Archiv des Autors: Peter Sutter

Naomi Klein: Die Schock-Strategie – Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus

Nach dem Schock, nach der Krise kommt der Wiederaufbau. Sei es nach Kriegen, Umweltkatastrophen, Wirtschaftscrashs oder nach einer Viruspandemie – in der Folge bricht sich ungezügelter Kapitalismus Bahn, vorgeblich im Interesse einer prosperierenden Gesellschaft. Doch tatsächlich werden so nachhaltige Strukturen zerstört und Menschen- und Arbeitnehmerrechte beschnitten. Naomi Kleins messerscharfe Analyse dieses Mechanismus hat heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren, im Gegenteil – sie ist aktueller denn je. ISBN 978-3-455-01608-6.

Toni Keppeler, Laura Nadolski und Cecibel Romero: Kaffee – eine Geschichte von Genuss und Gewalt

Diese umfassende Geschichte des Kaffees erzählt von den Ursprüngen und der Verbreitung des Kaffees, aber auch vom Leid, das mit dem Anbau der Kaffeebohne und ihrer Verarbeitung verbunden ist, von Umweltzerstörung, Armut und Gewalt. Kaffee ist auch heute noch eine Kolonialware. Doch es geht auch anders, wie der wachsende Markt für umwelt- und sozialverträglich produzierten Kaffee zeigt. ISBN 978-3-03973-003-2.

Objektive, unvoreingenommene und aufklärende Berichterstattung wichtiger denn je

Fällt es mir erst jetzt, zurzeit des Nahostkonflikts, immer wieder so deutlich auf, oder war es immer schon so? Anstelle sachbezogener Informationsvermittlung beinhalten Zeitungsartikel häufig ziemlich einseitige, voreingenommene, um nicht zu sagen tendenziöse Aussagen. Dazu im Folgenden zwei Beispiele aus dem “Tagblatt” vom 18. November 2023.

Zunächst der Wochenkommentar von Patrik Müller zum “Fall der Klimaaktivistin Greta Thunberg” mit dem bereits schon reichlich tendenziösen Titel VORSICHT VOR MORALAPOSTELN UND FANATIKERINNEN.

Müller unterstellt Greta Thunbergs Klimabewegung “religiöse Züge”, ohne dies allerdings näher zu begründen, und nennt sie eine “Erlöserfigur”, bedient sich also selber eines religiösen Vokabulars, ausgerechnet das, was er ihr vorwirft. Weiter schreibt er, am WEF in Davos seien ihr alle “zu Füssen gelegen” und hätten ihr “entrückt” zugehört – was erstens krass übertrieben ist und zweitens offen lässt, ob dies nun ein Vorwurf an Greta Thunberg sein soll oder eher an ihr Publikum. Auch wirft er Greta Thunberg vor, sie sei an einer Veranstaltung “in ein Palästinensertuch gehüllt” aufgetreten, “Seite an Seite mit Aktivisten, die antisemitische Parolen skandierten”, von denen eine sogar behauptet hätte, Israel begehe im Gazastreifen “Völkermord” – erstens ist es Greta Thunbergs gutes Recht, aus Solidarität mit den berechtigten Anliegen des palästinensischen Volks nach politischem Selbstbestimmungsrecht ein Palästinensertuch zu tragen, zweitens kann man sie nicht für Aussagen von anderen Menschen verantwortlich machen, die zufällig neben ihr standen, sonst müsste man noch manchen Politiker für irgendetwas verantwortlich machen, bloss weil er irgendwo mal an der Seite von irgendwem stand, und drittens ist das, was diese Aktivistin sagte, nämlich, dass Israel im Gazastreifen Völkermord begehe, nichts anderes als das, was unlängst auch mehrere Minister der spanischen Regierung sowie 30 unabhängige Berichterstatter der UNO gesagt haben. Müller wirft sodann die Frage auf, weshalb sich Greta Thunberg nicht auf ihr “Kerngeschäft” beschränke. Doch weshalb soll sie sich nicht zum Nahostkonflikt äussern und eine pointierte Haltung einnehmen dürfen? Will man ihr dies nur deshalb verwehren, weil man sie ausschliesslich auf die Rolle der Klimaaktivistin reduzieren möchte? Oder hat man Angst davor, sie könnte dank ihrer Popularität andere Menschen zu sehr beeinflussen? Schliesslich steigert sich Patrik Müller zur Behauptung, die zwanzigjährige Greta Thunberg sei “komplett überfordert”. Ich sehe die Überforderung allerdings eher bei denen, die nichts Gescheiteres wissen, als eine so mutige, idealistische junge Frau, der es nicht egal ist, wie unsere Erde in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren aussehen wird, mit weit hergeholten Unterstellungen, Schlagwörtern und Schuldzuweisungen in ein schiefes Licht zu rücken, bloss weil sie Dinge sagt, die nicht allen passen.

Zweitens ein Artikel von Julian Schütt mit dem Titel “Wenn die Hamas fortbesteht, geht unsere Zivilisation zu Ende”.

Ohne die Terrorattacke vom 7. Oktober auch nur im Entferntesten rechtfertigen zu wollen, muss man schon daran erinnern, dass dies nicht das einzige und nicht einmal das schlimmste Verbrechen war, von dem die Welt in diesem Jahrhundert bis jetzt betroffen war. Denken wir nur, um ein einziges Beispiel zu nennen, an den Irakkrieg 2003, der von den USA in Verletzung des internationalen Völkerrechts und aufgrund einer reinen Lügenpropaganda angezettelt wurde und den Tod von über einer halben Million unschuldiger Zivilpersonen zur Folge hätte. Da hätte man dann noch mehr Grund gehabt, ein „Ende unserer Zivilisation“ heraufzubeschwören. Weiter behauptet Schütt: „Schweizer Demonstranten, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, und Politiker, die im Namen der ganzen Schweiz jener antiisraelischen UNO-Resolution zustimmten, behandeln die Hamas als ernst zu nehmende Gesprächspartnerin und helfen ihr so.” Da wird nun wirklich alles in einen Topf geworfen. Erstens behandeln bei weitem nicht alle Schweizer Demonstranten, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, die Hamas als ernst zu nehmende Gesprächspartnerin, sondern haben im Gegenteil grösstenteils den Angriff der Hamas stets aufs Schärfste verurteilt, trotzdem fordern sie einen sofortigen Waffenstillstand, was wohl angesichts der aktuellen Lage das einzige Vernünftige ist, oder sollen noch weitere Tausende unschuldige Männer, Frauen und Kinder sterben? Zweitens war die UNO-Resolution, der die Schweizer Delegation zustimmte, alles andere als antiisraelisch. Diese Resolution verurteilt “jegliche Gewalt gegen israelische und palästinensische Zivilpersonen” (damit also auch den Angriff der Hamas), fordert die „sofortige und bedingungslose Freilassung aller Zivilpersonen“, die „illegal festgehalten“ werden, verlangt „ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen“, eine „sofortige Waffenruhe“ und eine „Einstellung aller Feindseligkeiten“. Was soll an dieser Resolution „antiisraelisch“ sein? Schliesslich schreibt Schütt: „Die Schweizer Politik, besonders auf der linken Seite, täte gut daran, wirksamer gegen den grassierenden Antisemitismus und gegen antiisraelische Tendenzen in unserem Land vorzugehen.“ Wieder wird alles durcheinandergemischt. Erstens kommt – wie gerade eine kürzlich publizierte Untersuchung ergeben hat – Antisemitismus weitaus häufiger von der politischen Rechten als von der politischen Linken. Zweitens kann man Antisemitismus und antiisraelische Tendenzen nicht im gleichen Atemzug nennen, im Gegenteil, eine klare Differenzierung ist wichtig. Antisemitismus bedeutet, das jüdische Volk als etwas Minderwertiges zu bezeichnen, dies ist fraglos klar zu verurteilen. Wer aber die heutige Machtpolitik der israelischen Regierung kritisiert, ist deswegen noch lange kein Antisemit. Man darf die israelische Regierung genauso kritisieren, wie man auch jede andere Regierung der Welt kritisieren darf. Leider wird Kritik an der israelischen Regierung häufig mit dem Argument abgeblockt, dies sei etwas Antisemitisches, was ganz und gar nicht der Fall ist.

Einseitige Schuldzuweisungen, fehlende Differenzierung und Vermischung von Begriffen, die nichts miteinander zu tun haben, bringen uns nicht weiter. In einer emotional so aufgeladenen Zeit wie der unseren ist möglichst objektive, unvoreingenommene und aufklärende Berichterstattung wichtiger denn je.

Oliver Diggelmann: Ein “Völkerrechtler” erklärt uns den Krieg und dass Töten “legal” sein kann und alles bloss die Frage einer “angemessenen Güterabwägung” ist…

Oliver Diggelmann ist Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. In einem Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 18. November 2023 verbreitet Diggelmann Theorien, von denen man die eine oder andere wohl durchaus kritisch hinterfragen müsste.

So etwa beantwortet er die Frage, ob Israels Einsatz gegen das Al-Shifa-Spital völkerrechtlich legal sei, wie folgt: “Wenn wirklich feststeht, dass sich unter dem Spital eine Kommandozentrale, ein Waffenlager oder ein Versteck für Soldatinnen und Soldaten befindet, und sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde, ist der Einsatz Israels im Grundsatz legal. Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein. Das ist natürlich eine teuflische Abwägung.” Geht es da um Mathematik oder um Menschen? “Sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde” – Was heisst das konkret für Schwerverletzte, für Babys, für Patientinnen und Patienten, die an Infusionen hängen, was für eine “Frist” benötigen die, um aus dem Spital evakuiert zu werden, und wohin sollen sie dann gebracht werden, auf die Strasse, wo sie Bombardierungen noch schutzloser ausgeliefert sein werden als im Spital selber? “Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein”: Was ist “vertretbar” und wem gegenüber, kann man Menschenleben überhaupt gegeneinander aufrechnen, ist nicht jede Vernichtung auch nur eines einzigen Menschen ein Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist? Und was meint Diggelmann, wenn er von einer “teuflischen Abwägung” spricht? Wenn es schon “teuflisch” ist, müsste er dann als Professor für Völkerrecht nicht einen sofortigen Waffenstillstand fordern und nichts, absolut nichts anderes, kein Abwägen, kein Aufrechnen, kein Relativieren, einfach nichts?

Auf die Frage, ob ein unterirdisches Waffenlager ausreiche, um ein Spital als militärisches Ziel zu betrachten, sagt Diggelmann, dass ein paar Gewehre das Spital noch nicht zu einem militärischen Objekt machen würden, ein “substanzielles Waffenlager” aber schon. Was bedeutet in diesem Zusammenhang “substanziell” und wer definiert das? Gibt es “böse” Waffen – die Gewehre der Hamas – und “gute” Waffen – die Bomben der israelischen Armee -, mit denen man die “bösen” Waffen zerstören darf, egal, ob dabei ein paar Dutzend schwerverletzte Kinder ihr Leben verlieren? Kann man Leben retten, indem man Leben zerstört?

“Wenn die Hamas”, sagt Diggelmann, “das Spital dazu nutzt, Kampfhandlungen von sich fernzuhalten – und vieles spricht dafür, dass dies der Fall ist -, so ist das klarerweise ein Kriegsverbrechen.” Aber wenn die israelische Armee über 12’000 zum allergrössten Teil unschuldige Kinder, Frauen und Kinder ermordet, dann soll dies kein Kriegsverbrechen sein?

“Wenn Terroristen inmitten von Zivilisten kämpfen”, so Diggelmann, “kommt es zu einer Güterabwägung. Wenn Zivilpersonen quasi als Nebenfolge des Einsatzes gegen ein militärisches Ziel getötet werden, kann dies legal sein – sofern Verhältnismässigkeit vorliegt. Man spricht dann von Kollateralschäden. Gleichermassen kann es legal sein, Gewalt gegen Sanitätseinrichtungen auszuüben, wenn sie militärisch genutzt werden.” Unschuldige Menschen töten könne legal sein, “Kollateralschäden” seien in Kauf zu nehmen? “Güterabwägung”, “Verhältnismässigkeit” – spricht Diggelmann hier eigentlich von Kartoffelsäcken, von Plastikeimern oder von Menschen? War er jemals selber mitten in einem Kriegsgebiet, hat er jemals die Schreie eines zu Tode verwundeten Kindes gehört, das zuerst seine beiden Eltern und kurz darauf seine beiden Beine verloren hat? Oder hat Diggelmann alle seine Theorien nur in der Schreibstube seiner Universität entwickelt?

“Die israelische Offensive”, erklärt Diggelmann, “ist gerechtfertigt, soweit die Kampfhandlungen der Abwehr des Angriffs dienen und die Gesamtintensität noch als verhältnismässig gelten kann.” Ist sich Diggelmann der Widersprüchlichkeit seiner Aussage eigentlich nicht bewusst? Er rechtfertigt den Angriff Israels auf den Gazastreifen, der bisher über 12’000 Menschen das Leben gekostet hat, als Antwort auf den Angriff der Hamas auf israelische Zivilpersonen, welche etwa 1400 Menschenleben gekostet hat, würde aber vermutlich jeden Versuch, diesen Angriff der Hamas als Antwort auf die 75jährige Leidensgeschichte des palästinensischen Volkes nicht einmal rechtfertigen, sondern lediglich erklären zu wollen, in aller Entschiedenheit weit von sich weisen. Was ist da noch “verhältnismässig”?

“Verhältnismässigkeitsfragen”, sagt Diggelmann, “haben immer etwas sehr Vages, wenn sie Ereignisse in der Zukunft betreffen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit wirkt begrenzender, wenn er auf bereits feststehende Tatsachen angewandt wird.” Verstehe das, wer wolle. Zurück bleibt so oder so die beklemmende Frage, wofür ein “Völkerrechtler” an einer schweizerischen Universität forscht und lehrt, solange er nicht seine ganze Kompetenz, sein ganzes Wissen, seine ganze Erfahrung, seine ganzen Studien und sein ganzes Ansehen in die Waagschale wirft und dafür benützt, um sich nur schon von der leisesten Idee, ein Konflikt wie der zwischen Israel und der Hamas könne mit militärischen Mitteln auch nur ansatzweise sinnvoll gelöst werden, in aller Entschiedenheit zu distanzieren und ohne jeglichen Hinweis auf “Verhältnismässigkeit”, “Güterabwägung”, “legales” Töten Unschuldiger, “militärische Vorteile” und “Kollateralschäden” nichts anderes zu fordern als einen sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand und eine Lösung des Konflikts mit friedlichen Mitteln.

10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten auf dem Bundeshausplatz in Bern: Kämpfen für etwas, was schon längst selbstverständlich sein müsste…

Bern, Bundeshausplatz, 17. November 2023. Rund 10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten aus allen Landesteilen haben sich eingefunden, stellvertretend für über 280’000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einer Petition, mit der die Zurückweisung einer vom Bundesrat vorgeschlagenen Tarifänderung in der Physiotherapie gefordert wird. Die Umsetzung dieser Tarifänderung hätte zur Folge, dass neu eine kurze Sitzung mit einer Dauer von 20 Minuten eingeführt würde, wobei maximal fünf Minuten für die Wechselzeit, die Konsultation und das Führen des Patientendossiers aufgewendet werden dürften und somit neu nur noch 15 Minuten für die Behandlung zur Verfügung stehen würden, eine Zeit, in der gemäss dem Verband Physioswiss “keine zweckmässige Behandlung” möglich wäre. Zudem würden auch die fünf Minuten zwischendurch bei weitem nicht für sämtliche anfallende Zusatzarbeiten, Terminabsprachen, Telefonate, usw. ausreichen, sodass erhebliche Zusatzarbeit ohne Bezahlung geleistet werden müsste. Dies alles innerhalb eines Tarifsystems, das seit 30 Jahren nicht mehr angepasst worden ist, sodass sich bereits heute, gemäss Physioswiss, viele Therapeutinnen und Therapeuten “zunehmend an der Existenzgrenze bewegen”. Kein Wunder, geben 54 Prozent von 1200 befragten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten an, dass sie sich bei einer Tarifänderung überlegen, ganz aus dem Beruf auszusteigen. 42 Prozent der Praxisbesitzer würden sich überlegen, die Praxis zu schliessen. 90 Prozent der Befragten sagen, dass sie bei einem Tarifeingriff finanzielle Einbussen erleiden würden, und 73 Prozent geben an, dass gewisse Patientengruppen nicht mehr behandelt werden könnten, weil die Kosten für den Aufwand nicht mehr gedeckt wären.

Doch eigentlich könnten an diesem 17. November 2023 auch 10’000 Verkäuferinnen auf dem Bundeshausplatz stehen. Oder 10’000 Coiffeusen. Oder 10’000 Kosmetikerinnen. Oder 10’000 Bauarbeiter. Oder 10’000 Angestellte von Callcentern. Oder 10’000 Landarbeiter. Oder 10’000 Krankenpflegerinnen. Oder 10’000 Fabrikarbeiterinnen. Oder 10’000 Köche. Oder 10’000 Zimmermädchen. Oder 10’000 Serviceangestellte. Oder 10’000 Prostituierte. Oder 10’000 alleinerziehende Mütter. Oder 10’000 Bäcker. Oder 10’000 LKW-Fahrer. Oder 10’000 Paketboten. Sie alle würden fast mit den gleichen Worten die fast genau gleichen Geschichten erzählen. Die Geschichten von harter, oft zermürbender, stressiger, krankmachender Arbeit für wenig Lohn und mit geringer gesellschaftlicher Wertschätzung. Während oben, am anderen Ende der gesellschaftlichen Machtpyramide, immer mehr Geld in die Hände von Reichen und Superreichen fliesst, die sich immer noch verrücktere und überflüssigere Dinge einfallen lassen müssen, um ihr viel zu vieles Geld irgendwie wieder loszuwerden.

Eigentlich geht es an diesem 17. November 2023 nicht nur um ein neues Tarifsystem in der Physiotherapie. Eigentlich geht es, obwohl niemand dieses Wort in den Mund nimmt, um den Kapitalismus. Um ein Wirtschaftssystem, das darauf abzielt, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Ein Wirtschaftssystem, das auf dem gegenseitigen Konkurrenzkampf um Lohn, Anerkennung und sozialen Aufstieg beruht und das stets aufs Neue und in wachsendem Ausmass diejenigen belohnt, welche auf den unsichtbaren Karriereleitern immer weiter in die Höhe klettern, während alle jene, die ganz unten, an der Basis, die Aufrechterhaltung der Grundversorgung sicherstellen, für alle ihre Opfer zu allem Überdruss noch mit geringem Lohn und geringer Wertschätzung bestraft werden. Ein Wirtschaftssystem, das unaufhörlich die Arbeit der einen in den Reichtum und den Luxus der anderen verwandelt. Ein Wirtschaftssystem, das nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur unaufhörlich ausbeutet, um die verrückte und zerstörerische Idee eines unbegrenzten Wachstums aller Vernunft zum Trotz aufrechtzuerhalten.

Aber es geht ja noch weiter. Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von gelb-blauen Schals genäht, die der heutigen Kundgebung einen so farbenfrohen Ausdruck verleihen? Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von Handys, mit denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung gegenseitig fotografieren, Informationen zuspielen und Termine abmachen, zusammengebaut und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat all die seltenen Erden aus dem Boden geschürft, ohne welche alle diese Handys keine Sekunde lang funktionieren würden? Und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Milliarden von Kaffeebohnen gepflückt, ohne den es nicht den Kaffee gäbe, den wir dann nach der Kundgebung bei Starbucks, Tschibo oder am Bahnhof genüsslich schlürfen werden? Fast immer steht nur ein einzelnes Phänomen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, aber eigentlich hängt alles mit allem auf unsichtbare Weise zusammen: Ausbeutung über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der die einen auf Kosten der anderen reich werden und “erfolgreich” sind und die Kluft zwischen Reich und Arm immer schärfer an die Oberfläche tritt. Gegen einzelne Missstände anzukämpfen, ist gut und wichtig. Aber es genügt nicht und es würde dann nur bei der reinen Symptombekämpfung bleiben. Es geht um das Ganze. Es geht darum, an die Stelle gegenseitiger Ausbeutung die gegenseitige Solidarität zu setzen, Gemeinschaftsdenken anstelle von egoistischem Machtstreben, Teilen statt Raffgier, soziale Gerechtigkeit. “Was alle angeht”, sagte Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.”

“Eigentlich bin ich keine Rednerin”, sagt eine junge Physiotherapeutin, die gegen den Schluss der Kundgebung das Wort ergreift, “aber mein Herz ist so traurig, dass ich einfach hier stehen und zu auch sprechen muss.” Es wird an diesem Tag die berührendste, kürzeste und zugleich stärkste Rede gewesen sein. Vielleicht sind ja die, welche bisher am längsten geschwiegen haben, am längsten geduldig gewesen sind, es sich am wenigsten zugetraut haben, öffentlich das Wort zu ergreifen, genau die, welche uns und der ganzen Welt am meisten zu sagen haben…

Schweizerischer Bundesbeamter gegen Antisemitismus: Und wer befasst sich mit der Islamophobie?

Der „NZZ am Sonntag“ vom 12. November 2023 ist zu entnehmen, dass die Staatspolitische Kommission des Nationalrates aufgrund einer Anfrage des jüdischen Autors Thomas Meyer eine Motion verabschiedet hat, die verlangt, dass der Bund einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus vorlegt. Auch die Schaffung einer neuen Stelle nach dem Vorbild des Antisemitismusbeauftragten in Deutschland, der als Ansprechperson für jüdische Gruppen fungiert, steht zur Debatte. Weiter lese ich, dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG den Entscheid der Kommission explizit begrüsst, denn es brauche die „sichtbare Stimme des Bundes, mit der nötigen Kompetenz explizit gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen“.

Zwar scheint die Motion auf den ersten Blick einen Aktionsplan gegen „Antisemitismus und Rassismus“ zu verlangen. Im Folgenden ist dann aber nur noch von „Antisemitismus“ die Rede, vor allem auch mit der Bezugnahme auf Deutschland (Antisemitismusbeauftragter) und der Stellungnahme des SIG, wo ebenfalls ausschliesslich von Antisemitismus die Rede ist.

Dies erscheint mir angesichts der heutigen Situation betreffend Nahostkonflikt doch eine zu einseitige Parteinahme zu sein. Wenn man sich nämlich in den sozialen Medien umschaut, ist Rassismus gegenüber Moslems und insbesondere gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern mindestens so weit verbreitet wie Antisemitismus, bis hin zur oft gehörten Meinung, jeder Moslem bzw. Palästinenser sei ein Hamas-Sympathisant oder sogar ein potenzieller Terrorist. Mehrfach waren in den letzten Wochen in den Tageszeitungen Artikel zu lesen, die belegen, wie sehr Moslems in der Schweiz von Rassismus und pauschalen Schuldzuweisungen betroffen sind.

Es kann doch nicht sein, dass die offizielle Schweiz die eine Form des Rassismus so klar verurteilt und die andere Form gänzlich verschweigt. Hätte die Staatspolitische Kommission des Nationalrats, wenn ein Schriftsteller mit palästinensischen Wurzeln auf sie zugekommen wäre, wohl ebenso spontan und bereitwillig eine Motion verabschiedet zur Einführung eines Aktionsplans gegen Islamophobie und die Ernennung eines hierfür zuständigen Bundesbeamten?

Mit diesem Schreiben gelangte ich am 12. November an das Präsidium und mehrere Mitglieder der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. Eine Antwort steht zur Zeit noch aus.

Aussagen von Markus Somm zum Nahostkonflikt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen

Folgendes Schreiben betrifft die Diskussionssendung “Israel und die Hamas”, ausgestrahlt auf SRF1 am 12. November 2023 im Rahmen von “Sonntagszeitung Standpunkte”, und ging am 14. November 2023 an die Redaktion der “Sonntagszeitung”, Fernsehen SRF1, die beteiligten DiskussionsteilnehmerInnen inklusive Moderator Reto Brennwald, an Geri Müller, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina, Humanrightswatch, die GSoA, die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS.

Eigentlich lässt die Zusammensetzung der Runde mit dem Nahostexperten Erich Gysling, dem Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel, der Journalistin Joëlle Weil und Markus Somm, Kolumnist der „Sonntagszeitung“ und Chefredaktor des „Nebelspalters“, eine ausgeglichene Diskussion erwarten. Doch dann endet die Diskussion in einem – man kann es nicht anders sagen – Fiasko. Dies vor allem deshalb, weil Markus Somm immer wieder das Wort an sich reisst, seinen Gesprächspartnern bei jeder Gelegenheit ins Wort fällt und jeden Versuch der Gegenseite, komplexere Zusammenhänge ausführlicher darzulegen, schon zum Vornherein abwürgt. Was er dabei an Behauptungen, Geschichtsverfälschungen, fehlendem historischem Wissen und einseitigen Schuldzuweisungen an den Tag legt, lässt sich kaum beschreiben. Eifrig unterstützt wird er dabei durch den Gesprächsleiter Reto Brennwald, der sich, statt die Diskussion möglichst neutral zu leiten, im Verlaufe der Diskussion immer mehr auf die Seite von Markus Somm und Joëlle Weil schlägt, Somm immer wieder, wenn er nur genug lange insistiert, das Wort erteilt und auf der anderen Seite Gysling und Goetschel oft mitten in einer längst noch nicht abgeschlossenen Argumentation immer wieder unterbricht.

IM FOLGENDEN DIE WESENTLICHEN AUSSAGEN VON MARKUS SOMM UND MEIN KOMMENTAR DAZU.

„Israel ist bei der Reaktion auf den Angriff der Hamas relativ überlegt und sehr reflektiert vorgegangen, zwar mit einer gewissen Härte, aber nicht mit aller Härte, nicht einfach ein blindes Losschlagen, wie gewisse Leute am Anfang befürchtet hatten. Es ist völlig richtig, dass Israel im militärischen Sinne die Hamas vernichten will, damit sie nachher nicht mehr wirkungsfähig sind. Für mich persönlich musste Israel so schnell wie möglich und mit allen Mitteln reagieren, ich habe da überhaupt keine Bedenken.“ – Ein einigermassen seriös und differenziert denkender Historiker müsste eigentlich schon längst wissen, dass rein militärisch Terror nicht zu besiegen ist, wie auch Moshe Zuckermann, emeritierter jüdischer Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, sagt: „Israel hat den Gazastreifen nach Raketenangriffen immer wieder bombardiert, mit Tausenden ziviler Opfer. So befördert man den Terror.“ Höchst problematisch auch Somms Aussage, Israel müsse „mit allen Mitteln“ reagieren, womit er indirekt die Bombardierung der Zivilbevölkerung, das Abschneiden der Zufuhr von Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten, Strom und Gas rechtfertigt und in letzter Konsequenz selbst den Einsatz von Atomwaffen befürworten müsste. Hätte er das nicht gemeint, dann hätte er es auch nicht so formulieren dürfen.

„Man kann wohl sagen, dass Israel das Land ist, das sich am meisten Gedanken macht um das humanitäre Völkerrecht, das Land, das am meisten darauf achtet, dass Zivilisten nicht Opfer werden.“ – Angesichts der Bilder von dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartieren, in tiefster Verzweiflung und Todesängsten herumirrenden Menschen, bombardierten Moscheen, Schulen, Krankenhäusern, Flüchtlingslagern, traumatisierten Kindern und der Tatsache, dass bereits über 11‘000 Zivilpersonen getötet wurden, davon zwei Drittel Frauen und Kinder, und einer noch ungleich viel höheren Zahl Schwerverletzter, die ohne medizinische Versorgung in halb zerstörten und von Stromversorgung abgeschnittenen Spitälern herumliegen, erübrigt sich hierzu jeglicher weiterer Kommentar. Somm ist mit seiner Aussage einfach nur unfassbar zynisch.

„Natürlich ist es für Israel nicht einfach, diesen Krieg in Gaza zu führen, wenn man weiss, dass dort 200 Leute gefangen sind und jederzeit gefoltert, massakriert und abgeschlachtet werden können, das ist für die israelische Regierung eine ungeheure Belastung.“ – Dass dort nebst diesen 200 israelischen Geiseln auch noch über zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser leben, die ebenfalls an Leib und Leben bedroht sind, scheint sowohl für die israelische Regierung wie auch für Markus Somm keine besondere „Belastung“ zu bilden. Vielleicht denkt ja Somm ähnlich wie der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant, der am 9. Oktober sagte, Israel führe einen Kampf gegen „Tiere“, und diese seien deshalb auch dementsprechend zu behandeln, indem man ihnen keinen Strom, kein Gas, kein Essen und kein Wasser liefern solle.

„Wie kann man einen Krieg gut beenden? Ich als Historiker sage, dass die meisten Kriege, die gut beendet wurden, mit einem klaren Verlierer und einem klaren Sieger zu Ende gegangen sind. Die schlimmsten Kriege waren immer jene, bei denen man am Schluss nicht genau wusste, wer gewonnen hatte.“ – Ob Somm dabei etwa an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedacht hat? Klarer als damals war wohl nur selten, wer gewonnen und wer verloren hatte. Und ob Somm wirklich der ganzen Tragweite seiner Aussage bewusst ist? Sie würde ja bedeuten, dass jegliche Friedensverhandlungen zwischen verfeindeten Völkern oder Staaten schädlich wären, da sie ja bloss verhindern würden, den Krieg so lange fortzuführen und so viele Menschen zu opfern, bis endgültig und ohne alle Zweifel erwiesen ist, wer der Sieger ist und wer der Verlierer. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass Kriege eigentlich nie Sieger kennen, denn in jedem Krieg sind letztlich alle Beteiligten stets nur Verlierer, in Form aller menschlichen Opfer und aller angerichteten Zerstörungen. Davon zu sprechen, dass Kriege „gut“ beendet werden können, ist an sich schon völlig absurd.

„Die Palästinenser müssen endlich damit konfrontiert werden, dass sie seit 75 Jahren jeden Krieg verloren haben und es nun endgültig genug ist.“ – Wieder eine so ungeheure Aussage. Den Gegner also so lange zu Boden treten, bis er endgültig kapituliert und regungslos liegen bleibt und nie mehr genug Kraft haben wird, um wieder aufzustehen. Kann sich Somm wirklich nicht vorstellen, was für eine unendliche Demütigung dies bedeuten muss, was für einen unendlichen Nährboden für Verzweiflung, Hass, Gewalt, bis zuletzt die so zu Boden Getretenen nicht einmal mehr davor zurückschrecken werden, sich selber in die Luft zu sprengen, bloss um möglichst viele andere mit in den Tod zu reissen. Was hat Somm während seines Geschichtsstudiums eigentlich gelernt? Und hat er noch nie etwas gehört von Mahatma Gandhi, der einmal sagte: „Auge um Auge, bis alle blind sind“?

„Wenn wir es mit dem Ukrainekrieg vergleichen. Dort sind auch nicht alle Russen mit Putin einverstanden. Und doch sind alle Russen für diesen Krieg verantwortlich. Das Gleiche war mit den Deutschen. Ab einem gewissen Punkt bist du verantwortlich für deine Regierung, auch wenn es eine Diktatur ist. Und dann musst du eben auch alle Konsequenzen tragen.“ – Dann waren also, wenn Somm Recht hätte, auch die Tausenden in den Gefängnissen lateinamerikanischer Militärdiktaturen unter Somoza, Battista, Pinochet u.a. Inhaftierten selber dafür verantwortlich und selber schuld gewesen, entweder zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes aus Flugzeugen ins Meer abgeworfen worden zu sein. Es wird immer unfassbarer, je länger man Somm zuhört…

„Die Palästinenser sind selber schuld, dass dieser Konflikt nie gelöst wurde. Sie sind zu 100 Prozent selber schuld. Solange jemand sagt, die Palästinenserinnen und Palästinenser seien auch zu einem gewissen Teil Opfer dieses Konflikts, so lange werden wir diesen Konflikt haben.“ – Hat Somm noch nie etwas gehört von der gewaltsamen Vertreibung Abertausender Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Westjordanland durch jüdische Siedler, die dort völkerrechtswidrig Wohngebiete besetzt halten? Hat er noch nie etwas von all den Palästinenserinnen und Palästinensern gehört, die aus politischen Gründen in israelischen Militärgefängnissen sitzen? Bildet sich Somm tatsächlich ein, einen wertvollen Diskussionsbeitrag liefern zu können, indem er einfach das Gegenteil dessen behauptet, was er der Gegenseite stets vorhält, nämlich, dass zu 100 Prozent nur Israel allein schuld sei? Müsste er, als seriöser Historiker, nicht vielmehr auf die Vielschichtigkeit dieses Konflikts hinweisen und darauf, dass man nie zu hundert Prozent die „Schuld“ ausschliesslich der einen oder anderen Seite in die Schuhe schieben kann?

„Ich habe nichts dagegen, dass der Westen gegenüber sich selber selbstkritisch ist, aber wir haben jede Proportion verloren. Wir sind jetzt so weit, dass gewisse Leute, die sehr aktivistisch sind – die können rechts sein, siehe Russland, oder die können links sein, siehe Hamas – aus westlichem Selbsthass alles, was der Westen macht, für schlimm halten, aber alles, was so grausliche Länder wie China, Iran oder Russland machen, verteidigen.“ – Somm scheint sich im Verlaufe der Diskussion förmlich immer stärker in seine Widersprüche und Absurditäten hineinzusteigern. Russen als „aktivistische Leute“? Die Hamas eine „linke“ Bewegung? Westlicher „Selbsthass“? „Grausliche“ Länder? Weiss Somm eigentlich noch, wovon er spricht? Oder geht es ihm bloss darum, anstelle sorgfältiger Analysen eine möglichst grosse Anzahl wirkungsvoller Schlagwörter aufeinander aufzuschichten?

„Niemand wäre begeistert, wenn 3000 Neonazis über unsere Strassen laufen und wieder einen nationalsozialistischen Staat fordern würden und ein schönes Auschwitz. Denn die Parole FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE ist nichts anderes als genozidal, das ist völlig klar. Und wer behauptet, nicht alle diese Demonstranten seien antisemitisch, who cares, es ist einfach grauslich, was die machen, das muss man einfach sagen.“ – Mehr als „grauslich“ erscheint mir, wenn Somm Hunderttausende weltweit friedlich für die Rechte des palästinensischen Volkes Demonstrierende mit Nazis vergleicht, ihnen pauschal den Vorwurf des Antisemitismus an den Kopf wirft und eine Parole, die man auf unterschiedliche Weise interpretieren kann, als „genozidal“ bezeichnet. An Somm scheint gänzlich vorbeigegangen zu sein, dass auch zahlreiche Jüdinnen und Juden dies ganz anders sehen. So etwa die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss, selber Jüdin, die in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ Folgendes sagte: “FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE verstehe ich so: Die Region soll vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein von Krieg und Diskriminierung. Das bedeutet eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“

„Das Perverse an der arabischen Haltung ist doch, dass die arabischen Länder seit 75 Jahren nicht bereit sind, Leute, die Araber sind und erst im Laufe der letzten 75 Jahre zu Palästinensern wurden, aufzunehmen. Sie hätten mehr als genug Platz.“ – Und noch ein richtiger Paukenschlag zum Schluss: Diese sogenannten „Palästinenser“ gibt es also laut Somm gar nicht und sie haben dort, wo sie einen eigenen Staat anstreben, letztlich gar nichts zu suchen, sondern könnten ebenso gut in irgendeinem anderen arabischen Land leben. Als wäre Palästina leer gewesen, bevor die Jüdinnen und Juden kamen. Und als gäbe es nicht jetzt schon Millionen palästinensischer Flüchtlinge, die innerhalb oder ausserhalb Israels in Flüchtlingslagern oder in verschiedenen arabischen Ländern leben: 1,5 Millionen in insgesamt 58 Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Gazastreifen und im Westjordanland, weitere 3,5 Millionen in verschiedenen arabischen Gastländern, oft in der Nähe der Flüchtlingslager.

FAZIT

Ich frage mich, ob Markus Somm mit einer so simplifizierenden, widersprüchlichen, völlig empathielosen und fast nur auf zusammenhangslosen Feindbildern und Schuldzuweisungen geprägten politischen Haltung für ein so schwieriges, heikles und vielschichtiges Thema wie den Nahostkonflikt tatsächlich ein geeigneter Diskussionsteilnehmer sein kann. Der Erkenntnisgewinn für das Publikum aufgrund seiner Voten ist gleich Null. Umso mehr aber werden auf diese Weise schon bestehende Feindbilder und Schuldzuweisungen masslos geschürt. Als einer, der sich als „Historiker“ bezeichnet und damit schon einen Vertrauensvorschuss für sich in Anspruch nimmt, trägt Somm durch seine grosse Medienpräsenz, nicht nur am Fernsehen, sondern auch in der Presse, eine wesentliche Mitverantwortung für die öffentliche Meinungsbildung. Eine konstruktive, zukunftsgerichtete Konfliktlösung wird durch eine so einseitige und willkürliche Interpretation geschichtlicher Zusammenhänge wohl kaum gefördert.

Ich bin zwar nur ein ganz gewöhnlicher TV- und Pressekonsument, doch ich hoffe sehr, dass sowohl die „Sonntagszeitung“ wie auch SRF in dieser Angelegenheit noch einmal gründlich über die Bücher gehen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen.

Erich Gysling, Laurent Goetschel und Geri Müller haben auf mein Schreiben spontan reagiert und mir für meine Stellungnahme gedankt. Von allen übrigen Adressaten habe ich bis heute nichts gehört, auch nicht von der Sonntagszeitung, welche für diese Sendung verantwortlich war, und ebenfalls nicht von SRF, welches die entsprechende Sendezeit zur Verfügung stellte.

Feminismus: Auf halbem Wege stehen geblieben?

Florentina Holzingers “Ophelia’s Got Talent” feiert, so der “Tagesanzeiger vom 10. November 2023, einen globalen Theatererfolg, gleichermassen gefeiert von Publikum und Kritik, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, eingeladen zu grossen Festivals und nun an zwei Abenden auch im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich zu sehen. Die Choreographin und Theatermacherin arbeitet ausschliesslich mit weiblichen Darstellerinnen, pusht mit ihren Bühnenarbeiten das Publikum gemäss Pressestimmen fast immer “zum Äussersten” und ihre Performerinnen, die allesamt hüllenlos auftreten, fast immer an die Schmerzgrenze. So etwa wird im Stück “Tanz” unter anderem eine Performerin mit einem über Rollen geführten Seil in die Höhe getrieben – mit Ösen, die zuvor ins nackte Rückenfleisch der Performerin getrieben wurden. So werde, wie der “Tagesanzeiger” schreibt, “der sexualisierte Blick auf den nackten weiblichen Körper mehrfach gebrochen”, weshalb solche Szenen oft als “feministische Kunst” beschrieben würden. Die Theaterszene, die in den letzten Jahren “unter Verkopfung gelitten” habe, erlebe durch solche Inszenierungen, was für eine “utopische Kraft” sie haben könnte, wenn sich der “Feminismus mit all seinen Forderungen vollständig durchsetzen würde”. Was allerdings an diesem Projekt “feministisch” sein soll, ist wohl nur schwer nachzuvollziehen – ausser dass sämtliche Beteiligte von der Choreographin und Theatermacherin bis zu den Darstellerinnen ausschliesslich weiblich und Männer nur in der Rolle von Zuschauern beteiligt sind.

Auch im Zusammenhang mit der Fernsehshow “Naked Survival”, welche regelmässig auf verschiedenen privaten TV-Sendern ausgestrahlt wird, könnte man, wenn es auf den ersten Blick auch noch so weit hergeholt zu sein scheint, von einem Erfolg des “Feminismus” sprechen, dürfen sich nun doch auch Frauen, die in so harten Mutproben früher kaum je zu sehen waren, Seite an Seite “gleichberechtigt” mit Männern zum prickelnden Vergnügen des Fernsehpublikums splitternackt durch gefährliche Dschungelgebiete oder glühendheisse Wüstenlandschaften hindurchkämpfen, von Giftschlangen, schmerzhaften Insektenstichen, Hunger, Durst und Übermüdung infolge schlafloser Nächte bei klirrender Kälte gequält. Auch an zahlreichen sportlichen Wettkämpfen, die früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren, dürfen heute Frauen gleichberechtigt teilnehmen, sich wie Männer “gleichberechtigt” im Boxkampf gegenseitig die Köpfe einschlagen, sich im Velorennen “gleichberechtigt” bis an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit oder darüber hinaus über die höchsten Alpenpässe quälen, sich “gleichberechtigt” bei Skirennen in immer höherem Tempo auf immer gefährlicheren Pisten tödlicher Gefahr aussetzen oder sich “gleichberechtigt” im Triathlon und bei Marathonläufen so sehr verausgaben, bis sie, im Ziel angekommen, zu Tode erschöpft zusammenbrechen.

Auch ein Blick in die Welt der Politik zeigt, dass “Feminismus” offensichtlich nicht selten darin besteht, dass Frauen vermehrt Positionen einnehmen, welche früher ausschliesslich von Männern besetzt wurden. So etwa ist Viola Amherd die erste weibliche Verteidigungsministerin der Schweiz – allerdings ohne dass sich ihre politische Arbeit grundsätzlich von jener ihrer Vorgänger unterscheiden würde. Noch krasser wird es, wenn wir nach Deutschland blicken, wo mit Analena Baerbock als Aussenministerin und Agnes Strack-Zimmermann als verteidigungspolitischer Sprecherin der FDP zwei Frauen ausserordentlich machtvolle und einflussreiche politische Ämter innehaben, welche früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren. Baerbock und Strack-Zimmermann sind indessen nicht nur Speerspitzen eines politischen “Feminismus”, sondern gehören gleichzeitig zu den schärfsten Hardlinern in der aktuellen deutschen Tagespolitik und vertreten Positionen, welche kriegerisch-patriarchalischer gar nicht sein könnten, ganz getreu ebenso kriegerisch-patriarchalen Vorbildern wie der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, genannt “Eiserne Lady”, welche innerhalb weniger Jahre eine knallharte neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vorantrieb und für die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Schwächung der Gewerkschaften und die Flexibilisierung von Arbeitsmarktgesetzen mit insgesamt katastrophalen Folgen verantwortlich war, oder der früheren US-Aussenministerin Madeleine Albright, welche sich in den Neunziger Jahren an vorderster Front für Wirtschaftssanktionen gegen den Irak einsetzte, welche den Tod von einer halben Million Kinder zur Folge hatten, was Albright selbst noch Jahre später mit der zutiefst menschenverachtenden Aussage zu rechtfertigen versuchte, politisch gesehen aus der Sicht der USA sei es der Preis, den diese Kinder gezahlt hätten, “durchaus wert gewesen”.

Doch wir müssen gar nicht so weit gehen. Wenn wir einen Blick in die Veränderungen innerhalb der schweizerischen Arbeitswelt im Verlaufe der vergangenen Zeit werfen, stellen wir fest, dass sich immer mehr Frauen, die sich früher vollumfänglich der Kinderbetreuung und der Hausarbeit gewidmet hatten, heute an einer Kasse im Supermarkt oder als Kellnerin in einem Café arbeiten, ihre Kinder während dieser Zeit von Kitaangestellten betreuen lassen oder in wachsender Zahl sogar gänzlich darauf verzichten, überhaupt noch Kinder zu haben, ist doch die Teilhabe am kapitalistischen Arbeitsmarkt viel lukrativer und erst noch mit weit grösserer gesellschaftlicher Anerkennung verbunden.

Keine Frage, die Emanzipationsbewegung der Frauen hat zahlreiche wesentliche gesellschaftliche Fortschritte gebracht, auf die heute niemand mehr verzichten möchte, von der politischen und rechtlichen Gleichstellung, dem geschlechterunabhängigen Zugang zu Bildung über die Überwindung traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenbilder und Lebensläufe bis hin zur körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung und zur Einführung von Gesetzen gegen Sexismus und sexuelle Gewalt.

Und dennoch ist kritisch festzustellen, dass Feminismus über weite Strecken auch darin besteht, dass Frauen vermehrt – sowohl als Opfer wie auch als Täterinnen – in die bestehende kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hineingewachsen sind, ohne dass sich dadurch deren Macht- und Ausbeutungsstrukturen wesentlich verändert hätten, denn wenn heute Frauen immer öfters in die früheren Rollen der Männer hineinschlüpfen, sie gar auf den Leitern des sozialen Aufstiegs zu übertreffen versuchen und beispielsweise auf den Chefetagen von Grosskonzernen immer mehr Frauen anzutreffen sind, während die Angestellten weiterhin schamlos ausgebeutet werden, dann ist insgesamt kein wirklicher gesellschaftspolitischer Fortschritt zu erkennen.

So könnte man zusammenfassend sagen, dass der Feminismus, der ursprünglich aufs Engste mit der Vision einer Welt ohne Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, ohne Fremdbestimmung, ohne Gewalt und ohne Kriege als Instrument der Konfliktlösung zwischen Völkern und Staaten verbunden war, sozusagen auf halbem Wege stehen geblieben ist und sich, etwas überspitzt gesagt, vom kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem über den Tisch hat ziehen lassen. Eine Bewegung, die zu einer radikaleren Umgestaltung der bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse führen will und vor allem auch die globale Dimension nicht ausser Acht lassen darf, muss über den traditionellen Feminismus weit hinausgehen und die Männer miteinbeziehen. Frauen müssen sich nicht vor allem von den Männern emanzipieren, sondern Frauen und Männer müssen sich gemeinsam von den bestehenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen emanzipieren. Ziel sollte nicht die Vermännlichung der Frauen sein, sondern die Verweiblichung der Gesellschaft als ganzer. Denn, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt so wunderbar sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Drittes Montagsgespräch vom 6. November 2023: Inwieweit trägt der Westen eine Mitverantwortung am Ukrainekonflikt?

Einig war man sich darin, dass der Angriff Russlands im Februar 2022 eine Verletzung des Völkerrechts darstellte und unter keinen Umständen gerechtfertigt werden kann. Auch die Annexion der Halbinsel Krim im Jahre 2014 bedeutete einen Bruch mit dem internationalen Völkerrecht, ebenfalls die militärische Einmischung in den Konflikt im Donbass.

Dennoch, so wurde argumentiert, könne man nicht die Augen davor verschliessen, dass dieser Konflikt, wie jeder andere, eine längere Vorgeschichte habe. So sei Putin, wie ein Diskussionsteilnehmer in Erinnerung rief, seit seinem Amtsantritt als Präsident Russlands wiederholt auf den Westen zugegangen und hätte eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur vorgeschlagen, was aber vom Westen stets zurückgewiesen worden sei. Putin hätte sodann eine Kehrtwende vollzogen und den Westen immer mehr zum Feindbild emporstilisiert.

Kontrovers wurde die NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 beurteilt. Unbestritten sei, dass führende westliche Politiker, unter anderen der amerikanische Aussenminister Jim Baker und der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher, anfänglich zugesichert hätten, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Dennoch sei die NATO im Laufe der Zeit immer weiter in Richtung Osten erweitert worden und es sei ab 2008 auch der Ukraine ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt worden. Einerseits wurde in der Gesprächsrunde die Meinung vertreten, dass jeder Staat das Recht haben müsse, selber zu entscheiden, zu welchem Militärbündnis er gehören wolle, und die NATO-Erweiterung aus der verständlichen Angst vor einer Bedrohung durch Russland erfolgt sei. Anderseits hätte auch Russland das zunehmende Vorrücken der NATO bis an seine Grenze als Bedrohung empfunden.

Es wurde auch daran erinnert, dass das Minsker Abkommen von 2014, das einen Waffenstillstand zwischen separatistischen und ukrainischen Kräften im Donbass zum Ziel hatte, sowohl von russischer wie auch von ukrainischer Seite immer wieder verletzt worden sei.

Nach so vielen Opfern, welche dieser Krieg nun schon gefordert hätte, sei es, so das Votum eines Diskussionsteilnehmers, nun endlich an der Zeit, nicht mehr länger in die Vergangenheit zu blicken, sondern in die Zukunft. Krieg könne nie eine Lösung von Konflikten zwischen Völkern und Staaten sein, wie sich in diesen Tagen auch beim Nahostkonflikt zeige.

Die Diskussion endete einerseits mit einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit in Anbetracht des komplexen und schwierigen Kriegsgeschehens, anderseits aber auch mit der Feststellung, dass es längerfristig keine Alternative zu einer friedlichen Koexistenz aller Völker und Staaten geben könne und an erster Stelle im Kleinen wie im Grossen nicht mehr egoistisches Machtstreben stehen sollte, sondern Kooperation und das Wohlergehen aller.

Senkung der SRG-Gebühren: Sparen am falschen Ort

In unsicheren, schwierigen und kriegerischen Zeiten ist objektive und sorgfältige Information wichtiger denn je. Eigentlich müsste man jetzt die SRG-Gebühren, wenn schon, nicht senken, sondern erhöhen. Dies umso mehr, als die Gebühr im Laufe der vergangenen zehn Jahre bereits schrittweise von jährlich 462 Franken auf 335 Franken gesenkt worden ist. Auch Sportübertragungen werden von der Sparmassnahme betroffen sein. So wird man sich dann zum Beispiel die Übertragung eines Fussballspiels bei einem privaten Anbieter holen müssen und bezahlt dann am Ende für ein kleineres Angebot erst noch mehr als bisher. Kann man ernsthaft behaupten, die 90 Rappen pro Tag, die man heute noch für das gesamte SRG-Angebot von Radio und Fernsehen zu bezahlen hat, seien überrissen? So viel Qualität für so wenig Geld bekommt man heute nur noch selten.