Lehrplan, ohne Lehrer, ohne Prüfungen und ohne Noten. Wer sich mit Schulfragen beschäftigt, darf dieses zugleich so lustvolle und erfolgreiche Lernen des Kleinkindes nie aus den Augen verlieren. Dann wird nämlich schnell klar, dass fast alle der heute diskutierten Schulprobleme nicht so sehr die Probleme „schwieriger“, „verhaltensgestörter“ oder „lernunwilliger“ Kinder sind, sondern die Probleme einer Schule, die sich viel zu weit von den natürlichen Grundlagen menschlichen Lernens entfernt hat. Eine Schule kann nur in der Weise eine gute Schule sein, als es ihr gelingt, ausnahmslos jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen ihm eingeborenen, individuellen und einzigartigen „Lernplan“ zur Entfaltung zu bringen. Besser als die beste Schule wäre daher ein Abschied von der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklassenschule, die Aufhebung all dessen, was Lernen und Leben voneinander trennt, und die Rückbesinnung auf die zentrale Erkenntnis, wonach die wirkungsvollste Art zu lernen jene des „Learning by Doing“ ist, Lernen durch Tun, durch Beobachten, Forschen und Experimentieren und durch das allmähliche Hineinwachsen des Kindes in die Welt der Erwachsenen.

Jahrhundertelange Komplizenschaft zwischen Kapitalismus und Patriarchat

Dies ist das 7. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Wir wähnen uns zwar in «modernen» Zeiten, senden uns Nachrichten, Fotos und Filme in Bruchteilen von Sekunden rund um den Erdball zu, lassen uns von künstlicher Intelligenz ganze Romane schreiben, Bilder malen, musikalische Meisterwerke komponieren und uns vielleicht schon bald von selbstgesteuerten Automobilen spazieren fahren. Doch mitten in diesen «modernen» Zeiten werden unzählige wiedergeborene Hexen, man nennt sie heute «Prostituierte», Nacht für Nacht stundenlang vergewaltigt und halb zu Tode geprügelt, an eiserne Gestelle gekettet und blutig geschlagen, bis fast zum Ersticken gewürgt, mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht und am Ende, wenn sie ihren Dienst getan haben, mit Blutergüssen oder einem gebrochenen Kiefer irgendwo an einen Waldrand geworfen. Und unzählige wiedergeborene Scharfrichter, man nennt sie heute «Freier», scheint genau das, die Machtausübung über Schwächere, ihnen hilf- und schutzlos Ausgelieferte, die allergrösste Lust zu bereiten.

IMMER NOCH TAUSENDFACHE ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNISSE UND MACHTUNTERSCHIEDE

Doch Prostitution ist nicht etwas Exotisches, Singuläres, nicht eine abartige Abweichung von der Normalität. Nein, sie ist nur die extremste Form jener «Normalität» tausendfacher Abhängigkeitsverhältnisse und Machtunterschiede zwischen Frauen und Männern, die bis zum heutigen Tag an viel zu vielen Orten und in viel zu vielen Lebensbereichen immer noch gang und gäbe sind. Denn Geld ist Macht. Und wer, wie die Freier, mehr davon hat, als er zum Leben braucht, kann dadurch Macht ausüben über jene, die, wie die Prostituierten, weniger davon haben, als sie eigentlich zum Leben bräuchten. Nur deshalb ist die Prostituierte dem Freier hilflos ausgeliefert, weil sie ohne das Geld, das er im Übermass besitzt, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte. Und nur deshalb müssen die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Coiffeuse jeden Wunsch des Bankers, des Immobilienmaklers und des IT-Spezialisten erfüllen und, wenn diese damit nicht zufrieden sind, sich von ihnen vielleicht sogar noch beschimpfen lassen, weil sie auf das Geld, welches diese besitzen, existenziell angewiesen sind.

Doch weshalb besitzen Männer so viel mehr Geld und damit so viel mehr Macht als Frauen? Aus dem ganz simplen Grund, weil die meisten bis heute weltweit herrschenden politischen Institutionen, Gesetze, Macht- und Besitzverhältnisse ursprünglich nicht von Frauen, sondern fast ausschliesslich von Männern geschaffen wurden, und natürlich in der Weise, dass sie ihren Interessen, den Interessen der Männer, am meisten entsprachen. Sie, die Männer, haben definiert, was «höherwertige» – hauptsächlich von Männern ausgeübte – und deshalb besser bezahlte Tätigkeiten sind, und was «minderwertige» – hauptsächlich von Frauen ausgeübte – und daher schlechter bezahlte Tätigkeiten sind. Und sie, die Männer, haben sogar die unfassbare Tatsache in die Welt gesetzt, dass eine Frau, die sich «nur» um den Haushalt und die Kinder kümmert, dafür auch nicht einen einzigen Rappen Lohn bekommen darf, so dass man selbst heute noch, wenn man ein Kind fragt, was seine Mutter arbeite, zur Antwort bekommt, sie arbeite nicht, sondern koche nur, putze nur die Wohnung, gehe nur einkaufen, füttere nur die Haustiere, jäte nur den Garten, organisiere nur Geburtstagspartys, pflege nur die kranke Grossmutter, unterhalte nur die Beziehungen mit der Nachbarschaft, kümmere sich nur um die Kinder und helfe ihnen nur bei den Hausaufgaben. Eigentlich müsste man noch ergänzen: Dass die Mutter, die ja angeblich gar nicht arbeitet, «nur» von Zeit zu Zeit auch noch ein Kind gebärt – was aus kapitalistisch-patriarchaler Sicht offensichtlich schon gar nicht auch nur im Entferntesten mit «Arbeit» in Verbindung gebracht wird, obwohl es sich dabei doch im Grunde um die zentralste sämtlicher möglicher Arbeitsleistungen handelt, ohne welche es alle anderen Arbeitsleistungen gar nicht erst gäbe. Der gesamte kapitalistische Überbau beruht auf der Gratisarbeit von Frauen. Würden sie diese verweigern, bräche das gesamte kapitalistische Machtsystem von einer Sekunde zur andern i sich zusammen.

Sie, die Männer, haben auch das gesamte Geldsystem, die Banken, die Finanzflüsse, das Prinzip der Selbstvermehrung von Geld in Form von Zinsen und die Lüge, dass Geld selber arbeiten und seinen Besitzer dadurch immer reicher machen könne, all das so eingerichtet, dass jene, die schon reich sind – und auch das sind vor allem wieder Männer –, immer noch reicher werden, während andere, die schon arm sind – und auch das sind vor allem wieder Frauen – lebenslang arm bleiben. Denn es ist zweifellos alles andere als ein Zufall, dass sich unter den weltweit zurzeit 2640 allerreichsten Menschen, mit je einem Vermögen von über einer Milliarde US-Dollar, gerade mal 399 Frauen befinden und unter den 50 Reichsten der Schweiz gerade mal fünf weiblichen Geschlechts sind.

SELBST GOTT IST EIN MANN

Sie, die Männer, haben auch früh erkannt, wie stark der Zusammenhang ist zwischen Sprache und Denken, und so haben sie dann unzählige Wörter, Begriffe und Redewendungen erfunden, in denen wiederum sie, die Männer, im Mittelpunkt stehen und die Frauen entweder verschwiegen, an den Rand gedrängt oder in ein schiefes Licht gerückt werden. Etwas Schönes ist «herrlich», etwas Unpassendes ist «dämlich». Typisch weibliches und negativ bewertetes Verhalten bezeichnet man als «weibisch», aber niemand kommt auf die Idee, ein als mühsam oder lästig empfundenes typisch männliches Verhalten als «männisch» zu bezeichnen. Das englische Wort «woman» kommt von «wifman», was so viel bedeutet wie «weiblicher Mensch», als wäre nur «man» sozusagen der eigentliche, wahre Mensch. Eine «Künstlerin» ist sozusagen eine weibliche Neben- oder Unterkategorie des eigentlichen – als «Norm» empfundenen «Künstlers». Bis in die jüngste Vergangenheit wurden unverheiratete Frauen selbst im Alter von 50 oder mehr Jahren als «Fräulein» bezeichnet, bemitleidenswerte Geschöpfe, die nach so langer Zeit immer noch keinen Mann gefunden hatten, während unverheirateten Männern als «Junggesellen» auch heute noch durchaus Sympathien infolge ihrer «Eigenständigkeit» und ihrer «freien», «selbstbestimmten» Lebensweise entgegengebracht werden. Eine widerspenstige junge Frau ist eine «Göre», ein widerspenstiger junger Mann dagegen ein «Rebell» oder sogar ein «Held». Frauen, die auf Gleichberechtigung mit Männern pochen, sind «Emanzen», Männer, die an traditionellen Vorrechten von Männern gegenüber Frauen festhalten, werden im Volksmund dagegen nur selten «Patriarchen» genannt, dann schon eher, vor allem wenn sie ein Unternehmen erfolgreich leiten, als «Patrons» von altem Schrot und Korn, was meistens sogar mit einer gewissen Bewunderung oder geradezu Ehrfurcht verbunden ist. Nachbarinnen können sich am Gartenzaun mit noch so philosophisch hochstehenden Themen beschäftigen oder noch so viele wertvolle  Erfahrungen im Umgang mit kranken oder hilfsbedürftigen Menschen austauschen, es ist eben nur «Frauengeschwätz», während Verwaltungsräte auch noch mit den dümmsten und unbrauchbarsten Ideen um sich werfen können, stets handelt es sich um, notabene erst noch bestens bezahlte, «Sitzungen», «Konferenzen» oder «Meetings».

Selbst die Wissenschaft haben sie, die Männer, für sich gekapert, und es ist noch gar nicht so lange her, da haben führende und zu ihrer Zeit höchst angesehene Köpfe sogar «wissenschaftlich» zu beweisen versucht, weshalb Frauen weniger intelligent seien als Männer. Das wiederum war dann gefundenes Fressen für jene Mehrheit sämtlicher Männer, die, wie zum Beispiel in der Schweiz, noch bis ins Jahr 1971 felsenfest davon überzeugt waren, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen. Und als Gipfel von allem, aber eigentlich nicht besonders verwunderlich: Der, welcher über allem Irdischen thront, der «Schöpfer» und «Lenker» von allem, ist, wie könnte es auch anders sein – ein Mann. Noch heute wird das Bild dieses «Gottes» den meisten Kindern in den christlichen Ländern schon von klein auf eingeimpft, egal, ob es sich dabei um einen «rachsüchtigen», «allmächtigen» oder «liebevollen» Gott handelt, Hauptsache, es ist ein Mann.

PATRIARCHAT NUR EINES VON ZAHLLOSEN UNTERDRÜCKUNGS-, AUSBEUTUNGS- UND MACHTVERHÄLTNISSEN

Das patriarchale Machtsystem hat sich, wie oft behauptet wird, im Laufe der Zeit nicht abgeschwächt, sondern sich im Gegenteil, Hand in Hand mit allen anderen kapitalistischen Ausbeutungsformen, nach und nach über die ganze Erde ausgebreitet. Patriarchale Machtverhältnisse treffen wir heute nicht nur, in mehr oder weniger starker Ausprägung, in jedem einzelnen kapitalistischen Land an, sie widerspiegeln sich auch in der Dominanz der reicheren und mächtigeren gegenüber den ärmeren und weniger mächtigeren Ländern: So etwa in der erbarmungslosen Ausbeutung von Dienstmädchen aus den Philippinen in den Haushalten der reichen Oberschicht Dubais, Kuwaits oder Saudi-Arabiens, in zwanzigstündigen Arbeitsschichten von Textilarbeiterinnen in Bangladesch zwecks exorbitanter Unternehmensgewinne französischer, italienischer oder kanadischer Modekonzerne, in den bis zum Zerbrechen kaputtgearbeiteten Rücken marokkanischer Erdbeerpflückerinnen unter der sengenden Sonne Andalusiens zur unaufhörlichen Geldvermehrung in den Kassen deutscher oder belgischer Supermärkte und ihrer Aktionäre, in den Leiden und Erniedrigungen brasilianischer, kolumbianischer und kenianischer Prostituierter, aus denen jenes Geld herausgeschunden wird, mit dem dann ihre Zuhälter und weltweit organisierte Menschenhändler wertvollsten Schmuck, prunkvollste Villen und teuerste Luxuskarossen kaufen, mit denen sie ihren Reichtum ganz öffentlich und unverfroren auf den Strassen spanischer oder griechischer Städte zur Schau tragen.

Bei alledem gibt es freilich nicht nur geschlechtsspezifische Macht-, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Im über alle Grenzen hinweg globalisierten Kapitalismus befinden sich die Arbeiter in den kongolesischen Goldminen ebenso auf der Opferseite, wie sich all jene westeuropäischen Frauen auf der Täterseite befinden, welche sich die zahllosen Schmuck- und Luxusgegenstände leisten können, die aus jenem Gold gefertigt wurden, welches die Minenarbeiter qualvoll und unter gefährlichsten Bedingungen aus dem Boden geschürft hatten. Frauen können auch andere Frauen ausbeuten, ebenso wie Männer andere Männer und Frauen Männer, je nach Geburtsort und sozialem Status. Je weiter im Zuge der Globalisierung die Orte des Reichtums und die Orte der Armut auseinandergerissen wurden, umso geringer das öffentliche Bewusstsein darüber, dass letztlich das gesamte kapitalistische Weltwirtschaftssystem letztlich auf nichts anderem beruht als auf der permanenten Ausbeutung jener, die weniger Geld und weniger Macht haben, durch jene, die mehr davon haben. Das Patriarchat ist dabei nur eines von zahlreichen Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, aber zweifellos nach wie vor eines der wesentlichsten und am meisten dominierenden.

DAS PATRIARCHAT KAM ERST AM 31. DEZEMBER UM SIEBEN UHR MORGENS AN DIUE MACHT

Blicken wir weiter in die Geschichte zurück, werden wir sogleich feststellen, dass patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse ganz und gar nicht über Jahrtausende hinweg die Norm waren. Eine im Jahre 1998 durchgeführte Studie ergab, dass 160 von insgesamt weltweit 1267 untersuchten Ethnien bis in die jüngste Gegenwart eine rein matrilineare, also ausschliesslich auf weiblicher Erbfolge beruhende Gesellschaftsstruktur aufweisen und weitere 101 Ethnien ein gleichwertiges Nebeneinander von matrilinearen und patrilinearen Abstammungsregeln.

So etwa kennen die Minangkabau auf Sumatra, mit drei Millionen Menschen die grösste matrilineare Bevölkerungsgruppe der Welt, ausschliesslich die mütterliche Erbfolge. Frauen und Männer haben eine gleichrangige Stellung innerhalb der Gesellschaft, Land und Produktionsmittel sind Gemeineigentum. Die Mosuo, ein ebenfalls matrilinear organisiertes Volk im Südwesten Chinas, betreiben eine reine Tauschwirtschaft ohne Verwendung von Geld. Dem weiblichen Haushaltsvorstand sind alle Haushaltsmitglieder beiderlei Geschlechts untergeordnet. Bei den Beziehungen ausserhalb der Grossfamilie treffen Frauen die geschäftlichen, Männer die politischen Entscheidungen. Die Mosuo kennen keine Ehe zwischen Frau und Mann, sie pflegen ausschliesslich «Besuchsbeziehungen», bei denen sowohl Frauen als auch Männer mit mehreren Partnerinnen oder Partnern nebeneinander oder nacheinander sexuelle Beziehungen haben. Die auf den Trobriandinseln im Südpazifik lebenden Trobriander sind für ein auffallend konfliktarmes Gesellschaftsleben bekannt, auch bei ihnen sind sexuelle Freizügigkeit und Tauschhandel die Regel. Eine noch über den Tauschhandel hinausgehende Wirtschaftsweise trifft man bei den Tolai in Papua-Neuguinea an: eine sogenannte «Schenkökonomie», ein auf allgemeiner Solidarität und Grosszügigkeit beruhendes soziales System, in dem Güter und Dienstleistungen ohne direkte oder zukünftige Gegenleistung weitergegeben werden. Bei den Khasi im Nordosten Indiens liegen Grund und Boden ausschliesslich in der Hand von Frauen. Bei den Tuareg in Nordafrika entscheiden die Frauen, wen sie heiraten, die Frau darf ihren Mann verstossen.       

Auch auf der Insel Orango vor dem westafrikanischen Guinea-Bissao, «Insel des Friedens» genannt, haben heute noch die Frauen das Sagen, wie Heiner Hoffmann im «Spiegel» vom 3. April 2022 berichtete: «Isabel Yaranto hievt ein Schilfbündel auf den Kopf, es ist Baumaterial für das neue Haus ihrer Schwester. So will es die Tradition, Frauen bauen die Häuser, dafür gehören sie ihnen anschliessend. Männer sind darin höchstens zu Gast. Auf Orango wird die Geburt einer Tochter besonders intensiv gefeiert, denn Frauen gebären nicht nur Kinder, sondern managen auch das Leben im Dorf. Entscheidungen gehen auf Orango so, dass zwei Räte, einer aus Männern und einer aus Frauen, Lösungen für Konflikte oder anstehende praktische Fragen diskutieren und anschliessend miteinander einen Kompromiss aushandeln. Zwar arbeiten auch auf Orango die Frauen viel mehr als die Männer, kümmern sich um die Kindererziehung, die Arbeit auf dem Feld, das Sammeln von Meeresfrüchten, den Hausbau und den Haushalt, während Männern lediglich das Fischen und Sammeln von Palmfrüchten vorbehalten ist. Dafür aber gelten die Frauen als das starke Geschlecht und verfügen über viel mehr Macht als die Männer. Nicht nur die Häuser, sondern auch die unzähligen Hühner, Schweine und Kühe gehören ihnen, somit verfügen sie über die Lebensgrundlage der Haushalte. Auch heute noch wird Okinka Pampa, von 1910 bis 1930 die letzte Königin der Insel und so etwas wie die Urmutter der matriarchalen Strukturen, auf Orango zutiefst verehrt. Sie schaffte die Sklaverei ab, stärkte die Frauenrechte und wehrte mehrere portugiesische Kolonialisierungsversuche erfolgreich ab.»

Solche Relikte matriarchaler Traditionen sowie zahllose archäologische Funde aus der Frühzeit der Menschheit, die auf die Verehrung weiblicher Gottheiten hindeuten, legen die Vermutung nahe, dass matriarchale Gesellschaftsstrukturen bis vor etwa rund 4000 bis 5000 Jahren nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel waren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann, dann wären diese letzten 5000 Jahre, in denen das Patriarchat die Oberhand gewann, weniger als ein Klacks: Rechnen wir die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Jahr um, dann wäre also das Patriarchat erst am 31. Dezember um sieben Uhr morgens an die Macht gekommen.

DOCH WIE UND WESHALB ERFOLGTE DIE MACHTERGREIFUNG DURCH DIE MÄNNER?

In ihrem 1988 erschienenen und 2015 neu aufgelegten und aktualisierten Buch «Patriarchat und Kapital» erklärt Maria Mies den Aufstieg des Patriarchats wie folgt: Seit Urzeiten gab es eine geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen den Frauen, die hauptsächlich sammelten und Hackbau betrieben, und Männern, welche sich auf die Jagd spezialisierten. Auf diese Weise waren, so Mies, «die Frauen in der Lage, die täglichen Lebensmittel nicht nur für sich selbst, sondern auch für den ganzen Clan zu sichern. Sie waren die Ernährerinnen nicht nur ihrer Kinder, sondern weitgehend auch der Männer, die ja nicht immer Glück auf ihren Jagdexpeditionen hatten.» Es ist anzunehmen, dass die Frauen bis zu 80 Prozent der täglichen Nahrung produzierten. Dies verschaffte den Frauen eine gewisse Machtstellung, die sich zum Beispiel bei den Irokesen in der Weise manifestierte, dass die Frauen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Jagdexpeditionen und Kriegszügen hatten. Wenn sie es ablehnten, den Männern Proviant mitzugeben, mussten mitunter Jagd- und Kriegszüge abgeblasen werden. Archäologische Funde zeigen, dass die ältesten Werkzeuge Behälter waren, um Nahrung aufzusammeln: Körbe, Behälter aus Blättern oder Rinden und Krüge, offensichtlich lauter Erfindungen von Frauen, so wie auch der Grabstock und die Hacke für den frühen Ackerbau. Die von Männern erfundenen Werkzeuge dagegen waren Wurfspiesse sowie Pfeil und Bogen für die Jagd. So waren die Werkzeuge der Frauen eigentliche «Produktionsmittel, die dazu dienten, etwas Neues zu produzieren und das Produzierte zu transportieren und aufzubewahren. Die Jagdinstrumente jedoch, die Waffen, konnten für keinen anderen Zweck benutzt werden als zum Töten.» Und so wie Tiere getötet werden konnten, so konnten auch Menschen getötet werden – der «Ursprung ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Verhältnisse und einer asymmetrischen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Das gab den Jägern eine Macht über lebende Wesen, Tiere und Menschen. So konnten sie sich auch mit Hilfe der Waffen andere Produzentinnen und Produzenten aneignen und unterwerfen. Indem die Jäger nicht nur Tiere jagen, sondern auch Dörfer anderer Gruppen überfallen konnten, hatten sie auch die Möglichkeit, unbewaffnete Frauen und Kinder zu rauben und sich als Beute anzueignen – erste Formen von Privateigentum. Durch das Monopol der Männer über Zwangsmittel, Waffen und direkte Gewalt konnten permanente Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern aufgebaut und erhalten werden. Bis heute dient die Produktion von Waffen zur Sicherung eines störungsfreien Zuflusses von billigen Rohstoffen aus den Ländern des Südens in die Länder des Nordens. Die internationale Arbeitsteilung würde sofort zusammenbrechen, wenn sie nicht, in letzter Instanz, durch die militärische Überlegenheit der kapitalistischen Industrieländer aufrechterhalten würde.»

Wie eng die gegenseitige Verflechtung von Patriarchat, Kriegsführung und Terrorregimen ist, sehen wir nur schon daran, dass sämtliche Kriege in Vergangenheit wie Gegenwart nahezu ausschliesslich von Männern angeführt wurden und werden und sich auch unter Diktatoren und Despoten, die ihre eigenen Völker mit eiserner Faust regierten und ihnen gegenüber vor keinen noch so grausamen Menschenrechtsverletzungen zurückschreckten, fast ausnahmslos Männer befinden, von Alexander dem Grossen und Ivan dem Schrecklichen über Francisco Pizarro, Hernando Cortez und König Leopold II von Belgien, Adolf Hitler, Idi Amin und Pol Pot bis Benjamin Netanyahu und den sudanesischen Generälen Abdelfatah Burhan und Mohammed Hamdan Daglo, die anfänglich eng befreundet waren, sich dann aber dermassen zerstritten und sich gegenseitig Rache schworen, dass daraus einer der schlimmsten Kriege unserer Zeit entstand, dem bereits über zehntausend Menschen, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind und der rund sechs Millionen Menschen in die Flucht geschlagen hat. Und das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einer endlosen Liste machtbesessener Männer, von denen die meisten kaum jemals daran gedacht hätten, selber in den Krieg zu ziehen, und die sich stattdessen in sicheren Bunkern und hinter meterdicken Mauern verschanzt hatten und es sich dort wohl ergehen liessen, während unzählige Unschuldige qualvoll für sie leiden und sterben mussten.

Ebenso lang oder vermutlich noch viel länger wäre die Liste der Namen von Pazifistinnen, von Frauen, die oft ihr ganzes Leben dem bedingungslosen Einstehen für eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg verschrieben: Bertha von Suttner, Margarete Selenka, Anita Augsburg, Lida Heymann, Minna Cauer, Jane Addams, Edith Ballantyne, Eleonore Romberg, Hedwig von Pötting, Sophie Scholl oder Olga Karach – um nur ein paar ganz wenige von ihnen zu nennen. Doch ihre Namen suchen wir in den allermeisten Geschichtsbüchern vergebens. Obwohl sie sich infolge ihres mutigen und selbstlosen Auftretens in kriegerischen Zeiten grösster Feindseligkeit und nicht selten sogar Lebensgefahr aussetzten und eigentlich als die wahren Heldinnen ihrer Zeit gefeiert werden müssten. Doch die gleiche patriarchale Geschichtsschreibung, welche die Namen der grössten Verbrecher der Menschheitsgeschichte unsterblich gemacht hat, droht ihre Namen, die Namen der Friedenskämpferinnen und all ihrer Mitstreiterinnen, Millionen und Abermillionen namenloser Mädchen und Frauen über Jahrhunderte hinweg, für immer auszulöschen.

PATRIARCHAT UND KAPITALISMUS HAND IN HAND

Patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse gab und gibt es zweifellos auch in vorkapitalistischen Zeiten und in nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Aber im Kapitalismus hat das Patriarchat sozusagen einen seiner zuverlässigsten Verbündeten gefunden, beruht der Kapitalismus im Innersten doch auf den genau gleichen Grundprinzipien wie das Patriarchat. «Wie die Kolonien und wie die Natur», so Maria Mies, «so werden im Kapitalismus auch die Frauen als freie Güter betrachtet und auf diese Weise praktisch ohne grosse Kosten ausgebeutet. Diese Kolonisierung von Ländern, Frauen und Natur bildet die Grundlage für den raschen Aufstieg der westlich-kapitalistischen Industrieländer. Ohne all diese Gewalt wäre er nicht möglich gewesen.»

Und hier schliesst sich der Kreis von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über die Hexenverfolgungen bis zur auch in unseren Tagen ungebrochen weitergeführten Ausplünderung der Erde auf Kosten zukünftiger Generationen. Heute, Hunderte Jahre später, empören wir uns über die barbarische Auslöschung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas, über die unfassbaren, von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren an den Indios in Zentral- und Südamerika begangenen Grausamkeiten, über die Zwangsdeportation und Versklavung von bis zu 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern, über die Ausschweifungen des Sonnenkönigs und seines Gefolges in Versailles und über die unbeschreiblichen, von Männern an Frauen verübten Entsetzlichkeiten im Zuge der Hexenverfolgungen, ganz so, als wären dies alles nur einzelne, voneinander unabhängige Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, von denen jede einen ganz bestimmten Anfang und ein ganz bestimmtes Ende hatte. Tatsächlich aber fand dies alles mehr oder weniger zur gleichen Zeit statt und waren dies alles logisch in sich miteinander verbundene Ausprägungen jenes im Grunde immer gleichen, in sich miteinander verbundenen kapitalistischen Grundprinzips, immer mehr natürliche Ressourcen und immer mehr menschliche Arbeitskraft in immer höhere Profite für die Reichen und Mächtigen umzuwandeln bis zum heutigen Tag.

«Der gesamte Aufstieg der modernen Naturwissenschaft und Technik», so Maria Mies, «gründete letztlich auf nichts anderem als einem gewaltsamen Angriff und einer Vergewaltigung der Mutter Erde. So etwa empfahl Francis Bacon, einer der Väter der modernen Naturwissenschaft, im Bestreben, der Mutter Natur ihre Geheimnisse zu entreissen, die gleichen gewalttätigen Mittel, wie sie von Kirche und Staat benutzt wurden, um zu den Geheimnissen der Hexen vorzustossen, nämlich Folter und Inquisition. Die Tabus gegenüber dem Bergbau, dem Graben von Löchern in den Leib der Mutter Erde, wurden gewaltsam gebrochen, weil die neuen Patriarchen an die wertvollen Metalle und andere Rohmaterialien herankommen wollten, die im Schoss der Erde verborgen waren. Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, einer rein mechanistischen Weltanschauung, stützte sich auf das Töten der Natur als lebendigen Organismus und ihre Umwandlung in ein gewaltiges Vorratslager an natürlichen Ressourcen, die vom Mann analysiert und in seine neuen Maschinen integriert wurden, mit denen er bestrebte, sich von der Natur mehr und mehr unabhängig zu machen.»  

11. Montagsgespräch vom 12. August 2024: SRG-Halbierungsinitiative – wer würde profitieren, wer nicht?

Leider hat an diesem Montagsgespräch nur eine einzige Person teilgenommen – wahrscheinlich war es einfach zu heiss und man wollte lieber irgendwo gemütlich im Schatten sitzen… Somit entfällt ein ausführlicherer Bericht mit kontroversen Gesichtspunkten zu diesem Thema, ebenso wie der übliche Zeitungsartikel. Stattdessen an dieser Stelle zwei Wortmeldungen, die mir im Vorfeld des Anlasses zugestellt worden sind. EG schreibt: “Ich würde es sehr schlimm finden, wenn die Initiative angenommen würde. Die möglichst unabhängige Berichterstattung muss erhalten bleiben.” JB schreibt: “Ich finde die Abgabe ohnehin sehr unsozial. Denn jeder Haushalt ob reich oder arm muss genau gleich viel bezahlen. Da es jeder bezahlen muss, wäre die richtige Konsequenz, dass die Kosten vollständig vom Bund übernommen werden. Damit wäre auch das Thema vom Tisch, welche Unternehmen beitragen müssen und welche nicht. Es wäre ein reiner Service-Public. Natürlich geht dies am Anliegen der Halbierungsinitiative vorbei. Diese wollen die Prämie abschaffen, um das Budget der SRG zu schmälern. Aber der tiefere und eigentliche Grund ist, damit die Privatmedien zu bevorteilen, die man dann mit genügend Geld zusammenkaufen kann. Entsprechende Macht dem Geld, einmal mehr. Diesen letzten Grund sollte man klarer hervorheben. Und daraus ergibt sich das Hauptargument, dass die Presse eine unabhängige neutrale Instanz bleiben muss und nicht in Privathände gehört.”

Die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 und der Nahostkonflikt: Haben bald nur noch Hardliner das Wort?

Gleich zwei absoluten Hardlinern in Sachen Nahostkonflikt erteilt die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 das Wort und lässt damit jegliche Ausgewogenheit und demokratische Vielfalt auf geradezu fahrlässige Art vermissen. Es handelt sich einerseits um Shira Kaplan, ehemaliges Mitglied des israelischen Nachrichtendienstes (ausführliches Interview auf Seiten 2 und 3), anderseits um den Publizisten Markus Somm (Kolumne auf S. 17).

Schon der Titel des Interviews mit Shira Kaplan: “Was Israel durchmacht, wird auch auf die Schweiz zukommen” spricht Bände. Einmal mehr das Beschwören der Opferrolle Israels ohne Hinweis darauf, dass die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 wohl unvergleichlich viel mehr mitgemacht und unvergleichbar viel mehr Opfer erbracht hat als die Bevölkerung Israels während dieser Zeit. Und einmal mehr die Solidarisierung der Schweiz mit Israel: Was Israel durchmacht, könnte schon bald auch die Schweiz durchmachen müssen…

Zur gezielten Tötung des Hizbollah-Kommandanten Fuad Shukr und des Hamas-Führers Ismail Haniya meint Kaplan: “Der Schlag zeigte: Wir sind doch zu etwas fähig.” Das mag sich auch die Regierung der USA nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki gedacht haben: Wir sind doch zu etwas fähig. Was für ein Armutszeugnis, wenn die beste eigene “Fähigkeit” bloss darin besteht, andere vernichten oder demütigen zu können, statt etwa darin, eine menschenwürdige Politik zu betreiben, sich um gewaltlose Konfliktlösungen zu bemühen, Menschenleben zu retten. Genau das alles aber hat Israel mit diesen “präzisen Vernichtungsschlägen” verhindert, indem Ismail Haniya ausgerechnet in dem Augenblick, als ein von ihm initiierter Vorschlag für einen Waffenstillstand im Gazastreifen kurz vor dem Durchbruch stand, “eliminiert” wurde. Haben Kaplan und ähnlich Denkende nicht einen einzigen Funken psychologischen Verständnisses? Ist ihnen wirklich nicht bewusst, dass mit jeder Demütigung des “Gegners” dessen Wut und Hass nur immer weiter angestachelt wird und das, was man angeblich zu vernichten versucht, dadurch nur immer noch stärker und mächtiger wird? Aber vermutlich wollen sie ja genau das und träumen schon von der letzten und grössten aller Schlachten mit dem Endsieg des “Guten” gegen das “Böse”.

Nach zehn Monaten Gazakrieg und den quälenden Fragen “Was machen wir da eigentlich? Ist es gut oder schlecht?” hätte nun, so Kaplan, glücklicherweise wieder das befreiende Gefühl Oberhand bekommen, “wir können etwas erreichen.” PR-mässig, so Kaplan, sei die Tötung des Hamas-Führers in Teheran ein “Coup” gewesen, den man zum Beispiel mit der Erschiessung von Osama bin Laden 2011 durch die USA vergleichen könne, und der “in aller Bescheidenheit” gezeigt habe, wie “kreativ” Israelis sind, wenn es darum ginge, “gute Lösungen zu finden”. Man kann nur noch leer schlucken…

Vehement wehrt sich Kaplan gegen jede Kritik an Israel “aus der sicheren europäischen Warte”: “Sorry, wir befinden uns zufälligerweise im Nahen Osten und stehen damit an der vordersten Front der westlichen Zivilisation.” Einer westlichen Zivilisation, die unter Führung der USA seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge geführt hat und 50 Millionen unschuldige Todesopfer und 500 Millionen Verletzte, Verstümmelte und für den Rest ihres Lebens Traumatisierte zurückgelassen hat…

Noch bunter treibt es Markus Somm in seiner Kolumne unter dem Titel “Von Israel lernen heisst siegen lernen”. Von Michael Gorbatschow und seinem weltberühmten Zitat, wonach man Kriege nicht gewinnen, sondern nur verlieren kann, und echte Siege nur im Schaffen von Frieden bestehen, scheint er noch nie etwas gehört zu haben. “Diese Woche”, so Somm, “hat Israel von neuem bewiesen, dass es vermutlich die schlagkräftigste und intelligenteste Militärmacht der Gegenwart ist.” Wie pervers muss man denken, dass man eine Militärmacht, die innerhalb von zehn Monaten über 40’000 unschuldige Kinder, Frauen und Männer auf dem Gewissen hat, als “Intelligent” bezeichnen kann…

Wie für Kaplan, scheint auch für Somm das höchste Ziel die Demütigung des Gegners zu sein – ungeachtet aller daraus möglicherweise resultierender Gegenreaktionen in Form von Wut, Hass, Verbitterung, allfälligen Terroranschlägen oder gar kriegerischen Rachefeldzügen: “Was für eine Demütigung”, frohlockt Somm, “für das Regime der tödlichen Maulhelden in Teheran!” Die Botschaft sei zwar “primitiv”, doch: “Manchmal ist primitiv besser als kompliziert.” Merkt Somm eigentlich nicht, dass er mit seinen Ausführungen in höchstem Grade genau das betreibt, was er dem vermeintlichen “Gegner” unterstellt, nämlich Hass, Aufruf zu Gewalt, Kriegstreiberei? Ist Somm nicht selber das krasseste nur vorstellbare Spiegelbild jener Feinde, die er an die Wand malt? “Wer meint, mit ihnen philosophische Verhandlungen führen zu können ohne ihnen die Hölle heiss zu machen”, so die offensichtlich höchste Stufe seiner Erkenntniskraft, “bleibt besser in der Kaninchenzucht.” Krieg oder Frieden, so Somm, sei ja gar keine Frage mehr: “Der Krieg ist sowieso schon längst da. Wenn der Westen ihn gewinnen will – ob im Nahen Osten, in der Ukraine oder vielleicht bald in Asien -, dann helfen uns weder humanitäres Völkerrecht noch die UNO, regelbasierte Ordnungen oder gesundbetende Diplomatie, sondern allein eine hochgerüstete Armee und Politiker, die auch bereit sind, sie in Marsch zu setzen.”

Glücklicherweise ist Markus Somm keiner dieser Politiker, sonst wären wir vermutlich schon heute mitten im dritten Weltkrieg. Dass er regelmässig in der “Sonntagszeitung” mit seinen ewiggestrigen, hasserfüllten und geschichtsverleugnenden Theorien seine Kolumne füllen darf, ist schon schlimm genug. Besser wäre es wohl, er würde seinen eigenen Tipp befolgen und sich zukünftig ausschliesslich der Kaninchenzucht widmen, wobei einem selbst diese Tiere noch leid tun müssten. Doch fast noch schlimmer als seine sonntägliche Hasspredigt ist, dass eine der meist gelesenen Schweizer Zeitungen in der gleichen Ausgabe zwei derartig einseitigen Stimmen das Wort erteilt und weit und breit auch nicht die klitzekleinste redaktionelle Einordnung, Relativierung oder kritische Gegenfrage zu lesen ist. Selbst die Leserschaft scheint vor so viel Gewaltverherrlichung förmlich erschlagen zu sein: In der Ausgabe vom 11. August findet sich zumindest kein einziger Leserbrief, welcher der Empörung über so viel Hass und so viel Einseitigkeit Raum zu verschaffen versucht…

Die Mücke

Was ist denn daran so schlimm, wenn dich mitten in der Nacht eine Mücke sticht? Im Gegenteil, sie hat sich vielleicht schon tagelang auf dieses Festmahl gefreut. Wir werden ja auch nicht zu Tode gequetscht, nur weil wir uns am Sonntag einen feinen Schmorbraten gönnen.

Olympische Spiele: Sie nennen es ein “Friedensfest”, tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Und wieder sind der Jubel der einen und die bitteren Tränen der anderen nur um Millimeter und Tausendstelsekunden voneinander entfernt. Soeben sind acht der 55 Teilnehmerinnen des Frauentriathlons, Seite an Seite auf ihren Fahrrädern mit ihren Konkurrentinnen in horrendem Tempo um den Sieg kämpfend, auf dem nassen und glitschigen Boden ausgerutscht und mit voller Wucht knallhart auf dem Kopfsteinpflaster gelandet, ohne Hoffnung, jemals wieder zur Führungsspitze aufschliessen zu können – und schon durchläuft die strahlende Siegerin unter tosendem Applaus des Publikums das Zielband. Und während die weltbeste Turnerin mit einem Sprung, den noch nie zuvor eine ihrer Konkurrentinnen zu meistern vermochte, schon fast im Himmel des Olymps angelangt ist, muss eine andere Wettkämpferin, die als hoffnungsvolle, ehrgeizige junge Boxerin vom genau gleichen Traum der in unendlichem Glück schwimmenden Goldmedaillengewinnerin beseelt war, schon nach wenigen Sekunden aufgeben, weil ihr die Nase von ihrer Gegnerin dermassen brutal zertrümmert wurde und sie nun so benommen ist, dass sie sich beim nächsten noch so harmlosen Treffer ohne Zweifel kaum mehr wird auf den Beinen halten können. Man nennt es ein “Friedensfest”, bei dem sich die weltbesten Athletinnen und Athleten über alle Grenzen hinweg begegnen, um ihre körperlichen Kräfte, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit und ihren Mut aneinander zu messen. Tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Am 26. September 2004 stürzte der belgische Radrennfahrer Tim Pauwels zu Tode, unmittelbar nachdem er einen Herzstillstand erlitten hatte. Am 26. November 2006 starb der Spanier Isaac Gálvez infolge eines Genickbruchs nach einem Sturz im Sechstagerennen von Genf. Am 31. März 2013 kollidierte der Uruguayer Marcélo Gracés bei der Vuelta Ciclista de Uruguay nach einem Lenkerbruch mit einem Begleitmotorrad und verstarb noch bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Am 6. Oktober 2019 verlor der Italiener Giovanni Iannelli, nachdem er mit dem Kopf auf eine Betonplatte geprallt und sein Helm dabei zerbrochen war, das Leben. Am 16. Juni 2023 starb der Schweizer Gino Mäder bei der Tour de Suisse, einen Tag, nachdem er bei der Abfahrt vom Albulapass in eine 20 Meter tiefe Schlucht gestürzt war. Und das sind erst fünf von insgesamt 66 Todesfällen, die allein der Radrennsport in den vergangenen 20 Jahren gefordert hat, zu schweigen von einer noch viel höheren Anzahl von Verletzungen, die zwar nicht zum Tode führten, in vielen Fällen aber lebenslange schwerste Folgen für die Betroffenen hinterlassen haben. Und es ist ja nicht nur der Radrennsport, der so viele Opfer fordert. Auch die Liste von Todesfällen und schwersten Verletzungen in vielen anderen Disziplinen des Spitzensports wie Boxen, Kunstturnen, Tennis, Leichtathletik, Skifahren und vielen anderen wäre ellenlang. Mit Gesundheit hat der heutige Spitzensport auch nicht mehr das Geringste zu tun, eher mit dem Gegenteil…

Doch was treibt Menschen dazu an, solche Strapazen, Qualen, Leiden, Schmerzen, jahrelanges eisernes Training und das permanente Risiko schwerer oder sogar lebensgefährlicher Verletzungen auf sich zu nehmen? Es scheint dahinter so etwas wie eine Art ungeschriebenes Gesetz zu stecken, das man wohl am zutreffendsten als Konkurrenzprinzip bezeichnen könnte: Der Wettbewerb, der Wettkampf, das Feld, auf dem jeder Einzelne alles dafür gibt, besser, schneller, stärker, ausdauernder, mutiger zu sein als alle anderen, diese zu übertreffen, zu überflügeln, auszustechen, um am Ende – The winner takes it all, the loser’s standing small – als Einziger ganz zuoberst auf dem Podest zu stehen, auf alle anderen hinunterschauen zu können und vielleicht sogar in die Geschichte oder das Guinnessbuch der Weltrekorde einzugehen.

Doch ist der Spitzensport bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der von Wettbewerb und Konkurrenzprinzip beherrscht wird. Es beginnt schon in der Schule, beim gegenseitigen Kampf um möglichst gute Noten und die besten Zukunftschancen. Die ganze Arbeitswelt besteht aus nichts anderem als darum, besser und schneller zu sein als andere. Jedes Unternehmen will mehr Gewinn abwerfen und grössere Profite erwirtschaften als alle anderen. Jedes Land will im gegenseitigen Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten möglichst weit oben sein und alle anderen möglichst weit hinter sich zurücklassen. Jede Zeitung will mehr Leserinnen und Leserinnen als alle anderen, jeder Fernsehsender höhere Einschaltquoten als alle anderen, jeder Spielfilm und jede Theaterproduktion mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als alle anderen, jede Flug- und jede Schifffahrtsgesellschaft mehr Passagiere als alle anderen, jeder neue Popstar ein grösseres Publikum und mehr verkaufte Tonträger als alle anderen Popstars je zuvor, jeder Teenager auf Tiktok mehr Smileys und Likes als alle anderen. Alles und jedes wird miteinander verglichen, bewertet, rangiert und ist von früh bis spät und rund um die Welt so sehr von Konkurrenzdenken und Wettbewerb geprägt, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Tief in uns allen scheint die Überzeugung verankert zu sein, genau dies, der gegenseitige Wettkampf um jeden Preis, entspringe der eigentlichen Natur des Menschen und sei die einzige und beste Art und Weise, um auf allen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern dem Menschen die grösstmögliche Verwirklichung seiner Leistungsfähigkeiten und seiner Potenziale abzugewinnen.

Doch es ist nur jahrhundertelange Gewöhnung und weil wir nichts anderes kennen. Tatsächlich aber ist das Konkurrenzprinzip um jeden Preis so ziemlich das Absurdeste und Lebensfeindlichste, was man sich nur vorstellen kann. Denn es beruht auf einer fatalen Illusion, auf einer grandiosen Lüge, und nur weil alle diese Lüge für die Wahrheit halten, kann es weiterhin und in immer bedrohlicherem Ausmass sein Unwesen treiben.

Es ist die Illusion und die Lüge, dass alle zu allem fähig sind, wenn sie sich nur genug anstrengen, nur genug hart an sich arbeiten, nur genug Opfer erbringen, nur auf genug vieles verzichten. Denn jeder und jede, so wird es schon den kleinen Kindern erzählt, könne eines Tages ganz oben auf dem Podium stehen, es sei alles nur eine Frage des Willens und der richtigen Einstellung. Und so wie kleine Kinder an Märchen glauben, so glauben sie auch an dieses Märchen und beginnen davon zu träumen, selber eines Tages ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein, der reichste und erfolgreichste Mensch der Welt – oder eben, als Gewinnerin oder Gewinner einer Goldmedaille in die Geschichte einzugehen. Und so sind dann auch allzu viele von ihnen bereit, ihre ganze Kindheit und Jugendzeit diesem Ziel zu opfern, schon im Alter von sechs Jahren um fünf Uhr morgens im kalten Wasser des Hallenbads als zukünftige Synchronschwimmerinnen Ausdauerübungen über sich ergehen zu lassen, bis ihnen fast die Luft ausgeht, sich als zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner von ihren Trainern jede noch so herablassende Beschimpfung und Beleidigung gefallen zu lassen oder als zukünftige Fussballstars erbarmungslos über das Spielfeld hin und her gejagt zu werden, bis ihnen fast der Schnauf ausgeht.

Die Wahrheit ist, dass eben nicht alle alles erreichen können, selbst wenn sie sich bis zur totalen Selbstaufgabe anstrengen würden. Denn das Konkurrenzprinzip beruht darauf, dass ein jeder Sieg und ein jeder Erfolg des einen nur möglich wird durch die Niederlage und den Misserfolg eines anderen. Dass jedes Glücksgefühl der einen nur entstehen kann aus den Tränen, den Schmerzen und den Enttäuschungen vieler anderer. Dass die einen nur deshalb in der Sonne stehen können, weil sie es geschafft haben, alle anderen in den Schatten zu verdrängen. Dass die Siegerin nur deshalb ganz zuoberst auf dem höchsten Podest stehen kann, weil alle anderen nicht dort oben stehen. Dass einige wenige eben nur deshalb ihre Lebensträume verwirklichen können, weil unzählige andere dazu verdammt sind, sie für immer aufzugeben, auch wenn sie alles Menschenmögliche gegeben und sich mehr angestrengt haben, als sie es jemals für möglich gehalten hätten.

Auch in der Schule, wo jede gute Note nur deshalb eine gute Note ist, weil alle anderen schlechter sind. Auch in dem Modegeschäft, wo die Chefin jeweils am Ende des Monats eine Rangliste aufhängt, auf der ihre Mitarbeiterinnen gemäss des in diesem Monat erzielten Umsatzes abgestuft aufgeführt sind – verbunden mit dem stillen Vorwurf an die Letzte, sie hätte sich wohl einmal mehr viel zu wenig Mühe gegeben. Auch in der Gastronomie, im Tourismus, im Detailhandel, bei den Handwerksbetrieben: Erzielen die einen von ihnen bessere Monats- oder Jahresabschlüsse als in der entsprechenden Vorjahresperiode, dann geht das nur, wenn andere Betriebe im gleichen Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren haben. Doch solange die Lüge aufrecht erhalten bleibt, wonach alle alles erreichen können, wenn sie denn nur wollen, solange werden alle, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, stets die Schuld nur bei sich selber suchen und nie bei jener Lüge, die dahinter steckt und alles zusammenhält. Es wird denn auch nie das Ganze in Frage gestellt bzw. neuen Regeln unterworfen oder gar “therapiert”. Therapiert werden nur die einzelnen Individuen, die dem Gesamtsystem zu wenig Nutzen bringen oder bereits dermassen überarbeitet, ausgelaugt oder ihres gesamten Selbstwertgefühls beraubt sind, dass sie nicht mehr “systemkonform” weiterfunktionieren können.

Das Konkurrenzprinzip und der allgemein gegenwärtige Wettbewerb machen den Menschen zum Feind seiner selbst. Wenn die chinesische Kunstturnerin länger und härter trainiert als je zuvor, zwingt sie, ob sie will oder nicht, alle ihre weltweiten Konkurrentinnen von Brasilien über Frankreich bis Russland dazu, ebenfalls noch länger und härter zu trainieren denn je. Wenn der Postbote des Unternehmens X in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete verteilt als je zuvor, dann zwingt er, ob er will oder nicht, alle Postboten und Postbotinnen der Firma Y dazu, ebenfalls in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete zu verteilen, weil ja alle miteinander unter dem gleichen permanenten Druck stehen, im gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf nicht unterzugehen. Ob Pizzakuriere, die keine Zeit mehr haben für eine Pause und unterwegs in eine mitgebrachte Flasche pinkeln müssen, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter amerikanischer Schlachthöfe, die, weil auch ihnen nicht genügend Pausen gegönnt werden, in Windeln zur Arbeit gehen müssen, ob die Bananenarbeiterinnen in Costa Rica und jene an der Elfenbeinküste und jene auf den Philippinen, deren Unternehmen auf dem Weltmarkt gegenseitig um die grössten Marktanteile kämpfen, ob die Kinder in der Schule, die im permanenten gegenseitigen Wettkampf um die besten Noten und die besten Zeugnisse stehen: Je mehr sich die einen anstrengen, umso mehr sind die anderen gezwungen, sich noch mehr anzustrengen – das Konkurrenzprinzip ist das beste, effizienteste und raffinierteste Mittel, alle zu immer höheren Leistungen anzutreiben, die Peitsche in den Händen der Sklaventreiber des 21. Jahrhunderts, der gegenseitige Überlebenskampf in tödlichem Wasser, wo nicht genügend Rettungsringe für alle vorhanden sind und alle deshalb gezwungen sind, sich gegenseitig diese Rettungsringe unter Aufbietung aller Lebenskraft aus den Händen zu reissen.

Das besonders Fatale daran ist, dass sich dieser gegenseitige, tödliche Konkurrenzkampf aller gegen alle naturgemäss immer weiter verschärft. Da es an der Spitze immer enger wird, muss stets eine immer noch grössere Leistung erbracht werden, um sich gegenüber der Konkurrenz wenigstens einen auch noch so winzigen Vorteil zu verschaffen. Aufwand und Ertrag klaffen immer mehr auseinander, für einen immer kleineren Zugewinn auf der einen Seite müssen immer grössere Opfer auf der anderen Seite erbracht werden. Für den Rest des Lebens kaputttrainierte Körper, die explosionsartige Zunahme von Burnouts auf den Chefetagen, die immer weiter ansteigende Zahl von Depressionen und Suizidversuchen Jugendlicher, zunehmender Drogen- und Medikamentenkonsum, immer längere Warteschlangen vor den Türen von psychotherapeutischen Beratungsstellen, Behandlungszimmern, Therapieräumen und Kliniken: Das ist alles kein Zufall, sondern nur die ganze logische Folge des sich naturgemäss immer weiter verschärfenden Konkurrenzprinzips, vergleichbar einem Karussell, das sich immer schneller dreht und in dem es immer schwieriger wird, sich an den einzelnen Sitzen festzuklammern, um nicht in ein unbestimmtes, bedrohliches Nichts hinausgeschleudert zu werden.

Immer wieder wird behauptet, dies alles liege in der Natur des Menschen. Schon die kleinsten Kinder würden es lieben, sich in gegenseitigem Wettstreit zu messen. Was für eine Unterstellung, was für eine Projektion von Phantasien Erwachsener auf das eben erst erwachte Leben der Kinder. Gerade sie zeigen uns doch am deutlichsten, dass der gegenseitige Wettkampf um Erfolg und Misserfolg eben nicht in der Natur des Menschen liegt. Es stimmt, dass ein Kind zu weinen und zu schreien beginnt, wenn ein anderes zwei Spielzeuglastwagen hat und es selber keinen. Es will das, was andere auch haben. Aber das hat nichts zu tun mit Konkurrenzkampf, sondern nur mit dem elementaren Anspruch auf Gerechtigkeit. Lässt man die kleinen Kinder in Ruhe, so zeigen sie ein so hohes Mass an sozialem Verhalten und sind immer darauf bedacht, alles gerecht untereinander zu verteilen, dass wir Erwachsene nur staunen müssten und immer wieder von ihnen lernen könnten. Viel zu schnell aber leben wir ihnen das Gegenteil vor und müssen uns dann freilich nicht wundern, wenn auch die Kinder möglichst schnell in unsere Fussstapfen treten wollen und nach und nach der Wunsch, stärker, besser und reicher zu sein als andere, das ursprünglich so tief verwurzelte soziale Verhalten nach und nach zu verdrängen beginnt.

Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Konkurrenzprinzip nur eine von vielen, aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit ist, wie das Arbeiten und das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden können. Wie der an der Universität Wien lehrende Soziologe Khaled Hakami kürzlich in einem Interview mit der “NZZ am Sonntag” eindrücklich beschrieben hat, beruht zum Beispiel die Lebensphilosophie der Maniq, einem im südlichen Thailand wohnhaft indigenen Volk, auf einem von Grund auf anderen Wertesystem. Tätigkeiten der täglichen Arbeitswelt werden nicht unterschiedlich bewertet, nichts ist mehr oder weniger wert als anderes. Es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein Maniq würde nie auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, liegen herum, rauchen, kuscheln und – modern ausgedrückt – chillen. Das Vergleichen ist ihnen fremd. Sie haben in ihrer Sprache, in der es weder einen Komparativ noch einen Superlativ gibt, nicht einmal die Möglichkeit dazu, ebenso wie es auch keine Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – ihre Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Jeglicher Wettbewerb ist ihnen völlig fremd. Zudem sind sie durch und durch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Auch kennen sie kein Konzept von Eigentum – wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach. An Dingen wie Smartphones, Messern oder anderen Objekten der “zivilisierten” Welt zeigen sie absolut kein Interesse. “Unsere westliche Welt”, so Khaled Hakami, “ist für sie vollkommen bedeutungslos”, und er fügt hinzu, dass die Lebensphilosophie der Maniq, gesamtgeschichtlich betrachtet, nicht eine seltene Ausnahme bildet, sondern das verkörpert, was während der weitaus längsten Periode der Menschheitsgeschichte Normalität war: “So wie wir westliche Menschen heute ticken, haben die meisten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben, nie getickt.”

Es ist für uns westliche, “moderne” Menschen, zutiefst beseelt von einem kaum je in Frage gestellten “Fortschrittsglauben”, offensichtlich kein Thema, dass sich Geschichte auch in eine andere Richtung bewegen könnte als nur in jener einer permanenten Profitmaximierung, Leistungssteigerung und technologischer Perfektionierung. Doch nur schon das Wort “Fortschritt” zeigt uns, dass wir uns, mit dem ständigen Blick in eine noch “perfektere” Zukunft, gleichzeitig auch von etwas anderem “fort” bewegen, was nicht a priori schlechter gewesen sein muss als alles “Moderne”. Käme man zur Erkenntnis, dass wir an einer bestimmten Stelle der Menschheitsgeschichte falsch abgebogen sind, was sollte uns dann daran hindern, zu dieser Stelle zurückzugehen und nochmals nachzuschauen, ob es nicht vielleicht einen besseren Weg gegeben hätte. So wie sich jedes Individuum irren kann, so kann sich auch die Menschheit als Ganzes irren. Doch wäre es nicht ein Zeichen grösster Intelligenz, sich einen solchen Irrtum auch ehrlich einzugestehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen?

Doch auch wenn wir nicht rechtzeitig zu einer solchen Einsicht gelangen, wird uns das Leben früher oder später schlicht und einfach dazu zwingen. Denn bald schon werden die Opfer des weltweiten Konkurrenz- und Wettkampfs aller gegen alle so gross sein, dass sich die daraus entstehenden Probleme auch rein ökonomisch nicht mehr werden bewältigen lassen. Und dann wird und muss das Zeitalter des Gegeneinander ein Ende haben und einem neuen Zeitalter des Miteinander Platz machen. Dann werden wir vielleicht eher wieder so leben wie die Maniq im Süden Thailands und alle unsere Begabungen und Lebenskräfte nicht mehr nur darauf verwenden müssen, potenzielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern dazu, unser Bestmögliches zum Gelingen und zum Wohl des Ganzen beizutragen. Doch müssen wir wirklich so lange warten, bis alles von selber zusammenbricht? Müssen wir wirklich noch so viele unzählige Opfer in Kauf nehmen? Wäre es nicht jetzt schon höchste Zeit für ein radikales Umdenken zum Wohle aller?

Und um auf den Ausgangspunkt dieses Artikels, die Olympischen Spiele, zurückzukommen: Höchstmögliche körperliche und akrobatische Leistungen werden auch in einem neuen Zeitalter des Miteinander zu bewundern sein. Aber nicht mehr in römischen Amphitheatern, bei Gladiatorenkämpfen, in Wettkampfarenen und bei olympischen Spielen im Kampf aller gegen alle um die paar wenigen goldenen, silbernen und bronzenen Medaillen, während alle anderen leer ausgehen. Sondern auf Plätzen mitten in den Städten, auf einem Dorffest oder in einem Zirkus, wo Menschen ihre besten und aussergewöhnlichsten Talente zur Schau stellen können, nie irgendwer mit irgendwem verglichen wird, alle Formen von Ranglisten für immer der Vergangenheit angehören und das Glück, der Triumph und der Erfolg der einen zugleich immer auch das Glück, der Triumph und der Erfolg aller anderen sind.

(Nachtrag am 3. August 2024: Anlässlich der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris inszenierten die Sängerin Juliette Armanet und der Pianist Sofiane Pamart auf einem Floss in der Seine treibend und mit einem brennenden Flügel John Lennons “Imagine”. Am polnischen TV-Sender TVP kommentierte ein Moderator diese Darbietung mit folgenden Worten: “Eine Welt ohne Himmel, ohne Nationen und ohne Religion, das ist eine Friedensvision, die alle ergreifen sollte.” Im Anschluss an die Sendung wurde er entlassen.)

(Nachtrag am 4. August 2024: An den Olympischen Spielen in Paris stemmte sich die Slowakin Tamara Potocká nach ihrem Vorlauf über die 200 Meter Lagen aus dem Becken, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen. Später sagte sie: “Ich habe mir gesagt, dass ich alles geben werde und meine Seele im Pool lassen werde.”)

(Nachtrag am 9. August 2024: Seit einer Woche wird heftigst diskutiert, ob die algerische Boxerin Imane Khelif aufgrund ihres männlichen Geschlechtsstatus an den Wettkämpfen der Frauen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfe oder nicht. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Sportlerinnen in solchen Fällen schon Suizid begangen haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde ist Wettbewerb immer unfair. Denn die Hochspringerin mit den längeren Beinen hat nun mal naturgemäss grössere Chancen als die mit den kürzeren Beinen. Der Skirennfahrer Beat Feuz saust dank seines überdurchschnittlichen Körpergewichts logischerweise schneller ins Tal als seine leichteren Mitkonkurrenten. Und die 14jährige Turnerin hat nun mal biegsamere Gelenke als die 24Jährige. Die einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass Vergleichen immer absurd und ungerecht ist, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sport. Kein Mensch verfügt in irgendeinem Leistungsbereich über die genau identischen Voraussetzungen wie ein anderer. Man kann schlichtweg, wie es eine Schweizer Redenwendung sagt, Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, auch nicht ein Krokodil mit einem Regenwurm, auch nicht Max mit Röbi. Also: Finger weg vom Vergleichen, vom Wettbewerb, vom Konkurrenzprinzip, das immer nur dem “gerecht” wird, der die besseren Voraussetzungen mitbringt.)

(Nachtrag am 18. August 2024. Was ebenfalls kaum je thematisiert wird, wenn die “erfolgreichsten” Nationen nach Olympischen Spielen ihre Medaillen zusammenzählen und ihre Ranglisten von den Besten bis zu den Schlechtesten veröffentlichen: Der Leistungsförderung in den reicheren Ländern stehen unvergleichlich viel höhere finanzielle Mittel zur Verfügung. Ihre Sportlerinnen und Sportler sind weitgehend mit viel Geld und allen weiteren zur Verfügung stehenden Raffinessen und Tricks aufgepumpte Leistungsmaschinen, gegen welche die Menschen in den ärmeren Ländern, selbst wenn sie noch so sportlich begabt wären, nicht die geringste Chance haben. Was wieder den Vergleich mit dem Krieg nahelegt, wo Pfeil und Bogen von Naturvölkern hoffnungslos unterlegen sind im Kampf gegen die Panzer und Raketen aus den Ländern der Reichen. Was für ein unsichtbares Potenzial, von dem niemand spricht. Selbst siebenjährige Kinder irgendwo in Indonesien oder auf einer der Pazifikinseln, die auf ihrem täglichen Schulweg gefährlichste Felswände überwinden oder sich durch den dichtesten Dschungel voller gefährlicher Tiere hindurchkämpfen müssen, vollbringen vermutlich grössere körperliche Leistungen als manch eine Europäerin oder ein US-Amerikaner, der soeben von den Olympischen Spielen in Paris mit einer Medaille nach Hause gekommen und dort wie ein Gott empfangen worden ist. Hätte nicht auch jene zwölfjährige Inderin, die zur Coronazeit ihren an einen Rollstuhl gefesselten Vater über 800 Kilometer weit über Strassen und Wege voller Steine und Löcher stiess, eine olympische Goldmedaille verdient?)

Klimawandel und vieles mehr: Der Kapitalismus darf nicht zerbrechen, nur die Menschen, die zu zerbrechlich sind und eine zu wenig dicke Haut haben, um ihn zu überleben…

“Die Schweiz muss sich besser an die Hitze anpassen”, titelt das Gratisblatt “20 Minuten” am 30. Juli 2024, dem Beginn einer prognostizierten Hitzewelle, bei der das Thermometer in einzelnen Regionen unseres Landes bis auf über 35 Grad ansteigen dürfte. “Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird die Hitzemortalität, die schon 2022 innerhalb eines einzigen Jahres schweizweit 623 Menschen das Leben gekostet hat, weiter zunehmen”, sagt die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero und fordert eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung”. Als wirkungsvolle Massnahmen zur Prävention gegen mehr Sterbefälle nennt Vicedo-Cabrero unter anderem “angepasste Kleidung, Reduzierung körperlicher Aktivitäten und Verzicht auf Drogen- und Medikamentenkonsum”. Auch Grünen-Fraktionschefin Aline Trede ärgert sich, dass “zu wenig gemacht wird und vor allem zu wenig koordiniert”. Dabei, so Trede, seien die Grundlagen darüber, was helfe, schon längst klar. So etwa könnten “fliessendes Wasser, angepasste Bäume und Entsiegelungen” in den Städten für deutlich mehr Abkühlung sorgen.

Der weltweite Kampf gegen den Klimawandel, von dem vor nicht langer Zeit noch die Rede war, scheint sich mittlerweile also nur noch darauf zu beschränken, mit was für Massnahmen die eigene Bevölkerung möglichst wirksam vor den Gefahren zunehmender Hitze geschützt werden kann. So empfiehlt auch das Bundesamt für Gesundheit: Mindestens 1,5 Liter Wasser sollten an einem Hitzetag getrunken werden, Alkohol sei zu meiden, der Konsum von zucker- und koffeinhaltigen Getränken sei zu reduzieren, fettarme Nahrung sei zu bevorzugen, der Körper sollte regelmässig durch kaltes Duschen oder Baden, Lotionen oder Kältepackungen abgekühlt werden, zu Hause sollten tagsüber die Fenster geschlossen werden, Lüften sollte man nur abends, nachts oder morgens früh, körperliche Aktivitäten sollten wenn möglich auf die Morgen- und Abendstunden verschoben werden.

Was für eine Diskrepanz zu jener in der Anfangszeit der grossen Klimademonstrationen immer wieder erhobenen Forderung nach einem “System Change”, einer grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Neuorientierung, ausgehend von der Erkenntnis, dass eine auf unbegrenztes Wachstum und unbegrenzte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft und das Ziel einer massiven Reduktion der CO2-Emissionen unmöglich miteinander in Einklang gebracht werden können. Auf höchst erschreckende Weise scheint diese so grundlegende, zentrale und alles entscheidende Erkenntnis voll und ganz auf der Strecke geblieben zu sein: Von einem “System Change” spricht heute fast niemand mehr. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in den reichen Ländern und die Angehörigen einer wachsenden Oberschicht in den armen und ärmsten Ländern der Welt fliegen auf Teufel komm raus und in immer grösserer Zahl über alle Kontinente, als wäre nichts geschehen. Doch nicht nur das Reisen, auch unzählige andere Luxusvergnügungen, die sich eine privilegierte und immer reicher werdende Minderheit der Weltbevölkerung zu leisten vermag, schlagen alle Rekorde. Nur noch ein paar wenige “Unverbesserliche” tragen die Hoffnungen, von denen eben noch Millionen junge Menschen weltweit erfüllt waren, in ihren Herzen und müssen zu immer drastischeren Mitteln greifen, um überhaupt irgendwie noch wahrgenommen zu werden, während Millionen andere längst schon alle Hoffnungen auf eine lebenswerte Zukunft wohl für immer begraben haben.

Selbst Menschen, die eben noch an vorderster Front für ein radikales “Umdenken” und ein neues “Wertesystem” eintraten und von denen einige sogar von einer baldigen “Zeitenwende” träumten, scheinen sich kleinlaut damit abgefunden zu haben, dass sie heute bestenfalls noch “Expertinnen” und “Experten” sind beim Empfehlen von Massnahmen, mit denen sich eine sowieso schon höchst privilegierte, winzige Minderheit der gesamten Weltbevölkerung mit kühlem Wasser, Kältepackungen, Schatten, geschlossenen Fensterläden, wenig Bewegung, geringem Alkoholkonsum und fettarmer Ernährung gegen die zunehmende Hitze schützen kann, während siebenjährige Kinder in Indien bei 50 Grad auf endlosen Baustellen unter ihren Lasten fast zerbrechen, aus steinharter, tief vertrockneter Erde sich in immer weiter und weiter ausbreitenden Zonen des Südens kaum noch etwas Essbares herausarbeiten lässt, ganze Inselvölker ihre Häuser im Kampf gegen einen unerbittlich steigenden Meeresspiegel für immer zu verlieren drohen und selbst in den “wohlhabenden” Ländern des Nordens Strassenarbeiter beim Ausgiessen von 160 Grad heissem Asphalt und Landarbeiterinnen beim Ausstechen von Spargeln selbst zur heissesten Mittagszeit wohl nur ein müdes Lächeln übrig haben können, wenn irgendein “Gesundheitsexperte” in seinem vollklimatisierten Büro die Empfehlung herausgibt, schwere körperliche Arbeit sei in die frühen Morgenstunden oder späten Abendstunden zu verlegen.

Was für ein Triumph für all jene, die, als vor fünf Jahren Millionen von jungen Menschen weltweit mit dem Slogan “System Change” auf die Strasse gingen, schon das Weiterbestehen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Gefahr sahen. Nun können sie wieder aufatmen. Die Gefahr ist vorüber. Statt die Ursache zu bekämpfen, werden wieder einzig und allein nur die Symptome bekämpft. Statt das System den Menschen anzupassen, wird nun wie eh und je wieder alles daran gesetzt, die Menschen dem System anzupassen. Auch der Skirennfahrerin, die nach einem lebensgefährlichen Sturz das Abtragen einer besonders gefährlichen Schanze fordert, wird von den Rennverantwortlichen gesagt, sie hätte offenbar ihren Beruf verfehlt. Der Kunstturnerin, die sich beim Training den Knöchel gebrochen hat, wird nicht erlaubt, das Training abzubrechen, es wird ihr einfach ein genug dicker Verband angelegt, sodass sie trotz fast unerträglicher Schmerzen das Training fortsetzen kann. Als sich der Postbote bei seinem Vorgesetzten über starke Rückenschmerzen beklagt, die infolge der immer schwereren Pakete und des zunehmenden Zeitdrucks seit Monaten immer mehr zugenommen hätten, wird ihm gesagt, er könne ja kündigen und bei der Konkurrenz eine neue Stelle antreten. Als ein siebzehnjähriger Lehrling auf einer Baustelle infolge einer Betonplatte, die auf seinen Rücken fiel, verstirbt, wird bloss sein direkter Vorgesetzter zur Rechenschaft gezogen, mit keinem Wort aber das dahinter steckende System ständig zunehmenden Zeitdrucks infolge der gnadenlosen Vorgaben von Bauherren, Immobilienfirmen und Investoren auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Als ein dreijähriger Bub von einem Lastwagen überrollt wird und seinen schweren Verletzungen erliegt, wird dem Fahrer der Führerschein entzogen, doch an den internen Richtlinien der Firma, welche die Einhaltung der ohnehin schon äusserst knapp bemessenen maximal zulässigen Fahrzeiten bis fast auf die Sekunde reglementieren, wird auch nicht ein einziger Punkt oder ein einziges Komma geändert.

Total überarbeitete und ausgelaugte Angestellte in Führungspositionen, die sich jeden Tag nur noch qualvoll zur Arbeit schleppen, werden zum Psychiater oder in eine Burnoutklinik geschickt, um für ihren Job so schnell wie möglich wieder fit zu werden, ohne dass bei den Arbeitsabläufen der Firma auch nur das Geringste geändert würde. Der Pflegerin im Altersheim, die von einer extrem aggressiven und widerspenstigen Patientin fast zu Tode gebissen worden wäre und nun wünscht, zukünftig bei solchen Einsätzen von einem männlichen Mitarbeiter begleitet zu werden, wird beschieden, dass dies infolge der einzuhaltenden Sparmassnahmen leider nicht möglich sei. Eine Laborantin, die nach 20 Stunden Arbeitseinsatz ohne Pause eine Blutprobe verwechselt hat, was beinahe zum Tod des betroffenen Patienten geführt hätte, nimmt sich das Leben, aber auch ihre Nachfolgerin muss infolge Personalmangels Einsätze von über 20 Stunden ohne Pause leisten und sich dabei permanent davor fürchten, früher oder später ebenfalls einen lebensbedrohlichen Fehler zu begehen. Der Friseurin, die unter fast unerträglichen Schmerzen in den Fingergelenken und ebenso in den Beinen, bedingt durch stundenlanges Stehen, leidet, schlägt ihre Chefin vor, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, ohne zu bedenken, dass die alleinerziehende Mutter dann viel zu wenig verdienen würde, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter bestreiten zu können. Als eine Umfrage bei vierzehnjährigen Schülerinnen ergibt, dass immer mehr von ihnen dermassen unter dem schulischen Leistungs- und Prüfungsdruck leiden, dass Suizidversuche in erschreckendem Ausmass zugenommen haben, empfiehlt die zuständige pädagogische Fachstelle nicht etwa die Überprüfung der schulischen Vorgaben, sondern, dass sich diese Mädchen halt, zum Beispiel durch sportliche Betätigung, schlicht und einfach eine “dickere Haut” zulegen müssten. Wenn nach 300 fast pausenlos aufeinanderfolgenden Konzerten die Stimmbänder der Popsängerin versagen, wird ihr jede erdenkliche medizinische Hilfe zuteil, aber nur, damit sie so schnell wie möglich wieder auf der Bühne steht und auch die nächsten 300 Konzerte zur Zufriedenheit all derer, die damit ihr grosses Geld verdienen, einigermassen unbeschadet zu bewältigen vermag. Denn der Kapitalismus, auch wenn er noch so tödlich ist, darf nicht zerbrechen. Zerbrechen dürfen nur all jene, die offensichtlich zu schwach und zu zerbrechlich sind und eine zu wenig “dicke Haut” haben, um ihn zu überleben.

Als die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung” gefordert hat, habe ich mir darunter eigentlich etwas anderes vorgestellt. Aber dass alles mit allem zusammenhängt und sich ohne eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells alle jetzt schon mehr als genug grossen Probleme, Belastungen und Zukunftsbedrohungen bis hin zu einer möglichen Auslöschung der gesamten Menschheit infolge von Armut, Hunger, Krieg und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nur immer weiter verschärfen werden, solange bloss reine Symptombekämpfung betrieben und den tatsächlichen Ursachen von allem auf den Grund gegangen wird, von diesem Gedanken scheint die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit zurzeit meilenweit entfernt zu sein, geblendet durch die ungebrochen wiederholten Heilsversprechen einer Minderheit Privilegierter, die aus allem Elend immer noch genug Nutzen ziehen und deshalb kein Interesse haben an einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse. Bis auch sie, wie Bertolt Brecht einst sagte, hoch auf ihren goldenen Karossen “von den schwitzenden Zugtieren mit in den Abgrund gerissen werden.” Noch hätten wir es in der Hand, ein solches Ende zu verhindern. Doch was müsste geschehen, um es nicht so weit kommen zu lassen?

(Nachtrag am 20. August 2024: Der “Tagesanzeiger” berichtet über ein neu entwickeltes Projekt, bei dem junge Menschen ab 16 Jahren zu “Wellguides” ausgebildet werden, die mit Schülerinnen und Schülern über Ängste, Sucht und Essstörungen diskutieren sollen. Die “Wellguides” zeigen, wie man mit seiner psychischen Gesundheit umgeht und wo man sich Hilfe holen kann, sie zeigen als sogenannte “Mental-Health-Influencerinnen” in aufwendigen Powerpointpräsentationen voller koomplizierter Schemas, wie psychische Krankheiten entstehen, sprechen über Bewältigungsstrategien gegen Stress, weisen auf Internetquellen, Broschüren und Anlaufstellen hin und stellen meistens gleich auch noch die Schulsozialarbeiterin vor, die als Vertrauensperson stets zur Verfügung steht. Nur etwas wird mit keinem Wort erwähnt: Dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung – und bloss ein weiteres lukratives Geschäftsfeld handelt – handelt, so lange nicht den tieferen Ursachen der psychischen Probleme auf den Grund gegangen wird. Typisch: In den Workshops ist immer wieder die Rede vom Einfluss der sozialen Medien und den durch Klimawandel und Kriege verursachten Ängste. Doch mit keinem Wort wird die Schule mit ihren steigenden Leistungsansprüchen, dem zunehmenden Stress, dem permanenten Prüfungsdruck und dem immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen erwähnt – und dies, obwohl in sämtlichen Umfragen bei Jugendlichen die Schule als Stressfaktor Nummer eins angegeben wird. Doch wird dieses System als etwas so Gottgegebenes, Unveränderbares und Unbeeinflussbares hingenommen, dass nur schon der erste Gedanke an eine mögliche Veränderung dieses Systems sozusagen einem generellen, heimlichen, nicht offen ausgesprochenen und doch einem alles beherrschenden Denkverbot unterworfen ist. Erneut hat auch innerhalb des vergangenen Jahrs die Zahl von Suizidversuchen Jugendlicher zugenommen und liegt jetzt bei fast fünf Prozent. Welche Prozentmarke muss wohl überschritten werden, bis endlich die “Heilige Kuh” Schule geschlachtet werden kann?)

Mehr als 1000 Worte

Ich sitze in einem Zugabteil zusammen mit einer Mutter aus Japan mit ihren zwei Töchtern, die eine etwa zwölf, die andere etwa neun Jahre alt. Was für ein wunderbares, liebevolles und fröhliches Miteinander. Kaum sagt die eine etwas, lachen die beiden anderen aus vollem Herzen. Schöner kann man sich ein Zusammensein von drei Menschen gar nicht vorstellen. Und auf einmal kann ich nicht anders als ein wenig mitzulächeln, obwohl ich ja kein Wort verstehe. Die Kleine hat das augenblicklich wahrgenommen und wirft mir nun ihrerseits ein so herzliches Lächeln zu, als würde sie mich schon seit Jahren kennen. Jetzt spiegelt sich ihr Lächeln auch im Gesicht der Mutter und der Schwester. Und plötzlich bin ich für eine halbe Stunde Teil dieser Familie geworden. Als ich das Abteil verlasse, geben sie mir alle drei ein allerherzlichstes “Goodbye” mit auf den Weg. Wir haben zwar kein einziges “richtiges” Wort gewechselt, aber in unseren Blicken, unserem gegenseitigen Lächeln und einer tiefen, unaussprechlichen Verbundenheit ist zwischen uns vielleicht mehr entstanden als während einer stundenlangen Diskussion zwischen Menschen, die zwar die gleiche Sprache sprechen und wo jedes Wort seine ganz unmissverständliche Bedeutung hat, die aber dennoch so oft nie jene geheimnisvolle Tiefe erreicht, die ich in dieser halben Stunde Zugfahrt zwischen Pfäffikon und Zürich erfahren durfte.

“Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben”: Die absurden Ideen des “Wirtschaftshistorikers” Tobias Straumann zum Thema Kolonialismus…

“Die Menschen wollen hören, dass unser Wohlstand auf Blut aufgebaut ist” – so der Titel eines zweiseitigen Interviews mit dem “Wirtschaftshistoriker” Tobias Straumann in der “Sonntagszeitung” vom 28. Juli 2024. Schon mit dieser Aussage suggeriert Straumann, dass eine kritische Sicht auf die Geschichte des Kolonialismus offenbar nicht so sehr mit historischen Gegebenheiten begründet sei, sondern vielmehr ein Zugeständnis sei an ein Publikum, welches hören wolle, dass der westliche Wohlstand möglicherweise auf Verbrechen in der Vergangenheit beruhen könnte. Was für eine absurde Behauptung! Tatsächlich ist es doch genau umgekehrt: Die meisten Menschen wollen eben gerade nicht ein schlechtes Gewissen haben und möglichst nicht daran erinnert werden, dass unser westlicher Wohlstand auch eine ganz andere, dunkle Seite haben könnte. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen Reichtum auf der einen, Elend und Ausbeutung auf der anderen Seite. Aber davon will Straumann, wie die folgenden Ausschnitte aus dem Interview zeigen, offensichtlich ganz und gar nichts wissen.

Auf die Frage, ob die Schweizerinnen und Schweizer ein Volk von Ausbeutern, Profiteuren und Komplizen des Kolonialismus sei, antwortet Straumann mit der Gegenfrage: “Wie kommen Sie darauf?”, um dann weiter auszuführen: “Ein solches Bild ist völlig übertrieben.” Im Widerspruch dazu steht dann aber folgende Aussage: “Wir wissen schon lange, dass Schweizer Kaufleute bereits im 18. Jahrhundert sehr international orientiert waren und deshalb direkt oder indirekt mit Kolonialismus und Sklaverei zu tun hatten.” Aha, also doch? Gänzlich kann ja auch Straumann nicht sämtliche historische Tatsachen ausblenden. Und doch geht durch seine ganzen Ausführungen hindurch ein fast reflexartiges sich Aufbäumen und die Zurückweisung all jener Theorien, wonach die Schweiz einen wesentlichen Anteil ihres Wohlstands kolonialer Ausbeutung in Vergangenheit und Gegenwart verdanke: “Dass die Schweiz mitverantwortlich sei für das Elend der Welt”, so Straubhaar, “diese Behauptung ist historisch und theoretisch falsch.”

Vielmehr sei, so Straumann, der heutige Wohlstand der Schweiz – und damit auch der anderen westlichen Länder des globalen Nordens – sozusagen fast ausschliesslich der Eigenleistung dieser Länder zu verdanken: “Länder werden nur reich, wenn sie konstant die Effizienz und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft durch Forschung, Entwicklung und Innovation zu steigern vermögen.” Deshalb kann Straumann auch den Thesen von Howard French, US-Publizist, Uniprofessor und Autor des Bestsellers “Afrika und die Entstehung der modernen Welt”, wonach erst die Gewinne aus dem transatlantischen Sklavengeschäft die europäische Industrialisierung ermöglicht hätten, ganz und gar nichts abgewinnen: “Diese These ist falsch, kein seriöser Historiker teilt sie.”

Was aber tatsächlich falsch ist, das ist nicht diese These von Howard French, sondern die Behauptung Straumanns, die europäische Industrialisierung – und damit die Grundlage des modernen Kapitalismus – hätte nichts zu tun mit dem transatlantischen Sklavengeschäft. Das pure Gegenteil ist der Fall. Nur dank der gnadenlosen Ausbeutung von rund 15 Millionen afrikanischen Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas konnten jene Profite erwirtschaftet werden, dank denen europäische Banken und Handelshäuser entstehen konnten und damit die finanzielle Basis für die Industrialisierung. Und nur weil alle hierzu benötigten Rohstoffe wie Baumwolle, Metalle, aber auch Landwirtschaftsprodukte wie Zucker, Kakao und Kaffee zu dermassen tiefen Preisen oder fast kostenlos aus dem Süden in den Norden verfrachtet wurden und dort zu industriellen Fertigprodukten verarbeitet und zu einem x-fach höheren Preis weiterverkauft werden konnten, wurden die Länder des Nordens immer reicher und verarmten die Länder des Südens gleichzeitig immer mehr – koloniale Ausbeutung, die bis zum heutigen Tag ungebrochen weitergeht: Wo früher in den Ländern des Südens Nahrungsmittel für die Eigenversorgung angebaut wurden, werden heute fast ausschliesslich Produkte angebaut, die für den Export in die reichen Länder bestimmt sind, der überwiegende Teil davon Luxusprodukte, die auf den Tischen der Reichen landen, und zwar in einem derartigen Überfluss, dass rund ein Drittel davon gar nicht konsumiert wird, sondern im Abfall landet – während gleichzeitig in den Ländern des Südens jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.

Tatsachen, die heute in jeder einigermassen seriösen wissenschaftlichen Analyse zu finden sind. Ich frage mich, was für Bücher Tobias Straumann liest. Und ich frage mich, ob er sich noch nie gefragt hat, weshalb die Schweiz so reich ist. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schweiz praktisch über keinerlei Bodenschätze verfügt und der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche weit geringer ist als in den meisten anderen Ländern, müsste die Schweiz nämlich eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie eines der reichsten ist, ist nur mit – kapitalistischen – Handels- und Ausbeutungsbeziehungen zu erklären: Grosskonzerne wie Nestlé verdanken ihre Riesengewinne nahezu ausschliesslich der Differenz zwischen tiefen Rohstoffpreisen und x-fach höheren Preisen für Fertigprodukte – von den zehn Franken, die wir bei Starbucks für eine Tasse Kaffee bezahlen, sieht die Kaffeebäuerin in Kenia, die zwölf Stunden pro Tag schuftet und mit ihrem Lohn dennoch ihre Familie kaum zu ernähren vermag, bloss ein paar wenige Rappen. Keinen Tropfen Öl finden wir in Schweizer Boden, kein Körnchen Gold und kein Körnchen Silber, keinen einzigen Diamanten, nicht ein Milligramm Lithium oder Kobalt – und doch verdienen Rohstoffkonzerne wie Glencore oder Xstrata mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte und mit ihrem Hin- und Herschieben über den gesamten Globus Milliardengewinne. Auch von den fast 8000 Milliarden Franken, welche auf Schweizer Banken liegen, stammt rund die Hälfte aus dem Ausland, gewonnen aus der Verwertung natürlicher Ressourcen und der Arbeitsleistung von Millionen von zu Hungerlöhnen schuftender Arbeiterinnen und Arbeiter in Ländern, wo es an allem mangelt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit sogenannten “Entwicklungsländern” einen 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Wenn Straumann behauptet, der “Anteil der Schweizer Wirtschaft am globalen Kolonialismus” sei “unbedeutend” gewesen, so ist das nichts anderes als eine totale Geschichtsverfälschung. Kolonialismus besteht ja nicht nur darin, wie stark ein Land in den transatlantischen Sklavenhandel verstrickt war – obwohl auch hier die Schweiz durchaus ganz gehörig ihre Finger im Spiel hatte, wie mehrere neuere Studien belegen -, sondern vor allem auch darin, wie stark ein Land in das global installierte kapitalistische Wirtschafts-, Ausbeutungs- und Machtsystem integriert ist – und es wird wohl niemand ernsthaft bestreiten können, dass die Schweiz da an vorderster Front stets mit dabei ist, dieses Land, das Jean Ziegler dereinst sogar als “Gehirn des Monsters” bezeichnete.

Tatsachen, von denen Straumann offensichtlich nichts wissen will. Stattdessen versteigt er sich zu Behauptungen wie “Handel entsteht dann, wenn beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen”, “Die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung hat heute einen viel höheren Lebensstandard als praktisch alle Menschen, die vor 1800 lebten”, “Der Westen ist die einzige Kultur, welche die Sklaverei wirklich abgeschafft hat” und “Selbstkritik ist eine grosse Stärke der westlichen Kultur”. Aussagen, die jeglicher wissenschaftlicher Seriosität zutiefst widersprechen: Erstens wäre es ja schön, wenn Handel immer beiden Seiten zugute käme, aber diese Idealvorstellung existiert wohl nur in der naiven Traumwelt eines “Wissenschaftlers”, der selber zu jener Gesellschaftsschicht gehört, die von finanziellen Alltagssorgen fast gänzlich befreit ist und offensichtlich nicht mehr mitbekommt, dass die meisten “Handelsbeziehungen” stets auch mehr oder weniger krasse “Ausbeutungsbeziehungen” sind, in denen höchst selten alle über die gleich langen Spiesse verfügen, um ihre Interessen auch tatsächlich adäquat durchzusetzen. Zweitens trifft es zwar zu, dass ein grosser Teil der Weltbevölkerung über ein historisch einmalig hohes Niveau von Wohlstand verfügt, aber eine solche Behauptung verliert ganz und gar ihre Glaubwürdigkeit, wenn man nicht gleichzeitig auch darauf hinweist, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede weltweit ebenfalls in der Geschichte noch nie so gross waren wie heute und dass der “durchschnittliche” Wohlstand all jenen über 800 Millionen Menschen, die jeden Abend hungrig schlafen gehen, ganz und gar nichts nützt, und zudem der heutige “Wohlstand” zu einem überwiegenden Teil auf einer derart massiven Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht, dass von diesem “Wohlstand” für zukünftige Generationen nur wenig oder vielleicht sogar überhaupt nichts mehr übrig bleiben wird. Drittens ist es geradezu zynisch, davon zu sprechen, der Westen sei die einzige “Kultur”, welche die Sklaverei abgeschafft habe. Bevor man sie nämlich abschaffen konnte, musste man sie erst einmal schaffen, und dies war ganz und gar ein Werk kapitalistisch-westlicher “Kultur”. Zudem verschweigt Straumann an dieser Stelle, dass sklavenartige Arbeitsverhältnisse bis in die Gegenwart andauern: Noch heute müssen gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit 28 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, auf Baustellen, in Steinbrüchen, auf Feldern, in Minen, in Textilfabriken, als Hausangestellte oder in der Prostitution. 160 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren sind gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil ihre Familien sonst nicht überleben könnten, viele von ihnen müssen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, sind giftigen Substanzen ausgesetzt oder müssen viel zu schwere Lasten tragen. Viertens ist auch die Behauptung, Selbstkritik sei eine “grosse Stärke der westlichen Kultur” in Anbetracht der Tatsache, dass die USA als führende westlich-kapitalistische Staatsmacht seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge mit über 50 Millionen Todesopfern angezettelt haben, ohne dass dies jemals zu Einsicht, Reue oder einer grundsätzlichen Neubesinnung geführt hätte, mehr als vermessen.

Befremdlich ist nicht nur, dass ein “Wirtschaftshistoriker” mit Fakten und Zusammenhängen, die doch eigentlich sein Forschungsgebiet sein müssten, dermassen einseitig und geradezu demagogisch umgeht, bloss um sein eigenes Weltbild aufrechtzuerhalten und gegen jegliche Störfaktoren zu verteidigen. Mindestens so befremdlich ist, dass ein allgemein als seriös und “objektiv” wahrgenommenes Informationsmedium wie die “Sonntagszeitung” solchen Ausschweifungen ganze zwei Zeitungsseiten zur Verfügung stellt, ohne wenigstens in Form eines redaktionellen Kommentars die eine oder andere Aussage zu relativieren, zu ergänzen oder kritisch zu hinterfragen. Auf erschreckende Weise wird in solchen Momenten deutlich, wie weit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien offensichtlich schon zu einem Machtsystem verschmolzen sind, das bereits als völlig “normal” und “alternativlos” hingenommen wird und keine grundsätzlich anderen Sicht- und Denkweisen mehr zulässt. Mitgeschrieben von einem “Wirtschaftshistoriker”, von dem man eigentlich erwarten würde, ein bisschen etwas sowohl von Wirtschaft wie auch von Geschichte zu verstehen, und der sogar so anmassend ist, seine eigene “Wahrheit” als die einzig richtige darzustellen und allen anderen vorzuwerfen, sie hätten bloss populistische Motive und würden nur deshalb die Geschichte des Kolonialismus kritisch analysieren, weil dies gerade “im Trend” und nun leider auch “auf die Schweiz übergeschwappt” sei.