Archiv des Autors: Peter Sutter

«Manche Kunden sind einfach nie zufrieden.»

Im November begann für die Paketzusteller – egal bei welchem Post-Dienst sie arbeiten – die Weihnachtszeit und damit eine noch stressigere Zeit als ohnehin im Rest des Jahres. In einer Schicht müssen dann schon mal bis zu 250 Pakete ausgeliefert werden – rund 30 mehr als sonst. Nicht selten muss der Paketzusteller sechs Stockwerke hochsteigen, oft mit Paketen, die er kaum hochkriegt, weil sie sie so schwer sind. «Am schlimmsten», meint ein Paketzusteller, «sind grosse, schwere Bestellungen von solchen Dingen wie Teppichen, Säcken voll Katzenstreu oder kiloweise Hundefutter. Manchmal muss ich fast erbrechen, bis ich oben bin.» Und ein anderer sagt: «So viele Menschen bestellen einfach nur des Bestellens wegen. Die bekommen dann fast jeden Tag ein Paket. Da muss dringend ein Umdenken stattfinden.» Und ein weiterer Paketzusteller sagt: «Manche Kunden sind einfach nie zufrieden.»

(www.watson.ch)

Konnte man im 19. Jahrhundert noch die bleichen und ausgemergelten Kinder spätabends aus den Fabriken strömen sehen, so hat der moderne Kapitalismus die Ausbeutung unsichtbar gemacht. Damit der putzige Teddybär rechtzeitig unter dem Weihnachtsbaum liegt und die Kinderaugen zum Strahlen bringt, musste sich im fernen China eine Arbeiterin unter immensem Zeitdruck ihre Finger und ihren Rücken kaputt arbeiten, musste ein Hafenarbeiter in Shanghai beim Verladen der Spielwarencontainer Schwerarbeit leisten, musste eine Angestellte von Amazon im Sekundentakt Paket um Paket vom einen Fliessband zum anderen schieben, mussten im Paketzentrum der DHL unzählige Überstunden geleistet werden und verlor der Paketzubringer beim Klingeln an der Wohnungstür fast seine Nerven, weil er gegenüber seinem Zeitplan bereits über eine Stunde im Rückstand war. Auch dem Essen im Restaurant sieht man den Lärm und die Hitze in der Küche nicht an. Auch dem Kaffee sieht man den Schweiss der Plantagenarbeiter und -arbeiterinnen nicht an. Auch dem Smartphone sieht man nicht an, unter was für unmenschlichen Bedingungen die Rohstoffe, die es für seine Herstellung braucht, gewonnen werden. Auch der Zeitung sieht man den Stress auf den Redaktionen und in den Druckereien nicht an. Das macht den Kapitalismus – zumindest für alle jene, die auf der Sonnenseite sind – so akzeptierbar: Dass er sich so angenehm anfühlt und so attraktiv aussieht, obwohl unsägliches Leiden dahinter verborgen ist.

Wenn wir nichts unternehmen, sind wir geliefert

Die kanadische Fischerei- und Meeresbehörde DFO hat in den Gewässern vor Neufundland und Labrador ein besorgniserregendes Planktonsterben festgestellt. Laut dem DFO-Forscher Pierre Pepin ist dort die gesamte Biomasse des Zooplanktons in den letzten drei bis vier Jahren um 50 Prozent zurückgegangen. Neben dem Absterben des Zooplanktons, also dem tierischen Plankton, hat Pepin auch einen Rückgang des Phytoplanktons, des pflanzlichen Planktons, festgestellt. Plankton ist die Grundlage der gesamten Nahrungskette der Ozeane. Fische, Seevögel, Wale und Seehunde: Sie sind alle vom Plankton abhängig. Was der Rückgang bedeutet, veranschaulicht Pepin mit einem Vergleich: Es sei, als ob man in einen Lebensmittelladen gehe und alle Gestelle nur halbvoll wären. Er befürchtet, dass sich in der Nahrungskette der Ozeane etwas Grundlegendes geändert hat. Pepins Besorgnis teilt der schottische Meeresbiologe Howard Dryden. Er warnt davor, dass die Ozeane bis 2045 so vergiftet sein werden, dass innert fünf Jahren die meisten Fische, Vögel und Meeressäuger aussterben werden. Das hätte laut Dryden auch für das Leben an Land verheerende Folgen.

«Wenn wir es zulassen, dass das Ökosystem der Meere zerstört wird, wird auch das Ökosystem auf dem Festland wenige Jahre später versagen», sagte Dryden. «Uns bleiben nur etwa 10 Jahre um eine Wende herbeizuführen und nicht nur Plastik zu eliminieren, sondern auch giftige Chemikalien wie sie in tausenden Produkten von Lippenstift bis Sonnencremes enthalten sind.» Schaffe man das nicht, werde es zu einem Kollaps des gesamten marinen Ökosystems kommen. «Um es unverblümt zu sagen: Wenn wir nichts unternehmen, um die Situation zu verbessern, sind wir geliefert.»

(www.20minuten.ch)

Ist der Mensch dazu verdammt, sich sein eigenes Grab zu schaufeln? Fast möchte man es glauben. Wo ist die menschliche Intelligenz stecken geblieben, in welche Sackgassen hat sie sich verirrt, wohin haben sich Kreativität, Phantasie und alternatives Denken zurückgezogen? Weshalb glauben so viele Menschen, dass sich ein Wirtschaftssystem, das von Menschen in die Welt gesetzt und über Jahrhunderte weitergeführt wurde, nicht ebenfalls von Menschen auch wieder umgebaut oder abgebaut und durch etwas Neues, Besseres ersetzt werden kann? Denn das ist der einzige Ausweg. Es sind zu viele Baustellen offen. Ein paar Tausend Produkte vom Lippenstift bis zu Sonnencrèmes zu eliminieren, um das Planktonsterben zu stoppen, genügt nicht. Das ist nur eines von mehreren Millionen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen, mit denen die heutige Menschheit konfrontiert ist. Symptombekämpfung allein wird nicht genügen. Es braucht eine grundlegende Neuorientierung, ein von Grund auf neues, anderes Wirtschaftssystem, das nicht auf Wachstum und Gewinnmaximierung aufgebaut ist, sondern sich an den Lebensbedürfnissen der Natur, der Tiere und der Menschen heute und in Zukunft orientiert.

Der kapitalistische Mensch mit seinem Schrei nach immer mehr und mehr

Die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nimmt in der Schweiz rasant zu. Jedes Unternehmen, das Bedarf nach einem Sondereinsatz am Wochenende hat, kann sich diesen vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bewilligen lassen. Eine Analyse dieser Daten zeigt, dass in den letzten drei Jahren die Anzahl bewilligter Gesuche um über 30 Prozent auf mehr als 2000 anstieg. Alleine für Feiertagsarbeit wurden 800 Gesuche bewilligt, wie das Seco bestätigt. Gründe für den Anstieg seien das Konsumbedürfnis sowie eine «technische oder wirtschaftliche Unentbehrlichkeit», so das Seco.

Gemäss der «SonntagsZeitung» haben Zulieferbetriebe wie Grossmetzgereien und Verteilzentren von Coop oder Migros besonderen Bedarf nach Feiertagsarbeit. Eine Migros-Sprecherin sagt dazu: «Sowohl bei den Produktionsbetrieben als auch bei den Logistikunternehmen entsteht der Bedarf, um die gesteigerte Nachfrage der Konsumenten nach Frischprodukten auch an Sonn- und Feiertagen abdecken zu können.»… Auch die Sonntagsarbeit nimmt massiv zu. Wurden 2016 noch rund 1800 Gesuche gutheissen, stieg die Zahl nun auf rund 2300 an. Die Gesuche betreffen neu 83’000 Arbeitsplätze gegenüber 75’000 im Jahr 2016.

(www.20minuten.ch; Tages-Anzeiger, 24. Dezember 2018)

Woher eigentlich kommt dieser Drang nach immer mehr und immer schneller und immer grösser? Der Kapitalismus mit seinem Dogma des unbegrenzten Wachstums braucht, damit er erfolgreich funktionieren kann, den kapitalistischen Menschen, der – wie ein Süchtiger – nach immer mehr und mehr schreit. Egal zu welchen sozialen, menschlichen und ökologischen Kosten…

Erschwingliche Kreuzfahrt dank Hungerlöhnen und extremen Arbeitszeiten

Sie bereisen die ganze Welt, legen quasi jeden Tag in einem anderen Hafen an und sehen fast nie etwas vom Land. Sie arbeiten täglich bis zu zwölf Stunden, an sieben Tagen die Woche: die Aushilfen in Küche und Wäscherei an Bord von deutschen Kreuzfahrtschiffen. Meist stammen sie aus Niedriglohnländern wie Indonesien, den Philippinen oder Indien. Ihr Zuhause an Bord sind fensterlose Kabinen, mit Stockbett, Spind und Mini-Schreibtisch. Ein enger Raum, den sich bis zur vier Personen teilen müssen. Sie schuften tief im Bauch des Schiffes, bis zu zehn Monate am Stück, ehe sie wieder nach Hause zu ihren Angehörigen fliegen dürfen. So sieht es in der Parallelwelt auf Traumschiffen aus. In den Restaurants, Bars und Shops nehmen die Passagiere das Personal meist als gut gelaunte Crew war, denen ein «Good morning, Sir» leicht über die Lippen geht. Unter Deck herrscht eine Zweiklassengesellschaft: Die wenigen höher qualifizierten Angestellten, wie zum Beispiel ein Versorgungsoffizier, bleiben nicht länger als drei Monate an Bord. Sie sind meist EU–Bürger. Küchen- und Deckhilfen verpflichten sich neun bis elf Monate am Stück. Sie verdienen weniger und erhalten vom Arbeitgeber nach Verlassen des Schiffes keine soziale Absicherung.

Kein Kreuzfahrtschiff fährt mehr unter deutscher Flagge. Aus Kostengründen schippert die Aida-Flotte unter italienscher Flagge. Denn Schiffseigner müssen in Italien keine Lohnsteuer abführen. MSC Cruises sitzt in der Schweiz, deren Schiffe sind in Panama und Malta registriert. Die Gehälter liegen deutlich unter dem deutschen Mindestlohn, der im Jahr 2018 8,84 Euro pro Stunde beträgt. Löhne zwischen 3 und 5 Dollar die Stunde sind keine Seltenheit. Das entspricht einem Stundenlohn von umgerechnet 2,65 bis 4,40 Euro. Die extremen Arbeitszeiten und die geringen Löhne tragen dazu bei, dass Kreuzfahrten heute für viele erschwinglich sind.

(www.stern.de)

Doppelte und dreifache Ausbeutung. Denn die oben sind ja nicht deshalb so reich, weil sie so viel geschuftet hätten. Sie sind deshalb so reich, weil sie das unglaubliche Glück hatten, nicht in Indonesien oder den Philippinen, sondern in Schweden oder der Schweiz geboren zu sein. Und nun werden sie, nachdem sie schon eine glückliche Kindheit hatten und ihnen alles Lebensnotwendige in Hülle und Fülle zur Verfügung steht, erst noch damit belohnt, dass sie sich solche Luxusvergnügungen wie eine Kreuzfahrt leisten können. Während die unten sich noch so abrackern können und trotzdem nie in den Genuss eines Lebens gelangen werden, das sich nur im Allerentferntesten mit jenem der Glücklichen und Reichen oben an Deck vergleichen lässt. Was für eine ungerechte Welt…

Esslieferdienste: Der halsbrecherische Wettbewerb um die Kundschaft

Wachstum steht über allem bei den Lieferdiensten, die den Konsumenten zu mehr Take-away verführen wollen und sich gegenseitig einen halsbrecherischen Wettbewerb liefern. Die Kosten lassen sich umso besser amortisieren, je mehr Kunden man hat. Es wird deshalb enorm viel Geld in Marketing und Vertrieb gesteckt – in der Hoffnung, dass das Ganze später einmal Gewinne abwirft. Dieses Vorgehen lässt sich gut bei der in Berlin ansässigen Firma Delivery Hero beobachten. Bei einem erwarteten Umsatz von 1,1 Mrd. € wird 2019 ein Betriebsverlust von rund 300 Mio. € erwartet. Zu jedem Euro Umsatz macht Delivery Hero somit mehr als 25 Cent Verlust. Die Idee ist, dass dafür der Umsatz ab 2020 jedes Jahr um 80 Mio. € höher liegt als ohne diese Ausgaben. Derzeit beruht vieles auf dem Prinzip Hoffnung…

(www.nzz.ch)

 

Halsbrecherischer Wettbewerb. Mörderischer Preiskampf. Alle gegen alle. Fressen und gefressen werden. Verluste in Kauf nehmen, um später einmal Gewinne schreiben zu können. Hoffen, dass die Konkurrenten nicht mithalten können und irgendwann aufgeben. Esslieferdienste, Wo wir auch hinblicken in die kapitalistische Wirtschaft, überall das gleiche gnadenlose Konkurrenzprinzip, der Kampf aller gegen alle. Entweder man zerstört die anderen oder man zerstört sich selber. Wie lange kann das noch gutgehen?

Ohne Systemveränderung keine Problemlösung

2018 geht turbulent zu Ende, und auch im nächsten Jahr wird es stürmisch bleiben. Die drei bedeutendsten europäischen Länder befinden sich in einer Krise. Diese Krisen haben zwar jeweils ganz eigene Ursachen, aber führen zu durchaus ähnlichen Ergebnissen: zur Blockade des politischen Systems. Die Franzosen haben wieder einmal das getan, was sie am liebsten tun: Sie spielten die grosse Revolution nach und offenbarten damit die Schwäche nicht nur ihres Präsidenten, sondern der gesamten Republik. Grossbritannien hadert mit der konkreten Ausgestaltung des Brexit, die je nach Lesart zu hart oder zu weich, auf jeden Fall nicht angemessen ist. Und Deutschland durchleidet ratenweise das Ende einer überlangen Kanzlerschaft mit allen Zerfallserscheinungen. Diese drei Nationen sind auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt, mit allen Konsequenzen für Europa als Ganzes.

(www.nzz.ch)

 

Man könnte noch Italien mit seinem Budgetstreit und der erodierenden Linken, Ungarn mit seinen Grossdemonstrationen gegen ein neues Arbeitsgesetz und Griechenland mit seinen einschneidenden Sparmassnahmen und der hohen Arbeitslosigkeit hinzufügen. Ja, es kriselt an allen Ecken und Enden. Was im obigen Artikel der NZZ allerdings nicht zutrifft, ist die Behauptung, jede dieser Krisen habe eine «ganz eigene Ursache». Nein, die Ursache ist immer die gleiche. Es ist schlicht und einfach das kapitalistische Wirtschaftssystem, das die einzelnen Länder und Volkswirtschaften in einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt, bei dem es für jeden Gewinner immer auch einen Verlierer gibt. Die Menschen spüren das, sie fühlen sich einem Spiel ausgeliefert, auf das sie keinen Einfluss haben, das entlädt sich in Frustrationen und Wut, doch gegen wen soll man sich wehren, wen bekämpfen? Im Moment ist es so, dass sich die aufgeladene Wut vor allem gegen die so genannten «Eliten» wendet, das hat schon Donald Trump erfolgreich vorgemacht – indem er gegen eine «Elite» polemisierte, zu welcher er ironischerweise auch selber gehört. Es ist aber auch das Erfolgsrezept der deutschen AfD, der britischen Brexit-Befürworter, der französischen «Gelbwesten» und weiterer ähnlicher Bewegungen. Eigentlich müsste sich die Wut gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem richten, welches an allem Schuld ist. Es ist aber eben einfacher, gegen eine Regierung oder bestimmte Personen anzukämpfen als gegen etwas so Abstraktes wie ein «System». Und doch wird sich an den heutigen Problemen so lange nichts ändern, als die Menschen ihre Wut bloss gegeneinander auslassen, statt eine radikale Systemveränderung in Angriff zu nehmen.

Überwachung bis ins Innerste: Der Kapitalismus im Kopf

Unternehmen überwachen ihre Mitarbeiter mit immer perfideren Methoden. Der US-Paketlieferdienst UPS hat seine Lieferwagen schon vor Jahren mit Sensoren ausgestattet, um zu sehen, wann die Fahrer die Türen öffnen und schliessen, den Motor starten und ob sie angeschnallt sind. Die Investmentbank Barclays liess unter den Schreibtischen ihrer Mitarbeiter Bewegungsmelder installieren, die mit Wärme und Bewegungssensoren erkennen, ob jemand gerade an seinem Platz sitzt. Im Disneyland Resort Hotel in California wird die Arbeitsleistung des Reinigungspersonals, etwa die Zahl der gewaschenen und getrockneten Handtücher, per elektronischer Überwachung kontrolliert. Wer zurückliegt, dessen Name leuchtet für alle sichtbar rot auf. Die Folge dieses brutalen Wettbewerbsdrucks ist, dass Angestellte auf ihre Pausen verzichten, um nicht zurückzufallen. Amazon hat derweil ein Patent auf Überwachungsarmbänder angemeldet, die mithilfe von Ultraschall präzise die Armbewegungen der Warenhausmitarbeiter tracken und sie mittels Vibrationen in eine bestimmte Richtung leiten können. Der Mitarbeiter wird zu einer ferngesteuerten Maschine. In China müssen Angestellte in staatlichen Betrieben, öffentlichen Verkehrsmitteln und Militäreinrichtungen spezielle Uniformhüte tragen, welche ihre Gehirnwellen und ihren emotionalen Zustand überwachen. Wie die «South China Morning Post» berichtete, sind in den Sicherheitshelmen und Hüten drahtlose Sensoren eingebaut, welche die Gehirnströme messen und die Daten ans Computernetz streamen, wo sie auf Anomalien untersucht werden.

(Tagblatt, 21. Dezember 2018)

Der unaufhörlich sich verschärfende Konkurrenzkampf zwischen Firmen und zwischen Angestellten einerseits und die technische Entwicklung anderseits haben das Unmögliche möglich gemacht: Der Kapitalismus ist drauf und dran, die letzten ethischen Grenzen zu sprengen und den Menschen immer mehr in einen durchtechnisierten Sklaven zu verwandeln. Was George Orwell in seinem Zukunftsroman «1984» beschrieb, ist von der Realität bereits überholt worden. Kaum vorzustellen, wohin das alles noch führen mag…

Die Macht des Geldes: Wer hat, dem wird gegeben

Eigentlich sollten der Advent und schliesslich Weihnachten besinnlich sein. Doch holt so manchen nur allzu leicht der Festtagsstress ein. Also wird ein Flieger gebucht, und ab geht es in die Ferne. Auch Städtereisen sind beliebt. Jörg Waldvogel, Geschäftsführer von Chrisway Travel in St. Gallen, sagt: «Beliebteste Destinationen sind Südafrika, die Malediven, Thailand und Australien sowie Städtereisen nach London und New York.» Auch Marokko, Dubai, Sri Lanka und Bali stehen hoch im Kurs.

(W&O, 21. Dezember 2018)

Wer das nötige Kleingeld hat, dem liegt die ganze Welt zu Füssen. Nicht nur, dass die Reichen des Nordens und Westens innerhalb weniger Stunden Feriendestinationen in allen Himmelsrichtungen anfliegen können, nein, sie werden dann im dortigen Hotel von einer Heerschar von Köchen, Kellnerinnen, Zimmermädchen, Reisebegleitern und Masseuren erst noch königlich bedient. Wie anders, nämlich genau umgekehrt, erleben die Habenichtse des Ostens und Südens die Welt. Ihnen winken nicht Billigflüge, Luxushotels und Verwöhnprogramme, sondern Sklavenarbeit, Hunger und Obdachlosigkeit. Und von offenen Grenzen – wie sie für die Luxustouristen der reichen Länder selbstverständlich sind – können sie nur träumen. An deren Stelle treffen sie, die Habenichtse, auf Mauern, Stacheldrahtzäune und Minenfelder. So ist der Kapitalismus. Überall, wo er hinkommt, teilt er die Menschen in Reiche und Arme, in Gewinner und Verlierer, in Herren und Sklaven. Und dies jeden Tag ein bisschen mehr…

Wir brauchen Minister, die anders denken

Nationalrat Pirmin Bischof zum Abschied des schweizerischen Wirtschaftsministers Johann Schneider-Ammann (in: 10vor10, Fernsehen SRF1, 20. Dezember 2018: «Der beste Wirtschaftsminister ist der, der nichts macht.»

Pirmin Bischof bringt es auf den Punkt. Der kapitalistischen Wirtschaft ist es am liebsten, wenn man sie in Ruhe lässt. Staatliche Eingriffe und Regulationen verabscheut sie, sie vertraut dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage, der freie Markt, so ihr Credo, «wird es schon richten». Deshalb soll ein Wirtschaftsminister möglichst «nichts tun».

Allerdings ist am Credo des «freien Markts» wohl je länger je mehr zu zweifeln. Wohin hat uns das kapitalistische Wirtschaftssystem in seiner freien Entfaltung denn gebracht? Güter fliessen in immer grösserer Menge über den ganzen Erdball, doch keines der grossen Probleme, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, ist einer nachhaltigen Lösung näher gekommen: Während eine Milliarde Menschen hungern, türmen sich in den reichen Ländern des Nordens und des Westens immer höhere Warenberge auf, die, wenn überhaupt, nur mit aggressivsten Werbemethoden an die Kundschaft gebracht werden können. Die Klimaerwärmung schreitet unaufhaltsam voran. Fruchtbarster Boden in weiten Teilen des Südens werden bis zum Äussersten ausgelaugt und fallen früher oder später der Erosion zum Opfer. Hunderte Millionen von Menschen sind auf der Flucht, weil sie in ihrer Heimat nicht einmal die minimalsten Grundlagen für ein Leben in Würde vorfinden. Und da soll der beste Minister derjenige sein, der nichts tut? Ist denn der Kapitalismus schon so etwas geworden wie eine neue Religion, eine neue Gottheit, die man ergebenst schalten und walten lässt, weil man an deren Werk ja ohnehin nichts ändern kann? Bräuchte es nicht so etwas wie eine neue Aufklärung, um diesen ominösen und geheimnisumwobenen «freien Markt» in seine Bestandteile zu erlegen, um daraus etwas Neues, Besseres entstehen zu lassen? Bräuchten wir nicht Minister, die anders denken und handeln, die das Bestehende hinterfragen, die Visionen entwickeln, die neue Wege beschreiten und dem mörderischen Treiben des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht mehr länger tatenlos zuschauen?

«Nur» Verkäuferin?

Es ist Samstagabend, 19 Uhr, H & M. Ohne Unterbruch hängen die Verkäuferinnen Blusen zurück an die Stange, stapeln Kappen, ordnen Pullover nach Grösse und Farbe. Bis der nächste Kunde, die nächste Kundin den untersten Pullover hervorzerrt. Eine Arbeit ohne Ende. «Eigentlich», sagt S.K., «sind wir keine Menschen. Nur Inventar. Ich habe inzwischen fast eine Art Menschenhass entwickelt. Vielleicht ist das zu hart formuliert, aber ja, man wird abschätzig behandelt. Die Leute haben keinen Respekt. Uns gegenüber, den Kleidern gegenüber. Viele Kundinnen und Kunden lassen Berge von Kleidern in den Kabinen zurück, treten vielleicht doch drauf rum. Bittet man sie, die Kleider herauszureichen, sagen sie, das sei mein Job. Ich habe schon gehört, dass ein Kunde zum anderen sagte: Schau, dass du eine gute Ausbildung bekommst. Nicht, dass du als Verkäuferin endest. Und ich stand daneben. Nach der Schule hätte ich Optikerin werden wollen, aber meine Noten waren zu schlecht. Der Berufsberater fragte meine Mutter: Stört es Sie nicht, wenn Ihre Tochter nur Verkäuferin wird? Dieser Satz ist mir geblieben. Meine Kinder sollen etwas Besseres lernen. Mit mehr Anerkennung, mehr Lohn.»

(Tages-Anzeiger, 20. Dezember 2018)

«Nur» Verkäuferin? «Nur» Servicefachangestellte? «Nur» Fabrikarbeiter? «Nur» Kehrichtmann? «Nur» Coiffeuse? Das Verrückte daran ist, dass es hier allesamt um gesellschaftlich und wirtschaftlich überaus wichtige Tätigkeiten handelt. Wäre niemand bereit, sie auszuüben, würden ganze Wirtschaftssegmente wie Kartenhäuser in sich zusammenbrechen. Dennoch mangelt es ihnen an gesellschaftlicher Anerkennung und, damit verbunden, einem fairen Lohn. Wahrscheinlich könnte das tatsächlich nur durch die Einführung eines Einheitslohns – verbunden mit einer gleichwertigen gesellschaftlichen Wertschätzung sämtlicher beruflicher Tätigkeiten – nachhaltig geändert werden.