Archiv des Autors: Peter Sutter

Skirennen: Die Absurdität des Konkurrenzprinzips

Jetzt sind sie da, die fetten Wochen für die Skirennfahrer. Adelboden, Wengen, Kitzbühel: Millionen Zuschauer an den Bildschirmen und den Strecken, Spektakel, Geldregen. Die Sieger im Berner Oberland kassieren 45’000 Franken, die Abfahrts- und Slalomsieger in Kitzbühel 85’000 Franken. Fürstliches Entgelt für zwei Minuten im Scheinwerferlicht. Nur: Für den Grossteil der Athleten ist diese Welt weit weg. Dort geht es nicht darum, möglichst viel zu verdienen, sondern schlicht darum, irgendwie durchzukommen. Wer an diesem Wochenende in Adelboden oder kommende Woche in Wengen Zehnter wird, tritt die Heimreise mit 1800 Franken an, für den Dreissigsten gibt’s noch 500 Franken. Richtig prekär kann es bei einer Verletzung werden, dann geht es nicht selten um Existenzielles.

(Tages-Anzeifer, 12. Januar 2019)

Der Skirennsport als extremes Beispiel des kapitalistischen Konkurrenzprinzips. Damit der Schnellste zum Sieger wird, braucht es alle anderen, die ein bisschen langsamer sind. Der Sieger verdankt somit sozusagen seinen Sieg den Verlierern. Mit anderen Worten: Alle, die am Rennen teilnehmen, ermöglichen erst den Wettlauf um den Sieg. Gerechterweise müssten am Ende alle, die am Rennen teilgenommen haben, ein gleich hohes Preisgeld bekommen. Haben sie doch alle ihren Teil zum spektakulären Ereignis beigetragen; das Rennen hätte nicht stattfinden können, wenn nur ein Einziger mitgemacht hätte. In der Realität aber bezahlen die Verlierer mit ihrer Niederlage für den Sieg der Gewinner. Wie in der Schule, wo die besten Note nur deshalb so gut ist, weil alle anderen schlechter sind. Oder wie in der Wirtschaft, wo die Firma, die den höchsten Gewinn erzielt, nur deshalb so erfolgreich ist, weil alle anderen weniger erfolgreich sind.

Im Kapitalismus gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit

«Gesundheit ist der grösste Reichtum», heisst es. Doch auch dieser ist wohl eher den Vermögenden vergönnt als den Armen: In der Schweiz etwa sterben Frauen und Männer in Wohngegenden mit niedrigem sozioökonomischem Status zweieinhalb beziehungsweise viereinhalb Jahre früher als ihre Landsleute in wohlhabenden Quartieren. In den USA leben Männer aus der untersten sozialen Schicht im Durchschnitt sogar 15 Jahre weniger lang als Männer mit dem grössten Einkommen. In Grossbritannien haben Beamte mit dem niedrigsten Dienstgrad ein zweimal so hohes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall als ihre Vorgesetzten mit höchster Besoldungsstufe.

(NZZ, 11. Januar 2019)

Im Kapitalismus gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit. Wer hart arbeitet und wenig verdient, wird zusätzlich noch damit bestraft, dass er eine schlechtere Gesundheit hat, weniger gesellschaftliches Ansehen geniesst, von zahlreichen Freizeitangeboten ausgeschlossen bleibt, sich mit einer kleineren, weniger komfortablen Wohnung zufrieden geben muss, sich keine teuren Kleider, Schuhe, Autos und Ferienreisen leisten kann und erst noch weniger lange lebt. Während sich jene, die oft eine angenehmere und vielseitigere Arbeit haben und dennoch damit mehr Geld verdienen, sich alles Mögliche leisten können, eine bessere Gesundheit haben und erst noch länger leben. Wer behauptet, der Kapitalismus habe viel Wohlstand gebracht, müsste ehrlicherweise eingestehen, dass der Kapitalismus vor allem auch viel soziale Ungerechtigkeit gebracht hat, indem dieser vielgelobte «Wohlstand» höchst ungerecht verteilt ist.

Ein Karussell, das sich immer schneller dreht

Von 2004 bis 2015 stieg im Schweizer Amateur- und Juniorenfussball die Zahl von Verletzungen, die ärztlich behandelt werden mussten, um 20 bis 37 Prozent. Die Zahl der Fouls mit Verletzungsfolge hat seit 2008 um 25 Prozent zugenommen. Von den rund 80’000 Verletzten jährlich auf Schweizer Fussballplätzen gehen rund 45’000 zum Arzt und lassen sich dort für 190 Millionen Franken behandeln… Fussball sei schneller geworden und man gehe mehr an die Grenzen, bestätigt Suva-Kampagnenleiter Samuel Huber.

(Tages-Anzeiger, 11. Januar 2019)

20 bis 37 Prozent mehr Verletzungen im Schweizer Amateur- und Juniorenfussball innerhalb von zehn Jahren. Immer mehr gestresste Kinder und Jugendliche in den Schulen. Immer mehr Fälle von Burnout in der Arbeitswelt. Ob es da einen Zusammenhang gibt? Es scheint, dass wir uns auf einem Karussell befinden, das sich immer schneller dreht. Entweder hält man das Tempo mit – oder man fliegt hinaus. Dieses Karussell, das ist das kapitalistische Konkurrenzprinzip: Renne schneller als die anderen, arbeite effizienter als die anderen, sei härter als die anderen, kaufe mehr Dinge als die anderen, sei schöner als die anderen, sei reicher als die anderen. Wie lange geht es wohl noch, bis die Zahl der Opfer so gross sein wird, dass das Ganze zusammenbricht?

Mehr Sicherheit durch Künstliche Intelligenz?

Ein Koordinierter Plan für künstliche Intelligenz der Europäischen Union sieht vor, Algorithmen verstärkt in den Bereichen «Migration und Infrastrukturüberwachung» einzusetzen. So steht es im Anhang der Mitteilung der EU-Kommission, die der Generalsekretär kurz vor Weihnachten an den Rat gerichtet hat. KI-basiertes maschinelles Lernen soll demnach vor allem in den Bereichen Geoinformation und Erdbeobachtung genutzt werden. Die EU betreibt das Programm Copernicus, das aus zunächst sechs optischen und radarbasierten Satelliten besteht. Die aus dem All generierten Bilder und Geodaten werden für Umwelt- und Sicherheitsbelange genutzt. Als wichtigster Abnehmer im Sicherheitsbereich gilt Frontex, die über Copernicus Satellitendaten für ihr Grenzüberwachungssystem Eurosur anfordert. Auch die Überwachung des «Grenzvorbereichs» erledigt die EU-Grenzagentur unter anderem mit Satellitendaten. Eurosur ist laut Frontex jetzt schon in der Lage, mithilfe von Algorithmen verdächtige von unverdächtigen Schiffen zu unterscheiden. Als weitere Anwendungsgebiete von KI zur «Politikumsetzung und -Überwachung» nennt die Kommission Klimawandel, Umweltschutz, Landwirtschaft, Stadtentwicklung und Cybersicherheit. Auch im Katastrophenschutz soll KI zur «faktengestützten politischen Entscheidungsfindung» eingesetzt werden. Als erster Schritt werden laufende Investitionen im Rahmenprogramm für Forschung und Innovation «Horizont 2020» auf jährlich 1,5 Mrd. EUR aufgestockt. Die Mitgliedstaaten und «der Privatsektor» sind aufgefordert, in einer öffentlich-privaten Partnerschaft «ähnliche Anstrengungen zu unternehmen». Für die nächsten zwei Jahre soll auf diese Weise ein Investitionsvolumen von über 20 Mrd. EUR zusammenkommen. Damit sollen beispielsweise «Satellitentechnik», aber auch 5G-Mobilfunknetze, Glasfasernetze und «Cloudsysteme der nächsten Generation» ausgebaut werden.

(www.heise.de)

Mehr Sicherheit durch mehr Technik? Ist das nicht alles reine Symptombekämpfung? Weder die Migration noch den Klimawandel werden wir mit mehr Künstlicher Intelligenz in den Griff bekommen. Gefragt ist einzig und allein eine neue Weltordnung, ein neues Wirtschaftssystem, das nicht mehr auf blindem Wachstum und Ausbeutung beruht, sondern auf sozialer Gerechtigkeit und Frieden. Dann können wir uns die 20 Milliarden Euro mit gutem Gewissen sparen…

 

 

 

Drohende Klassenjustiz

Die Gebühren für Gerichtsverhandlungen, so Rechtsprofessor Martin Pestalozzi, seien nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für Verbände so hoch, dass sie deren Existenz bedrohen. Ein Beispiel: Ein Dübendorfer wehrte sich vor dem Zürcher Baurekursgericht gegen den Gestaltungsplan für einen Innovationspark, und musste, nachdem er den Prozess verloren hatte, 50’000 Franken Gerichtsgebühren bezahlen. Solche horrenden Kosten widersprechen aber dem Willen des Gesetzgebers. So etwa heisst es in der Zürcher Kantonsverfassung, dass Gerichtsverfahren «wohlfeil» zu sein haben, also sehr günstig. Der emeritierte Rechtsprofessor kritisiert denn auch die hohen Gebühren: «Die Gerichtskosten führen zu einer Klassenjustiz.» Normalverdiener könnten sich das Prozessieren zunehmend nicht mehr leisten.

(Tages-Anzeiger, 10. Januar 2019)

Wer immer noch glaubte, wir lebten in einer demokratischen Gesellschaft gleichberechtigter Bürger und Bürgerinnen, müsste sich spätestens jetzt eines Besseren belehren lassen. Kosten für Gerichtsverfahren sind nur eines von unzähligen Beispielen für eine Klassengesellschaft, in der «oben» und «unten» je länger je mehr auseinanderdriften. Dass sich hier eine Praxis etabliert hat, die ganz klar die Verfassung verletzt, scheint achselzuckend hingenommen zu werden. Was aber ist eine Demokratie wert, für welche die Verfassung als Grundlage aller Gesetze und Bürgerrechte nicht ohne Wenn und Aber zu gelten hat? Und weshalb spricht man in diesem Zusammenhang nur von «Normalverdienern», die sich das Prozessieren nicht mehr leisten könnten? Sind die Schlechtverdienenden schon so wenig wert, dass man sie nicht einmal mehr erwähnt?

Die kapitalistische Klassengesellschaft treibt immer wildere Blüten…

Fünfstern-Entzugskliniken boomen in der Schweiz. Die Angebote unterscheiden sich vor allem im Preis. Auf einem ähnlichen Preisniveau wie die Clinique des Alpes in Montreux, wo eine Woche 40’000 Franken kostet, bewegen sich die beiden ebenfalls in der Romandie gelegenen Kliniken Bon Port und La Metairie. Teurer sind die drei Etablissements, die sich in und um Zürich befinden. Dort kostet die Woche von 80’000 Franken an aufwärts, etwa in der Kusnacht Practice. Dafür gibt es private Unterkunft in einer Villa, Essen von einem «Gault Millau»-Koch, eine Haushälterin, einen Butler und einen Chauffeur.

(Tages-Anzeiger, 10. Januar 2019)

Und das im gleichen Land, wo Zehntausende ihre Krankenkassenprämien kaum mehr zu bezahlen vermögen, eine längst fällige Zahnoperation finanziell einfach nicht drin liegt und zahllose Menschen im Niedriglohnbereich besonders harten, stressigen und krankmachenden Tätigkeiten ausgeliefert sind. Die kapitalistische Klassengesellschaft treibt immer wildere Blüten…

Kahlschlag im Detailhandel

Im Schweizer Detailhandel gingen zwischen 1992 und 2018 fast 53’000 Stellen verloren. Die beiden Hauptgründe sind das Einkaufen im Ausland und das Online-Shopping. Jährlich geben Schweizerinnen und Schweizer beim Einkaufen im Ausland schätzungsweise rund 8 Milliarden Franken aus. Beim Online-Shopping stiegen die Umsätze von 1,4 Milliarden Franken im Jahr 2005 auf 8,6 Milliarden Franken im Jahr 2017.

(10vor10, SRF1, 8. Januar 2019)

Wer die Veränderungen in der Arbeitswelt kritisiert, der wird meist belehrt, dass, erstens, der technologische Fortschritt unaufhaltsam sei, dass, zweitens, der Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Anbietern zu tieferen Preisen führe und daher im Interesse der Konsumenten und Konsumentinnen liege und dass, drittens, verloren gegangene Arbeitsplätze an anderen Orten wieder neu entstehen würden. Betrachten wir das am Beispiel des Detailhandels. Zum ersten Argument: Technologischer «Fortschritt» ist nicht gottgegeben. Und er ist auch nicht per se gut. Es steht nirgendwo geschrieben, dass das Internet-Shopping mit allen seinen verheerenden Auswirkungen unausweichlich sei. Es sind ganz konkrete Menschen, die das erfunden, in die Tat umgesetzt, weiterbetrieben und immer weiter ausgebaut haben. Sie hätten es auch sein lassen können. Die Büchse der Pandora kann man, wenn nichts Gutes dabei herauskommt, auch wieder schliessen. Was technisch möglich ist, muss nicht automatisch auch umgesetzt werden – stets sollte das Wohlergehen von Mensch und Natur an oberster Stelle stehen. Zum zweiten Argument: Tiefe Preise bedeuten nichts anderes als tiefe Löhne für das Verkaufspersonal und für die Produzenten. Zudem erhöhen sie den Spardruck, der auf dem einzelnen Betrieb lastet, worunter wiederum vor allem das Verkaufspersonal leidet, indem die Löhne stagnieren oder gar sinken und «überflüssige» Angestellte entlassen werden, wodurch Arbeitsdruck, Stress und körperliche Belastung für das verbleibende Personal zunehmen. Zum dritten Argument: Tatsächlich entstehen an anderen Orten neue Arbeitsplätze. Aber welches ist die Qualität dieser Arbeitsplätze? Ich erinnere mich an den Sportartikelverkäufer, der mir Turnschuhe verkaufte und mir dabei bis ins letzte Detail die Unterschiede zwischen den verschiedenen Marken erklären konnte. Ich erinnere mich an die Buchhändlerin, die mir meine Vorlieben von den Augen abzulesen schien, mir eine durch und durch passende Auswahl an Büchern präsentierte und den Inhalt jedes einzelnen kurz beschrieb. Ich erinnere mich an den Verkäufer im Elektrofachgeschäft, der mir mehrere TV-Geräte zeigte und dabei die technischen Daten bis ins Kleinste aufzeigen konnte. Und dann stelle ich mir vor, dass dieser Sportartikelverkäufer, diese Buchhändlerin und dieser Elektrofachverkäufer in fünf oder zehn Jahren irgendwo in einer Verpackungszentrale eine Onlineshops arbeiten werden, ohne menschliches Gegenüber, ohne irgendeinen Bezug zum Inhalt der herumgeschobenen und aufeinandergestapelten Pakete, gejagt von einem Geschwindigkeitsmesser, der rot aufleuchtet und ein grelles Signal von sich gibt, wenn zu wenig schnell gearbeitet wird.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht bloss anonyme Mächte sind, die unser Leben, unsere Art des Konsumierens und unsere Arbeitswelt bestimmen. Ebenso dazu gehört der kapitalistisch gesteuerte Mensch, der das Spiel mitspielt und stets jenen Produkten und Dienstleistungen hinterherrennt, die am billigsten sind. Niemand zwingt ihn dazu. Ebenso gut könnte er dort einkaufen, wo die freundlichsten Verkäufer und Verkäuferinnen am Werk sind und faire Preise eine gerechte Entlöhnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen gewährleisten. Tragen wir nicht auch so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung? Vielleicht ist ja mein Nachbar in einem Lebensmittelgeschäft tätig. Eine gute Freundin arbeitet vielleicht in einem Modegeschäft, eine andere in einer Geschenkboutique. Und mein Sohn möchte vielleicht später einmal in einem Fahrradgeschäft arbeiten. Können wir es verantworten, stets nur dem Bequemsten, Schnellsten und Billigsten nachzurennen und damit in letzter Konsequenz einen ganzen Berufszweig – voller wunderbarer Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten – zu zerstören?

Ordnungsfimmel auf Netflix: Selber denken verboten

Pünktlich zum Jahresstart veröffentlichte Netflix «Tidying Up with Marie Kondo». Nun räumen alle User und Userinnen wie wild auf. Auch auf Twitter häufen sich entsprechende Posts (mit den jeweils sauber aufgeräumten Zimmern im Hintergrund: «Ich, nachdem ich eine Episode von ‹Tidying Up with Marie Kondo› geschaut habe.» –  «Wenn man auf Netflix eine Folge von ‹Tidying Up with Marie Kondo› gesehen hat, fängt man an, alles wegzuschmeissen.» – «Inspiriert von Netflix und ‹Tidying Up with Marie Kondo› habe ich heute bereits zwei Kleidersäcke zum Spenden parat gemacht. Und es werden sicher noch mehr.» – «Ich habe heute zwei Episoden von Marie Kondos ‹Tidying Up› geschaut. Danach habe ich angefangen, die Vorratskammer, sechs Küchenschubladen, unser Büro sowie unsere drei Schränke auszumisten. Jeder Mensch in unserem Haus ist darüber informiert worden, dass er meinen Zorn auf sich ziehen wird, wenn er es wagt, ein Chaos zu machen.» – «Ich bin nun ein anderer Mann. Ich habe mit dem Aufräumen angefangen, nachdem ich zwei Episoden gesehen habe. Vor dieser Ordnung wurde meine Kleidung in Körben aufbewahrt.» –
«Ich, nachdem ich auf Netflix eine Episode von ‹Tidying Up› gesehen habe.» – «So, ich habe nun alle meine Klamotten gefaltet und nach Farbe sortiert (nach Marie Kondos Anweisung), um Freude zu verbreiten.»

(www.20minuten.ch)

Ob das Aufräumen bei Netflix, der sich weltweit ausgebreitete Schmollmund auf Instagram-Bildern oder die Chips, die man sich in der Küche holt, sobald am Fernsehen die entsprechende Werbung läuft: das ist der kapitalistische Mensch, der auf Knopfdruck das tut, was ihm medial aufgetragen wird. Und so kann das System weiterfunktionieren: Mit immer mehr Verführungsmitteln und immer mehr verführbaren Menschen. Selber denken verboten…

Nur noch 5 Franken pro Tag

Die Studie des Büros Bass «Berechnung und Beurteilung des Grundbedarfs in den Skos-Richtlinien» zeigt erstmals auf, welche Auswirkungen weitere Kürzungen in der Sozialhilfe hätten, so wie sie gegenwärtig in verschiedenen Kantonen diskutiert werden. Demnach reiche bereits der aktuell geltende Grundbedarf nur knapp aus, um eine menschenwürdige Existenz zu sichern. Der Grundbedarf in der Sozialhilfe liegt mit 986 Franken pro Person und Monat schon heute deutlich tiefer als der Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen. Dort ist er mit 1607 Franken rund 60 Prozent höher als in der Sozialhilfe. Der Vergleich mit anderen Minimalbudgets zeigt gemäss der Studie auch, dass beispielsweise bei den Verkehrsausgaben der in der Skos-Pauschale vorgesehene Betrag deutlich zu tief angesetzt ist. Problematisch könnten sich zudem die nicht über das Sozialhilfebudget gedeckten Kosten auswirken. Es handelt sich dabei etwa um Schuldentilgung, Steuern, zu bezahlende Alimente, Militärpflichtersatz, Prämien für nicht per sofort kündbare Versicherungen oder zu hohe Mieten. Ein Teil der Ausgaben, den Sozialhilfebezüger aus dem Grundbedarf finanzieren müssen, hat den Charakter von Fixkosten wie beispielsweise Ausgaben für den Haushaltstrom und Gebühren. Dies bedeute, dass Einsparungen als Folge der Kürzungen nur im Bereich des täglichen Bedarfs möglich seien, stellt die Studie fest. Bei einer Kürzung des heutigen Grundbedarfs um acht Prozent stünden in einer vierköpfigen Familie pro Tag und Person noch sieben Franken für Lebensmittel und Genussmittel zur Verfügung, bei einer Kürzung um 30 Prozent sogar nur noch fünf Franken. «Davon kann man sich nicht mehr ausreichend und gesund ernähren», wird Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos, in einer Mitteilung zitiert. Skos-Co-Präsidentin Therese Frösch ergänzt: «Unter den Kürzungen leiden insbesondere auch die mitbetroffenen Kinder. Sie machen 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden aus.» Eine Reduktion des Grundbedarfs sei ohne Beeinträchtigung der Gesundheit sowie ohne Defizite bei der Integration in die Gesellschaft nicht möglich, schreibt die Skos… Derzeit laufen in einigen Kantonen Bestrebungen, die heute schweizweit weitgehend harmonisierten Ansätze für den Grundbedarf in der Sozialhilfe zu senken. Konkret will beispielsweise der Kanton Bern gemäss einer vom Parlament verabschiedeten Gesetzesrevision den Grundbedarf um acht bis 30 Prozent kürzen. Eine Volksabstimmung mit Volksvorschlag wird voraussichtlich im kommenden Mai stattfinden. Im Kanton Aargau hat das Parlament zwei Postulate angenommen, die eine 30-prozentige Kürzung beziehungsweise eine Koppelung der Sozialhilfe an AHV-Beiträge und Steuern vorsehen. Und im Kanton Basel-Landschaft hat das Parlament eine Motion angenommen, die eine 30-prozentige Kürzung der Sozialhilfe vorsieht.

(NZZ, 8. Januar 2019)

 

In was für einem Land leben wir eigentlich? Da plant der Bundesrat sechsspurige Autobahnen von Genf über Zürich bis St. Gallen, da bezahlen Gutbetuchte für ein Zimmer im Luxushotel Tausende von Franken pro Nacht, da wächst die Zahl der Millionäre beinahe täglich, da nimmt die Zahl der Flugreisen in ferne Feriendestinationen von Jahr zu Jahr zu. Und da wundert man sich, wenn nach all dem Übermass an Vergeudung den Ärmsten im Lande gerade mal fünf Franken pro Person und Tag fürs Essen übrigbleibt. Haben wir nicht bald Zustände wie in Frankreich zu Ende des 18. Jahrhunderts? Weshalb ist es damals zu einer Revolution gekommen und heute hierzulande nicht? Wie viel soziale Ungerechtigkeit kann eine Gesellschaft aushalten, bis sie zusammenbricht?

Das Netz als Schlachtfeld

«Das Netz ist zum Schlachtfeld geworden», schreibt Bernhard Pörksen zum jüngsten Hackerskandal in Deutschland, bei dem in immensem Umfang private Daten von Politikern und Prominenten geklaut um im Netz veröffentlicht wurden. Und die Historikerin Ute Frevert meint: «In den sozialen Netzwerken macht sich ein Vernichtungswille breit.» Was früher am Pranger stattgefunden habe, so Frevert, spiele sich heute in den sozialen Netzwerken ab.

(NZZ, 8. Januar 2018)

Was hat dies alles mit dem Kapitalismus zu tun? Sehr viel. Wir alle wachsen schon als kleine Kinder in eine Welt hinein, die von Konkurrenzkampf und Wettbewerb geprägt ist und in der es nicht so sehr darum geht, sich um andere zu kümmern, sondern vielmehr, der Klügste, Schönste, Beste, Schnellste, Reichste und Erfolgreichste zu sein. Einen ganz wesentlichen Beitrag zu dieser Erziehung zum Individualismus und Egoismus leistet die Schule, wo man auf Schritt und Tritt mit anderen verglichen wird und sich immer wieder als Gewinner oder Verlierer erfährt. Dann die Jugend im Facebook oder auf Instagram, wo es ebenfalls Mode geworden ist, möglichst viel Anerkennung zu bekommen und gleichzeitig andere fertigzumachen. Und so ist es alles andere als verwunderlich, wenn auch die Erwachsenen dieses Spiel mitmachen und das, was man ironischerweise immer noch als «soziale» Medien bezeichnet, zu einem Schlachtfeld persönlicher Beleidigungen und Herabwürdigungen werden lässt. Dies umso mehr, als sich Täter und Opfer nicht mehr gegenseitig in die Augen blicken müssen, sondern sich alles in der Anonymität der eigenen Privatsphäre abspielt. Keine Frage: In einer Gesellschaft, die auf gegenseitiger Solidarität aufgebaut ist, wäre so etwas nicht möglich. Und nichts wünschte man sich sehnlicher, als dass das «Netz», statt um sich gegenseitig fertigzumachen, dazu benützt würde, die gemeinsame Vision einer anderen, gerechteren, menschenwürdigeren Zukunft zu entwickeln…