Archiv des Autors: Peter Sutter

Drohende Klassenjustiz

Die Gebühren für Gerichtsverhandlungen, so Rechtsprofessor Martin Pestalozzi, seien nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für Verbände so hoch, dass sie deren Existenz bedrohen. Ein Beispiel: Ein Dübendorfer wehrte sich vor dem Zürcher Baurekursgericht gegen den Gestaltungsplan für einen Innovationspark, und musste, nachdem er den Prozess verloren hatte, 50’000 Franken Gerichtsgebühren bezahlen. Solche horrenden Kosten widersprechen aber dem Willen des Gesetzgebers. So etwa heisst es in der Zürcher Kantonsverfassung, dass Gerichtsverfahren «wohlfeil» zu sein haben, also sehr günstig. Der emeritierte Rechtsprofessor kritisiert denn auch die hohen Gebühren: «Die Gerichtskosten führen zu einer Klassenjustiz.» Normalverdiener könnten sich das Prozessieren zunehmend nicht mehr leisten.

(Tages-Anzeiger, 10. Januar 2019)

Wer immer noch glaubte, wir lebten in einer demokratischen Gesellschaft gleichberechtigter Bürger und Bürgerinnen, müsste sich spätestens jetzt eines Besseren belehren lassen. Kosten für Gerichtsverfahren sind nur eines von unzähligen Beispielen für eine Klassengesellschaft, in der «oben» und «unten» je länger je mehr auseinanderdriften. Dass sich hier eine Praxis etabliert hat, die ganz klar die Verfassung verletzt, scheint achselzuckend hingenommen zu werden. Was aber ist eine Demokratie wert, für welche die Verfassung als Grundlage aller Gesetze und Bürgerrechte nicht ohne Wenn und Aber zu gelten hat? Und weshalb spricht man in diesem Zusammenhang nur von «Normalverdienern», die sich das Prozessieren nicht mehr leisten könnten? Sind die Schlechtverdienenden schon so wenig wert, dass man sie nicht einmal mehr erwähnt?

Die kapitalistische Klassengesellschaft treibt immer wildere Blüten…

Fünfstern-Entzugskliniken boomen in der Schweiz. Die Angebote unterscheiden sich vor allem im Preis. Auf einem ähnlichen Preisniveau wie die Clinique des Alpes in Montreux, wo eine Woche 40’000 Franken kostet, bewegen sich die beiden ebenfalls in der Romandie gelegenen Kliniken Bon Port und La Metairie. Teurer sind die drei Etablissements, die sich in und um Zürich befinden. Dort kostet die Woche von 80’000 Franken an aufwärts, etwa in der Kusnacht Practice. Dafür gibt es private Unterkunft in einer Villa, Essen von einem «Gault Millau»-Koch, eine Haushälterin, einen Butler und einen Chauffeur.

(Tages-Anzeiger, 10. Januar 2019)

Und das im gleichen Land, wo Zehntausende ihre Krankenkassenprämien kaum mehr zu bezahlen vermögen, eine längst fällige Zahnoperation finanziell einfach nicht drin liegt und zahllose Menschen im Niedriglohnbereich besonders harten, stressigen und krankmachenden Tätigkeiten ausgeliefert sind. Die kapitalistische Klassengesellschaft treibt immer wildere Blüten…

Kahlschlag im Detailhandel

Im Schweizer Detailhandel gingen zwischen 1992 und 2018 fast 53’000 Stellen verloren. Die beiden Hauptgründe sind das Einkaufen im Ausland und das Online-Shopping. Jährlich geben Schweizerinnen und Schweizer beim Einkaufen im Ausland schätzungsweise rund 8 Milliarden Franken aus. Beim Online-Shopping stiegen die Umsätze von 1,4 Milliarden Franken im Jahr 2005 auf 8,6 Milliarden Franken im Jahr 2017.

(10vor10, SRF1, 8. Januar 2019)

Wer die Veränderungen in der Arbeitswelt kritisiert, der wird meist belehrt, dass, erstens, der technologische Fortschritt unaufhaltsam sei, dass, zweitens, der Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Anbietern zu tieferen Preisen führe und daher im Interesse der Konsumenten und Konsumentinnen liege und dass, drittens, verloren gegangene Arbeitsplätze an anderen Orten wieder neu entstehen würden. Betrachten wir das am Beispiel des Detailhandels. Zum ersten Argument: Technologischer «Fortschritt» ist nicht gottgegeben. Und er ist auch nicht per se gut. Es steht nirgendwo geschrieben, dass das Internet-Shopping mit allen seinen verheerenden Auswirkungen unausweichlich sei. Es sind ganz konkrete Menschen, die das erfunden, in die Tat umgesetzt, weiterbetrieben und immer weiter ausgebaut haben. Sie hätten es auch sein lassen können. Die Büchse der Pandora kann man, wenn nichts Gutes dabei herauskommt, auch wieder schliessen. Was technisch möglich ist, muss nicht automatisch auch umgesetzt werden – stets sollte das Wohlergehen von Mensch und Natur an oberster Stelle stehen. Zum zweiten Argument: Tiefe Preise bedeuten nichts anderes als tiefe Löhne für das Verkaufspersonal und für die Produzenten. Zudem erhöhen sie den Spardruck, der auf dem einzelnen Betrieb lastet, worunter wiederum vor allem das Verkaufspersonal leidet, indem die Löhne stagnieren oder gar sinken und «überflüssige» Angestellte entlassen werden, wodurch Arbeitsdruck, Stress und körperliche Belastung für das verbleibende Personal zunehmen. Zum dritten Argument: Tatsächlich entstehen an anderen Orten neue Arbeitsplätze. Aber welches ist die Qualität dieser Arbeitsplätze? Ich erinnere mich an den Sportartikelverkäufer, der mir Turnschuhe verkaufte und mir dabei bis ins letzte Detail die Unterschiede zwischen den verschiedenen Marken erklären konnte. Ich erinnere mich an die Buchhändlerin, die mir meine Vorlieben von den Augen abzulesen schien, mir eine durch und durch passende Auswahl an Büchern präsentierte und den Inhalt jedes einzelnen kurz beschrieb. Ich erinnere mich an den Verkäufer im Elektrofachgeschäft, der mir mehrere TV-Geräte zeigte und dabei die technischen Daten bis ins Kleinste aufzeigen konnte. Und dann stelle ich mir vor, dass dieser Sportartikelverkäufer, diese Buchhändlerin und dieser Elektrofachverkäufer in fünf oder zehn Jahren irgendwo in einer Verpackungszentrale eine Onlineshops arbeiten werden, ohne menschliches Gegenüber, ohne irgendeinen Bezug zum Inhalt der herumgeschobenen und aufeinandergestapelten Pakete, gejagt von einem Geschwindigkeitsmesser, der rot aufleuchtet und ein grelles Signal von sich gibt, wenn zu wenig schnell gearbeitet wird.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht bloss anonyme Mächte sind, die unser Leben, unsere Art des Konsumierens und unsere Arbeitswelt bestimmen. Ebenso dazu gehört der kapitalistisch gesteuerte Mensch, der das Spiel mitspielt und stets jenen Produkten und Dienstleistungen hinterherrennt, die am billigsten sind. Niemand zwingt ihn dazu. Ebenso gut könnte er dort einkaufen, wo die freundlichsten Verkäufer und Verkäuferinnen am Werk sind und faire Preise eine gerechte Entlöhnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen gewährleisten. Tragen wir nicht auch so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung? Vielleicht ist ja mein Nachbar in einem Lebensmittelgeschäft tätig. Eine gute Freundin arbeitet vielleicht in einem Modegeschäft, eine andere in einer Geschenkboutique. Und mein Sohn möchte vielleicht später einmal in einem Fahrradgeschäft arbeiten. Können wir es verantworten, stets nur dem Bequemsten, Schnellsten und Billigsten nachzurennen und damit in letzter Konsequenz einen ganzen Berufszweig – voller wunderbarer Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten – zu zerstören?

Ordnungsfimmel auf Netflix: Selber denken verboten

Pünktlich zum Jahresstart veröffentlichte Netflix «Tidying Up with Marie Kondo». Nun räumen alle User und Userinnen wie wild auf. Auch auf Twitter häufen sich entsprechende Posts (mit den jeweils sauber aufgeräumten Zimmern im Hintergrund: «Ich, nachdem ich eine Episode von ‹Tidying Up with Marie Kondo› geschaut habe.» –  «Wenn man auf Netflix eine Folge von ‹Tidying Up with Marie Kondo› gesehen hat, fängt man an, alles wegzuschmeissen.» – «Inspiriert von Netflix und ‹Tidying Up with Marie Kondo› habe ich heute bereits zwei Kleidersäcke zum Spenden parat gemacht. Und es werden sicher noch mehr.» – «Ich habe heute zwei Episoden von Marie Kondos ‹Tidying Up› geschaut. Danach habe ich angefangen, die Vorratskammer, sechs Küchenschubladen, unser Büro sowie unsere drei Schränke auszumisten. Jeder Mensch in unserem Haus ist darüber informiert worden, dass er meinen Zorn auf sich ziehen wird, wenn er es wagt, ein Chaos zu machen.» – «Ich bin nun ein anderer Mann. Ich habe mit dem Aufräumen angefangen, nachdem ich zwei Episoden gesehen habe. Vor dieser Ordnung wurde meine Kleidung in Körben aufbewahrt.» –
«Ich, nachdem ich auf Netflix eine Episode von ‹Tidying Up› gesehen habe.» – «So, ich habe nun alle meine Klamotten gefaltet und nach Farbe sortiert (nach Marie Kondos Anweisung), um Freude zu verbreiten.»

(www.20minuten.ch)

Ob das Aufräumen bei Netflix, der sich weltweit ausgebreitete Schmollmund auf Instagram-Bildern oder die Chips, die man sich in der Küche holt, sobald am Fernsehen die entsprechende Werbung läuft: das ist der kapitalistische Mensch, der auf Knopfdruck das tut, was ihm medial aufgetragen wird. Und so kann das System weiterfunktionieren: Mit immer mehr Verführungsmitteln und immer mehr verführbaren Menschen. Selber denken verboten…

Nur noch 5 Franken pro Tag

Die Studie des Büros Bass «Berechnung und Beurteilung des Grundbedarfs in den Skos-Richtlinien» zeigt erstmals auf, welche Auswirkungen weitere Kürzungen in der Sozialhilfe hätten, so wie sie gegenwärtig in verschiedenen Kantonen diskutiert werden. Demnach reiche bereits der aktuell geltende Grundbedarf nur knapp aus, um eine menschenwürdige Existenz zu sichern. Der Grundbedarf in der Sozialhilfe liegt mit 986 Franken pro Person und Monat schon heute deutlich tiefer als der Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen. Dort ist er mit 1607 Franken rund 60 Prozent höher als in der Sozialhilfe. Der Vergleich mit anderen Minimalbudgets zeigt gemäss der Studie auch, dass beispielsweise bei den Verkehrsausgaben der in der Skos-Pauschale vorgesehene Betrag deutlich zu tief angesetzt ist. Problematisch könnten sich zudem die nicht über das Sozialhilfebudget gedeckten Kosten auswirken. Es handelt sich dabei etwa um Schuldentilgung, Steuern, zu bezahlende Alimente, Militärpflichtersatz, Prämien für nicht per sofort kündbare Versicherungen oder zu hohe Mieten. Ein Teil der Ausgaben, den Sozialhilfebezüger aus dem Grundbedarf finanzieren müssen, hat den Charakter von Fixkosten wie beispielsweise Ausgaben für den Haushaltstrom und Gebühren. Dies bedeute, dass Einsparungen als Folge der Kürzungen nur im Bereich des täglichen Bedarfs möglich seien, stellt die Studie fest. Bei einer Kürzung des heutigen Grundbedarfs um acht Prozent stünden in einer vierköpfigen Familie pro Tag und Person noch sieben Franken für Lebensmittel und Genussmittel zur Verfügung, bei einer Kürzung um 30 Prozent sogar nur noch fünf Franken. «Davon kann man sich nicht mehr ausreichend und gesund ernähren», wird Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos, in einer Mitteilung zitiert. Skos-Co-Präsidentin Therese Frösch ergänzt: «Unter den Kürzungen leiden insbesondere auch die mitbetroffenen Kinder. Sie machen 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden aus.» Eine Reduktion des Grundbedarfs sei ohne Beeinträchtigung der Gesundheit sowie ohne Defizite bei der Integration in die Gesellschaft nicht möglich, schreibt die Skos… Derzeit laufen in einigen Kantonen Bestrebungen, die heute schweizweit weitgehend harmonisierten Ansätze für den Grundbedarf in der Sozialhilfe zu senken. Konkret will beispielsweise der Kanton Bern gemäss einer vom Parlament verabschiedeten Gesetzesrevision den Grundbedarf um acht bis 30 Prozent kürzen. Eine Volksabstimmung mit Volksvorschlag wird voraussichtlich im kommenden Mai stattfinden. Im Kanton Aargau hat das Parlament zwei Postulate angenommen, die eine 30-prozentige Kürzung beziehungsweise eine Koppelung der Sozialhilfe an AHV-Beiträge und Steuern vorsehen. Und im Kanton Basel-Landschaft hat das Parlament eine Motion angenommen, die eine 30-prozentige Kürzung der Sozialhilfe vorsieht.

(NZZ, 8. Januar 2019)

 

In was für einem Land leben wir eigentlich? Da plant der Bundesrat sechsspurige Autobahnen von Genf über Zürich bis St. Gallen, da bezahlen Gutbetuchte für ein Zimmer im Luxushotel Tausende von Franken pro Nacht, da wächst die Zahl der Millionäre beinahe täglich, da nimmt die Zahl der Flugreisen in ferne Feriendestinationen von Jahr zu Jahr zu. Und da wundert man sich, wenn nach all dem Übermass an Vergeudung den Ärmsten im Lande gerade mal fünf Franken pro Person und Tag fürs Essen übrigbleibt. Haben wir nicht bald Zustände wie in Frankreich zu Ende des 18. Jahrhunderts? Weshalb ist es damals zu einer Revolution gekommen und heute hierzulande nicht? Wie viel soziale Ungerechtigkeit kann eine Gesellschaft aushalten, bis sie zusammenbricht?

Das Netz als Schlachtfeld

«Das Netz ist zum Schlachtfeld geworden», schreibt Bernhard Pörksen zum jüngsten Hackerskandal in Deutschland, bei dem in immensem Umfang private Daten von Politikern und Prominenten geklaut um im Netz veröffentlicht wurden. Und die Historikerin Ute Frevert meint: «In den sozialen Netzwerken macht sich ein Vernichtungswille breit.» Was früher am Pranger stattgefunden habe, so Frevert, spiele sich heute in den sozialen Netzwerken ab.

(NZZ, 8. Januar 2018)

Was hat dies alles mit dem Kapitalismus zu tun? Sehr viel. Wir alle wachsen schon als kleine Kinder in eine Welt hinein, die von Konkurrenzkampf und Wettbewerb geprägt ist und in der es nicht so sehr darum geht, sich um andere zu kümmern, sondern vielmehr, der Klügste, Schönste, Beste, Schnellste, Reichste und Erfolgreichste zu sein. Einen ganz wesentlichen Beitrag zu dieser Erziehung zum Individualismus und Egoismus leistet die Schule, wo man auf Schritt und Tritt mit anderen verglichen wird und sich immer wieder als Gewinner oder Verlierer erfährt. Dann die Jugend im Facebook oder auf Instagram, wo es ebenfalls Mode geworden ist, möglichst viel Anerkennung zu bekommen und gleichzeitig andere fertigzumachen. Und so ist es alles andere als verwunderlich, wenn auch die Erwachsenen dieses Spiel mitmachen und das, was man ironischerweise immer noch als «soziale» Medien bezeichnet, zu einem Schlachtfeld persönlicher Beleidigungen und Herabwürdigungen werden lässt. Dies umso mehr, als sich Täter und Opfer nicht mehr gegenseitig in die Augen blicken müssen, sondern sich alles in der Anonymität der eigenen Privatsphäre abspielt. Keine Frage: In einer Gesellschaft, die auf gegenseitiger Solidarität aufgebaut ist, wäre so etwas nicht möglich. Und nichts wünschte man sich sehnlicher, als dass das «Netz», statt um sich gegenseitig fertigzumachen, dazu benützt würde, die gemeinsame Vision einer anderen, gerechteren, menschenwürdigeren Zukunft zu entwickeln…

Das käufliche Paradies

Wie neue Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) zeigen, haben auch im vergangenen Jahr mehrere Personen von einem Schlupfloch im Ausländergesetz Gebrauch gemacht und sich einen der begehrten B-Ausweise gekauft. Insgesamt 44 Personen – unter anderem 12 aus China, 5 aus Saudi-Arabien und 3 aus Russland – haben 2018 von einem Schweizer Kanton wegen «wichtiger öffentlicher Interessen» eine Aufenthaltsbewilligung erhalten… Seit 2014 gelten laut SEM auch «erhebliche fiskalische Interessen» als «wichtiges öffentliches Interesse». Sprich: Reiche Ausländer, die einem Kanton ein verlockendes Steuerversprechen unterbreiten, können allein wegen ihrer Finanzkraft auf eine Schweizer Aufenthaltsbewilligung hoffen… Möglich ist der Kauf einer Schweizer Aufenthaltsbewilligung seit 2008. Seither haben insgesamt 622 Personen wegen «wichtiger öffentlicher Interessen» einen B-Ausweis erhalten… Von Vermittlungsagenturen wird die Schweiz noch immer als Topniederlassungsziel für finanzkräftige Auswanderungswillige vermarktet. Die Firma «Elma Global», die sich auf die Vermittlung von Zweitpässen und Aufenthaltsbewilligungen spezialisiert hat, preist das Land in den höchsten Tönen an und verlangt für die Aushandlung eines Pauschalsteuerdeals – die Voraussetzung für ein sogenanntes «goldenes Visum» für die Schweiz – mit dem gewünschten Wohnkanton 50’000 Franken… Laut dem Schweizer Onlinemagazin «Citizenship by Investment» bieten mehr als die Hälfte aller Länder weltweit ähnliche Aufenthaltsbewilligungsdeals für reiche Ausländer an. Laut Schätzungen haben diese Länder dank den «goldenen Visa» allein 2018 rund 80 Milliarden an zusätzlichen Steuern und Investitionen eingenommen. Besonders dick im Geschäft sind laut der Nichtregierungsorganisation Transparency International Litauen, Spanien und Portugal, die 2018 mehr als 10’000 entsprechende Aufenthaltsbewilligungen ausgestellt haben… In Zypern und Malta können sich reiche Ausländer nicht nur Aufenthaltsbewilligungen, sondern gar ganz offiziell die Staatsbürgerschaft kaufen. Dieses Geschäftsmodell scheint zu florieren. Auch der EU-Anwärter Montenegro verkauft seinen Pass seit Oktober 2018 ganz offiziell an gut betuchte Möchtegerneuropäer.

(Tagblatt, 7. Januar 2019)

Was ist «legal», was ist «illegal»? Die kapitalistische Welt stellt alles auf den Kopf. Wer reich ist – auf was für verschlungenen Wegen dieser Reichtum auch «erworben» wurde -, dem stehen alle Türen offen zu Orten, wo noch mehr Reichtum angehäuft wurde und sich der vorhandene Reichtum noch weiter vermehren lässt. Wer dagegen arm ist – auf was für verschlungenen Wegen diese Armut auch verursacht wurde -, dem bleiben, obwohl gerade er es am dringendsten nötig hätte, diese Türen verschlossen. Was für eine verkehrte – kapitalistische – Welt. Werden zukünftige Generationen dies noch glauben können?

Kellner und Kellnerin vom Aussterben bedroht?

Ein Roboter, der die Gäste bedient – das gibt es jetzt in einer neuen Bar in Prag. Laut Marcel Soural, dem Gründer von «Cyberdog», wie die Bar heisst, wird es in Zukunft extrem teuer sein, wenn man in einem Restaurant von einer Person bedient werden möchte… Dem Roboter gibt man seine Bestellung über eine App auf dem Handy auf. Das Besondere an seinem Roboter, so Soural, seien seine Geschwindigkeit, seine Präzision sowie kleine Tanzeinlagen…

(Sonntagsblick, 6. Januar 2019)

Die Fortsetzung kann man sich gut vorstellen. Im «Cyerdog» werden, da die Personalkosten wegfallen, Gerichte und Getränke weit günstiger sein als in anderen Restaurants und Bars. Und weil die Menschen immer dorthin gehen, wo es am billigsten ist, werden die anderen Bars und Restaurants, wenn sie überleben wollen, gezwungen sein, ihren Service ebenfalls auf Roboter umzustellen. Menschliche Kellner und Kellnerinnen gibt es dann nur noch für die Reichen und Reichsten. Doch auch diese werden vermutlich mit der Zeit aussterben und damit wird eines Tages – allein durch kapitalistisches Konkurrenzdenken und Gewinnstreben – eine ganze Kultur untergegangen sein, die Kultur der fachkundigen Bedienung für jeden einzelnen Gast des Restaurants, die Kultur freundlichen Lächelns, die Kultur menschlicher Begegnungen, die Kultur von Schalk und Humor, die der einzelne Kellner, die einzelne Kellnerin beim Bedienen aufblitzen liess…

Was haben sechsspurige Autobahnen mit dem Kapitalismus zu tun?

Der Bundesrat strebt einen Grossausbau der Schweizer Autobahnen an. Von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt, hat er im Herbst eine neue «Langfristperspektive Nationalstrassen» skizziert, die auf eine markante Verbreiterung der Strassenkapazität abzielt. So sollen die Autobahnen «innerhalb und zwischen» den grossstädtischen Gebieten «konsequent auf mindestens zweimal drei Spuren» ausgebaut werden. In letzter Konsequenz heisst dies, dass die Autofahrer in Zukunft von Genf bis Basel oder St. Gallen durchgehend auf sechs Spuren unterwegs sein werden… Auf Zuspruch stösst das neue Zukunftsbild bei der Wirtschaft und bei bürgerlichen Verkehrspolitikern. So etwa sagt SVP-Nationalrat Ueli Giezendanner, mittlerweile seien Strasse und Schiene permanent überlastet. Da aber weitaus mehr Personen auf der Strasse unterwegs seien, müsse man unbedingt auch auf der Autobahn mehr Platz schaffen…

(NZZ am Sonntag, 6. Januar 2019)

Was haben sechsspurige Autobahnen mit dem Kapitalismus zu tun? Das ist einfach zu erklären. Das kapitalistische Wirtschaftssystem trägt immerwährendes, endloses Wachstum als Zweck in sich. Das zeigt sich an allen Ecken und Enden: Wo schon viel Geld ist, wächst das Geld umso schneller. Wo sich schon viele neue Einfamilienhäuser ins Grüne hinausfressen, fressen sich immer noch zusätzliche weiter ins Grüne hinaus. Wo schon viele Bürohochhäuser in den Zentren der Städte dicht an dicht beieinander stehen, werden noch zusätzliche, noch höhere, in die immer seltener werdenden Lücken hineingezwängt. Wo schon viele Menschen täglich Dutzende von Kilometern zwischen Wohn- und Arbeitsort hin- und herpendeln, nehmen dennoch die Zahl und die Länge der Pendlerströme täglich weiter zu. Und so ist es auch mit den Strassen: Wo früher zweispurige Strassen Dörfer und Städte miteinander verbanden, sind es heute immer mehr vierspurige Autobahnen, und bald nun schon sollen es sechsspurige Autobahnen sein. Wachsender Landverschleiss. Wachsender Energieverbrauch. Wachsende Umweltverschmutzung. Wachsendes Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt. Wachsender «Dichtestress». Interessabt ist, dass ausgerechnet ein Politiker der SVP, welche die Ursache von «Dichtestress» sonst immer bei der Zuwanderung ausländischer Menschen sieht, den Wachstumswahn bei den Strassen nicht bloss nicht in Frage stellt, sondern sogar ausdrücklich begrüsst. Ungeachtet dessen, dass mehr und breitere Strassen mehr und schnelleren Verkehr und damit mehr und schnellere Autos zur Folge haben, die sich dann ja nicht bloss auf den Autobahnen bewegen, sondern schliesslich auch Dörfer und Städte immer mehr verstopfen. Wenn es Herrn Giezendanner und seiner SVP wirklich um die Bekämpfung von «Dichtestress» ginge, dann müssten sie nicht gegen die Zuwanderung durch Ausländerinnen und Ausländer ankämpfen, sondern gegen die ungehinderte Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems an allen seinen Fronten.

Google hortet 22,5 Milliarden Franken auf den Bahamas

Der US-amerikanische Google-Konzern hat 2017 knapp 22,5 Milliarden Franken durch legale Steuerschlupflöcher aus Europa herausgeschleust. Der Mutterkonzern Alphabet transferierte diese Summe über die Niederlande auf die Bermudas. Auf den Bermudas fällt keine Einkommenssteuer an. Der Geldtransfer ist legal. Er erfolgt über eine Struktur, die unter Experten als «Double Irish, Dutch Sandwich» bekannt ist. Eine niederländische Google-Tochter transferiert dabei fast alle ihre Einnahmen auf die Google Ireland Holding, die auf den Bermudas ihren Steuersitz hat, allerdings als Unternehmen in Irland registriert ist. Die Einnahmen stammen vorwiegend aus Lizenzgebühren eines irischen Ablegers, über den der Grossteil der Umsätze des US-Geschäfts läuft.

(Tages-Anzeiger, 5. Januar 2019)

Während man hierzulande Sozialhilfebezügern mit Detektiven und Videokameras nachjagt, um herauszufinden, ob sie allenfalls den Staat um ein paar tausend Franken «betrügen», verschiebt Google ganz «legal» 22,5 Milliarden Franken auf die steuerfreien Bermudas. Wie heisst es so schön: Die Grossen lässt man laufen, die Kleinen hängt man. Das von Google der Öffentlichkeit entzogene und gehortete Geld ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie die Reichen und Besitzenden immer reicher und die Armen und Besitzlosen immer ärmer werden in diesem System, das man Kapitalismus nennt und das nichts anderes ist als ein riesiges, allumfassendes, legalisiertes Verbrechen, ein riesiger, allumfassender, legalisierter Diebstahl. Ja, der Kapitalismus hat nicht Fehler, er ist der Fehler.