Archiv des Autors: Peter Sutter

Drohende Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Menschen

Wie viele Bergregionen weltweit kämpft auch China mit den steigenden Temperaturen und dem dadurch verursachten Abschmelzen der Gletscher in den Hochgebieten des Landes. Das schreitet nun aber sehr viel schneller voran als bisher befürchtet, wie Satellitenbilder zeigen, welche die Umweltorganisation Greenpeace veröffentlicht hat. Zwei von drei Gletschern könnten in den kommenden Jahrzehnten verschwinden. In keiner Region der Welt wären die Folgen des Klimawandels so drastisch – 1,8 Milliarden Menschen in Asien sind vom Wasser aus dem Hochgebirge abhängig, für die Bewässerung der Felder, zur Gewinnung von Trinkwasser und für die Industrie.

(Tages-Anzeiger, 21. Januar 2019)

Das zeigt, wie wichtig der internationale Klimastreik von Schülerinnen und Schülern ist. Es zeigt aber auch vor allem, dass eine Abwendung dieser vielleicht grössten Katastrophe, mit der die Menschheit jemals konfrontiert war, nicht möglich ist ohne Systemwandel – weg vom Kapitalismus hin zu einer von Grund auf neuen Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Wachstum und Profitgier basiert, sondern auf den Lebensbedürfnissen der heutigen und zukünftiger Generationen.

So dass niemand auf die Idee kommt, es könnte alles mit allem zusammenhängen…

Die Tränen kullern Lindsey Vonn über die Wangen. Einzig die verspiegelte Sonnenbrille verhindert, dass Millionen Menschen beim TV-Interview in ihre Augen blicken. Die 34-Jährige schüttet im ORF trotzdem ihr Herz aus: «Eigentlich wollte ich nicht aufhören. 
Aber ich kann nicht mehr, die Schmerzen sind zu gross. Ich weiss nicht, was ich noch 
machen soll.» Auf die Frage, ob sie nun 
sofort aufhören würde, sagt Vonn: «Ich denke schon.» Kurze Zeit später gibt sich der US-Star vorsichtiger. «Ich muss es mir genau überlegen. In Ruhe. Es ist keine leichte Entscheidung. Ich brauche einige Tage und werde es euch wissen lassen.» In diesem Moment ist ihr grosses Ziel, den Rekord von Ingemar Stenmark (86 Siege) zu brechen, ganz weit weg. Vonn steht bei 82 Erfolgen.

Nun geht es um Vonns Gesundheit. Und da ist die Ski-
Diva nach ihren unzähligen Verletzungen nicht mehr bereit, alles aufs Spiel zu setzen. «Ich wollte nicht, dass ich mit 50 oder 60 nicht mehr laufen kann», sagt sie schluchzend. Der Hintergrund: Es gilt als sicher, dass Vonn mit Spätfolgen ihrer Karriere rechnen muss. Sie selbst sagte jüngst: «Ich werde Arthritis bekommen. Und Probleme mit meinen 
Gelenken.» Für die Ärzte ist klar: Vonn sollte sofort mit Spitzensport aufhören. Doch sie hat noch Ziele. Auch bei der WM. Da winkt möglicherweise zum 8. Mal Edelmetall. Und: In Lake Louise (Ka), wo zuletzt eine Strecke nach ihr benannt wurde, will sie im kommenden Dezember endgültig «Goodbye» sagen.

(www.blick.ch)

Die Arbeiterin am Fliessband, die in der Nacht vor lauter Rückenschmerzen nicht schlafen kann. Der Bauarbeiter, der zentnerschwere Balken schleppen muss. Die Skirennfahrerin, die so grosse Knieschmerzen hat, dass sie schon fast nicht mehr gehen kann. Sie alle machen sich kaputt im kapitalistischen Hamsterrad, an deren anderem Ende das Geld, viel Geld, nur so sprudelt und in tausend andere Taschen fliesst von Menschen, die dafür keinen Finger krumm machen müssen, stets gut schlafen können und nie Rücken- oder Knieschmerzen haben. Täter und Opfer, fein säuberlich voneinander getrennt, so dass niemand auf die Idee kommt, es könnte alles mit allem zusammenhängen…

Was alle angeht können nur alle lösen

Die Handelskrise zwischen den USA, China und der EU beunruhigt den Bundesrat zunehmend. Im vergangenen Jahr sei es zu einer «Eskalation von Massnahmen und Gegenmassnahmen zwischen den grossen Handelsmächten» gekommen, die «das Risiko einer schweren Handels- und damit Weltwirtschaftskrise bergen.» In dem Konflikt hat die US-Regierung unter Donald Trump vor knapp einem Jahr neue Zölle auf Waschmaschinen und Solarmodule erhoben, wenig später kamen hohe Zölle auf Stahl- und Aluminiumprodukte hinzu. China, die EU und weitere Staaten reagierten mit ähnlichen Massnahmen.

(NZZ am Sonntag, 20. Januar 2019)

Der so genannte «freie Markt» des Kapitalismus ist so etwas wie ein «friedlicher» Kriegszustand: Jedes Land sieht alle anderen Länder als Konkurrenten. Jedes Land will möglichst viel und zu möglichst hohen Preisen verkaufen und möglichst wenig zu möglichst tiefen Preisen einkaufen. Ein radikales Umdenken tut Not: An die Stelle der globalen Konkurrenzwirtschaft, in der jeder den anderen «fertigmachen» will, muss so etwas treten wie ein globaler Tauschhandel, der von gegenseitiger Fairness geprägt ist. Ein Friedenszustand anstelle eines Kriegszustands. Denn, wie schon der bedeutende Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.

Jeder noch so lange Weg beginnt mit einem ersten Schritt

In 16 Schweizer Städten sind am Freitag Tausende Schülerinnen und Schüler auf die Strasse gegangen, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Laut den Organisatoren waren es 22’000 Jugendliche, davon alleine in Lausanne 8’000. Die Klimastreiks sind nicht auf die Schweiz beschränkt. Auch in Deutschland gingen in fünfzig Städten Tausende Schüler auf die Strasse. Weitere Klimastreiks fanden in Australien, Belgien, Österreich und Irland statt.

(Tages-Anzeiger, 19. Januar 2019)

Zuerst war es eine, die schwedische Schülerin Greta Thunberg. Jetzt sind es Zehntausende, die gegen die Blindheit und Profitgier der Erwachsenen auf die Strasse gehen. Wenn es stimmt, dass Kinder und Jugendliche auf wunderbare Weise einen tieferen Einblick in das Geheimnis des Lebens haben als Erwachsene und vom herrschenden Denk- und Machtsystem noch weniger vereinnahmt sind, dann kann man wohl ohne Übertreibung sagen, dass wir in diesen Tagen Historisches erleben. Es ist die erste internationale Protestbewegung gegen das kapitalistische System der Verschwendung, Raffgier und Profitsucht, welche von Kindern und Jugendlichen angeführt wird. Bereits haben zahlreiche Eltern angekündigt, sie würden sich ihren Kindern anschliessen und sich an zukünftigen Klimastreiks beteiligen. Die Welt wird auf den Kopf gestellt…

Information als öffentliches Gut

Für Aufsehen sorgte im vergangenen Frühjahr der Fall der «Denver Post», der führenden Zeitung im US-Gliedstaat Colorado. Vom Eigentümer Alden zu harschen Sparmassnahmen verdonnert, berichten heute 70 Journalisten (2015 waren es noch 165) über die 700’000 Einwohner zählende Stadt Denver. Unbequeme Redaktionsleiter, welche die Sparmassnahmen öffentlich kritisiert hatten, wurden gefeuert. Noch 2012 hatte die «Denver Post» einen Pulitzerpreis für ihre Berichterstattung gewonnen. Mittlerweile sticht die Zeitung eher durch die Profite, die sie ihren Investoren verschafft, aus dem Mainstream in den USA heraus. Alden fährt in Colorado 19 Prozent Gewinn ein. Er presst die «Denver Post» bis aufs Letzte aus und erhöhte gleichzeitig die Abo-Gebühr. Medienleute in den USA sind besorgt, dass Titeln wie «USA Today» bei einer Übernahme ein ähnliches Schicksal droht. Alle treibt die Frage um: Was geschieht mit der werthaltigen Publizistik?

(NZZ, 19. Januar 2019)

Zunächst das «Gesundschrumpfen», dann das Totsparen und am Ende die Vernichtung: Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Zeitungen aus Papier nicht nur in den USA, sondern auch hierzulande nur noch im Museum bestaunt werden können. Ein weiterer Sieg des Kapitalismus. Denn die gute, sorgfältig recherchierte, differenzierte und kritische Zeitung – geschrieben von speziell und aufwendig hierfür ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten – passt nicht in das Weltbild des Kapitalismus, ist ihm ein Dorn im Auge, empfindet er als Bedrohung seiner Alleinmacht. Die kapitalistische Kultur ist die Kultur der Vereinzelung, der Kurzlebigkeit, der emotionsgeladenen Schlagzeilen, der Zerstückelung der Welt in Einzelbilder, Sensationen und Horrorgeschichten, der Verwandlung von Information in eine Ware, die – wie Zahnbürsten, Autos und Sportartikel – mit dem kleinstmöglichen Aufwand den grösstmöglichen Profit erzielen soll.

Doch in einer echten Demokratie müsste Information – wie Wasser, Luft, Nahrung, Wohnen, Bildung und medizinische Grundversorgung – ein öffentliches Gut sein, in dem Profitdenken und Gewinnsucht nichts zu suchen haben. Journalisten und Journalistinnen sollten zu nichts anderem verpflichtet sein als zur Suche nach Wissen, Wahrheit und Aufklärung. Die kritischen, kreativen, quer- und andersdenkenden Schreiberinnen und Schreiber müssten die gefragtesten sein. Ohne Zeitdruck könnten sie individuell recherchieren, ihre eigenständigen Texte verfassen und eine grosse Vielfalt an Ideen und Meinungen in die Öffentlichkeit tragen, statt, wie dies unter dem heutigen Zeitdruck immer häufiger der Fall ist, sich ihre Texte gegenseitig abzuschreiben und einen Einheitsbrei zu produzieren, bei dem sich die Inhalte der Medien immer weniger voneinander unterscheiden.

Zeichen einer neuen Zeit

Trotz der Drohung der Schulbehörden, im Zeugnis der betroffenen Schülerinnen und Schüler eine unentschuldigte Absenz einzutragen, haben sich heute Morgen in Zürich wieder rund 1500 Jugendliche zum Klimastreik versammelt. Sie wollen damit erst aufhören, wenn die Stadt Zürich griffige Massnahmen gegen die Klimaerwärmung beschlossen hat.

(www.20minuten.ch)

Hut ab. Da ist etwas Revolutionäres im Gange. Da lassen sich 1500 Jugendliche nicht mehr kleinkriegen, nicht mehr einschüchtern, nicht mehr disziplinieren. Das könnte der Anfang von etwas ganz Grossem sein: Immer mehr Menschen, auch Erwachsene, würden dem Beispiel der aufmüpfigen Jugendlichen folgen. Es könnte eine weltweite Protestbewegung nie dagewesenen Ausmasses bewirken. Es wäre, weitergedacht und immer in der Annahme, Mut und Beharrlichkeit würden sich nicht unterkriegen lassen, der Anfang eines neuen Zeitalters. Denn irgendwo muss es ja anfangen. Und warum nicht bei einer schwedischen Schülerin, die immer noch ausharrt gegen die Mächtigen ihres Landes und die mittlerweile zur Ikone geworden ist für Abertausende Jugendliche in zahllosen Städten Europas. Man muss, um die Menschheit zu retten, wie Antigone in der klassischen Tragödie gegen ihren Widersacher Kreon das eigene Gewissen über den blinden Gehorsam stellen. Anders geht es nicht.

(Die Drohung mit den unentschuldigten Absenzen läuft auf eine Spaltung der Jugendlichen hinaus. Hier die Braven, Gehorsamen, die sich bald schon mit einem lupenreinen Zeugnis um eine Lehrstelle bewerben werden. Dort die Frechen, Ungehorsamen, die mit ihrem Zeugnis voller unentschuldigter Absenzen Mühe bekunden werden, eine Lehrstelle zu bekommen. Ein gewaltiger Druck, ein immenses Dilemma, geht es doch um die persönliche Zukunft jedes Einzelnen, letztlich um seine Existenz. Die einzige Lösung liegt darin, dass sich alle Jugendlichen an den Streiks beteiligen. Wenn nämlich alle Lehrstellenbewerber unentschuldigte Absenzen in ihren Zeugnissen haben, dann kann dies kein Kriterium mehr dafür sein, ob man eine Lehrstelle bekommt oder nicht.)

Schlafwandelnd in die Katastrophe

Klimawandel, Datenkriminalität, geopolitische Krisen und weltwirtschaftliche Spannungen: Der am Mittwoch in London vorgestellte Risikobericht des Weltwirtschaftsforums (WEF) zeichnet ein verheerendes Bild vom Zustand der Erde. «Globale Risiken nehmen zu, aber der kollektive Wille, sie zu bekämpfen, schwächt sich ab. Stattdessen nimmt die Spaltung zu», heisst es in der Studie. Wie ernst die Lage ist, zeigen die Titel der einzelnen Kapitel: «Out of Control» (Ausser Kontrolle) heisst eines, ein anderes «Fight or Flight» (Kampf oder Flucht). Ein besonders hohes Risiko geht demnach vom Klimawandel aus. Erstmals werden in dem jährlich erscheinenden Bericht Umweltprobleme als die drei drängendsten Herausforderungen genannt. Konkret sind dies Wetterextreme, Versagen beim Klimaschutz und bei der Anpassung an den Klimawandel sowie Naturkatastrophen. «Von allen Risiken ist es bei der Umwelt am offensichtlichsten, dass die Welt in eine Katastrophe schlafwandelt», heisst es in der Studie. Aber auch Datenbetrug und -raub sowie Cyberattacken zählen demnach zu den grössten Bedrohungen. «Es gab nie einen dringenderen Bedarf für einen kollaborativen und gemeinsamen Ansatz für globale Probleme, die alle angehen», sagt WEF-Präsident Børge Brende. Doch das WEF zeigt sich zugleich äusserst skeptisch, dass die Menschheit die Herausforderung annimmt und angeht. In ihrem Bericht warnen die Autoren auch vor den Folgen der aktuellen Handelskonflikte, etwa zwischen den USA und China oder zwischen den USA und der EU. «Wirtschaftspolitik wird heutzutage zunehmend als Mittel des strategischen Wettbewerbs gesehen», heisst es. Dabei betont der Bericht, dass diese Krisen lange nicht vorbei sind. So rechnen 91 Prozent der Befragten mit wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den wichtigsten Staaten, und 85 Prozent erwarten ein erhöhtes Risiko politischer Konfrontation. «In vielen Ländern ist die Polarisierung auf dem Vormarsch. In manchen Fällen fasern die sozialen Verträge aus, die die Gesellschaften zusammenhalten», warnt WEF-Präsident Brende. Hinzu käme, dass die Finanzmärkte unbeständiger geworden seien und weltweit die Schuldenlast stark gestiegen sei: Sie betrage nun 225 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts und damit mehr als vor der jüngsten Finanzkrise. Nicht zuletzt warnt das WEF vor der «menschlichen Seite» globaler Risiken. «Für viele Menschen ist dies eine zunehmend ängstliche, unglückliche und einsame Welt», heisst es in dem Bericht. Schätzungen zufolge würden etwa 700 Millionen Menschen weltweit an psychischen Problemen leiden. «Dies ist ein Zeitalter beispielloser Möglichkeiten und technologischen Fortschritts, aber für zu viele Menschen ist dies auch ein Zeitalter der Unsicherheit», mahnt WEF-Präsident Brende. Auch als Diskussionsanstösse für das Treffen in Davos formulierte das WEF im Risikobericht zehn «Zukunftsschocks» als theoretische Szenarien. Dazu zählen die Autoren unter anderem sogenannte Wetterkriege – also Klimamanipulationen zur Schwächung von Gegnern – und die absichtliche Unterbrechung der Nahrungsversorgung. Weitere Szenarien sind ein Ende der Wasserversorgung in Grossstädten sowie die Verlagerung geopolitischer Konflikte ins Weltall. Es handele sich bei all diesen Szenarien um eine Mahnung, kreativ über Risiken nachzudenken und das Unerwartete zu erwarten.

(www.tagblatt.ch)

 

Was kann man dazu anderes sagen, als dass die Methoden und Rezepte des Kapitalismus nicht ausreichen werden, um die Probleme, die der Kapitalismus in seinem Profit- und Wachstumswahn angerichtet hat, zu lösen. Es braucht buchstäblich eine neue Welt, eine nichtkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die nicht den Interessen des Kapitals dient, sondern den Interessen der Menschen, der Natur und der Zukunft. Anders werden wir den im Bericht des WEF beschriebenen Katastrophen nicht entrinnen können.

 

 

 

Die Krise der europäischen Linken

Die europäische Linke befindet sich in einer existenziellen Krise. Die Verflüssigung des politischen Feldes trifft sie hart, die Wähleranteile sinken dramatisch. Rechtspopulisten sind die Sieger der Stunde, die Linke ringt die Hände und findet doch keine Antworten auf drängende Gegenwartsfragen.

Wie kann eine Linke, der die Arbeiterschaft abhandengekommen ist, zwischen Opposition und Machtbeteiligung, Utopismus und Realpolitik zu alter Form zurückfinden?

(www.nzz.ch)

 

Die Antwort ist einfach. Alle sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Gegenwartsprobleme sind nämlich hausgemacht, das heisst: Sie sind die direkte Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Es gibt keine bessere Antwort auf die «drängenden Zukunftsfragen» als das Postulat der Überwindung des Kapitalismus – damit sind nämlich nicht nur einzelne, sondern gleich sämtliche Probleme aufs Mal gelöst. Die Linke muss nicht «zu alter Form» zurückfinden, sie muss eine neue Form finden, sprich eine radikal antikapitalistische Bewegung werden, und zwar global, denn keines unserer heutigen Probleme lässt sich bloss innerhalb der Grenzen des Nationalstaates lösen. In Deutschland befürwortet gemäss aktuellen Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung eine Überwindung des Kapitalismus – ein Riesenpotenzial für die linken politischen Kräfte. Dass die Schweizer Sozialdemokratie erfolgreicher politisiert als jene der übrigen europäischen Länder, hat vielleicht nicht zuletzt damit zu tun, dass sie in ihrem Parteiprogramm immer noch die Überwindung des Kapitalismus fordert.

Fünf Millionen tote Kinder: Zynischer geht es nicht

«Wenn wir lesen, dass heute noch immer über fünf Millionen Kinder pro Jahr sterben, sind wir erschüttert. Aber wir vergessen, dass 1990 noch mehr als zwölf Millionen Kleinkinder starben. Und dass auch in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts jedes zweite Kind vor seinem fünften Geburtstag starb. Man könnte also mit ebenso gutem Grund feiern, dass es auf der Welt noch nie so viele fünfte Kindergeburtstage gab wie heute.»

(Gottlieb F. Höpli, in: W&O, 16. Januar 2019)

Zynischer geht es nicht mehr. Wir sollen feiern, dass «nur» noch fünf Millionen Kinder pro Jahr sterben? Von was für einer Welt gehen wir eigentlich aus? Können wir uns damit abfinden, dass Millionen von Menschen in unsäglichem Reichtum leben, während eine Milliarde Menschen weltweit immer noch Hunger leiden? Ist nicht jedes Kind, das hungert, friert oder an einer Krankheit stirbt, die in den wohlhabenden Ländern des Nordens und Westens längst heilbar ist, eines zu viel? Müssten wir das Feiern nicht auf den Tag verschieben, an dem kein einziger Mensch mehr hungert und keine einziges Kind unter fünf Jahren mehr stirbt, bloss weil es im «falschen» Land geboren wurde?

Über den Austritt aus dem Kapitalismus abstimmen

Trotz der krachenden Niederlage im Unterhaus will Premierministerin Theresa May neue Möglichkeiten für einen Vertrag mit der EU ausloten. Als Erstes stellt sie heute die Vertrauensfrage, danach geht das Tauziehen um «Deal or No Deal» weiter.

(Tages-Anzeiger, 16. Januar 2019)

Armut, Arbeitslosigkeit, schlechtes Gesundheitswesen, hohe Wohnungsmieten, wirtschaftliche Stagnation, Migration – das waren doch die Themen, die im Juni 2016 dazu führten, dass sich eine Mehrheit der britischen Bevölkerung für einen Austritt aus der Europäischen Union aussprach. Bloss: Wird, wenn dieser Austritt früher oder später doch noch vollzogen wird, tatsächlich alles besser? Besteht nicht die Gefahr, dass auch ohne EU-Mitgliedschaft mehr oder weniger alles beim alten bleibt? Sind die Probleme, welche die britische Bevölkerung plagen, nicht vor allem Probleme des Kapitalismus, und nicht so sehr Probleme der EU? Müsste man, statt über eine EU-Mitgliedschaft, nicht sinnvollerweise über einen «Austritt» aus dem Kapitalismus abstimmen? Und wäre es bloss eine Konsultativabstimmung ohne sofortige Folgen – aber mindestens wüsste man dann, in welche Richtung sich zukunftsweisende politische Diskussionen bewegen müssten. Ist in Deutschland aufgrund aktueller Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung für die Überwindung des Kapitalismus, so wäre dies möglicherweise auch in Grossbritannien und anderen Ländern der Fall. Was offensichtlich heute noch fehlt, ist eine politische Bewegung, die auf eine umfassende Alternative zum Kapitalismus ausgerichtet ist. Gäbe es eine solche, so wäre also zumindest in Deutschland mehrheitsfähig. Und vielleicht auch in Grossbritannien. Und vielleicht auch in der Schweiz…