Archiv des Autors: Peter Sutter

Guanahani, 12. Oktober 1492: Eine neue Welt entsteht, eine andere geht unter

Dies ist das 1. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren publizierten Kapitel des Buches.

Es begann mit einem Wettlauf zwischen Portugal und Spanien. Da der seit Jahrhunderten florierende Handel mit Gewürzen und Seide auf dem Landweg zwischen Ostasien und Europa infolge zunehmender Überfälle durch Räuberbanden und hoher Zölle auf Zwischenstationen immer mehr unter Druck geraten war, musste dringend ein neuer Weg zur Aufrechterhaltung der bisherigen Handelsbeziehungen gefunden werden. Während portugiesische Seefahrer diesen neuen Weg rund um die Südspitze Afrikas suchten, wollte es der genuesische Seefahrer Christoph Kolumbus, der von der Kugelgestalt der Erde überzeugt war, in umgekehrter Richtung versuchen. Der Plan ging auf: Im Auftrag des spanischen Königshauses, ausgestattet mit drei Schiffen, stiess Kolumbus nach einer mehr als zwei Monate währenden Fahrt quer über den Atlantik am 12. Oktober 1492 auf Land. Überzeugt, sich auf einer Insel östlich von Indien zu befinden, war Kolumbus tatsächlich aber auf der heutigen Insel San Salvador gelandet, in der Sprache der Eingeborenen Guanahani, im Archipel der Bahamas. Obwohl man eigentlich die vor schätzungsweise rund 15‘000 Jahren aus Asien nach Amerika eingewanderte Urbevölkerung als die wahren «Entdecker» Amerikas bezeichnen müsste und obwohl der Wikinger Leif Eriksson bereits 500 Jahre vor Kolumbus amerikanisches Festland erreicht hatte, wird bis heute jeweils der zweite Montag im Oktober in den USA als «Columbus Day» gefeiert, als die eigentliche «Entdeckung» Amerikas. Den Namen «Amerika» erhielt der neu «entdeckte» Kontinent indessen vom italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci im Jahre 1507, ein Jahr nach dem Tod von Christoph Kolumbus, dem zeitlebens nicht bewusst gewesen war, einen – aus der Sicht Europas – «neuen» Kontinent gefunden zu haben.

Doch was aus der Sicht Europas und der westlichen Welt bis heute als der Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert wird, war zugleich der Anfang einer Leidensgeschichte voller unvorstellbarer Demütigungen und der fast vollständigen kulturellen Auslöschung jener indigenen Völker, welche während mindestens 15‘000 Jahren – vereinzelt gehen Schätzungen sogar von bis zu 40‘000 Jahren aus – die eigentlichen «Herren» des Kontinents gewesen waren. In immer weiter wachsender Zahl folgten den Entdeckern die Eroberer und die Siedler, vor allem aus England, Frankreich und Spanien, aber auch aus zahlreichen weiteren Ländern Europas, angetrieben von den Verlockungen und der Aussicht auf Reichtum und eine goldene Zukunft in einer «neuen Welt» voller ungeahnter Möglichkeiten und Freiheiten. Und in gleichem Masse, wie sich die Lebensräume der einwandernden Weissen immer weiter ausdehnten, schmolzen die Lebensräume der indigenen Urbevölkerung wie Schnee an der Sonne immer weiter in sich zusammen.

Auch als die nordamerikanischen Kolonien die Unabhängigkeit erkämpft und sich vom britischen Mutterland losgesagt hatten, änderte dies am Schicksal der indigenen Urbevölkerung nicht das Geringste. Im Gegenteil: Obwohl in der Unabhängigkeitserklärung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika am 4. Juli 1776 proklamiert wurde, dass «alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit unveräusserlichen Rechten wie dem Leben, der Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet sind», gingen das Zurückdrängen der Indigenen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen nahtlos weiter, gehörten sie doch aus der Sicht der Weissen nicht zu jenen Geschöpfen, die «alle gleich geschaffen sind und die gleichen Rechte haben». Bis 1890 in der legendären Schlacht am Wounded Knee auch noch die letzten Reste des verbliebenen indigenen Widerstands für immer gebrochen wurden.

Vier Episoden aus dieser unbeschreiblichen Leidensgeschichte sollen, stellvertretend für unzählige andere, an dieser Stelle etwas ausführlicher zur Sprache kommen: Die Tragödie der Cherokee, der Goldrausch in Kalifornien, die fast vollständige Ausrottung der Bisons und die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Die Ausführungen stützen sich weitgehend auf das 2017 erschienene Buch «Verlorene Welten» des Schweizer Autors Aram Mattioli.

Erste Episode: Die Tragödie der Cherokee. Bevor sie mit den Weissen in Kontakt kamen, lebte dieses indigene Volk in insgesamt 60 Dörfern der südlichen Appalachen. Die Lebensweise der Cherokee beruhte auf Selbstversorgung, dem Boden als Gemeinschaftsbesitz und auf einer matriarchalen Gesellschaftsstruktur. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es zu ersten Kontakten mit den Weissen, doch dann machten sich in kurzer Zeit immer mehr Siedler auf ihrer Erde breit. Bis 1775 mussten die Cherokee von ihrem Territorium von ursprünglich 325‘000 Quadratkilometern über 125‘000 Quadratkilometer an die Siedler abtreten. Sechzig Jahre später war der Ansturm weiterer Siedler dermassen angestiegen, dass die Regierung des Bundesstaates Georgia die Cherokee endgültig aus ihrer Heimat vertreiben wollte. Heimlich wurde mit einer kleinen Delegation von abtrünnigen Cherokee, die nicht im Namen der grossen Mehrheit ihres Volkes sprachen,  ein Umsiedlungsvertrag ausgehandelt, wonach die Cherokee gegen eine Entschädigung von fünf Millionen Dollar ihr gesamtes übrig gebliebenes, überaus fruchtbares und mit Wäldern gesegnetes Territorium aufgeben und bis zum 23. Mai 1838 in ein von kargem Boden geprägtes Reservat auf dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaates Oklahoma ziehen müssten. Doch noch bevor die gesetzte Frist abgelaufen war, marschierte eine von General Winfield Scott befehligte Einheit von 7000 Mann in das Land ein. Scotts Soldaten trieben die Cherokee mit Waffengewalt zusammen, manche traf es bei der Feldarbeit, andere wurden vom Familientisch weggezerrt, vielen verblieb nicht einmal Zeit, das Nötigste einzupacken. Plünderer fielen über ihre Häuser her und raubten Hausrat und Vieh, danach steckte man die Farmen in Brand. Die Gefangenen wurden in 31 Palisadenforts interniert, wo sie unter widrigsten Umständen fünf Monate lang ausharren mussten, bevor sie auf jene Leidensmärsche gezwungen wurden, die sie noch heute in ihrer Sprache den «Pfad der Tränen» nennen. Dieser führte über 1600 Kilometer, auf denen die Cherokee oft brütender Sonnenhitze, dann wieder klirrender Winterkälte ausgesetzt waren, und das bei weit unzureichender Ernährung und mangelnder medizinischer Versorgung. Hunger, Krankheiten und Erschöpfung lichteten ihre Reihen, schätzungsweise kostete die Umsiedlung mindestens 4000 Cherokee das Leben, rund einem Viertel des gesamten Volks.

Zweite Episode: Der Goldrausch in Kalifornien. Er begann am 24. Januar 1848, als der Zimmermann James W. Marshall in einem abgeschiedenen Tal in den Ausläufern der Sierra Nevada zufällig einige Goldkörner entdeckte. Bald erfuhren immer mehr Menschen von dem Fund, weitere Goldfelder wurden entdeckt. Als schliesslich der «New York Herald» im Spätsommer 1848 über die Funde im fernen Westen berichtete, gab es bald kein Halten mehr. In der Hoffnung, schnell reich zu werden, brachen Zehntausende von Abenteuerhungrigen aus den östlichen USA, Mexiko, Südamerika, Westeuropa, Ostasien und Australien ins vermeintliche Eldorado auf. Der Chief des Volkes der Nisenan ahnte, was auf sie zukommen würde, und warnte: «Das gelbe Metall ist eine sehr schlechte Medizin. Es gehört einem Dämon, der alle verschlingen wird, die nach ihm suchen.» Und in der Tat: Schon ein Jahr später war der grösste Teil der auf dem Gebiet der Goldfelder lebenden Indigenen aus ihren Heimstätten vertrieben worden. Als schliesslich in den frühen 1850er Jahren grosse Unternehmen ins Goldgeschäft einstiegen, kam es auch schon zur ersten ganz grossen Umweltkatastrophe, die wir uns heute als Vorläuferin eines seither ungebrochenen weltweiten Feldzugs des masslosen Raubbaus an Bodenschätzen und der Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen bis hin zum heutigen Tag vorstellen können: Als Fördermethoden wurden Hochdruck-Wasserkanonen eingesetzt, mit denen das Erdreich ganzer Hügel in Kanalrinnen gespült und das Gold herausgefiltert wurde. Kräftige Wasserstrahlen jagten Tausende Tonnen Erde, Sand, Geröll und Kies durch hölzerne Kanalsysteme. Zudem führte der immense Bedarf an Brennholz für die Wasserkanonen zu einem unkontrollierten Kahlschlag in den nahegelegenen Wäldern, während das weggespülte Geröll und Erdreich die Flüsse verunreinigte und die natürlichen Lebensräume zerstörte. Dazu kam, dass, um das Gold aus dem Kies und dem Sand zu lösen, hochgiftiges Quecksilber eingesetzt wurde, dem die Arbeiter schutzlos ausgeliefert waren. Der kalifornische Goldrausch, der viele Weisse märchenhaft reich machte und ganze Städte, Fabriken, Strassen, Brücken und Eisenbahnlinien wie Pilze aus dem Boden schiessen liess, bedeutete auf der entgegengesetzten Seite eine Katastrophe gigantischen Ausmasses, schlimmer als jedes noch so schlimme Naturereignis, waren die Indigenen für die aus dem Osten eindringenden Immigranten doch nichts anderes als unliebsame Konkurrenten um Ressourcen wie Land, Wild und Wasser, lästige Hindernisse auf dem Weg zu ihrem persönlichen Glück, in den Augen der allermeisten Siedler nichts anderes als wilde Tiere, die eigentlich keine Daseinsberechtigung haben sollten. «Herumstreunende» Indigene oder solche, die einen «unmoralischen» Lebenswandel pflegten, durften, ebenso wie elternlose indigene Kinder, ganz legal zu Zwangsarbeit verpflichtet werden – von diesem Schicksal waren zwischen 1850 und 1863 nicht weniger als 10‘000 Indigene betroffen, darunter bis zu 5000 Kinder und Jugendliche. Sie wurden von ihren Besitzern gnadenlos ausgebeutet, oft sexuell missbraucht und nicht selten schon wegen kleinster Vergehen bis in den Tod ausgepeitscht. Zahllose indigene Frauen suchten, um ihre Familien vor dem Hungertod zu retten, Zuflucht in der Prostitution und wurden dabei, als rassisch «minderwertig» angesehen, häufig ganz besonders bestialisch behandelt und mies bezahlt. Es scheint fast, als hätten sich die Siedler in Bezug auf ihre Brutalität oft gegenseitig noch zu übertrumpfen versucht. So zwang ein gewisser Carles Stone die von ihm versklavten Indigenen zu schwerster Arbeit bei gleichzeitig völlig unzureichender Ernährung. Als ein hungerndes Kind sein privates Grundstück betrat und um ein wenig Weizen bettelte, erschoss er es kurzerhand. Innerhalb von nur 25 Jahren wurde die indigene Urbevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien nahezu gänzlich ausgelöscht, auf dem Gebiet eben dieses Kaliforniens, das bis heute als die Verkörperung des amerikanischen Traums gilt und als millionenfach gefeiertes Beispiel dafür, dass jeder Mensch «Schmied seines eigenen Glücks» sei.

Dritte Episode: Die fast vollständige Ausrottung des Bisons. Die rund 30 Millionen Bisons, welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Graslandschaften der Grossen Ebenen im mittleren Nordamerika lebten, bildeten für die dort lebenden Völker eine lebenswichtige Nahrungsgrundlage. Doch nicht nur das. Restlos alle Teile der erlegten und sorgfältig zerlegten Beute wurden verwertet, nicht nur Fleisch, Blut, Fett und Häute, sondern auch Knochen, Sehnen, Mägen, Hörner, Hufe und Schädel, selbst der Dung diente als Brennmaterial. Der Bison stand nicht nur im Zentrum der materiellen und spirituellen Kultur der dortigen Völker, er war ihr Leben. Doch das sollte sich grundlegend ändern, als ab etwa 1870 die globale Nachfrage nach Bisonleder explosionsartig zunahm. Das in Eisenbahnwaggons und auf Frachtschiffen verladene Bisonleder wurde in die industriellen Zentren Europas exportiert und dort zu Gürteln, Schuhsohlen, Stiefeln und Antriebsriemen für Maschinen verarbeitet. Zunehmend ihres Frischfleischs beraubt, breiteten sich in den betroffenen Gebieten Hungersnöte aus, die Bevölkerung der Grossen Ebenen sackte zwischen 1870 und 1875 von 5000 auf 1500 zusammen. Dem Hunger folgte 1876/77 ein besonders harter Winter mit Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, der «Winter der Verzweiflung». Beste Bedingungen für die US-Kavallerie, den Bedrängten, welchen es an Decken, warmen Kleidern und Essen fehlte, an allen Ecken und Enden nachzustellen, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und elf Kleinkinder erfroren bei minus 30 Grad, bevor die wenigen Überlebenden in einem Lager der US-Armee Aufnahme fanden. 1881 waren von den ursprünglich 30 Millionen Bisons noch versprengte 800 übrig geblieben, noch nie zuvor war in so kurzer Zeit eine so grosse Tierpopulation vernichtet worden. «Ein kalter Wind», so Häuptling Sitting Bull, «blies durch die Ebenen unserer Erde, ein Todeswind für mein Volk.» Nur wenige Indigene lebten zu diesem Zeitpunkt noch in Freiheit, die allermeisten waren bereits in Reservate abgeschoben worden, die fast ausnahmslos in Gebieten mit kargen Böden oder Wüstenklima ausgesucht worden waren, an denen die weissen Farmer und Rancher kein Interesse hatten. Hier lebten die ehemals so freiheitsliebenden Ureinwohner Nordamerikas eng zusammengepfercht, waren von Nahrungsmittelhilfe abhängig und mussten selbst dann um Erlaubnis fragen, wenn sie das Reservat nur für kurze Zeit verlassen wollten. In beinahe allen diesen Einrichtungen, die eigentlichen Gefangenenlagern glichen, herrschten erbärmliche Lebensbedingungen, extreme Armut und Hoffnungslosigkeit.

Vierte Episode: Die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Ab 1880 gegründet, bestand das Ziel dieser Erziehungsanstalten darin, indigene Kinder so früh wie nur möglich auf den «richtigen», sprich christlichen Glaubensweg zu bringen und jegliche Spuren von so etwas wie «Naturreligionen» so systematisch wie möglich auszulöschen. Im Zentrum der bei sämtlichen indigenen Völker Nordamerikas in unterschiedlichen Varianten verbreiteten Naturreligionen stand nicht die Unterscheidung von Gut und Böse, sondern der Glaube an eine Universalenergie, an eine innere Verwandtschaft aller Dinge und Wesen im gesamten Kosmos und an die Bestimmung der Menschen, im Einklang mit der Natur zu leben. Dem entgegen wurde in den Boarding-Schools die Lehre von den «zwei Wegen» vermittelt: Zum Himmel führt ein goldener Pfad, gesäumt von der Schöpfungslehre, dem Glaubensbekenntnis der Apostel, der Gründung der Kirche, den Sakramenten und theologischen Tugenden, während der schwarze Weg, umgeben von Sünden und Lastern, direkt in den Rachen des Teufels führt. Indigene Kinder wurden zwangsweise in die Boarding-Schools eingewiesen, wehrten sich ihre Eltern dagegen, wurden ihnen die Lebensmittelrationen gekürzt. Die traditionelle Kleidung und der Perlenschmuck der Kinder wurde von den in den Boarding-Schools lehrende Missionaren verbrannt. Nachdem man die Kinder gewaschen und neu eingekleidet hatte, bekamen die Jungen einen Kurzhaarschnitt, die Mädchen eine Frisur in westlichem Stil. Wer sich dagegen zu wehren versuchte, schrie und wild um sich schlug, wurde mit Stricken an den Stühlen festgebunden. Alle Kinder erhielten anstelle ihres indigenen einen christlichen Vornamen. In den Boarding-Schools herrschten strengste Regeln mit genauestens vorgeschriebenen Arbeits- und Gebetszeiten. Auf leichtere Vergehen wie Missachtung der Hausordnung, Unaufmerksamkeit oder Ungehorsam standen als Strafe Essensentzug, Strafarbeit oder Schläge, nach schwereren Vergehen wie etwa einem  Fluchtversuch wurden die Kinder in winzige Arrestzellen eingesperrt, mit Lederriemen ausgepeitscht oder mit Knüppeln geschlagen – Erziehungsmethoden, welche den indigenen Gemeinschaften vollkommen fremd gewesen waren. Sprachen die Kinder miteinander in ihrer eigenen Sprache, drohten Schläge oder es wurde ihnen der Mund mit Lauge ausgewaschen. Indem sie zur Verwendung der englischen Sprache gezwungen wurden, sollten sie befähigt werden, die Welt «mit amerikanischen Augen» zu sehen. Die letzte Boarding-School schloss ihre Tore erst im Jahre 1996! Während in Kanada eine staatlich eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission im Jahre 2015 die in den Boarding-Schools praktizierten Methoden als «kulturellen Genozid» bezeichnete, ist die Aufarbeitung dieses dunklen historischen Kapitels in den USA bis heute nicht über erste zaghafte Anfänge hinausgekommen. Noch im Sommer 2020 nahm Donald Trump den Schauspieler und Westernheld John Wayne in Schutz, der 1971 in einem Interview gesagt hatte, dass er an eine «natürliche Überlegenheit der weissen Rasse» glaube.

«Nirgends auf der Welt», schreibt der Historiker Howard Zinn in seinem 2007 erschienenen Buch «Eine Geschichte des amerikanischen Volkes», «hat Rassismus über einen so langen Zeitraum eine so wichtige Rolle gespielt wie in den Vereinigten Staaten.» Dies widerspiegelt sich in unzähligen Aussagen von US-amerikanischen Politikern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten im Verlaufe der Vertreibung und Vernichtung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas über mehr als zweihundert Jahre hinweg. So sprach Thomas Jefferson, US-Präsident von 1801 bis 1809, von einer «historischen Sonderrolle der Vereinigten Staaten in der Weltgeschichte» und von Nordamerika als dem hierfür «von Gott auserwählten Land». Für ihn stand fest, dass die amerikanischen Ureinwohner auf einer «früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehen geblieben» seien und erst der europäische Mensch die «höchste Stufe» dieser Entwicklung erreicht hätte. Der damalige US-Aussenminister Henry Clay sagte im Jahre 1826, «vollblütige Indianer» seien «von Natur aus minderwertig» und ihr «Verschwinden aus der menschlichen Familie» wäre «kein grosser Verlust für die Menschheit». Theodore Roosevelt, US-Präsident von 1901 bis 1909, forderte die «Pulverisierung» sämtlicher Sozialorganisationen sowie spiritueller und kultureller Praktiken indigener Gemeinschaften. «Ich gehe nicht so weit zu denken», sagte er, «dass die einzig guten Indianer tote sind, aber ich glaube, dass es auf neun von zehn zutrifft.»

Anstelle ihrer traditionellen kulturellen und spirituellen Überlieferungen sollte den Indigenen das neue kapitalistische Gedankengut eingepflanzt werden. In speziellen «Umerziehungsprogrammen» mussten sie lernen, «ich» statt «wir» und «meines» statt «unseres» zu sagen. Denn «Selbstsucht», sagte der US-Senator Henry L. Dawes nach einem Besuch des Cherokee-Reservats im Jahre 1885, «ist die wahre Grundlage der Zivilisation. Bis diese Leute einwilligen, das Land so aufzuteilen, dass jeder auch das besitzt, was er kultiviert, wird es keinen Fortschritt geben.»

Noch heute sehen viele, wenn nicht die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner in der triumphalen Eroberung Nordamerikas durch die Weissen nichts anderes als die Erfüllung eines Naturgesetzes, wonach sich im Sinne eines «Survivals of the Fittest» am Ende stets die Stärksten und Tüchtigsten durchzusetzen vermögen – die nach wie vor herrschende geistige Grundlage des Kapitalismus, auch wenn das heute fast niemand mehr mit genau diesen Worten so sagen würde.

Bis heute wird in der historischen Forschung darüber gestritten, ob die nordamerikanische Kolonialgewalt gegen die indigene Urbevölkerung unter die Definition der von der Uno im Jahre 1948 beschlossenen Genozidkonvention fällt oder nicht. Fest steht aber, dass Grossbritannien, Frankreich, die USA, Kanada und Australien als ehemalige Kolonialmächte rechtzeitig dafür gesorgt hatten, die systematische kulturelle Zerstörung einer Volksgruppe und die Zwangsassimilation von indigenen Völkern und nationalen Minderheiten nicht in die Genoziddefinition von 1948 einfliessen zu lassen.

Cortina d’Ampezzo und schon wieder eine nie dagewesene Serie von Stürzen in einem Abfahrtsrennen: 2000 Jahre und immer noch der gleiche Wahnsinn

Abfahrt der Frauen in Cortina d’Ampezzo am 27. Januar 2024: So viele Stürze in einem einzigen Rennen gab es wohl noch selten. Zuerst Mikaela Shiffrin. Sie stürzt im oberen Streckenteil und fliegt ins Fangnetz, der Aufprall ist so heftig, dass sie zunächst regungslos liegen bleibt. Als sie wieder aufstehen kann, lässt sich das linke Bein nicht mehr belasten, sie muss mit dem Helikopter abtransportiert werden, wie zwei Wochen zuvor ihr Freund Aleksander Kilde, der in Wengen schwer gestürzt war und den Rest des Winters verpassen wird. Dann Corinne Suter. Bei der Landung nach einem hohen Sprung kann sie zwar gerade noch knapp vor den Fangnetzen abbremsen, verletzt sich dabei aber am Knie und schreit vor Schmerz laut auf. Auch sie muss ins Spital gebracht werden. Schon am Abend werden die schlimmsten Befürchtungen Tatsache: Kreuzbandriss im linken Knie, Meniskusverletzung, Saisonende. Bereits vor Jahresfrist stürzte sie in Cortina d’Ampezzo und erlitt dabei eine Gehirnerschütterung. Dann Federica Brignone. Dann Emma Aicher. Dann Priska Nufer. Und schliesslich Michelle Gisin. Sie landet in den Netzen, kann jedoch selbständig ins Ziel fahren, verspürt aber starke Schmerzen im rechten Unterschenkel und wird bei den weiteren Rennen an diesem Wochenende nicht mehr starten können. Doch dieser Freitag ist keine Ausnahme. Er passt in diese, wie ein Journalist schreibt, “seltsame Skisaison”: Reihenweise sind sie in den vergangenen Wochen infolge von Stürzen und Verletzungen ausgeschieden: Nebst Aleksander Kilde auch Petra Vlhova, Wendy Holdener, Alexis Pinturault und Marco Schwarz, um nur die Bekanntesten unter ihnen zu nennen.

Und jedes Mal, wenn wieder ein Fahrer oder eine Fahrerin ins Netz fliegt oder regungslos auf der Piste liegen bleibt, geht ein Aufschrei durch das Publikum und alle schlagen sich die Hände vor die Augen, nur um das Entsetzliche nicht sehen zu müssen. Wie scheinheilig. Man baut die Pisten genau so, dass sie Stürze förmlich provoziert, und gibt sich dann völlig überrascht, wenn tatsächlich genau das passiert, was man eigentlich hätte verhindern können, aber offensichtlich gar nicht wirklich hat verhindern wollen. “Ich habe an dieser Stelle einen Fehler gemacht” oder “Ich habe zu wenig aufgepasst” oder “Ich war zu wenig konzentriert”, sagen die Fahrerinnen im Interview nach dem Rennen, ganz so, als ob sie sich für irgendetwas entschuldigen oder rechtfertigen müssten und nicht der einzige wirklich ausschlaggebende Fehler darin besteht, eine solche Art von sportlichem “Wettkampf” überhaupt zu planen und durchzuführen, bei dem jede Fahrerin und jeder Fahrer schon lange vor dem Start ganz genau weiss, dass sie oder er schon das nächste Opfer sein könnte.

Doch nicht nur Skifahrerinnen und Skirennfahrer, sondern auch Motorradfahrer, Kunstturnerinnen, Leichtathleten, Schwimmerinnen und Tennisspieler. Sie alle bezahlen mit ihrer Gesundheit, manchmal sogar mit ihrem Leben, für die Schaulust des Publikums und für jene Gewinne, die dann früher oder später in die Kassen von Sportorganisatoren, Veranstaltern, Fernsehanstalten und all jener Firmen fliessen, die dank diesem oder jenem Event ihre Profite erzielen. Und, obwohl sie alle dafür so grosse Opfer erbringen: Niemand von ihnen wird gefragt, ob sie selber all das tatsächlich auch wollen. Weder die Skirennfahrerinnen, noch die angehenden, mit brutalsten Trainingsmethoden belasteten Kunstturnerinnen von Magglingen, noch die Fahrer der Tour de France oder der Tour de Suisse, die sich über himmelhohe Berge quälen und sich auf glitschigem Kopfsteinpflaster der Gefahr von Stürzen aussetzen müssen, worauf dann wieder die scheinheilige Menge aufschreit und so tut, als wären das bloss irgendwelche dumme Zufälle oder “Fehler”, aber nicht die ganz logische Folge genau dieser Art von zu möglichst werbewirksamen Grossveranstaltungen emporgepushten “Sportveranstaltungen”, bei denen der ganz besondere, heimliche “Kick” vermutlich eben genau darin liegt, dass jederzeit etwas ganz Entsetzliches passieren könnte.

Vor 2000 Jahren warf man, zur Belustigung der Massen, in den Amphitheatern Roms die Menschen den Löwen und Tigern zum Frass vor. Heute wirft man junge Menschen, angelockt durch Geld, Prestige, Berühmtheit und die Aussicht auf den definitiven Sieg in einem immer härter und gnadenloser werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf aller gegen alle einem millionenfachen Fernsehpublikum zum Frass vor, einem Publikum, das zuhause auf dem Sofa gemütlich zuschauen kann, wie sich andere zu Tode quälen und ihr Leben aufs Spiel setzen – sehr viel weiter scheinen wir in diesen 2000 Jahren nicht gekommen zu sein…

Das zutiefst Verrückte daran ist, dass durch diese Art von Wettkampf Menschen buchstäblich dazu gezwungen werden, sich gegenseitig Leid zuzufügen – obwohl sie dies wohl kaum selber wirklich wollen. Aber wenn, angetrieben durch die Aussicht auf einen Sieg, der einzelne Sportler und die einzelne Sportlerin immer mehr an die äussersten Grenzen körperlicher Belastbarkeit gehen und auch noch die letzten, allergrössten Gefahren und Risiken auf sich nehmen, dann zwingen sie, ob sie wollen oder nicht, alle ihre Konkurrentinnen und Konkurrentin dazu, dies ebenfalls zu tun oder, wenn irgend möglich, diese Grenze noch weiter hinauszuschieben. Je schneller die eine Skifahrerin auf die nächste gefährliche Kurve zurast, umso mehr steht die nächste Fahrerin unter dem Druck, noch schneller auf diese Kurve zuzurasen und damit ein noch höheres Risiko einzugehen. Je härter der eine Tennisspieler die Bälle schlägt, umso härter muss der andere sie zurückschlagen – bis die Handgelenke, die Ellbogen, die Knie oder der Rücken eines Tages einfach nicht mehr mitmachen. Je riskantere Sprünge die eine Kunstturnerin beherrscht, umso mehr sind alle anderen gezwungen, noch riskantere Sprünge einzuüben, selbst wenn sie dadurch ihren Körper dermassen überdehnen müssen, dass sie möglicherweise bleibende Schäden davontragen werden. Je länger es die eine Synchronschwimmerin unter dem Wasser aushält, umso länger müssen alle anderen Synchronschwimmerinnen es auszuhalten versuchen, bis eine von ihnen das Bewusstsein verliert – das, was mit der amerikanischen Synchronschwimmerin Anita Alvarez an den Weltmeisterschaften 2022 geschah und ihr fast das Leben gekostet hätte.

Sie alle, Skirennfahrerinnen, Radrennfahrer, Turnerinnen, Gewichtheber und Synchronschwimmerinnen und alle anderen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, sind Teil eines gewaltigen Experiments, von dem man eigentlich schon längst weiss, welches seine Folgen sind: zerstörte Körper bis zum Lebensende, unerträgliche Schmerzen durch übermässiges Training oder Unfälle, Depressionen, Magersucht oder der Verlust jeglichen Selbstvertrauens infolge unerbittlich sich wiederholender Rückschläge und Misserfolge trotz grenzenloser Anstrengungen über Jahre, zerplatzte Zukunftsträume, eine gestohlene Kindheit, wenn schon im Alter von vier oder fünf Jahren fünfmal pro Woche trainiert werden muss, damit überhaupt die geringste Chance besteht, je einmal zu den Besten zu gehören.

Wie viele Stürze wie diese bei der gestrigen Abfahrt in Cortina d’Ampezzo, wie viele kaputttrainierte Kunstturnerinnen, wie viele zerschundene Gelenke von Tennisspielerinnen und wie viele Massenkarambolagen von Radrennfahrern werden wohl noch nötig sein, bis auch der Spitzensport endlich wieder dorthin zurückkehren wird, wo er einmal angefangen hatte: beim Wohlergehen und bei der Gesundheit der Menschen und, vor allem, bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung: mit dem eigenen Körper nur das zu tun, was ihm guttut und sich nicht von äusseren Interessen, Profitzwecken und der Schaulust des Publikums instrumentalisieren und missbrauchen zu lassen.  

(Nachtrag am 29. Januar 2024: Auch beim Super-G der Frauen vom 28. Januar in Cortina d’Ampezzo kam es wieder zu fürchterlichen Stürzen. Die Kanadierin Valerie Grenier touchierte ein Tor und wurde richtiggehend durch die Luft geschleudert. Jasmin Flury kamen vor laufender Kamera die Tränen, weil kurz vor dem Interview auch die Norwegerin Kajsa Vickhoff gestürzt war. Sie fühle sich gerade leer, sagte Flury. Es hätte sie mehr mitgenommen, als sie gedacht hätte. Lara Gut-Behrami setzt die vielen Stürze an diesem Wochenende mit fehlender Erholung in Zusammenhang. Drei Rennen am gleichen Wochenende seien einfach zu viel. Dazu kämen Events wie die Startnummernauslosungen, so dass die Athletinnen kaum Zeit hätten, sich zu erholen.)

(Weiterer Nachtrag am 2. Februar 2024: Es sind schwer ertragbare Bilder, welche der vor drei Wochen verunfallte Skirennfahrer Aleksander Kilde in den sozialen Medien teilt. Eine tiefe, mehrere Zentimeter breite und bis auf die Knochen reichende Schnittwunde an seiner Wade. Die zweifach operierte und mit zahlreichen Stichen genähte Schulter. Nach dem medizinischen Eingriff an der Schulter hätte er Schmerzen gehabt wie noch nie in seinem ganzen Leben. Die Schmerzmittel hätten Panikattacken ausgelöst, durch die Schnittwunde an der Wade seien so viele Nerven beschädigt worden, dass er die Zehen lange nicht mehr hätte fühlen können. Die Topathleten hätten einfach ein zu brutales Programm, jeden Abend müssten sie an die Auslosung der Startnummern und dann an die Siegerehrung. Es gehe meist bis 16.30 Uhr, ehe alles erledigt sei. Und wenn man zu den Besten gehöre, dann spüre man nach dem Mammutprogramm erst recht die Erwartungen, erneut gewinnen zu müssen.)

(Noch ein Nachtrag am 2. Februar 2024: Laut einer Pressemitteilung hat der slowenische Skirennfahrer und WM-Silbermedaillengewinner von Åre (2019) bekanntgegeben, seine Karriere im Alter von 28 Jahren zu beenden. Seinen Rücktritt erklärt er mit anhaltenden physischen und psychischen Beschwerden. Er sei trotz aller Arbeit, Zeit und Energie, die er investiert habe, am Punkt angelangt, wo er nicht mehr könne. Er könne nicht mehr über die Gefühle hinwegsehen, die sein Körper ihm sende.)

(Nachtrag am 12. Februar 2024: Die Walliserin Malorie Blanc, Zweite in der Abfahrt bei den Junioren-WM Ende Januar in Frankreich, verletzt sich bei der zweiten Europacup-Abfahrt in Crans-Montana VS schwer: Nach einem Sprung gerät sie in Rücklage, kann sich nicht mehr aufrichten und stürzt ins Netz. Fazit: Kreuzband- und Aussenmeniskusriss sowie Zerrung des inneren Seitenbandes im linken Knie. Aus der Feuertaufe im Weltcup vom 16. bis 18. Februar wird nun nichts.)

(Nachtrag am 14. Februar 2024: Beim ersten Abfahrtstraining der Frauen in Crans-Montana stürzt die Rumänin Ania Monica Caill kurz nach der Ziellinie schwer, bleibt liegen und muss ins Spital von Sitten transportiert werden, wo eine Schulterverletzung diagnostiziert wird. Die Schweizer Fahrerin Jasmine Flury ärgert sich. Sie verstehe nicht, weshalb man kurz vor dem Ziel diesen Buckel aufgebaut habe, mit dem die Fahrerinnen gefährlich in die Höhe katapultiert werden. Nach dem Training zeigt sich der Pistenverantwortliche dann doch noch einsichtig und meint, Jasmin Flury hätte ja eigentlich Recht, der Sprung vor der Ziellinie mache aus sportlicher Sicht überhaupt keinen Sinn und sei nur deshalb aufgebaut worden, weil man dank ihm mehr Werbung platzieren könne. Nachdem sich auch andere Fahrerinnen über den Zustand der Piste kritisch geäussert haben, sagt OK-Vizechef Hugo Steinegger hingegen: “In diesem Winter wird sehr, sehr schnell gejammert. Einige müssen sich schon fragen, ob sie eigentlich den richtigen Job gewählt haben.” OK-Chef Marius Robyr sagt: “Warum gleich Drama machen? Das verstehe ich nicht. Ich frage mich, ob die Frauen Angst haben vor dieser technisch schwierigen Strecke. Man muss doch dem Publikum auch ein Spektakel bieten. Und ein Sprung macht das Rennen eben attraktiver – ich sehe da kein Problem.” Auch behauptet er, nichts sei gefährlich gewesen und es sei auch “nichts passiert” – dies trotz des schweren Sturzes von Ania Monica Caill. Und Jean-Philippe Vuillet, der jahrelang als Renndirektor bei der FIS gearbeitet hat, sagt: “Ich glaube schon, dass die Leute, welche die Piste machen, wissen, was sie tun.”)

(Nachtrag am 25. Februar 2024: Nun hat es auch die österreichische Speed-Athletin Michelle Niederwasser erwischt: Sie kann an den nächsten Rennen in Kvitfjell, Are und Saalbach nicht teilnehmen. Seit ihrem Sturz bei der Abfahrt in Cortina d’Ampezzo hat sie so grosse Knieschmerzen, dass das Weiterführen ihrer Saison unmöglich ist. Niederwieser war eine von vielen Athletinnen, die in Cortina stürzte.)

(Nachtrag am 27. Februar 2024: Am kommenden Wochenende werden in Aspen (USA) zwei Riesenslaloms und ein Slalom durchgeführt, aus der Sicht des Slalom- und Riesenslalomspezialisten Manuel Feller sei dies geradezu “fahrlässig” in Anbetracht dessen, dass die Kräfte einiger Fahrer gegen Saisonende “langsam aber sicher ausgehen” und die Verletzungsgefahr durch Unfälle infolge der viel zu kurzen Regenerationszeit zwischen den einzelnen Rennen immer grösser werde. Feller verzichtet deshalb auf den Riesenslalom am Samstag und fährt nur die beiden anderen Rennen.)

(Nachtrag am 27. Februar 2024: Bei seinem fürchterlichen Lauberhorn-Sturz am 13. Januar hatte sich Aleksander Kilde schwer verletzt. Die Diagnose: tiefe Schnittwunde an der Wade und eine ausgekugelte Schulter. «Ich habe nie zuvor solche Schmerzen erlebt», sagte er wenige Tage später in einem Interview, das er aus seinem Spitalbett gab. Nach sieben Wochen im Rollstuhl macht er nun wieder die ersten Schritte. «Babyschritte. Buchstäblich», schreibt er zu einem Video, das zeigt, wie er zunächst beide Beine nacheinander vorsichtig belastet und sich dabei an einer Stange festhält, ehe er ganz vorsichtig und hochkonzentriert ein paar kleine Schritte geht – noch etwas wackelig, aber ohne sich festzuhalten. Ob er es jemals wieder zurück in den Weltcup schaffen wird, muss sich noch zeigen.)

(Nachtrag am 9. März 2024: Walter Reusser, CEO Sport bei Swiss-Ski, hat kürzlich eingeräumt, “die eine oder andere der jungen Schweizer Skirennfahrerinnen” sei “zu früh in den Weltcup geschickt” worden, nur weil Startplätze frei gewesen seien. “Von den Jahrgängen 1996 bis 1999”, so Reusser, “kam keine einzige Fahrerin ohne gröbere Verletzung durch.”)

From the river to the sea, Palestine will be free: Was bedeutet die an Pro-Palästina-Kundgebungen skandierte Parole wirklich?

Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, interpretiert die an Pro-Palästina-Kundgebungen skandierte Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ im “Tagesanzeiger” vom 26. Januar 2024 so, dass damit die Auslöschung des israelischen Staates gefordert werde. Das ist, gelinde gesagt, ein mehr als scheinheiliger Vorwurf. Genau das Umgekehrte könnte man nämlich auch Israel zum Vorwurf machen. So präsentierte der israelische Premier Netanyahu anlässlich einer Sitzung der UN-Vollversammlung im vergangenen September eine Landkarte Israels, auf der sämtliche palästinensische Gebiete Israel zugerechnet wurden. Der israelische General Giova Eiland meinte in einem Zeitungsinterview, Israel habe gar keine andere Wahl, als den Gazastreifen in einen Ort zu verwandeln, an dem es „vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist, zu leben.“ Und Nir Barkat, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, liess verlauten, Israel werde die Palästinenser „vom Angesicht der Erde tilgen.“ In der Psychologie nennt man so etwas „Projektion“: Die eigene Geisteshaltung wird auf den Feind projiziert und diesem zum Vorwurf gemacht.

Dass man besagte Parole auch ganz anders verstehen kann, zeigt eine Aussage von Ruth Dreifuss, ehemaliger Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln: „Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Dies bedeutet nichts anderes als die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“

Vom Sternchen bis zum Glottisschlag: Kritische Anmerkungen zur Gendersprache

Gendersprache: Ein heikles Thema. Ein schwieriges Feld von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Verhärtungen, Feindbildern und der Tendenz, in die eine oder andere Ecke gedrängt oder in die eine oder andere Schublade eingeordnet zu werden. Ein Wespennest. Wenn ich im Folgenden dazu einige kritische Anmerkungen äussere, dann im vollen Bewusstsein, dass die Diskussion über eine angemessene, möglichst geschlechterneutrale Sprache noch in vollem Gange ist und vielleicht das eigentliche “Ei des Kolumbus” noch nicht wirklich gefunden worden ist. Ein Lernprozess voller “Fehler”, Versuche und Irrtümer, aus denen stets wieder neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Was nicht heissen soll, dass dieser Prozess unnötig oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Die Diskussion ist wichtig, ja unverzichtbar. Nur sollte sie nicht in einer Atmosphäre gegenseitiger Rechthaberei bis hin zu Intoleranz oder gerade Fundamentalismus geführt werden, sondern eher mit einer gewissen spielerischen Leichtigkeit, Heiterkeit und Neugierde auf stets unerwartete Überraschungen, ganz so, wie auch Kinder mit der Sprache spielen, wenn sie diese in ihren ersten Lebensjahren, stets auch durch Versuch und Irrtum, erlernen. In diesem Sinne verstehe ich folgende Thesen als Beiträge zu einer Diskussion, die unbedingt kontrovers geführt werden muss. Jede These kann wieder zu einer Gegenthese führen, daraus entsteht im besten Falle etwas Neues, nur so kommen wir weiter.

These 1: Künstliche Zeichen wie Gendersternchen, Doppelpunkte, Binnen-I oder Glottisschlag geben dem Thema mehr Gewicht, als es eigentlich verdient. Wenn ich ein Buch aufschlage und mir schon dutzendfach Gendersternchen entgegenspringen, oder wenn ich einem Vortrag zuhöre, bei dem der Glottisschlag konsequent angewendet wird, dann wird damit, optisch oder akustisch speziell hervorgehoben, das Bild einer Gesellschaft vermittelt, die vor allem dadurch geprägt ist, dass es unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeiten gibt. Dass es aber nebst Diskriminierungen aufgrund der Geschlechterzugehörigkeit noch zahlreiche andere, gesellschaftlich mindestens so relevante Formen von Diskriminierungen und Macht- oder Abhängigkeitsverhältnissen gibt – aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, aufgrund der beruflichen Tätigkeit, aufgrund eines vorhandenen oder fehlenden Bildungsabschlusses, aufgrund der ethnischen Herkunft oder aufgrund des Alters – verschwindet dabei vollkommen aus dem Blickfeld.

These 2: Mit der gleichgewichtigen Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen haben wir doch eigentlich schon eine sehr gute Lösung gefunden. Die Praxis, nicht mehr von “Künstlern” zu sprechen, sondern von “Künstlerinnen und Künstlern”, hat sich erfreulicherweise innerhalb relativ kurzer Zeit weitgehend durchgesetzt. Selbst eben noch hartnäckige Verfechter einer rein männlichen Sprache – ich denke da etwa an gewisse SVP-Politiker – verwenden heute in politischen Diskussionen ganz selbstverständlich beide Bezeichnungen, so als hätten sie nie etwas anderes getan. Der grosse Vorteil dieser Variante liegt auch darin, dass sie sowohl im mündlichen wie auch im schriftlichen Gebrauch gleichermassen funktioniert, dies im Gegensatz etwa zum Binnen-I oder anderen Variationen. Bei Aufzählungen von mehreren Personengruppen bietet sich ja auch, um Schwerfälligkeiten zu vermeiden, die Lösung an, abwechslungsweise männliche und weibliche Bezeichnungen zu verwenden, also zum Beispiel: “An diesem Projekt beteiligten sich Sozialarbeiter, Künstlerinnen, Politiker und Rentnerinnen.” Die Verwendung beider Geschlechtsbezeichnungen hat übrigens eine längere Tradition, als uns zumeist bewusst ist. So etwa ist in einer Nürnberger Polizeiverordnung aus dem Jahre 1478 von “Bürgern und Bürgerinnen”, dem “Gast und der Gästin” die Rede.

These 3: Das “dritte Geschlecht” bzw. “nonbinäre” Personen werden dadurch nicht ausgeschlossen. Dies ist wahrscheinlich der heikelste und schwierigste Punkt. Aber sind “drittes Geschlecht” oder “nonbinäre” Geschlechtszugehörigkeit nicht letztlich auch Spielformen und Variationen “weiblicher” und “männlicher” Elemente? Ist das “dritte Geschlecht” etwas, was mit Weiblichem und Männlichem rein gar nichts zu tun hat, ein “Neutrum” sozusagen? Gibt es nicht auch bei “hundertprozentigen” Männern viele mit mehr oder weniger starken “weiblichen” Wesenszügen, wie das Umgekehrte eben auch bei Frauen vorkommt? Kann man die Menschen überhaupt fixen Kategorien zuordnen, oder gibt es nicht viel mehr fliessende Übergänge zwischen ihnen, eine unendliche Vielzahl von Spielformen der Natur? Und wäre es dann nicht so, dass sich alle von ihnen, wenn man männliche und weibliche Bezeichnungen nennt, mitgemeint fühlen können? So betrachtet, wäre wahrscheinlich das Sternchen die einzige wirklich konsequente Lösung, wenn man dann alle anderen bisherigen Bezeichnungen einfach weglassen würde, nur wäre das in der Praxis kaum umsetzbar.

These 4: Sprachliche Neuerungen müssen auch gesellschaftlich umsetzbar sein. Auch dies zugegebenermassen ein heikler Punkt. Aber was nützt es, noch so “gerechte” Lösungen zu erfinden, wenn sie dann so exotisch daherkommen, dass sie von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung gar nicht akzeptiert werden? Ich kann mir vorstellen, dass sich die gleichwertige Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen früher oder später flächendeckend durchsetzen wird – wir sind schon auf dem besten Weg dazu -, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Bauarbeiter in der Znünipause, wenn sie über ihre Freundinnen und Kollegen sprechen, jemals den Glottisschlag verwenden werden. Zu ausgefallene Forderungen können auch das Gegenteil bewirken. So gibt es bereits heute Menschen, die sich über die Diskussionen rund um die “Gendersprache” dermassen aufregen, dass sie aus Prinzip nur noch männliche Formen verwenden. Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein.

These 5: Man kann die Verwendung stets beider Geschlechtsbezeichnungen, wenn man sie zu sehr auf die Spitze treibt, auch übertreiben und bewirkt damit dann eher das Gegenteil. So habe ich kürzlich in einem “modernen” Geschichtsbuch gelesen, “spanische Konquistadoren und Konquistadorinnen” hätten zwischen 1500 und 1600 ganz Lateinamerika erobert, und in einem Zeitungsartikel war von weltweit “2640 Milliardärinnen und Milliardären” die Rede, obwohl es vermutlich keine einzige Konquistadorin gab und 99 Prozent der weltweiten Milliardäre Männer sind. So “übereifriges” Gendern ist dann sogar in höchstem Grade geschichts- und realitätsverfälschend und verschleiert letztlich ausgerechnet jene – patriarchalen – Machtverhältnisse, die ja angeblich sichtbar gemacht und bekämpft werden sollen.

These 6: Sprachliche Änderungen allein genügen nicht, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass zum Beispiel die ungarische und die türkische Sprache keine grammatischen Mittel für einen Geschlechtsunterschied kennen, in diesen Ländern aber die Frauen kein bisschen weniger benachteiligt sind als in anderen Ländern. Wenn nicht mehr von “Kellnerinnen”, sondern nur noch von “Serviceangestellten” die Rede ist, so ändert auch dies alleine noch nichts an der Tatsache, dass die betroffenen Frauen weiterhin unter harten Arbeitsbedingungen und fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung bei gleichzeitig überaus geringem Lohn zu leiden haben. Es fragt sich schon, ob man die ganze Zeit und die ganze Energie, die für “Sprachdiskussionen” aufgewendet werden, nicht viel gescheiter für reale gesellschaftspolitische Veränderungen aufbringen würde.

These 7: Rechthaberei und Moralisieren sind keine guten Instrumente, um notwendige gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu bringen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Diskussionen rund um die “Gendersprache” sind wertvoll und unverzichtbar. Wenn sie aber in reines Moralisieren, Intoleranz oder gar in Formen von Fundamentalismus ausarten, werden sie eher das Gegenteil von dem bewirken, was sie ursprünglich bezweckten. Auch die Toleranz ist ein Wert, dem wir Sorge tragen müssen.

Von zwanzigstündigen Arbeitstagen bis zur kapitalistischen Brandrede: Ein kritischer Rückblick auf das World Economic Forum im Januar 2024

Minus 13 Grad misst das Thermometer heute in Davos. Schlotternd steht er in einem offenen, ungeheizten Holzhäuschen, verkauft während acht Stunden pro Tag heissen Tee und warme Suppe. Er trägt eine dünne, ungefütterte Jacke. Nein, es hätte ihm niemand gesagt, dass er im Freien arbeiten müsse. Auch die Taxifahrerinnen und Taxifahrer schlottern, während sie mitten in der Nacht auf Kundschaft warten, aus Kostengründen haben sie die Heizungen in ihren Fahrzeugen abgestellt. Unweit davon geht in einem der Häuser, wo Angestellte untergebracht sind, um zwei Uhr nachts in einem der Zimmer das Licht an. Das Zimmermädchen aus Kroatien, das nach einem zwanzigstündigen Arbeitstag soeben zu Bett gegangen ist, muss schon wieder aufstehen, hat einen Telefonanruf erhalten, sie müsse möglichst schnell zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln. Andere feine Herren aus der erlauchten WEF-Gästeschar geben auch schon mal den Auftrag, ihnen die Schuhe zu binden, weil so etwas offensichtlich ganz und gar unter ihrer Würde liegt. Die mit silbernen und goldenen Kleiderbügeln, Fitnessräumen, Wellnessbädern, Sauna und Bibliotheken ausgestatteten Chalets, wo viele der WEF-Gäste inklusive den von ihnen mitgebrachten Butlern, Fitnesstrainern, Ärzten, Chauffeuren, Köchen, Sicherheitspersonal und weiteren Angestellten logieren, müssen täglich von unten bis oben geschrubbt werden, oft müssen in den einzelnen Chalets nach dem Weggang von Gästen, die übermässig geraucht haben, Teppiche und Sofas gereinigt und sämtliche Holzverkleidungen, Balken und Wände abgeschliffen werden.

Nichts könnte die kapitalistische Klassengesellschaft noch drastischer ins Scheinwerferlicht rücken als das jährliche World Economic Forum in Davos. Buchstäblich ganz oben, dort, wo sich der berühmte Roman “Der Zauberberg” von Thomas Mann abspielt und wo sich schon seit eh und je die Reichen und Mächtigen ihre Stelldicheins gaben, haben sie sich wieder versammelt, um sich gegenseitig zu feiern. Der Mann im Holzhäuschen und das Zimmermädchen aus Kroatien befinden sich auf der Pyramide der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, verglichen mit Millionen und Milliarden anderer, immer noch relativ weit oben. Von den anderen Millionen und Milliarden spricht schon gar niemand mehr, sie sind unsichtbar, obwohl sie auf ihren Schultern diese ganze höchste Spitze tragen und in Textilfabriken, auf Kakaoplantagen, schwindelerregenden Baustellen und in lebensgefährlichen Bergwerken von Lateinamerika über Afrika bis Ostasien bis zur Erschöpfung Tag und Nacht an jenem Fundament bauen, ohne welches die feinen Herren und Damen in Davos noch so lange und vergeblich von Wirtschaftswachstum, freier Marktwirtschaft und steigenden Bruttosozialprodukten faseln könnten, weil es das alles ohne diese Milliarden Unsichtbaren und Vergessenen nämlich schon längst gar nicht mehr gäbe.

Eigentlich müssten glaubwürdige politische und wirtschaftliche “Führungskräfte” die eifrigsten und demütigsten Diener ihrer Völker sein. Nicht umsonst ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes “Minister” der “Diener seines Volks”. Tatsächlich aber ist es im Kapitalismus genau umgekehrt: Die politischen und wirtschaftlichen “Führer” sind im extremsten Ausmass Profiteure und Nutzniesser ihrer Völker, geniessen die höchsten Privilegien, haben am meisten Macht, wohnen in den schönsten und teuersten Häusern, geniessen die köstlichsten Speisen, verfügen über die beste Gesundheitsversorgung, können sich die erlesensten Reisen und Luxusvergnügungen leisten und entscheiden sogar eigenmächtig über Krieg oder Frieden, ohne je selber in den Krieg ziehen zu müssen. Und das alles mit gestohlenem Geld. Gestohlen aus jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung, gestohlen aus rücksichtslosem Raubbau an Bodenschätzen, gestohlen aus der Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen, gestohlen aus all dem, worauf die weniger privilegierten Bevölkerungsschichten in jedem einzelnen Land von Brasilien über Nigeria, von Kanada bis Grossbritannien, von Spanien und dem Libanon bis Russland und Japan verzichten müssen in einer Welt, in der, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam unlängst öffentlich bekannt gemacht hat, sämtliche Milliardäre über alle Grenzen hinweg innerhalb der letzten drei Jahre ihr Vermögen um 3,3 Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden ärmsten Menschen im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben und man schon unendlich blind sein muss, um nicht zu erkennen, dass die wachsende Armut der Armen und der wachsende Reichtum der Reichen keine Zufälle sind, sondern die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, und dass jedes Geldstück, das in den Taschen der Armen fehlt, früher oder später wieder in den Taschen der Reichen zu finden ist.

Doch solche Dinge interessieren die versammelte “Weltelite” auf dem Zauberberg nicht. Allein die Pressenachricht von Oxfam über die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hätte wie eine Bombe einschlagen und ganze bisherige Weltbilder einstürzen lassen müssen. Doch nichts von alledem geschieht. Was die eigenen vermeintlichen “Wahrheiten” in Frage stellen könnte, wird systematisch verdrängt. Was man nicht hören will, vor dem verschliesst man die Ohren. Lieber wiederholt man zum tausendsten Mal die ewiggleichen Geschichten von gestern und vorgestern, so wie der ukrainische Präsident Selenski, der immer noch die Forderung erhebt, sein Land müsse den Krieg gegen Russland “gewinnen” – als ob es so etwas gäbe wie “gerechte” und “ungerechte” Kriege, als ob man allen Ernstes Kriege überhaupt “gewinnen” könne und als ob nicht ein jeder Krieg nichts anderes ist als eine einzige grosse Niederlage und Kapitulation jeglicher Menschlichkeit. Oder, wie es Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, so wunderbar sagte: “Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer Frieden stiftet.” Doch lieber vom Frieden spricht Selenski vom Krieg und lieber bastelt er an den alten, bewährten Feindbildern eifrig weiter, nennt Putin ein “Raubtier” und stellt sich damit in eine Reihe mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, der in seinem Roman “Himmel über Charkiw” sämtliche Russen als “Hunde”, “Schweine”, “Verbrecher”, “Unrat” und “Barbaren, die unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung vernichten wollen” bezeichnete und nicht einmal davor zurückschreckte, zu fordern, alle diese “Schweine” sollten “in der Hölle brennen” – und für all dies den Friedenspreis 2022 des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekam. Solche einseitigen und letztlich menschenfeindlichen Weltbilder scheinen der heutigen “Weltelite” zu gefallen: Nach Selenskis Rede am ersten Tag des WEF erhob sich das Publikum zu Standing Ovations – eine Ehre, die letztmals im Jahre 1992 dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela zuteil kam, was auf erschreckende Weise zeigt, wie stark sich die Welt in diesen 32 Jahren offensichtlich verändert hat. Und dabei wüsste man doch schon längst, dass, so der bekannte Buchautor Thomas Pfitzer, “der Aufbau von Feindbildern” nichts anderes ist als die “wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Doch Selenski ist nicht der Einzige, der am WEF ungehindert seine “Wahrheiten” verbreiten darf und dafür erst noch mit Begeisterung und Applaus bedacht wird. Auch dem frisch gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei, der im Wahlkampf mit einer Kettensäge posierte, alles, was nur im Entferntesten mit staatlichen Massnahmen für soziale Gerechtigkeit zu tun hat, als Teufelszeug verwirft, den menschengemachten Klimawandel leugnet, den Kapitalismus als einzige Wirtschaftsform, welche die Menschen aus der Armut zu befreien vermöge, glorifiziert und, kaum war er gewählt, nicht nur das Bildungsministerium, sondern auch das Umweltministerium, das Kulturministerium, das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie abschaffte, auch ihm wird aufmerksam zugehört, auch ihm stellt niemand eine kritische Frage und auch er erhält am Ende seiner Rede einen warmen, übereinstimmenden Applaus. Nicht anders als der israelische Präsident Isaac Herzog, der, ganz auf den Spuren von kalten Kriegern wie Ronald Reagan, den Iran als das “Reich des Bösen” bezeichnet und einmal mehr die Behauptung in die Welt setzt, israelische Babys seien von den Hamaskämpfern am 7. Oktober 2023 geköpft und ganze Familien verbrannt worden, obwohl für beides bis heute keine eindeutigen Beweise vorliegen und selbst US-Präsident Joe Biden zugeben musste, er hätte die Bilder, von denen er gesprochen hätte, selber gar nie gesehen. Dass dann aber aus dem Munde eines israelischen Präsidenten, der hauptverantwortlich ist für den Tod von über zehntausend unschuldigen palästinensischen Kindern im Gazastreifen, unverfroren die Aussage kommt, Israel kämpfe diesen Krieg “für das ganze Universum und für die ganze freie Welt” und es deshalb auch “keinen Waffenstillstand” geben dürfe, ist nun an Menschenverachtung und Zynismus nicht mehr zu überbieten. Doch auch dieser Rede wird andächtig zugehört und es scheint niemandem auch nur im Entferntesten in den Sinn zu kommen, sie auch nur mit einem einzigen Buh-Ruf zu unterbrechen.

Doch während man Selenski, Milei, Herzog und allen anderen “Führungsfiguren”, welche für sich in Anspruch nehmen, die westliche “Wertewelt”, “Freiheit” und “Demokratie” zu verkörpern, eine so grosse Plattform für die Verbreitung ihrer “Wahrheiten” bietet und damit auch die mediale Präsenz weit in die ganze Welt hinaus, praktiziert man auf der anderen Seite im Umgang mit all jenen Stimmen, welche diese Einheitlichkeit stören oder gar in Frage stellen könnten, das pure Gegenteil: Mit Vertreterinnen und Vertretern von Umwelt- oder Antiglobalisierungsbewegungen wird nicht mehr das Gespräch gesucht, sie bleiben in der Kälte von Davos aussen vor, nicht einmal die Strasse von Klosters nach Davos dürfen sie für einen friedlichen Protestspaziergang benützen, sondern werden, während die Privathubschrauber der “Weltelite” über ihre Köpfe hinwegfliegen, auf Spazierwege verwiesen, und dies, obwohl es bei einer 2020 noch bewilligten Kundgebung von 200 Personen auf der Hauptstrasse keinen einzigen Zwischenfall gegeben hatte. Und auch die eben noch so gefeierte und im Rampenlicht stehende Greta Thunberg wurde nicht mehr eingeladen, und dies nur, weil sie die ungeheuerliche Frechheit besass, die israelische Regierung wegen der Bombardierung des Gazastreifens zu kritisieren.

Derweilen bekommt man beim Anblick der Bilder vom WEF den Eindruck, als ginge es dabei um so etwas wie die Begegnung zwischen eng vertrauten Menschen, die sich schon eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen haben und nun ausser sich vor Freude sind, sich endlich wieder zu treffen, so innig sind die Umarmungen und die gegenseitigen Freundschafts-, ja fast Liebesbezeugungen. Es sind sich ja alle so wunderbar einig. Kein Wunder, nachdem man sich allem, was diese Einigkeit in Frage stellen könnte, so systematisch verschlossen hat und sich nicht einmal die Mühe nimmt, andere Meinungen zu widerlegen, sondern das tut, was noch viel schlimmer ist: nämlich, alles Störende schlicht und einfach totzuschweigen, als würde es gar nicht existieren.

“Die geheimen Verbote”, sagte die DDR-Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley im Jahre 1991, “das Beobachten, der Argwohn, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.” Und Paul Watzlawick, österreichisch-amerikanischer Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, sagte: “Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Worte, die aktueller nicht sein könnten. Die aber zugleich auch Anlass zur Hoffnung geben, dass auch das Gegenteil wieder denkbar werden könnte. Denn wenn sich die allgemein propagierten und gefeierten “Wahrheiten” zu stark und immer mehr nur noch in eine einzige Richtung bewegen, dann müssen auf der anderen Seite früher oder später auch die Kräfte wachsen, die das durchschauen und in Frage stellen. Die Wahrheit lässt sich nicht beliebig lange unterdrücken. Oder, wie der frühere US-Präsident Abraham Lincoln sagte: “Man kann alle Leute eine Zeitlang an der Nase herumführen, und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit.” Im Allerinnersten scheinbar ewiger “Wahrheiten” steckt schon der Kern ihrer Überwindung. Wenn die Zustände zu extrem werden, wird es Zeit für etwas von Grund auf Neues: “In einer Zeit der Täuschung”, so der englische Schriftsteller und Journalist George Orwell, “wird das Aussprechen der Wahrheit zum revolutionären Akt.” Dann wäre das WEF 2024 vielleicht im besten Falle nicht nur das Ende einer alten, sich noch einmal in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufbäumenden Zeit gewesen, sondern zugleich der Anfang einer neuen Zeit voller Hoffnung auf eine Zukunft, in der frierende Suppenverkäufer und Taxifahrer, Zimmermädchen, die um zwei Uhr nachts zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln müssen, der weltweit tägliche Hungertod von 10’000 Kindern in den Ländern des Südens bei gleichzeitig nie da gewesenem Überfluss in den Ländern des Nordens, das wahnwitzige Festhalten an der Ideologie eines immerwährendes Wirtschaftswachstum und der aller menschlichen Vernunft widersprechende Glaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern könnten durch militärische Gewalt sinnvoll gelöst werden, für immer der Vergangenheit angehören werden.

Von der Ukraine bis nach Palästina: Nicht in die Vergangenheit sollten wir schauen, sondern in die Zukunft

Der Vorwurf des Westens an die Adresse Russlands, wegen des völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 für diesen Konflikt die alleinige Schuld zu tragen, wird von Russland mit der Begründung zurückgewiesen, diese Militäraktion sei nur die Reaktion gewesen auf eine seit Jahrzehnten gegenüber Russland feindselige Politik der Westmächte, die sich vor allem in der kontinuierlichen Erweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands manifestiert hätte, dies entgegen dem Versprechen führender westlicher Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Nato unter keinen Umständen in Richtung Osten auszudehnen. Somit sei nicht Russland der Hauptschuldige, sondern der Westen, der Russland zu diesem Angriffskrieg provoziert hätte. Dem wiederum könnte die Gegenseite entgegenhalten, Russland hätte im Jahre 1994 der Ukraine volle Souveränität zugesichert und damit auch das Recht, jederzeit über seine Aussen- und Sicherheitspolitik autonom entscheiden zu können. Doch auch gegen diese Feststellung gäbe es auf der anderen Seite wieder Gegenargumente und je weiter man in die Geschichte zurückgehen würde, ergäben sich immer wieder neue und andere “Beweise” dafür, wer nun der eigentliche Hauptschuldige am heutigen Krieg in der Ukraine sei.

Genau das Gleiche beim Nahostkonflikt. Konfrontiert man die israelische Regierung mit dem Vorwurf eines Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, so wird dieser Vorwurf mit der Behauptung zurückgewiesen, dies alles sei nur eine legitime Reaktion auf die Terrorattacke der Hamas gegenüber israelischen Zivilpersonen am 7. Oktober 2023. Der wahre Schuldige also sei nicht Israel, sondern die Hamas. Palästinenserinnen und Palästinenser auf der anderen Seite könnten dann wiederum die jahrzehntelange Unterdrückung und Diskriminierung ihres Volkes durch Israel ins Feld führen und kämen genau zum gegenteiligen Schluss: Der wahre Schuldige sei weder die Hamas noch das palästinensische Volk, sondern einzig und allein die israelische Besatzungspolitik. Israel wiederum könnte ins Feld führen, sein Existenzrecht sei wiederholt von palästinensischer Seite in Frage gestellt worden, während dann wiederum die Gegenseite daran erinnern könnte, dass frühere Versuche einer friedlichen Lösung wiederholt an der Haltung israelischer Extremisten gescheitert seien. Auch hier: Je nachdem, an welchem Punkt der Vergangenheit man ansetzt, kann man immer wieder die eine oder dann wieder die andere Seite als die einzig und allein Schuldigen darstellen.

Das Graben in der Vergangenheit bringt uns nicht weiter. Hat die eine Seite einen Punkt erreicht, von dem aus gesehen die Schuldfrage zur Gänze klar zu sein scheint, wird die andere Seite einfach wieder ein paar Jahre weiter zurück in die Vergangenheit gehen und schon ist alles wieder auf den Kopf gestellt. Man könnte das Spiel endlos weitertreiben, bis zu Adam und Eva, und käme doch nie an ein endgültiges Ziel. Deshalb müssen wir uns von diesem Weg verabschieden.

Es braucht eine grundlegend neue Sicht. Statt in die Vergangenheit, müssen wir in die Zukunft schauen. “Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.” Wenn uns das gelingt und wir, statt Schuldige für vergangenes Unrecht zu suchen, uns Lösungen für die Zukunft vorzustellen versuchen, wird alles auf einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Und wir werden wieder erkennen, dass das Wesentliche nicht das ist, was uns Menschen voneinander trennt, sondern das, was uns miteinander verbindet. Und wir werden uns auf wunderbare Weise an all das wieder zu erinnern beginnen, was uns, im Augenblick unserer Geburt, miteinander verbunden hatte, als es in unseren Köpfen weder Grenzen, noch Nationen, noch irgendwelche Feindbilder, noch Zäune und Mauern gab, die uns voneinander trennten. Uns gemeinsam an diesen Traum erinnernd, werden wir lernen, uns nicht mehr gegenseitig zu hassen, zu verachten oder gar zu vernichten, sondern miteinander zu verschmelzen als Bewohnerinnen und Bewohner einer grossen gemeinsamen Erde, auf der wir alle miteinander und füreinander gemeinsam verantwortlich sind.

Territorien, Grenzen, Nationalstaaten sind nichts Gottgegebenes. Sie sind künstliche Erfindungen von Menschen in ganz bestimmten Zeitpunkten der Geschichte. „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab”, schrieb der Genfer Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau vor fast 300 Jahren, “und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand diese Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich davor zu hüten, diesem Betrüger Glauben zu schenken und zu vergessen, dass zwar die Früchte dieser Erde allen Menschen, die Erde als Ganzes aber niemandem gehört.” Während Zehntausenden von Jahren hatten die Menschen nach anderen Prinzipien gelebt, privates Eigentum war unbekannt, alles wurde mit allen geteilt. Als die europäischen Kolonisten in die Lebensgebiete der indigenen Bevölkerung Nordamerikas eindrangen und als sie mit allen Mitteln versuchten, diese “unzivilisierten Wilden” dem “fortschrittlichen” Denken des “zivilisierten” Europa zu unterwerfen, bestand die grösste Schwierigkeit darin, diesen Menschen beizubringen, anstelle des Wortes “wir” das Wort “ich” und anstelle des Ausdrucks “es ist unseres” den Ausdruck “es ist meines” zu verwenden.

Der unvoreingenommene Blick in die Zukunft könnte uns die Augen für diese Erkenntnis öffnen. Dass es je länger je weniger darauf ankommen wird, ob ein Mensch Bürger oder Bürgerin dieses oder jenes Staates ist, auf dieser oder der anderen Seite einer Grenze oder einer Mauer lebt, sich zu dieser oder jener Nation, Landeshymne oder Landesflagge bekennt, eine “Schweizerin” oder ein “Türke” ist, ein “Chilene” oder eine “Japanerin”. Sondern dass es einzig und allein nur darauf ankommt, ob die Menschen dort, wo sie geboren wurden, in Frieden, Sicherheit und unter menschenwürdigen Verhältnissen leben können. Staatliche Grenzen, Territorien, die man für sich in Anspruch nimmt und die man, selbst durch das Opfern von Menschenleben, gegen die Ansprüche anderer zu verteidigen und zu sichern trachtet, würden mit der Zeit ebenso in Bedeutungslosigkeit versinken wie all die unsichtbaren Grenzen, welche schon heute von Störchen, Kranichen, Schwalben, Lerchen und Nachtigallen über alle Kontinente hinweg überflogen werden und von deren Verschwinden auch schon John Lennon in seinem legendären Lied “Imagine” träumte: Es gäbe keine Länder mehr, keine Religionen, kein Besitztum, nichts, wofür man sterben oder töten müsste, alle würden alles miteinander teilen und es gäbe nur noch eine einzige grosse, gemeinsame Welt. Lässt uns der Blick in die Vergangenheit verzweifeln und in den ewig gleichen Kreisen von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit verharren, so würde dem gegenüber der Blick in die Zukunft wohl ungeahnte Energien freisetzen, um ein so in unseren Köpfen entstehendes Bild nicht nur zu erträumen, sondern auch tatsächlich in die Wirklichkeit umzusetzen. Voraussetzung dafür ist nur, dass wir, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt einmal sagte, nicht aufhören dürfen, uns “die Welt so vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre”.

Zurück zur Ukraine. Nichts spricht dagegen und wäre im Gegenteil sogar in höchstem Masse demokratisch, als die Bewohnerinnen und Bewohner der umkämpften Gebiete darüber abstimmen zu lassen, ob sie lieber zum einen oder zum anderen Staat gehören oder ob sie vielleicht sogar eine eigene, unabhängige Republik bilden wollen. Denn die entscheidende Frage ist nicht, ob über diesem oder jenem Dorf, über dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss, über diesem oder jenem Weizenfeld die ukrainische Flagge weht oder die russische. Das einzige wirklich Entscheidende ist, ob in diesem oder jenem Dorf, in dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss und auf diesem oder jenem Weizenfeld für die dortigen Menschen ein gutes, sorgenfreies Leben möglich ist oder nicht. Eine solche Abstimmung müsste freilich unter UNO-Aufsicht erfolgen und selbstverständlich müssten sich sowohl die Ukraine als auch Russland damit einverstanden erklären, das Resultat, wie immer es herauskäme, zu akzeptieren. Niemand könnte dabei verlieren, alle könnten nur gewinnen. Auch was Palästina betrifft, wäre es völlig zweitrangig, ob ein Einparteienstaat oder eine Zweitstaatenlösung verwirklicht würde. Das einzige wirklich Entscheidende wäre, dass beide Völker in Frieden, Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt leben könnten, ohne gegenseitigen Hass, ohne Diskriminierung und ohne jegliche Missachtung der elementaren Menschenrechte. Und dies, der Blick in die Zukunft statt in die Vergangenheit, hätte wohl auch für alle anderen Kriege um Grenzen, Ressourcen, Territorien und Macht, die weltweit gegenwärtig wüten, die genau gleiche Gültigkeit.

„Du hast die Wahl”, so der US-amerikanische Publizist Noam Chomsky, “du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden.” Worauf sollen wir noch warten?

Arram Mattioli: Verlorene Welten – eine Geschichte der Indianer Nordamerikas

Der Schweizer Autor Aram Mattioli erzählt in diesem Buch die Geschichte Nordamerikas zwischen 1700 und 1900 aus der Sicht der First Peoples. Eindrücklich beschreibt er die Kolonialisierung und den erbarmungslosen Kampf um den Kontinent, der zur Vernichtung der Lebensformen und der Kultur der indigenen Urbevölkerung führte. Das Buch zeichnet sich durch eine Balance zwischen einfühlendem Verständnis und nüchterner wissenschaftlicher Analyse aus. Hat man das Buch zu lesen angefangen, wird man es nicht mehr zur Seite legen. ISBN 978-3-608-96325-0.

Selenski und die Schweiz: Friedensverhandlungen ohne den Einbezug sämtlicher Konfliktparteien?

Aus der Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski scheint sein Staatsbesuch in Bern am 14. Januar 2024 im Vorfeld des WEF ein voller Erfolg gewesen zu sein. So hat sich die Schweiz, wie Bundespräsidentin Viola Amherd bekanntgab, bereit erklärt, nicht nur den Wiederaufbau der Ukraine finanziell zu unterstützen, sondern auch, einen Friedensgipfel auf höchster Ebene zur Lösung des Ukrainekonflikts zu organisieren. Auf die Frage, welche Länder am geplanten Friedensgipfel dabei sein könnten, sagte Selenski, das seien prinzipiell alle Länder, welche die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen würden. Mit anderen Worten: Russland soll in die geplanten Friedensverhandlungen nicht einbezogen werden.

Doch kann man allen Ernstes Friedensverhandlungen führen wollen, wenn die eine der beiden Konfliktparteien gar nicht mit dabei ist? Und kann es die Aufgabe der neutralen Schweiz sein, solche “Friedensverhandlungen” an der Seite der einen der beiden Konfliktparteien zu organisieren und gleichzeitig die andere Konfliktpartei davon auszuschliessen? Erstaunlicherweise scheinen solche Fragen in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung kaum eine Rolle zu spielen. Selenski hat es einmal mehr meisterhaft verstanden, dank seinem diplomatischen Geschick und einer perfekt organisierten Charmeoffensive die Schweiz in sein Boot zu holen. Mit Aussagen wie “Neutral zu sein bedeutet für die Schweiz nicht, die Realität zu ignorieren” definiert er gleich von Anfang an, worin diese “Realität” besteht, nämlich einzig und allein aus seiner persönlichen Sicht und Darstellung des Ukrainekonflikts, bei der jeglicher Widerspruch schon von Anfang an gänzlich ausgeschlossen wird. Dass er dabei äusserst geschickt vorgeht, zeigt sich auch darin, dass er sich bereits vor der Pressekonferenz mit Viola Amherd mit verschiedenen Politikerinnen und Politikern, so etwa Nationalratspräsident Eric Nussbaumer und Ständeratspräsidentin Eva Herzog, sowie den Parteispitzen getroffen hatte. Und dies offensichtlich mit grossem Erfolg. Selbst Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP, schwärmte auf X, sie sei vom Treffen mit Selenski “beeindruckt” gewesen, wobei man sich unwillkürlich fragen muss, was genau sie so beeindruckt haben und was sie wohl erfahren haben könnte, was sie nicht sowieso schon wusste. Einzig die SVP verweigert sich dem Spektakel, hat aber offensichtlich auch nicht den Mut, eine klare Gegenposition einzunehmen, sondern erklärt ihr Fernbleiben mit Terminschwierigkeiten.

Was ist da von der vielgelobten schweizerischen Neutralität übrig geblieben? Die einzige wirklich glaubwürdige Antwort der Schweiz auf das Anliegen Selenskis hätte doch lauten müssen: Selbstverständlich beteiligen wir uns noch so gerne an Friedensverhandlungen. Wir wären, als neutrales Land, sogar auch dazu bereit, die Organisation und die Führung dieser Verhandlungen zu übernehmen. Aber nur unter einer Bedingung: Dass auch die andere Konfliktpartei, nämlich Russland, in die Verhandlungen einbezogen wird. Denn nur so kann eine dauerhafte, nachhaltige Lösung des Konflikts erreicht werden.

Man kann sich schon, wie die offizielle Schweiz dies gegenwärtig tut, zu hundert Prozent auf die Seite Selenskis und der Ukraine stellen. Aber das geht nur, wenn man unglaublich viele Fakten ausblendet, vor ihnen die Augen verschliesst und absolut nichts davon wissen will. Man muss die Augen davor verschliessen, dass entgegen den Zusicherungen führender westlicher Politiker zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen, genau dies in der Folge getan wurde und unweigerlich dazu führen musste, dass sich Russland in seiner Souveränität zunehmend bedroht fühlte. Man muss die Augen davor verschliessen, dass Putin kurz nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur und ein Ende der gegenseitigen Aufrüstung vorgeschlagen hatte, ohne dass der Westen auf dieses Anliegen eingegangen wäre. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die USA höchstwahrscheinlich beim gewaltsamen Sturz des russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch anfangs 2014 eine wesentliche Rolle spielten. Man muss die Augen davor verschliessen, dass nationalsozialistisch ausgerichtete Kampfverbände innerhalb der ukrainischen Armee seit 2014 im Donbass schwere Kriegsverbrechen begingen. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die ukrainische Regierung spätestens ab 2019 mit rigorosen Gesetzen die Gleichberechtigung der russischen Sprache und Kultur innerhalb der Ukraine zu bekämpfen begann. Und man muss vor allem auch die Augen davor verschliessen, dass Putin noch im Dezember 2021 der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was von dieser kommentarlos zurückgewiesen wurde. Selbst wenn man das alles berücksichtigen würde, könnte man damit freilich dennoch nicht den Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 rechtfertigen. Aber man würde sich dann wenigstens davor hüten, die alleinige Schuld an diesem Konflikt ausschliesslich Russland in die Schuhe zu schieben. Sondern sich eingestehen, dass diese in der Budapester Zeitung vom 7. April 2023 veröffentlichte Aussage der tatsächlichen Wahrheit wohl um ein Vielfaches näher kommt: “Russland ist der Täter, der Westen aber ist der Verursacher.”

Man braucht nicht einem russischen Propagandasender aufzusitzen, um sich eine eigene kritische Meinung bilden zu können. Es genügt, die kritischen Stimmen innerhalb der eigenen westlichen Welt wahrzunehmen. So etwa sagte der US-Historiker George F. Kennan schon im Jahre 1997: “Die Entscheidung, die Nato bis an die Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Joe Biden, damals Senator, sagte, ebenfalls 1997: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der Nato auf die baltischen Staaten.” Papst Franziskus sagte im Mai 2022: “Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands. Vielleicht war es die Nato, die vor Russlands Tor bellte und Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.” Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger sagte: “Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.” Und Yves Rossier, früherer Schweizer Botschafter in Moskau, meinte: “Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.”

Gestern hat das WEF in Davos angefangen, dieses jährliche Stelldichein der Reichen und Mächtigen dieser Welt. Viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, werden sich hunderte Male einhellig zulächeln und zuprosten und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dabei um etwas viel Tiefgründigeres gehen wird als um das, was andernorts als “Smalltalk” bezeichnet wird, nur dass es millionenfach mehr kostet und eine millionenfach grössere mediale Präsenz einnehmen wird. Wäre es für die Menschheit nicht unvergleichlich viel gewinnbringender, stattdessen jedes Jahr ein fünftägiges historisches Seminar abzuhalten, um auf diese Weise der Wahrheit ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, gegenseitige Feindbilder abzubauen und tatsächlich gemeinsame Lösungen für eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit aufzubauen?

Ein Königreich aus Holz

Meine Enkelkinder haben aus den simplen Holzbauklötzen, die noch aus dem letzten Jahrtausend stammen, ein wunderbares Königreich gebaut und dazu eine riesige Rahmengeschichte erfunden. Kein noch so ausgeklügeltes Techno-Spielgerät, kein noch so raffiniertes Lego-Set, nichts, womit sich die Spielzeugindustrie ihre goldenen Nasen verdient, hätte ihre Kreativität nur annähernd so wunderbar anregen können…

Gesellschaftliche Werte vermitteln im Klassenzimmer: Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was ihnen vorgelebt wird

“Das moralische Klassenzimmer” – so der Titel eines Artikels in der “NZZ am Sonntag” vom 14. Januar 2024, in dem auf aktuelle Tendenzen hingewiesen wird, Kinder und Jugendliche in den Schulen von klein auf zu möglichst “politisch korrektem Verhalten” zu erziehen, was unter anderem dazu führen könne, dass sich – je nach Umfrage – etwa ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler “ausgegrenzt” und “benachteiligt” fühlten, weil sie sozusagen eine “falsche Werthaltung” an den Tag legten.

Diese Kritik ist, wenn sie oft auch weit übers Ziel hinausschiesst, im Grunde doch nicht gänzlich unberechtigt. Denn zu frühes Moralisieren im Klassenzimmer kann das Gegenteil der guten Absicht bewirken. Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was man ihnen vorlebt. Statt über alle möglichen Themen vom Konsumverzicht über Rassismus bis zum Klimawandel zu debattieren, sollte sich die Schule vielmehr zum Ziel setzen, Kindern und Jugendlichen eine Umgebung voller Lebensfreude, Humor und gegenseitiger Wertschätzung zu bieten, in der sich ein jedes Kind geliebt und verstanden fühlt, ganz unabhängig von seiner „Werthaltung“, die sich ja in diesem Alter ohnehin noch in stetiger Entwicklung und Veränderung befindet. Denn geliebte, in ihrer individuellen Einzigartigkeit wahrgenommene Kinder werden in aller Regel zu Erwachsenen, die ihren Mitmenschen und ihrer ganzen Lebensumgebung den gleichen Respekt und die gleiche Sorgfalt entgegen bringen, welche sie selber als Kinder erfahren durften.

Leider bewirkt das traditionelle Schulsystem, in dem die Kinder bei ihrem Lernen stets miteinander verglichen und bewertet werden und viele von ihnen dadurch ihr ursprüngliches Selbstvertrauen verlieren, genau das Gegenteil jener Grundhaltung der Liebe, auf die alle Kinder das gleiche Recht haben. Deshalb müsste man eigentlich viel eher die Lehrkräfte, die Eltern und am besten auch das ganze Bildungssystem in die Schule schicken, den Kindern selber aber bei ihrem Lernen und bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit so viel Freiheit und Selbstbestimmung zugestehen als nur irgend möglich. Schon Johann Heinrich Pestalozzi warnte vor über 250 Jahren davor, im Umgang mit Kindern zu früh mit den “Wörtern”, diesen “gefährlichen Zeichen des Guten und des Bösen”, die geistige Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, obwohl die hierfür notwendige Lebenserfahrung des Kindes auf der Ebene des Erlebens und des Emotionalen noch gar nicht vorhanden sei.