Archiv des Autors: Peter Sutter

«Ihr sagt, dass ihr eure Kinder über alles liebt.»

Es fing alles vor wenigen Monaten an, Ende Herbst vielleicht, als sich die ersten Jugendlichen weigerten, zu ihren Eltern ins Auto zu steigen. Eine Mutter sagt, ihr Sohn habe von einem Tag auf den andern beschlossen, vegan zu leben; ein Vater meint, seine zwölfjährige Tochter habe ihm an Weihnachten vorgerechnet, wie sehr ein Thailand-Urlaub der Umwelt schade, und stattdessen vorgeschlagen, im Frühling lieber ins Tessin zu fahren. Und wenn man die Eltern danach fragt, woher der Gesinnungswandel ihrer Kinder stamme, dann hört man diesen einen Namen: Greta. Greta Thunberg. Das kleine Mädchen aus Schweden. Dieses Mädchen bestieg vor wenigen Tagen einen Zug in Stockholm und fuhr in Begleitung ihres Vaters nach Davos ans WEF, wo sie von Journalisten umringt wurde wie US-Präsident Donald Trump ein Jahr zuvor. Sie konnte keinen Schritt mehr tun, ohne Mikrofonstangenwald unter der Nase, war bald auf den Titelseiten der Zeitungen, bald im Fernsehen: Greta hier, Greta dort, Greta Superstar – ein mürrisches Mädchen, das sich weigerte, auf Fotos zu lächeln, und auf die Frage, was sie denn ändern wolle, antwortete: «Alles.» Mit ihrer stoischen Art rüttelte sie eine ganze Generation von Jugendlichen wach, von der es noch bis vor kurzem hiess, sie sei so unpolitisch und nur daran interessiert, welche Filter sie am besten für ihre Selfies verwende. «Ich will», sagt Greta Thunberg, «dass ihr handelt, als würde euer Haus brennen. Denn das tut es.» Und: «Wir zerstören nicht nur die Welt, auf der wir leben, sondern auch uns selbst.» Und weiter: «Wir Kinder tun oft nicht, was ihr Erwachsenen von uns verlangt. Aber wir ahmen euch nach. Und weil ihr Erwachsenen euch nicht für meine Zukunft interessiert, werde ich eure Regeln nicht beachten.» Und schliesslich: «Ihr sagt, dass ihr eure Kinder über alles liebt. Und trotzdem stehlt ihr ihnen ihre Zukunft direkt vor ihren Augen.»

(NZZ am Sonntag, 27. Januar 2019)

Ist er das, der lange ersehnte Anfang einer weltweiten Revolution für das Leben? Zu hoffen ist, dass die Welle nicht schon bald wieder abebbt, sondern immer stärker wird und immer weitere Bevölkerungskreise erfasst. Logisch wäre es, denn die Sehnsucht des Menschen nach einer Welt von Gerechtigkeit, Frieden und Einklang mit der Natur ist unendlich und wartet nur darauf, aus den Klauen des kapitalistischen Profit- und Wachstumswahns befreit zu werden. Denn, wie schon der bekannte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi sagte: «Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.»

Eine Wohnung für 238 Millionen Dollar

Für 238 Millionen Dollar hat der Hedgefonds-Chef Ken Griffin, dessen Vermögen auf zehn Milliarden Dollar geschätzt wird, eine Wohnung in New York gekauft. 2230 Quadratmeter, über mehrere Stockwerke verteilt. Das Gebäude hat einen Golf-Simulator und weitere Annehmlichkeiten. Noch nie wurde in den USA so viel Geld für eine Privatimmobilie ausgegeben.

(Tages-Anzeiger, 26. Januar 2019)

Und das, während es im gleichen Land 3,5 Millionen Obdachlose gibt und ein Grossteil der Bevölkerung so knapp bei Kasse sind, dass sie fast ihren ganzen Monatslohn jeweils dafür verwenden müssen, die Schulden des vorangegangenen Monats abzuzahlen.

«Man arbeitet ständig mit einem Damoklesschwert über dem Kopf»

Der Redaktor einer Lokalredaktion der NZZ beklagt den steigenden Spardruck. Nicht nur der Personalabbau wirke sich negativ auf die Qualität der Zeitung aus. «Man arbeitet ständig mit einem Damoklesschwert über dem Kopf, das geht nicht spurlos an den Leuten vorbei.» Neuester Coup: Die NZZ hat das Korrektorat seiner Regionalmedien unlängst nach Bosnien ausgelagert, wo 16 Angestellte der Firma «Tool e Byte» in Banja Luka täglich bis 20 Uhr 80 Zeitungsseiten korrigieren, anschliessend geht der Auftrag an ein deutschsprachiges Team in Peru weiter. «Tool e Byte» erwartet einen weiteren Boom im Korrekturgeschäft und baut gegenwärtig zusätzlich Korrekturabteilungen in Madagaskar, Vietnam und auf den Philippinen auf.

(Wochenzeitung, 25. Januar 2019)

Nächstens könnte man ja noch das Verfassen der Artikel ebenfalls auslagern und so die Lohnkosten für Journalistinnen und Redaktoren einsparen: Man schickt dann bloss Stichwörter und Notizen und lässt die Artikel von Germanistikstudentinnen in Bosnien oder Vietnam schreiben. Und weshalb nicht gleich auch das Lesen der Zeitung ins Ausland verlagern – man würde damit viel mehr Zeit zur Verfügung haben für produktive, gewinnbringende Aktivitäten…

Wunschberuf oder Knochenjob?

Zahlen der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa OECD zeigen: Junge Menschen im Alter von 17 bis 18 Jahren interessieren sich häufig  für Jobs, die in der modernen Arbeitswelt gar nicht gefragt sind. So streben etwa mehr als 15 Prozent der Jugendlichen eine Karriere im Kultur-, Medien- und Sportbereich an – obwohl sich die Zahl der in diesen Sektoren benötigten Personen bis 2014 drastisch reduzieren wird. «Es existiert ein Missmatch zwischen den Berufsvorstellungen der Jungen und der Realität», hält Andreas Schleicher, Chef für den Bereich Bildung und Fähigkeiten bei der OECD, fest.

(Tages-Anzeiger, 25. Januar 2019)

Das ist eine Realität: Es gibt so und so viele künstlerisch und sozial begabte junge Menschen, die nicht in die «kalte», hektische und fremdbestimmte kapitalistische Arbeitswelt hineinpassen oder im schlimmsten Fall sogar an ihr zerbrechen. Gibt es – so lange sich die kapitalistische Arbeitswelt nicht von Grund auf ändert – eine kurzfristig umsetzbare Lösung dieses Problems? Eine Lösung könnte vielleicht darin liegen, dass jeder Mensch zu 50 Prozent in seinem «Traumberuf» tätig sein könnte und zu 50 Prozent in einem Beruf, der für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft unerlässlich ist. Der halbtags als Videokünstler Tätige würde dann zum Beispiel während des anderen halben Tages bei der Kehrichtabfuhr arbeiten, und so weiter. So wären alle zufrieden und dennoch würde die Arbeitswelt nicht stillstehen. Ist die heutige kapitalistische Arbeitswelt sehr ungerecht – viele Menschen können zu 100 Prozent in ihrem Wunschberuf arbeiten, viele andere sind dazu verdammt, eine Tätigkeit auszuüben, die ihnen überhaupt keine Freude bereitet und sie krank macht -, so wäre diese alternative Arbeitswelt ungleich viel gerechter, könnten doch alle Menschen mindestens während der halben Arbeitszeit eine Tätigkeit ausüben, die ihnen Freude macht, um dann eben während der übrigen Zeit einen vielleicht auch mühsamen und unangenehmen Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit mitzutragen.

Ein Kieselstein, der ins Wasser geworfen wird

Der Protest junger Menschen gegen die aktuelle Klimapolitik wird in Belgien immer grösser. Rund 32’000 Kinder und Jugendliche gingen am Donnerstag in der Hauptstadt Brüssel beim «Marsch für das Klima» auf die Strasse, wie die belgische Nachrichtenagentur Belga unter Berufung auf Polizeiangaben berichtete. Sie schwänzten zum Teil den Schulunterricht und demonstrierten für eine ambitioniertere Klimapolitik. Erstmals nahmen auch Studenten an dem Protest teil. Es war erst die dritte Auflage des Klima-Marschs in Belgien. In der Vorwoche hatten 12’500 Jugendliche mitgemacht, beim ersten Mal 3000.

(www.watson.ch)

 

Wirf einen Kieselstein ins Wasser – es bildet sich eine kreisförmige Welle, die sich nach allen Seiten hin immer weiter ausdehnt, den ganzen See durchgleiten wird und schliesslich alle Ufer rund um den ganzen See berührt…

China: Jagd auf die Armen als Volkssport

China betritt mit einem Schuldenpranger über das Smartphone neue Dimensionen: Eine App zeigt auf einer Karte Menschen mit ausstehenden Schulden an. Die Handy-Nutzer werden zum Spitzeln aufgefordert. Die App, die das Provinzgericht der nordchinesischen Provinz Hebei vorstellte, zeigt auf einer Karte an, wo sich im Umkreis von 500 Metern Menschen mit ausstehenden Schulden befinden. Gemäss der Zeitung «Chinadaily» wurden die Smartphone-Nutzer dazu aufgefordert, sich als Spitzel zu betätigen. Der Pranger soll dem Staat helfen, verschuldete Personen anzuzeigen, die eigentlich Geld hätten. Die Bürgerspitzel sind aufgefordert, eine Meldung zu machen, wenn ein Schuldner etwa teure Möbel anschafft oder luxuriös essen geht. Damit das «Verpfeifen» einfacher sei, könnten Informationen über die Schuldner auf der App eingesehen werden, schreibt die Zeitung weiter. «Diese App ist als eine unserer Massnahmen zu sehen, um ein sozial glaubwürdiges Umfeld zu schaffen», lässt sich ein Sprecher des Provinzgerichts zitieren. Der chinesische Überwachungsstaat machte bereits letztes Jahr mit Schuldenprangern Schlagzeilen. Die Provinz Anhui forderte etwa dazu auf, Fotos von Schuldnern ins Internet zu stellen.

Jede kapitalistische Gesellschaft – ob in der Schweiz oder in China – produziert Arme und Reiche, Verlierer und Gewinner. Fragt man sich, woher der Reichtum der Reichen kommt, dann gelangt man, auf welchem Weg auch immer, zum gleichen Schluss: Das Geld der Reichen ist gestohlenes Geld. In einer gerechten Gesellschaft wären nämlich alle Menschen gleich reich bzw. gleich arm. Wenn nun ein Teil der Gesellschaft reicher ist als der Durchschnitt, dann ist diese Differenz schlicht und einfach das, was auf der anderen, der ärmeren Seite des Durchschnitts fehlt. Zur Rechtfertigung ihres überdurchschnittlichen Reichtums ist den Reichen jede noch so weit hergeholte Lüge recht: Zum Beispiel, vier-, fünf- oder zehnfach höhere Löhne als der Durchschnittslohn seien durch «längere Ausbildung», «höhere Qualifikation» oder «grössere Verantwortung» zu rechtfertigen. Oder, geerbtes Geld sei genau so legitim wie durch Arbeit erwirtschaftetes Geld. Oder: Zinsen auf Kapital, Aktien oder Obligationen sei etwas Gottgegebenes. Tatsächlich also sässen die Reichen auf der Anklagebank. Um Gerechtigkeit zu schaffen, müssten sie alles Geld, das über dem durchschnittlichen Einkommen und Vermögen liegt, der Gesellschaft bzw. den Ärmeren zurückgeben. Die kapitalistische Gesellschaft aber verkehrt alles ins Gegenteil: Beobachtet, verfolgt, registriert, gejagt, angeklagt werden nicht die Reichen, sondern die Armen. Das ist nichts weniger als eine Form von Krieg. Krieg der Reichen gegen die Armen. Krieg der Ausbeuter gegen die Ausgebeuteten. Diese werden gleich dreifach bestraft und gedemütigt: Zuerst, indem man ihnen unterdurchschnittlich tiefe Löhne zahlt, obwohl sie zum aller grössten Teil schwerste und verantwortungsvollste Arbeit leisten. Zweitens, indem sie folglich kein Vermögen bilden, kaum erben und nirgends Geld gewinnbringend anlegen können. Drittens, indem sie zu potenziellen Betrügern gestempelt und durch Behörden und Gesellschaft beobachtet, verfolgt und gejagt werden. In China wird das mittlerweile auf die Spitze getrieben. Aber wer verspricht, das Beispiel Chinas könnte nicht bald schon weltweit Schule machen? Mit der Zulassung von Sozialdetektiven ist ja auch die Schweiz schon auf dem besten Wege dazu…

Jeder Nachbar oder Mitpassagier kann sich in der chinesischen Provinz Hebei als Spitzel betätigen.

Der Messenger-Dienst WeChat ist die meistgenutzte Handy-App Chinas.

Die Bevölkerung in China ist aufgefordert, dem Staat beim Schuldenpranger mitzuhelfen.

Auf dem der Smartphone-App werden Schuldner im Umkreis von 500 Metern angezeigt.

Und das im reichsten Land der Welt…

«Seit zwei Wochen essen wir nur noch Nudeln und Sauce», sagt die alleinerziehende A. (29). Sie bezieht seit kurzem Sozialhilfe, muss monatlich mit 1800 Franken auskommen und jeden davon umdrehen. «Im Januar wars besonders schlimm. Ich musste eine hohe Arztrechnung und die TV-Gebühr fürs ganze Jahr bezahlen. Zudem brauchte die Tochter ein neues Bett», erzählt die zweifache Mutter verzweifelt. Ausflüge mit den Kindern, die etwas kosten, lägen nicht drin. «Es ist ein Teufelskreis. Solange ich keinen Job bekomme, sehe ich kein Licht am Ende des Tunnels. Ich schäme mich so, dass ich meinen Kindern fast nichts bieten kann.»

(www.20minuten.ch)

Und das im reichsten Land der Welt…

«Factfulness» – Donald Trump lässt grüssen

Der Bestseller «Factfulness» von Hans Rosling will gemäss Titelseite zeigen, wie man die Welt so sehen lernt, «wie sie wirklich ist». Was folgt, ist indessen eine so haarsträubende Verdrehung der Tatsachen, dass man das Buch enttäuscht schon bald wieder beiseite legt.

Drei Beispiele: Aus der Kindersterblichkeit Malaysias, die gegenwärtig bei 14 von 1000 Neugeborenen liegt, zieht Rosling – ohne hierfür irgendwelche Quellen anzugeben – den Schluss, dass «die meisten Familien in Malaysia genug zu essen haben, dass keine Abwässer in ihr Trinkwasser gelangen, dass sie einen guten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben und dass die Mütter lesen und schreiben können.» Stutzig geworden werfe ich einen Blick ins Internet und werde sogleich fündig: «Viele Kinder in Malaysia», so ist bei www.humanium.org zu lesen, «leiden unter Armut. Die UNICEF schätzt die Zahl der Kinder unter 15, die unter schwierigen Bedingungen leben und deren Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind, auf mehr als 72’000. Mädchen ist der Zugang zu Schulbildung manchmal aus kulturellen Gründen gänzlich versagt.» Und die NZZ berichtet: «Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2018 zeigen, dass sich 72% der Bevölkerung Malaysias Sorgen machen über ihre wirtschaftliche Situation, fünf Jahre zuvor waren es erst 44%.» Zweites Beispiel ist die Behauptung, dass sich «die Verhältnisse auf der Welt generell verbessern». Eine solche Aussage klingt zwar gut, stillt aber den Hunger keines einzigen jener Milliarde Menschen, die nicht genug zu essen haben. Drittes Beispiel: Rosling behauptet schlichtweg, es bestünde keine weltweite Kluft zwischen Arm und Reich. Als «Beweis» dafür führt er eine Statistik der Einkommensverhältnisse der gesamten Weltbevölkerung an, auf der tatsächlich in der Mitte der Kurve die meisten Menschen sind und im Vergleich dazu eine viel kleinere Zahl ganz links (arm) und ganz rechts (reich).Schaut man sich aber die Statistik genauer an, dann liegt die «Mitte» bei einem Tageseinkommen von 6 Dollar. Das heisst: die Hälfte der Weltbevölkerung, also rund 3,5 Milliarden, verdienen weniger als 6 Dollar pro Tag. Und weitere 2 Milliarden Menschen verdienen zwischen 6 und 32 Dollar pro Tag. Wenn man anderseits weiss, wie viele Millionäre und Milliardäre es weltweit gibt – und ihre Zahl wird laufend noch grösser -, dann ist es wohl mehr als vermessen, zu behaupten, es gebe keine Kluft zwischen Arm und Reich.

Und so weiter. Rosling verbiegt die Realität bis zum Geht-nicht-mehr, verzerrt Statistiken, verbreitet Allgemeinplätze ohne Begründungen und Angaben von Quellen. Quintessenz seiner Ausführungen: Der Kapitalismus ist gut und macht die Welt immer besser. Um dies zu illustrieren, führt Rosling das Beispiel einer Familie an, die bisher mit einem Dollar pro Tag auskommen musste. Dank einer guten Ernte hat die Familie Glück und kann nun in die nächsthöhere Einkommensstufe aufsteigen. «Sie haben es geschafft. Sie haben ihr Einkommen vervierfacht und verdienen jetzt vier Dollar pro Tag.» Und so, folgert Rosling, sei es möglich, mit Glück und Arbeit von Stufe zu Stufe hochzusteigen. Rosling vergisst zu erwähnen, dass ein solcher Aufstieg nur den allerwenigsten Menschen vergönnt ist und 99 Prozent der Menschen weltweit gesehen lebenslang auf jener Stufe verbleiben, in die sie hineingeboren wurden.

Was soll ein solches Buch? Aufklärend ist es wohl kaum, dafür umso systembewahrender. Ist das der neue Stil – Donald Trump lässt grüssen -, die Verhältnisse so lange zurechtzubiegen, bis sie ins eigene Weltbild passen (genau das, was Rosling seinen Gegnern vorwirft). «Dieses Buch», so Rosling, «ist die definitiv letzte Schlacht in meiner lebenslangen Mission, die verheerende Unwissenhat in der Welt zu bekämpfen.» Bleibt zu hoffen, dass weder Trump noch Rosling diese Schlacht gewinnen.

Wer hat, dem wird gegeben I

Laut der Internationalen Energieagentur in Paris könnte man mit 786 Milliarden Dollar bis 2030 rund 1 Milliarde Menschen den Zugang zur Elektrizität und zugleich 2,8 Milliarden Menschen sauberes Kochen ermöglichen. Dagegen betragen die Kosten für den Aufbau einer Infrastruktur für Elektroautos für etwa 1 Milliarde Menschen gemäss Goldman Sachs fast das Achtfache, nämlich rund 6 Billionen Dollar.

(www.nzz.ch)

Das ist das Fatale am Kapitalismus: Die Investitionen, das Kapital und die Waren fliessen nicht dorthin, wo die Menschen sie am dringendsten bräuchten, sondern dorthin, wo es genug Menschen gibt, welche sich die entsprechenden Produkte, Dienstleistungen und Angebote leisten können. Deshalb sind der Überfluss in den Zentren der reichen Länder und das Elend des grössten Teils der Bevölkerung in den armen Ländern die Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nichts hat, wird auch noch das Letzte genommen, was er hatte.

Neue Mehrheiten für eine Überwindung des Kapitalismus

Eine Umfrage der Harvard Universität aus dem Jahr 2016 unter 18- bis 29-jährigen US-Amerikanern und -Amerikanerinnen kam zu folgenden Ergebnissen: 51 Prozent der Befragten lehnten den Kapitalismus ab und 33 Prozent unterstützten den Sozialismus. Im Vorzeigeland des Kapitalismus gilt Sozialismus offensichtlich nicht mehr als unamerikanisch.

(www.journal21.ch)

Wer hätte das gedacht. Eine Mehrheit der jungen US-Amerikaner und -Amerikanerinnen lehnt den Kapitalismus ab. Ein ähnliches Ergebnis gab es in Deutschland, dort spricht sich sogar eine Mehrheit der Gesamtbevölkerung für eine Überwindung des Kapitalismus aus. Würde man eine solche Umfrage in Russland, Bolivien oder Simbabwe durchführen, käme man wahrscheinlich zum gleichen, vermutlich sogar noch deutlicheren Resultat. Woran also liegt es, dass der Kapitalismus nicht schon längstens überwunden und durch eine von Grund auf neue, andere Wirtschaftsordnung ersetzt wurde? Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir so durch und durch von klein auf Teil dieses Systems sind, dass wir uns etwas anderes gar nicht mehr vorzustellen vermögen. 500 Jahre kapitalistische Gehirnwäsche lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen ungeschehen machen. Es braucht daher eine intensive Aufklärungsarbeit und das sorgfältige Erarbeiten einer Alternative zum Kapitalismus, die sich nicht an alten, überholten und gescheiterten Modellen orientiert, sondern noch einmal ganz vorne, beim Nullpunkt, beginnt. Denn es kann ja nicht sein, dass der Kapitalismus, so wie der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama einmal sagte, das Ende der Geschichte ist.